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Die Gattung „bürgerliches Trauerspiel“

Das bürgerliche Trauerspiel kam auf und richtete sich gegen die Adelsherrschaft und trug quasi revolutionäre Züge.[1] Das bürgerliche Trauerspiel ist ein Theatergenre, das im 18. Jahrhundert in London und Paris aufkam. Denis Diderot bezeichnete es als genre sérieux. Eine deutschsprachige Variante wurde etwa von Gotthold Ephraim Lessing entwickelt. Die Hauptfiguren stammen aus dem Bürgertum oder niederen Adel und das Stück hat ein tragisches Ende. Mit dieser Gattung wird Ende des 18. Jahrhunderts versucht, eine bürgerliche Hochkultur zu schaffen, die sich von den populären Theaterereignissen abhebt.[2]

Der Ausdruck „bürgerliches Trauerspiel“ ist zur Zeit seiner Entstehung ein Oxymoron. Tragödien spielten in der Welt des Adels und waren hauptsächlich für die Hofgesellschaft bestimmt, nicht für einen bürgerlichen Rahmen. Es gab nur ein adliges Trauerspiel und ein bürgerliches Lustspiel. Als Abklatsch der Tragödien für das „gemeine Volk“ gab es die Haupt- und Staatsaktionen. Bürger waren von vornherein lustige Personen, was für viele ein Ärgernis war. Bürgerliche Theaterstücke waren meist grobe Komödien, so wie die Spektakel auf den Pariser Jahrmarktstheatern oder die Hanswurstiaden von Josef Anton Stranitzky. Es galt die Ansicht, der Bürger könne nur in der Komödie als Hauptfigur auftreten, da ihm die Fähigkeit zum tragischen Erleben fehle (Ständeklausel).

Das bürgerliche Trauerspiel entstand somit im Zuge der Emanzipationsbewegung des Bürgertums, das sich damit eine Präsentations- und Identifikationsplattform schuf.[3] Seine Tragik entfaltet sich nicht mehr in der Welt eines für die Menschheit exemplarischen adligen Helden, sondern in der Mitte der Gesellschaft.

Der Terminus „bürgerlich“ ist nicht nur unter soziologischen, sondern auch unter ethischen Gesichtspunkten zu betrachten, da es sich um eine Gesinnungsgemeinschaft handelt, der Personen vom niederen Adel bis zum Kleinbürgertum angehören können, die sich aber durch einen ausgeprägten Moralkodex vom Hochadel abzugrenzen versuchen.[4]

Die Herkunft aus einer „guten Familie“ ist nicht machbar, aber ein vorbildlicher Lebenswandel ist machbar.[5] Der Wert eines bürgerlichen Individuums ist nicht vorgegeben wie der des Adligen (Geburtsadel), sondern ergibt sich erst durch sein lobenswertes Verhalten (Tugendadel). Es „hat“ keinen Namen von sich aus, sondern ist gleichsam ein Schauspieler, der sich erst einen Namen machen muss. Daraus ergab sich die bürgerliche Aufwertung des Theaterspiels im 18. Jahrhundert.[6]

Paul Landois bezeichnete sein Drama Silvie (Paris 1741) schon als „tragédie bourgeoise“. Ein weiterer Vorläufer der bürgerlichen Tragödie ist George Lillos „domestic tragedy“ The London Merchant (London 1731).[7]

Die Pioniere des bürgerlichen Dramas, Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais und Denis Diderot hielten sich dagegen mit dem tragischen Ende zurück, das eher der Oper vorbehalten blieb oder schnell einmal zum Schocker oder Reißer in der Art des aufkommenden Melodrams tendierte. Das tragische Ende signalisierte zwar aus konservativer Sicht, dass das Drama zur höchsten Theatergattung gehörte, erschien aber manchen Neuerern nicht konstruktiv und optimistisch genug. Die meisten bürgerlichen Dramen sind daher Rührende Komödien, also Stücke mit ernster Handlung und glücklichem Ausgang. Vor allem Diderot entwickelte eine Theorie des bürgerlichen Dramas (Entretiens sur le fils naturel, 1757, Discours sur la poésie dramatique, 1758). Seine Dramen waren hingegen nicht so erfolgreich wie diejenigen von Beaumarchais.

