e-Portfolio von Michael Lausberg
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Gedanken über Antisemitismus

Als die Überlebenden des Holocaust aus den Lagern oder den Verstecken kamen, glaubten viele, dass das Ausmaß der Verbrechen jedem Antisemitismus den Boden entziehen und sich, wie Heinz Galinski, bis 1992 Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, es formulierte, "eine Welt auftun (würde), in der Menschenliebe und Verständnis unter den Völkern herrschen werde".

Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt, wenngleich heute in den europäischen Ländern und in den USA im Vergleich zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Antisemitismus in der Bevölkerung deutlich abgenommen hat und es auch keine Diskriminierungen von staatlicher Seite mehr gibt. Dennoch sehen sich Juden in vielen Ländern Vorurteilen und Übergriffen ausgesetzt. In Deutschland haben antisemitische Straftaten in den neunziger Jahren im Vergleich zu den Jahrzehnten davor erheblich zugenommen.

Woher kommen die Vorurteile gegen Juden? Weshalb halten sich antijüdische Stereotype so hartnäckig, obwohl man ihnen nun jahrzehntelang in der Schule und der Öffentlichkeit entgegengetreten ist und in vielen europäischen Ländern nur noch wenige Juden leben? Welche Rolle spielt dabei, dass negative Äußerungen über Juden in der Öffentlichkeit tabuisiert sind, dass das Thema "Juden" von vielen wegen des Holocaust als belastet und heikel empfunden und häufig gemieden wird? Gerade in Deutschland, wo Schuld- und Schamgefühle begreiflicherweise einem normalen, gelassenen Verhältnis zwischen Deutschen und Juden entgegenstehen, eignen sich antijüdische Bemerkungen, Witze oder gar Übergriffe besonders treffsicher als Mittel der Tabuverletzung und Provokation. Insofern gibt es in Deutschland und Österreich auch einen spezifischen "Antisemitismus wegen Auschwitz", der sich gegen die Juden wendet, weil sie als diejenigen gesehen werden, die die Deutschen permanent schmerzlich an die NS-Verbrechen erinnern. Dieser "sekundäre Antisemitismus" greift auf alte antijüdische Vorurteile und Stereotypen zurück und aktualisiert sie. Deshalb muss man, um den heutigen Antisemitismus in seinen verschiedenen Ausprägungen zu verstehen, auf die Geschichte der Judenfeindschaft zurückkommen, in der ein negatives Bild des Juden geprägt wurde, das ein zäher Bestandteil unserer kulturellen Überlieferung geworden ist. Hier liegt die große Gefahr bei der Weitergabe von Stereotypen, denn auch wenn man sie nicht teilt, kennt man die negativen Urteile über die Juden.

Die Judenfeindschaft besitzt mehrere historische Schichten, wobei die älteren Vorurteilsschichten in der nächsten Phase nicht "vergessen", sondern nur von neuen überlagert wurden.

Christlicher Antijudaismus

Die erste Schicht ist die religiös motivierte Ablehnung der Juden durch die Christen, die als abgespaltene jüdische Sekte seit dem ersten Jahrhundert n. Chr. in Konkurrenz zum Judentum standen, das in seiner Mehrheit die christliche Lehre ablehnte. Aus dieser Situation von Nachfolge und Konkurrenz entstand eine bereits im Neuen Testament spürbare antijüdische Tradition, die die Juden als "Volk des alten Bundes" aus dem neuen Gottesbund ausschloss.

Im Zentrum der judenfeindlichen Vorwürfe stand die Überbetonung des Anteils der Juden an der Leidensgeschichte Jesu in den Evangelien (Matthäus 27,25: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder"; Markus 15,6–15; Lukas 23,13–25), die im Vorwurf des Christusmordes gipfelte: "Welche auch den Herrn Jesum getötet haben, und ihre eigenen Propheten, und haben uns verfolgt" (1 Thessalonicher 2,15). Weiter findet sich eine negative Zeichnung der jüdischen Pharisäer und Schriftgelehrten als Heuchler (Matthäus 23,13–29) und Verfechter einer nur äußerlichen Frömmigkeit (Lukas 16,15). Im Johannes-Evangelium werden die Juden schlechthin zu Feinden der Christen erklärt und beschuldigt, sie hätten "den Teufel zum Vater" (8,23 und 8,40–44). Damit haben wir zentrale Bestandteile des religiösen Vorurteils beisammen: Verwerfung der Juden durch Gott, Vorwurf des Christusmordes und der Christenfeindlichkeit. Negative Stereotype aus dem neuen Testament reichen bis in den heutigen Sprachgebrauch hinein: Wir nennen einen Heuchler immer noch "Pharisäer". Judas ist bis heute die Symbolfigur des Verräters, und Juden wurden in der Geschichte häufig des Verrats an ihren "Gastvölkern" bezichtigt.

Der Abschluss der Christianisierung Europas, die innerkirchlichen Reformbewegungen, insbesondere die Missionsbestrebungen der Bettelorden und die Wendung gegen abweichende christliche "Irrlehren" (so genannte Ketzer) und Feinde des Christentums (Kreuzzüge), verbreiteten die Judenfeindschaft über den Kreis der Theologen hinaus unter den Laien, sodass Vorurteile gegen Juden zum festen Bestandteil der erstarkenden Volksfrömmigkeit wurden.

Im 13. Jahrhundert gewannen mit der Verkündigung der Transsubstantiationslehre, die annahm, dass sich beim Abendmahl Brot und Wein real in den Leib und das Blut Christi verwandelten, die geweihte Hostie und das Blut zentrale religiöse Bedeutung. Christen fürchteten nun, Juden würden als "Feinde Christi" die Hostie durchbohren, um damit den Leib Jesu erneut zu verletzen. Dieser Vorwurf der Hostienschändung hat häufig zu antijüdischer Gewalt geführt. Damals kam auch die Befürchtung auf, die Juden würden das Blut von Christen zu rituellen Zwecken benötigen und deshalb Christenknaben rauben oder kaufen, um sie dann zu ermorden. Obwohl diese Vorstellung im Widerspruch zur ausgeprägten Abneigung gegen den Genuss von Blut im Judentum stand (Das Schächtungsgebot sieht beispielsweise das völlige Ausbluten des geschlachteten Tieres vor. Blutig wird das Fleisch als unrein angesehen.) und auch die Kirchenführer ihr widersprachen, verbreitete sich diese so genannte Ritualmordlegende in ganz Europa und hat bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein immer wieder Anlass zu antijüdischen Übergriffen gegeben. Die Vorstellung, dass Andersgläubige Kinder misshandeln und zu rituellen Zwecken opfern, ist historisch und geographisch weit verbreitet. Diese Bedrohungsängste, zu denen – etwa angesichts der sich rasch ausbreitenden Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts – auch die Angst vor Brunnenvergiftungen gehört, machten die Juden zu einer dämonisierten Minderheit, die sich angeblich gegen die Christen verschworen hatte.

Soziale Stereotype

Die geschilderte Entwicklung seit dem 13. Jahrhundert führte zu einer deutlichen Verschlechterung der gesellschaftlichen Stellung der Juden. Kirchlicherseits wurden sie durch die Bestimmungen des IV. Laterankonzils von 1215 zu einer sozial ausgegrenzten Gruppe (Kennzeichnung der Kleidung, Ausschluss von öffentlichen Ämtern). Ihnen wurde die Zulassung zu den sich als christliche Bruderschaften verstehenden Zünften versperrt. Dies zwang die Juden zu einer ökonomischen Spezialisierung auf Handel und Geldleihe, die den Christen aus religiösen Gründen verboten war. Als Finanziers der Feudalherren und der Städte und als Großkaufleute galten sie als "reiche Wucherer", was sie zu einer lohnenden Beute in politischen Konflikten und zum Ziel von Übergriffen machte. Vor allem ihre Schuldner hatten ein Interesse, mit den Juden auch zugleich ihre Schulden loszuwerden.

Kleidungsvorschriften

Das Ziel der Nationalsozialisten war die Stigmatisierung und die vollkommene Isolierung der Juden von der übrigen Bevölkerung. Als Stigmatisierungszeichen verwendeten Nationalsozialisten den sechszackigen Davidstern bereits bei den ersten antisemitischen Ausschreitungen, so beim Boykotttag vom 1. April 1933, bei dem Geschäfte und Arztpraxen von Juden mit einem großen Davidstern beschmiert wurden. Viele Menschen erblickten damals in den Schmierereien einen Rückfall in mittelalterliche Methoden der Kennzeichnung von Juden. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass die Kennzeichnung von Juden im Mittelalter in einem vollkommen anderen Kontext stand. Kleidungsvorschriften existierten im Mittelalter und auch in der frühen Neuzeit für alle Stände der Bevölkerung und waren ein wesentlicher Bestandteil der Ständegesellschaft. Neben den Juden mussten auch andere Außenseiter der Gesellschaft, beispielsweise Seuchenkranke, ein besonderes Erkennungszeichen tragen. Dennoch sind auch hier Absonderung und Stigmatisierung die eigentlichen Ziele dieser Verordnungen. [...]

Hierbei ordnete man erstmals die Farbe Gelb den Juden zu. Gelb galt dann auch während des gesamten christlichen Mittelalters als Farbe zur Kennzeichnung von Außenseitern.

Für die Kennzeichnung der Juden im christlichen Herrschaftsbereich ist das 4. Laterankonzil des Jahres 1215 das entscheidende Datum. Auch hier stellt die Angst vor einer möglichen Vermischung von Juden und Sarazenen einerseits und von Christen andererseits den entscheidenden Beweggrund dar. In den folgenden Jahrhunderten erließen Provinzialsynoden regional unterschiedliche Kleiderordnungen. [...] Die dabei am häufigsten verwendeten Kennzeichnungen waren der spitze Hut (Judenhut), der auf verschiedenen Provinzialsynoden und -erlassen des 13. Jahrhunderts verordnet wurde, und der ­ meist gelbe ­ Ring, den Nicolaus von Kues auf seiner Legationsreise durch Deutschland 1441/42 als Konkretisierung der allgemeinen Beschlüsse des Konzils von Basel festlegte.