Von seinen Stoffen her geht es im deutschsprachigen bürgerlichen Trauerspiel entweder um unpolitische Familienkonflikte, die soziale Gegensätze möglichst nicht berühren und auf das Verbindende einer „reinen Menschlichkeit“ setzen, oder es handelt vom politischen Kampf gegen die Unterdrückung durch den Adel, später auch von der Kritik der entstehenden Arbeiterklasse an der bürgerlichen Wertordnung.

Die antiken mythologischen (oder historischen adligen) Hauptfiguren der französischen Klassik werden im bürgerlichen Trauerspiel zu „einfachen“ Menschen gemacht. Die in der Tragödie bisher übliche Versform wird im bürgerlichen Trauerspiel selten übernommen. Charakteristisch ist es ein Widerspruch zum Regeldrama. Die Haltung zu den klassischen Vorbildern hat der Germanist Volker Klotz mit der Unterscheidung geschlossene und offene Form im Drama zu beschreiben versucht.[8]

Von den meisten Literaturhistorikern wird Lessings Miss Sara Sampson (1755) als das erste deutschsprachige bürgerliche Trauerspiel betrachtet. Aber auch andere deutschsprachige Autoren stellten sich diese Aufgabe wie Christian Martini. Statt der Politik, der Öffentlichkeit und der Historie herrscht in Miss Sara Sampson eine private, mitmenschliche und familiäre Atmosphäre vor, in der nichts Übermenschliches mehr anzutreffen ist. Lessing geht es vor allem um die Identifikation und das Mitleid der Zuschauer, das zu ihrer sittlichen Besserung führen soll. Hier wird der Ständekonflikt so gut wie gar nicht thematisiert, die Handlung spielt auch recht häufig im privaten Umfeld adliger Kreise.

Der Konflikt zwischen Bürgertum und Adelswillkür erscheint erstmals in Lessings Emilia Galotti (1772).

Hettore Gonzago, Prinz von Guastalla, hat für Emilia Galotti, Tochter des Obersten Odoardo Galotti, die er in seiner Gesellschaft gesehen, eine so heftige Leidenschaft erfasst, dass er des schönen Mädchens wegen die wichtigsten Staatsgeschäfte vernachlässigt oder leichtfertig behandelt. Er vertraut sich seinem intriganten und geschmeidigen Kammerherrn Marinelli an, und dieser unternimmt es, Emilia für den Prinzen zu gewinnen.

Emilia ist tugendhaft. Sie ist mit dem Grafen Appiani verlobt, und die Hochzeit soll heute stattfinden. Die Vermählung soll auf dem Landgute Sabionetta gefeiert werden. Dort weilt Emilias Vater Odoardo, der das Leben in der frivolen Residenz nicht liebt, auch nicht mit dem Prinzen zusammentreffen will, mit dem er auf feindseligem Fuße steht.

Marinelli versucht nun, den Grafen Appiani für eine sofort zu übernehmende Gesandtschaft zu gewinnen, um zunächst Aufschub der Hochzeit zu erreichen. Der Graf schlägt das Anerbieten aus, worauf der nicht verlegene Marinelli schnell neue Vorkerhungen trifft. Er führt den Prinzen, den er nur halb in seinen Plan eingeweiht, nach dem Lustschloss Dosalo und dingt den Banditen Angelo zu einer meuchelmörderischen Tat. Der geschickte Bravo weiß es einzurichten, dass der Wagen, der Appiani mit Emilia und deren Mutter Claudia zu Odoardo bringen soll, ganz in der Nähe des Lustschlosses von ihm und seinen Genossen angefallen wird. Appiani wird dabei erschossen, und Diener des Prinzen eilen herbei, die entsetzten Frauen nach Dosalo in Sicherheit zu bringen.