In der frühen Neuzeit empfanden die Juden die Kennzeichnungen zunehmend als Stigmatisierung. Berichte verweisen darauf, dass die Regelungen immer häufiger missachtet wurden. Bereits im 16. Jahrhundert konnten sich einzelne Juden von der Kennzeichnungspflicht befreien und ab dem 18. Jahrhundert gab es auch die Möglichkeit, sich vom Tragen der Kennzeichen freizukaufen.

Mit der Lockerung des kirchlichen Wucherverbots (das heißt für die Bereitstellung von Kapital Zinsen zu erheben) wurden Juden durch ihre christlichen Konkurrenten auf die Geldleihe für die ärmeren Schichten und die Hehlerei abgedrängt und damit selbst zu verarmten und verfemten Außenseitern. Auch wenn keineswegs alle Juden zur reichen Schicht der Finanziers gehörten und die Juden später überwiegend eine verarmte Gruppe darstellten, blieb das Bild des "reichen Juden" als Stereotyp haften. Die berufliche Spezialisierung hielt sich teilweise bis ins 20. Jahrhundert hinein, so dass sich das Vorurteil festigte, das die Juden mit Geld(-gier), Kapitalismus und Ausbeutung verband. Man sprach Ende des 19. Jahrhunderts von der "Goldenen Internationale" und verknüpfte dabei die Vorstellung einer großen Finanzmacht der Juden mit dem altbekannten Vorwurf der Weltverschwörung.

Bis ins 19. Jahrhundert hinein bildeten die Juden eine von der Mehrheitsgesellschaft verachtete, randständig lebende Gruppe mit einem hohen Grad an Selbstverwaltung und einer sehr kleinen und reichen Oberschicht von Hofjuden, die primär mit wirtschaftlichen Aufgaben betraut waren (zum Beispiel Hofbankiers).

Im Laufe der Judenemanzipation, das heißt ihrer allmählichen rechtlichen und sozialen Integration in die christliche Gesellschaft im Zuge der Aufklärungsbewegung, engagierten sich Juden besonders in den politisch fortschrittlichen Bewegungen und Parteien (Liberalismus, später Sozialismus und Kommunismus), die sich für die Gleichstellung der Juden einsetzten und weniger antijüdisch waren als christlich-konservative und völkisch-nationalistische Parteien und Organisationen. Aus diesem politischen Engagement einer intellektuellen Minderheit entwickelte sich das Stereotyp des zu Radikalismus und Umsturz neigenden Juden. Dieser Vorwurf traf besonders die linken und liberalen Parteien der Weimarer Republik, die von ihren Gegnern als "Judenrepublik" verunglimpft wurde. Die Nationalsozialisten sprachen dann vom "jüdischen Bolschewismus", um damit nach der russischen Oktoberrevolution die in der deutschen Bevölkerung verbreitete Furcht vor einem kommunistischen Umsturz für ihren Antisemitismus zu instrumentalisieren.

Rassebegriff

Der Begriff "Rasse" wurde in der Anthropologie seit Ende des 17. Jahrhunderts beschreibend als naturgeschichtlicher Begriff verwendet, um Gruppen von Tieren und Menschen mit gemeinsamen äußeren Merkmalen zu kategorisieren; doch stuften bereits die frühen Klassifikationsschemata Menschen in höhere und niedere Arten ein. An diese Rassentypologien knüpfte der französische Graf Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882) in seinem geschichtsphilosophischen "Essai sur l'inégalité des races humaines" (1853/55) an, in dem er die Ungleichheit von Menschenrassen postulierte und soziale Schichtung auf Rassenunterschiede und den angeblichen neuzeitlichen "Kulturverfall" auf die fortschreitende Rassenmischung zurückführte. Die "arische weiße Rasse" verkörperte für ihn den Gipfel kultureller

und moralischer Entwicklung, doch sah er ihre Überlegenheit durch Rassenmischung bedroht. Mit diesem Ariermythos, der Betonung des Blutes und der Unterscheidung in niedere und edlere Rassen hatte Gobineau ein Denkmodell für den rassistischen Antisemitismus vorgegeben.

Einen neuen Gedanken führte der Sozialdarwinismus, eine im Anschluss an Charles Darwin (1809–1882) entstandene sozialphilosophische Strömung ein, indem er dessen Entwicklungstheorie der natürlichen Zuchtwahl von der Pflanzen- und Tierwelt auf die menschliche Gesellschaft übertrug. Die Darwinsche Anpassungstheorie vom "survival of the fittest" wurde zum "Kampf ums Dasein" zwischen "höheren" und "niederen" Rassen umgedeutet. Houston Stewart Chamberlain verband in seinem weit verbreiteten Buch "Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" (1899) den Mythos vom reinrassigen "Arier" als Kulturträger mit dem Gedanken des Rassenkampfes, wonach die "Arier" der minderwertigen "Mischlingsrasse" der Juden in einem historischen Endkampf gegenüberstünden, in dem es nur Sieg oder Vernichtung geben könnte. Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde so der vorher religiös oder ökonomisch begründete Antisemitismus zur "Rassenfrage" erklärt, wobei der vage Rassenbegriff eine Reihe anderer Begriffe wie Volk, Nation, Arier, Deutsch- und Germanentum umschloss.

Die nationalsozialistische Rassentheorie setzte diese Tradition fort. Sie lehnte eine Vermischung der Rassen ab. Entsprechend wurden sexuelle Kontakte von "Ariern" und Juden ab 1935 als "Blutschande" strafrechtlich verfolgt. Das vulgärantisemitische NS-Blatt "Der Stürmer" charakterisierte die Juden als zersetzende Elemente und als sexuelle Bedrohung und stufte sie rassentypologisch als "niedere Rasse" ein. Andererseits galten die Juden als gefährlichster Gegner im weltgeschichtlichen Endkampf ("Gegenrasse"), wurden sie doch – unlogischerweise – als die "Drahtzieher" sowohl hinter dem amerikanischen Kapitalismus ("Wall Street") wie auch hinter dem sowjetischen Kommunismus ("jüdischer Bolschewismus") vermutet.

In der Geschichte sind also negative Einstellungen zu Juden aus ganz unterschiedlichen Gründen entstanden und weiter vermittelt worden: Die früheste Schicht bildet die religiöse Feindschaft des Christentums gegenüber dem Judentum. Die (von der christlichen Gesellschaft erzwungene) besondere Berufsstruktur der Juden seit dem Mittelalter führt auf eine zweite Schicht: Die ökonomisch begründete Judenfeindschaft, in der die Juden als Wucherer, Betrüger, später als ausbeuterische Kapitalisten und Spekulanten gebrandmarkt wurden. Damit eng verbunden ist eine weitere Dimension, nämlich die Vorstellung von den Juden als einer mächtigen Gruppe, die mit ihrem Geld weltweit die Politik bestimmt. Hierher gehört das Stereotyp des "Drahtziehers", der Glaube an eine jüdische Weltverschwörung und Pressemacht. Eine weitere Schicht bilden rassistische Vorstellungen über den jüdischen Körper, also die vom schwachen, unsoldatischen (Stereotyp des "Drückebergers"), hässlichen, gebückten und hakennasigen Juden (was die jüdischen Frauen angeht, so dominierte das exotische Bild der "schönen Jüdin"), zum anderen die Fantasien vom sexuell bedrohlichen Juden. Alle diese Dimensionen des antijüdischen Vorurteils sind bis in die Gegenwart mehr oder weniger wirksam geblieben und finden sich heute in aktualisierter Form wieder.

Wandel des Judenbildes

Trotz des Holocaust änderte sich das antijüdische Stereotyp zunächst wenig. Als im Jahre 1951 Studenten der Freien Universität Berlin in einer Studie zu "Nationalen Vorurteilen" Völkern Eigenschaften aus einer Liste von über 300 Merkmalen zuordnen sollten, fanden sich die genannten Stereotype wieder: Es dominierten abwertende Kennzeichnungen des ökonomischen und sozialethischen Verhaltens (Handelsvolk, materiell eingestellt, Schacherer, scheut körperliche Arbeit, raffgierig, Ausbeuter), gefolgt von Begabungen (gute Ärzte, Wissenschaftler, intelligent, redegewandt, sprachbegabt, musikalisch). Diese positiven Stereotype sind allerdings als ambivalent anzusehen, da positive Eigenschaften bei einem "Feind" natürlich gefährlich sind: Dies ist zum Beispiel daran zu erkennen, dass Juden einerseits als intelligent (wie die Deutschen sich selbst sehen), andererseits als raffiniert und schlau charakterisiert wurden. Das rassistische Körperbild lebte in dieser Zeit ebenfalls fort (krumme Nase, unsoldatisch), ebenso wie die Vorstellung eines engen Zusammenhalts der Gruppe ("rassebewusst, Zusammengehörigkeitsgefühl, familiengebunden").

Vom historisch überlieferten Bild fehlten die Dimensionen des religiösen Konflikts und der Politik (radikal, kommunistisch). Eigenschaften, die exklusiv nur einem Volk zugeschrieben werden, spiegeln besonders gut das Stereotyp dieser Gruppe. Demnach werden die Juden als "krummnasig, raffiniert, schlau, raffgierig und heimatlos" bezeichnet, als "Schacherer und Ausbeuter mit einem großen Zusammengehörigkeitsgefühl". Es wird damit ein deutlich negativ akzentuiertes Bild einer Gruppe entworfen, die nicht zur Mehrheitsgesellschaft dazugehört (heimatlos), aber untereinander eng zusammenhält, und die andere Nationen ausbeutet. Zur Einschätzung der Beziehung zwischen zwei Gruppen ist der Vergleich zwischen dem Selbst- und dem Fremdbild aufschlussreich. Die deutschen Studenten des Jahres 1951 schrieben Deutschen und Juden zwar bestimmte Begabungen ("Intelligenz, sprachbegabt, Wissenschaftler") gleichermaßen zu, aber wesentliche Züge des deutschen Selbstbildes ("pflichtbewusst, sauber, fleißig, gründlich, zuverlässig, anständig, gemütlich, aber auch tapfer, guter Soldat") fehlten bei den Angaben zu den Juden, manche Eigenschaften, die beide Gruppen charakterisieren sollten, standen sogar in Opposition: "heimatliebend – heimatlos; militaristisch/der beste Soldat – unsoldatisch; Idealist – materiell eingestellt; Arbeitstier – scheut körperliche Arbeit".