Von der Gräfin hört nun der arglose Vater die ganze Kette der Ereignisse und im auflodernden Rachegefühl will er sich zum Prinzen Bahn brechen, ihn zu töten. Er beherrscht sich, um vor allem die Tochter zu schützen. Marinelli muss seinen Plan abermals ändern, und er tut dies, indem er sich als Freund und Rächer Appianis aufspielt, behauptet, dass ein glücklicher Nebenbuhler den Grafen getötet und um diesen zu entdecken, müsse man Emilia in Verwahrung nehmen, dem Gericht seinen Lauf lassen.

Odoardo fügt sich und will seine Tochter in ein Kloster bringen. Liebenswürdig widerspricht man ihm. Emilia soll in das Haus des Kanzlers Grimaldi gebracht werden, denn dort - so denkt Marinelli - kann sie der Prinz jederzeit sehen und sprechen. Odoardo durchschaut diese Intrige, und als nun Emilia selbst kommt und ihm offen sagt, dass er sie nicht in der Verwahrung des Prinzen lassen solle, denn sie könne für sich nicht gut stehen, der Verführung zu trotzen, dass sie aber lieber sterben wolle, da greift der anfangs zaudernde Vater doch zum Dolche und durchsticht sie. Dankbar neigt sich Emilia auf seine Hand und tröstet den ob seiner Tat entsetzten Vater mit den Worten: "Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert." Den Prinzen ergreift starrer Schrecken, als er diesen Ausgang wahrnehmen muss. Feige wälzt er alle Schuld auf die Schultern Marinellis und tröstet sich mit der hohlen Phrase des Bedauerns, dass Fürsten auch nur Menschen sind.

Dieser Konflikt zwischen Bürgertum und Adel findet in Schillers Kabale und Liebe (1784) die sprachlich und dramatisch geschlossenste Ausformung.[9]

Schiller wurde immer wieder von der Willkür des Herrschers eingeschränkt, bis er schließlich nach Mannheim floh. Die vielen Parallelen zu dem Fürsten, wie die Mätresse Milford, die an eine Mätresse Karls , die Gräfin von Hohenheim angelehnt ist, zeigen, dass Schiller große Teile seines Trauerspiels aus der Realität genommen hat.

Die Figur des Präsidenten von Walter repräsentiert, als eine der Hauptpersonen, den Adel und die höfische Welt. Mithilfe dieser Person wird die höfische Welt dargesstellen. Schon im ersten Auftritt betont Miller seine Furcht vor dem Zorn des Präsidenten. Insgesamt wird mehr und mehr deutlich, dass man den Präsidenten, weder als Politiker, noch als Vater unterschätzen sollte. Er selbst konnte erst nach dem Mord an seinem Vorgänger seinen jetzigen Posten antreten (erwähnt u. a. in I.VII), was verdeutlicht, dass er sowohl kaltblütig mit seinen Feinden, als auch berechnend für seine Zukunft und Stellung agiert. Für dieses Ziel instrumentalisiert er sogar seinen Sohn, indem er ihn mit der Mätresse des Fürsten verheiraten will. Außerdem ist es eine Stärke von ihm, andere Personen für seine Zwecke zu missbrauchen, wie seinen Sekretär Wurm oder den Hofmarschall.[10]

Durch den Präsidenten wird ein Teil des „moralisch verrotteten herzoglichen Hofes“ dargestellt. Dies begründet sein selbstsüchtiges Vorgehen insoweit, dass er sich mit eben solchen Mitteln gegen seine Neider durchsetzen muss, was aber keineswegs seine Handlungen legitimiert oder gar rechtfertigt. Die Liebe seines Sohnes interessiert ihn wenig. Dieser soll sich in die Pläne von Walters integrieren oder sich von ihm trennen.

Die Liebe ist für ihn, wie Ludwig sagt, eine „törichte Schwärmerei“ Nichts wird durch sie gerechtfertigt, keine Macht erreicht oder ausgebaut. Aufgrund dieser Erwägungen ist die „wahre Liebe“, wie sie zwischen Ferdinand und Luise besteht, für den Präsidenten reine Zeitverschwendung. Ehen oder Verhältnisse sind für ihn Zweckverbindungen, die nur dazu dienen Macht und Einfluss auszubauen. Aus diesem Grund, kann er die Liebe seines Sohnes gegenüber Luise nicht nachvollziehen.

Die anderen Adligen bei Hofe sieht von Walter als seine Schachfiguren an. Er kollaboriert mit Wurm, der durch sein Amt in den Adel aufgestiegen ist, und spielt mit dem Hofmarschall insoweit, dass er ihn dazu benutzt, sowohl die Nachricht der angeblichen geplanten Hochzeit und den Plan der angeblichen Absage derselben zu verbreiten.

Andere Adlige, und sogar den Fürsten, hält er von der Politik ab, da er sich selbst als stärksten und fähigsten Politiker sieht. Jede Aktion, jedes Gespräch, jede Beziehung dient ausschließlich seinem einzigen Ziel: die Ausweitung seiner Macht und seines Einflusses. Dies ist besonders in den Beziehungen zu anderen Adligen deutlich zu erkennen. Hierbei ist auch das Verhältnis zur Lady Milford zu sehen. Obwohl er nicht ein einziges Mal gemeinsam mit ihr auftritt, benutzt er sie als Werkzeug, um seinen Sohn mit ihr zu verheiraten und so seinen Einfluss bei Hof auszubauen. Eigentlich agiert er im Zusammenhang mit der Hochzeit hinter ihrem Rücken. Dass sie wirklich in Ferdinand verliebt ist, ist für von Walter in seinen Plänen natürlich  ein unerwarteter aber angenehmer Faktor.

Das Verhältnis des Präsidenten zum Bürgertum ist äußerst schlecht. Er bezeichnet Luise abfällig als „Bürgerkanaille“, was seinen Abscheu gegenüber dem einfachen Bürgertum verdeutlicht.[11] Immer wieder erkennt man ihn Sprechakten des Präsidenten Herabwürdigungen des Bürgertums. Besonders sind sie in den Gesprächen mit seinem Sekretär Wurm sichtbar. So fährt er mit der Beschuldigung fort, dass Luise nicht mehr als eine „Hure“ seines Sohnes sein kann, mit der sich dieser kurzfristig vergnügt, um sie dann fallen zu lassen.

Er lebt seine Möglichkeit zur Willkür bei der Familie Miller, als Beispiel für das Bürgertum, hemmungslos aus. So lässt er Luises Eltern ins Gefängnis sperren, um Luise unter Druck zu setzen und seine Macht zu verdeutlichen, die er jederzeit verwenden kann, um einem einfachen Bürger zu schaden oder ihn zu demütigen. Letztlich wird sich immer wieder zeigen, wie der Präsident seine Macht gegenüber dem Bürgertum ausnutzt und das schreckliche Ende durch jegliche Willkür, die er an den Tag legt, weiter heraufbeschwört.

Der Hof wird hier äußerst negativ dargestellt. Dies liegt jedoch vor allem an der Sicht Schillers, der ja für längere Zeit das Leben bei Hofe miterleben konnte. Zum einen gibt es da die so genannten Hofschranzen, deren Leben sich ausschließlich bei Hofe abspielt und die sich auch nicht für das Leben außerhalb des Hofes interessieren. Hierzu ist eindeutig die Figur des Hofmarschalls von Kalb zu zählen, der aufgrund dieses Verhaltens ein hohes Maß von Naivität und Lenkbarkeit an den Tag legt, sodass der Präsident ihn leicht in seine Intrigen mit einbauen kann.

Zum anderen aber die auch die machthungrigen Machtmenschen, denen nichts so wichtig ist, wie ihr persönliches Weiterkommen und ihr persönlicher Erfolg. Hierbei ist der Präsident äußerst wichtig. Er zieht die Strippen bei Hofe und ihm sind selbst viele Adlige hilflos ausgeliefert.[12]

Letztlich wird natürlich auch das Desinteresse der Herrschenden an der einfachen Bevölkerung deutlich. Dieser Aspekt wird nur noch von der Willkür der Fürsten und dessen Handlangern in den Schatten gestellt, was letztlich mit dazu beiträgt, dass ein negatives Bild des Hofes entsteht.