Vergleichen wir nun diese frühen Ergebnisse mit der Eigenschaftsliste einer repräsentativen Meinungsumfrage aus dem Jahre 1987 (wiederholt 1993; ermittelt mit dem Verfahren der Faktorenanalyse), zeigen sich gegenüber 1951 sowohl Konstanz wie Veränderungen, die sich in sechs Dimensionen zusammenfassen lassen. * In dem Vorstellungskomplex der "jüdischen Weltverschwörung" werden die Juden als "machthungrig, verschwörerisch, unheimlich, rücksichtslos, hinterhältig und politisch radikal" betrachtet. Im Durchschnitt schreiben allerdings nur circa 15 Prozent der Befragten den Juden diese Eigenschaften zu. Diese Verschwörungstheorie ist heute vor allem in der arabischen Welt verbreitet. Die Antisemiten in Deutschland machen "jüdischen Einfluss" dafür verantwortlich, dass es nicht gelingt, "einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen". Hier werden gesellschaftlich nicht zu steuernde Prozesse öffentlicher Diskussion und Erinnerung auf die vermeintliche (Presse-)Macht einer Gruppe zurückgeführt. Diese Personalisierung von sozialen Prozessen ist typisch für vorurteilshaftes Denken.

Antisemitismus heute

Wie ist es nun zu erklären, dass bestimmte Dimensionen des antijüdischen Vorurteils noch von vielen Deutschen geteilt werden und andere nicht mehr, obwohl nichtjüdische Deutsche mit Juden im Alltagsleben kaum je zusammentreffen? Die Erklärung liegt darin, dass sich vor allem die Vorurteile gehalten haben, die sich mit neuen Inhalten haben füllen lassen, die also die alten Vorurteile scheinbar "bestätigen". Diese Inhalte ergeben sich primär aus den Problemen, die die Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit haben.

Anders als bei den Vorbehalten gegen „Ausländer“ gibt es gegenüber den Juden in Deutschland kaum Gefühle einer ökonomischen Konkurrenz oder einer kulturellen Bedrohung durch eine große Zahl von Zuwanderern; auch Rassismus ist hier ohne Bedeutung. Umfragen zeigen, dass die soziale Distanz zu Juden heute sehr gering ist. Auch der religiöse Gegensatz zwischen Judentum und Christentum spielt weder in den Kirchen noch in der Bevölkerung eine wesentliche Rolle. Die Motive des Antisemitismus liegen vorwiegend in dem Schuldgefühl gegenüber den Juden, das in verschiedener Weise abgewehrt wird:

Man schreibt den Juden eine Mitschuld an ihrer Verfolgung zu: Dies tun seit fünf Jahrzehnten circa 20 Prozent der deutschen Bevölkerung, die glauben, "dass die Juden mitschuldig sind, wenn sie gehasst und verfolgt werden". Hier haben wir es mit der Denkweise "Wo Rauch ist, ist auch Feuer" zu tun, die aus der Tatsache, dass Juden in der europäischen Geschichte häufig verfolgt wurden, schließt, dafür müsse es Gründe im Verhalten der Juden gegeben haben. Es ist deshalb für die Entkräftung von Vorurteilen wichtig, sich historisch die gesamte Breite der christlich-jüdischen Beziehungen zu vergegenwärtigen und diese nicht auf eine reine Konflikt- und Verfolgungsgeschichte zu reduzieren.

Man unterstellt den Juden, dass sie ihre Leiden unter der NS-Verfolgung heute dazu benutzen, um möglichst hohe Summen an "Wiedergutmachungs"-Geldern zu kassieren. Dieses Vorurteil verbindet sich mit dem traditionellen Bild des "geldgierigen, betrügerischen und ausbeuterischen Juden". Eng verbunden damit ist die Vorstellung vom großen Einfluss, den Juden ausüben, um die Deutschen zu weiteren Zahlungen zu zwingen. Auch hier kann sich das neue Motiv mit dem alten Vorurteil von der "jüdischen Weltmacht" verbinden, das heute ebenfalls noch von vielen Deutschen vertreten wird. Der Vorwurf, die Juden würden ihren Einfluss geltend machen, um die Deutschen auszubeuten, ist ein klassisches Beispiel für die im Antisemitismus generell zu beobachtende Täter-Opfer-Umkehr.