Das Bild, das der Leser während des Trauerspiels vom Präsidenten erhält, ist äußerst differenziert. Natürlich wird dem Leser immer wieder verdeutlicht, wie kalkulierend der Präsident die Handlung vorantreibt und das für die Liebenden tödliche Ende erwartend in Kauf nimmt. Kaltblütig nimmt er es hin, dass seine Taten anderen Schaden zufügen und er würde es sogar billigen, dass seine Taten anderer Leben fordert. Vor allem sein abfälliges Verhalten gegenüber den anderen agierenden Personen, wobei er hierbei keinen Unterschied zwischen den Ständen macht, fällt dem Leser oft auf. Er benutzt sowohl den Hofmarschall und Wurm, als Vertreter des Adels, als auch die Familie Miller, als Vertreter des Bürgertums. Er repräsentiert auf seine ihm eigene, kaltblütige Weise den Adel und die höfische Welt.

In den letzten Szenen merkt man ihm jedoch an, dass er in gewisser Weise Reue empfindet, für die Folgen, die sein Verhalten hatten. Er versucht zwar zuerst die Schuld, die er auf sich geladen hat, auf seinen Sekretär Wurm zu schieben, was für den Leser wiederum die selbstsüchtige Art des Präsidenten zu verdeutlichen scheint.

Das Zugeständnis zu Schluss und die eigene Auslieferung an die Justiz kommen für den Leser aus diesem Grund auch eher überraschend, was jedoch auch zeigt, dass jeder Mensch, mag er auch noch so eigensichtig bzw. kaltblütig sein, wie der Präsident, eine Seele und ein Gewissen hat, was am Ende des Trauerspiels natürlich auch allgemein für die Hoffnung Schillers steht, dass sich der Adel und Hof ihre Fehler eingesteht, um diese in der Zukunft zu vermeiden.[13]

Kurz nach der Uraufführung des Stücks „Kabale und Liebe“ 1784 in Frankfurt, wurde das Stück an vielen Theatern in Deutschland aufgeführt (darunter Berlin 1784, Leipzig 1785, Hannover 1788 und Weimar 1790).[14] Es gab durchweg positive Meinungen und Rezensionen über das Stück, die kurz nach der Uraufführung folgten. Im Vergleich zu anderen Stücken („Die Räuber“) schneidet das Stück jedoch weniger gut beim Publikum ab. Mit der Zeit wird es auch weniger an den Schauspielhäusern gespielt, da das Publikum mehr und mehr sein Desinteresse an dem Thema und seiner Verarbeitung zeigt. Später im 19. Jahrhundert wird das Stück sogar noch kritischer bewertet. So bezeichnet es Franz Grillparzer als das „elendste Machwerk“ und Friedrich Hebbel wunderte sich über die „grenzenlose Nichtigkeit dieses Stücks“.

Erst in der Zeit des Realismus erlebte das Stück einen neuen Schub. So zeigten sich sowohl Theodor Fontane, als auch Friedrich Engels über die Thematik des Stücks erfreut. Auch im 20. Jahrhundert wurde das Stück wieder häufiger an den Theatern inszeniert. Vor allem im Zweiten Weltkrieg, entwickelte es sich zum Symbol für „Freiheit, Artbewusstsein (…) und Glaubenskraft“ und für den „Kampf gegen das Intrigantentum“, was es zum meistgespielten und –inszenierten Stück des Zweiten Weltkriegs machte.

Trotz dieser missbräuchlichen Missdeutung kann sich das Stück in den Jahrzehnten nach dem Krieg weiter auf den deutschen Bühnen etablieren. Heute ist es immer noch ein viel gespieltes Stück in den Schauspielhäusern und Theatern. Vor allem wird es heute inszeniert, um den Menschen von heute einerseits die gesellschaftliche Situation des 18. Jahrhunderts vor Augen zu führen, und andererseits die Thematik der wahren Liebe zwischen zwei Menschen zu zeigen, was in der heutigen Zeit eher im Mittelpunkt steht.

Der Präsident von Walter ist, wenn man ihn im Gesamtzusammenhang von Darstellung in dem Stück und geschichtlichem Hintergrund betrachtet, ein Symbol für den intriganten Hof, der zwar durchaus folgenschwere Fehler im Umgang mit seinen Untergebenen begeht, diese jedoch entweder von den Betroffenen wieder gutmachen lassen, oder die gesamte Schuld auf andere ebenfalls Beteiligte abzustreifen versucht.

Die Adligen mögen sich zu dieser Zeit in zwei Lager aufgespalten haben. Zum einen die kaltblütigen, kalkulierenden und selbstsüchtigen Machtmenschen, die fast alles in Kauf nehmen, um ihre Ziele zu erreichen und dabei auch über Leichen gehen würden oder sogar bereits gegangen sind, zum anderen die naiven, leichtgläubigen und politisch unbegabten Adligen, deren Leben aus Feiern, Lästern und Klatsch besteht. Der Präsident gehört zweifelsohne zum ersten Lager, jedoch steht auch sein Sekretär Wurm diesem Lager bei. Der Hofmarschall von Kalb gehört eindeutig zum zweiten Lager, was ihn dafür prädestiniert als Marionette für die Interessen des Präsidenten zu dienen. Ebenfalls zu diesem Lager gehört der Fürst, der zwar nicht auftritt, jedoch auch immer anwesend zu sein scheint, sich aber aus politischen Angelegenheiten heraushält und so seinem Repräsentanten dem Präsidenten nahezu freie Hand lässt. Dies führt zu einer Willkürherrschaft, die zwar vom Präsidenten mit harter Hand geführt wird, jedoch letztlich auch auf den unaktiven und politisch untalentierten Fürsten zurückzuführen ist.[15]

Die Intrigen, die durch den Präsidenten und seinen Sekretär Wurm durchgeführt werden, scheinen zum politischen Tagesgeschäft gehört zu haben. Hierbei zeigen sich jedoch keine Unterschiede zwischen den Ständen. Sowohl Adlige, als auch Bürgerliche werden aus machtpolitischen Gründen missbraucht, was letztlich zu einem katastrophalen Ende der Hauptpersonen führt und in der Realität den Untergebenen im niederen Adel oder Bürgertum großen Schaden zufügte.[16]

Mit Friedrich Hebbels Maria Magdalena (1844) richtet sich der Fokus auf kleinbürgerliche Moralvorstellungen und pedantische Sittenstrenge mit den daraus resultierenden Konflikten innerhalb des Standes. Die Dramen von Ludwig Anzengruber übertragen dieses Prinzip auf eine ländliche Welt. Die naturalistischen Dramen von Gerhart Hauptmann oder Henrik Ibsen offenbaren die Lebenslügen selbstzufriedener Bürger.

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Fußnoten

  1.  ↑ Israel, I. J./Mulsow, M. (Hrsg.): Radikalaufklärung, Frankfurt am Main 2014, S. 112ff
  2.  ↑ Stolberg-Rillinger, B.: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000, S. 100
  3.  ↑ Israel, I. J./Mulsow, M. (Hrsg.): Radikalaufklärung, Frankfurt am Main 2014, S. 115
  4.  ↑ Schneiders, W. (Hrsg.): Lexikon der Aufklärung: Deutschland und Europa, München 2001, S. 123
  5.  ↑ Stolberg-Rillinger, B.: Europa im Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000, S. 89
  6.  ↑ Israel, I. J./Mulsow, M. (Hrsg.): Radikalaufklärung, Frankfurt am Main 2014, S. 145
  7.  ↑ Jüttner, S./ Schlobach, J. (Hrsg.): Europäische Aufklärung. Einheit und nationale Vielfalt, Hamburg 1992, S. 72
  8.  ↑ Ebd., S. 156
  9.  ↑ Schmidt, J. (Hrsg.): Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989, S. 223
  10.  ↑ Ebd., S. 224
  11.  ↑ Ebd., 224
  12.  ↑ Ebd., S. 225
  13.  ↑ Ebd.
  14.  ↑ Martens, W. (Hrsg.): Leipzig: Aufklärung und Bürgerlichkeit. Heidelberg 1990, S. 153f
  15.  ↑ Ebd., S. 155
  16.  ↑ Ebd., S. 155