Die Juden werden als "Störenfriede" gesehen, die durch ihr Beharren auf der Erinnerung an den Holocaust – der Schriftsteller Martin Walser sprach 1998 öffentlich von der "Moralkeule Auschwitz" – permanent an eine Periode deutscher Geschichte gemahnen, die viele gern vergessen würden: Jeweils zwei Drittel der Deutschen würden am liebsten "einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit" ziehen. Auch hier verbindet sich ein aktuelles Unbehagen mit alten, aus dem Antijudaismus stammenden Negativurteilen über die "alttestamentarische Vergeltungssucht" der Juden.

Durch die Gründung des jüdischen Staates ist eine neue Vorurteilsdimension hinzugekommen, indem man nun die einheimischen Juden, die deutsche Staatsbürger sind, für die Politik Israels verantwortlich macht. Hier treffen wir auf ein weiteres wichtiges Motiv des heutigen Antisemitismus unter Deutschen: Die eigene Schuld an der Verfolgung der Juden soll verkleinert werden, indem man sie gegen Menschenrechtsverletzungen der Israelis im Nahostkonflikt aufrechnet. 17 Prozent waren 1987 der Meinung, dass das, "was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, im Prinzip auch nichts anderes ist als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben" (33 Prozent unentschieden, 50 Prozent stimmten nicht zu).

Mit der Zuwanderung von Aussiedlern, Osteuropäern und Muslimen kommen allerdings auch andere "Spielarten" des Antisemitismus nach Deutschland, sodass auch religiöse Formen des Vorurteils (Antijudaismus) und vor allem ein antizionistisches Feindbild, gespeist durch den arabisch-israelischen Konflikt, anzutreffen sind.

Psychische Bedingungen der Individuen und gesellschaftliche Bedingungen ergänzen einander; aber es hängt von den gesellschaftlichen Bedingungen ab, dass die Menschen vom Antisemitismus nicht loskommen und ihn affektiv besetzen. An dem nach Auschwitz fortlebenden Antisemitismus lässt sich die fortwirkende Barbarei erkennen, an der Aufklärung ihre Grenzen erfährt.(1)

Aufklärung versprach einst, im 18. Jahrhundert, die Menschen aus ihren Grenzen herauszuführen, ihnen eine kosmopolitische Welt zu eröffnen. Judenhass galt damals als der Inbegriff finsteren Mittelalters, das man überwunden glaubte. Aufklärung koppelte sich an den Fortschrittsbegriff, und das europäische neunzehnte Jahrhundert wird geprägt durch die Vorstellung vom Verschwinden des Überholten. Aber der Judenhass verschwindet nicht im 19. Jahrhundert, er transformiert sich zum modernen Antisemitismus. Inhaltsleerer Fortschrittsglaube muss dazu herhalten, die Gegenwart des Antisemitismus aus dem Bewusstsein der Menschen fernzuhalten. Alltagsvorstellung vom Leben und wissenschaftliche Praxis decken sich in der falschen Überzeugung: Antisemitismus hat es gegeben, aber gibt es nicht mehr. Dieses moderne Durchschnittsbewusstsein identifiziert Judenhass mit Antisemitismus oder unterscheidet bloß formal zwischen christlichem Mittelalter und säkularasierter Neuzeit.

Die Unterscheidung zwischen Judenhass und Antisemitismus eröffnet aber dem Erkennenden die Möglichkeit, sich vom naturwüchsigen Antisemitismus zu befreien. Die stete Wiederkehr des Antisemitismus erzeugt den Schein des "ewigen" Antisemitismus - aber dies ist ein falscher Schein. Spätestens nach Auschwitz, hat man gemeint, sei es unmöglich, noch Antisemit zu sein. Adorno und Horkheimer haben dies prägnant in ihrem Schlüsselwerk "Dialektik der Aufklärung" ausgedrückt: "Aber es gibt keine Antisemiten mehr."(2) A la lettre genommen, können wir über diese Formulierung aus dem Jahre 1947 vierzig Jahre später nur milde lächeln; aber es wird ein richtiger Gedanke angezeigt: Der Antisemitismus, der zu Auschwitz führte, und der Antisemitismus nach Auschwitz sind nicht identisch. Dieser Gedanke führt über das eng abgesteckte Feld der Antisemitismusforschung hinaus: Antisemitismus ist ein Moment im gesellschaftlichen Prozess, das nur künstlich zu isolieren ist. Auf den gesellschaftlichen Zusammenhang kommt es an, in dem der Antisemitismus erscheint. Dieser gesellschaftliche Zusammenhang läßt sich nur erkennen, wenn man die geschichtlichen Unterschiede herausarbeitet.

Die Rede vom "ewigen Antisemitismus" bedeutet nichts anderes als eine intellektuell-politische Kapitulation vor dem Sachverhalt: Man isoliert den Antisemitismus aus seinem jeweiligen gesellschaftlich-geschichtlichen Kontext und verwandelt ihn in eine anthropologische Konstante. Schnell folgt daraus der Kurzschluss auf angebliche Nationalcharaktere, zu denen ein nationalspezifischer Antisemitismus gehört. Die Rede von "Deutschen und Juden" macht den Antisemitismus zu einer Angelegenheit von anthropologisch differenten Personengruppen, ohne auf die gesellschaftlich-geschichtliche Bestimmung der Individuen zu achten. Der moderne Antisemitismus ist zweifellos an den Nationalismus gekoppelt, aber die Reduktion des Antisemitismus auf die nationale Besonderheit gibt gerade der ideologischen Form nach, zu der Nationalismus und Antisemitismus gehören. Das Gerede von der nationalen Identität putzt nur die alte Ideologie auf; die Identifikation mit nationalen Kollektiven wird für alle Beteiligten bestätigt. Über der Freude "irgendwo dazuzugehören" wird vergessen, dass Kollektivzugehörigkeit zunächst ein gesellschaftlicher Zwang ist. Der gelbe Stern ist äußeres Zeichen für diesen Zwang. Die Kennzeichnung der Juden als Juden im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich ermöglichte überhaupt erst ihre Erfassung und Vernichtung. Die Praxis, Individuen - unabhängig davon, was sie tun und sagen - Kollektiven zuzuschlagen, ahmt den gesellschaftlichen Zwang nach, statt ihn zu kritisieren.

Es beruhigt ungemein, Auschwitz als Folge des deutschen Nationalcharakters zu begreifen und Traditionslinien durch die letzten tausend Jahre zu ziehen. Aber diese anthropologische Formel verdeckt den wirklichen Zusammenhang von modernem Antisemitismus und der Massenvernichtung wehrloser, unbewaffneter Menschen. "Keineswegs ist der totalitäre Antisemitismus ein spezifisch deutsches Phänomen. Versuche, ihn aus einer so fragwürdigen Entität wie dem Nationalcharakter, dem armseligen Abhub dessen, was einmal Volksgeist hieß, abzuleiten, verharmlosen das zu begreifende Unbegreifliche. Das wissenschaftliche Bewusstsein darf sich nicht dabei bescheiden, das Rätsel der antisemitischen Irrationalität auf eine selber irrationale Formel zu bringen. Sondern das Rätsel verlangt nach seiner gesellschaftlichen Auflösung, und die ist in der Sphäre nationaler Besonderheiten unmöglich."(3)

Die falsche Auflösung des antisemitischen Rätsels durch nationale Formeln beruht nicht allein auf falschem Denken, sondern ist in der materiellen Realität begründet. Der Triumph des totalen Klassenkampfes und Krieges, den die Nationalsozialisten führten, lebt in der Entsubstantialisierung der bürgerlichen Gesellschaft nach. Die kosmopolitischen Ideale der Französischen Revolution "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" haben sich in den Individuen nicht durchgesetzt, sondern diese klammerten sich im Verlauf der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft an einen illusionären Strohhalm: an die Nation, der sie sich scheinbar von Natur zugehörig glaubten. In diesem Prozess zeigt sich, dass "Dialektik der Aufklärung" mehr ist als ein Buchtitel. Die bürgerliche Gesellschaft sollte, ihrem Begriff nach, die Menschen aus ihren naturwüchsigen kollektiven Zusammenhängen herauslösen und individuieren. Die Individuen hätten auf einem bestimmten geschichtlichen Stand die Fähigkeit erwerben sollen, sich von der Macht der Vergangenheit zu emanzipieren und frei zu handeln. Dieses Emanzipationsversprechen wird aber schon im 18. Jahrhundert gekoppelt an die Verklärung der bürgerlichen Gesellschaft als einer natürlichen Beziehungsform der Individuen untereinander. Durch die Französische Revolution ist überhaupt erst die französische Nation als politische entstanden. In der vorbürgerlichen Gesellschaft verstand man unter "Nation" hauptsächlich eine - die Juden. Die Proklamation der Menschenrechte löst die Juden als Nation auf in die konstituierte Französische Nation. Dieser Widerspruch drückt sich in den berühmten Worten Clermont-Tonnerres während der Emanzipationsdebatte der Nationalversammlung im Dezember 1789 aus: "Den Juden als Nation ist alles zu verweigern, den Juden als Menschen ist alles zu gewaehren."(4) Darin zeigt sich Verschränkung von Emanzipationsversprechen und Assimilationszwang als Fortschritt von Freiheit und Unterdrückung. Diese Dialektik durchzieht nicht nur die Geschichte der Großen Französischen Revolution, sie bestimmt auch die Verwandlung des Judenhass in Antisemitismus. Dialektik der Aufklärung kennzeichnet also den Prozess des Bewusstseins wie den der materiellen Realität.

Die widersprüchliche Struktur materieller Veränderungen und solchen des bürgerlichen Bewusstseins schlägt sich in der wissenschaftlichen Literatur der letzten zwei Jahrhunderte nieder - meist einseitig. Die große Emanzipationsliteratur, angefangen mit dem aufgeklärten preußischen Beamten Christian Wilhelm Dohm, macht Vorschläge, den traditionellen Judenhass gesellschaftlich aufzulösen. Die ungehemmte Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft wird nach den Vorstellungen von Dohm, Mirabeau, Gregoire und anderen die alten Vorurteile beseitigen. "Vorurteil" bedeutet in dieser Literatur nicht bloß "falsche Meinung", sondern Vorurteil bedeutet wesentlich die rechtliche und gesellschaftliche Sonderstellung der Juden in der traditionellen Gesellschaft, deren hässlichster Ausdruck das ummauerte Getto war. Der vom Kriegsrat Dohm gewählte Titel seines 1781 erschienenen Buches kann durchaus als Programm genommen werden: "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden". Aus der Perspektive des aufgeklärten Beamten erscheint die Masse der Juden als Objekt - von Besserungsmaßnahmen, durchaus im doppeldeutigen Sinn. Aber die Formulierung trifft ein wesentliches Verhältnis: Die bürgerliche Emanzipation erreicht die Masse der europäischen Juden von außen - sie werden zwangsemanzipiert.

Nach der Großen Revolution sind in Frankreich die reaktionären christlichen Argumente gegen jüdische Gleichberechtigung kaum noch zu hören, obwohl sie in Deutschland bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts nicht ganz verschwinden. Aber der Geist der neuen Zeit macht sich in der Verwandlung des christlich begründeten Judenhasses in modern antisemitische Argumentationen bemerkbar. Im Denken Fichtes, der zunächst die Revolution verteidigt, erscheint ein neues geschichtliches Subjekt: die Nation. Die deutschen Jakobiner hatten zur Beseitigung der "herrschenden Vorurteile" - darunter wurde wesentlich die Unterdrückung der Juden verstanden - aufgerufen (5); 1793 macht Fichte aber eine erschreckende Wendung, die aus naturrechtlichem Geiste kommt: "Von einem Volke, dessen Geringster seine Ahnen höher hinaufführt, als wir andern alle unsere Geschichte, und in einem Emir, der älter ist, als sie, seinen Stammvater sieht - eine Sage, die wir selbst unter unsere Glaubensartikel aufgenommen haben; das in allen Völkern die Nachkommen derer erblickt, welche sie aus ihrem schwärmerisch geliebten Vaterlande vertrieben haben; das sich zu dem den Körper erschlaffenden, und den Geist für jedes edle Gefühl tötenden Kleinhandel verdammt hat, und verdammt wird; das durch das bindendste, was die Menschheit hat, durch seine Religion, von unsern Mahlen, von unseren Freudenbecher, und von dem süßen Tausche des Frohsinns ausgeschlossen ist; das bis in seinen Pflichten und Rechten, und bis in der Seele des Allvaters uns andere alle von sich absondert, - von so einem Volke sollte sich etwas anderes erwarten lassen, als was wir sehen; daß in einem Staate, wo der unumschränkte König mir meine väterliche Hütte nicht nehmen darf, und wo ich gegen den allmächtigen Minister mein Recht halte, der erste Jude, dem es gefällt, mich ausplündert."(6)

Fichte versucht den der bürgerlichen Gesellschaft inhärenten Widerspruch von politischer Freiheit und ökonomischer Unterdrückung auf Kosten der Juden zu lösen. Menschenrecht solle man ihnen gewähren, aber keine Bürgerrechte.

Diese Argumentation von Fichte verdient besondere Beachtung, weil sie deutlich die Differenz von traditionellem Judenhass und modernem Antisemitismus zeigt. In einer Fußnote versucht Fichte sich zu erklären. Er weist jede religiöse Intoleranz von sich - keineswegs aus taktischen Gründen: "Ich will nicht etwa sagen, daß man die Juden um ihres Glaubens willen verfolgen solle. "(7) Fichte stellt der Emanzipationsliteratur und Aufklärung seine "Tatsachen" gegenüber; der Idealist wird zum Positivisten: "Ich weiß, daß man vor verschiedenen gelehrten Tribunalen eher die ganze Sittlichkeit, und ihr heiligstes Produkt, die Religion, angreifen darf, als die jüdische Nation. Denen sage ich, daß mich nie ein Jude betrog, weil ich mich nie mit einem einließ, daß ich mehrmals Juden, die man neckte, mit eigener Gefahr und zu eigenem Nachteil in Schutz genommen habe, daß also nicht Privatanimosität aus mir redet. Was ich sage, halte ich für wahr; ich sagte es so, weil ich das für nötig hielt: ich setze hinzu, daß mir das Verfahren vieler neuerer Schriftsteller in Rücksicht der Juden sehr folgewidrig scheint, und daß ich ein Recht zu haben glaube, zu sagen, was und wie ich's denke. Wem das Gesagte nicht gefällt, der schimpfe nicht, verleumde nicht, empfinde nicht, sondern widerlege obige Tatsachen."(8)

In Fichtes Argumentation erscheint noch unverstellt das Kennzeichen des modernen (bürgerlichen) Antisemitismus, das später durch die psychische Abwehr der Antisemiten verschleiert wird: Indifferenz. Ausdrücklich weist Fichte, "Privatanimositäet" von sich: Der Antisemitismus ist abstrakt, der Judenhass konkretistisch. Beim Judenhass geht es ums Totschlagen, brutal, mit Knüppeln und was dem Pogromisten gerade so in die Hand fällt; der Fortschritt zum Antisemitismus bedeutet nicht weniger Gewalt, sondern andere. Fichtes Argumentation bedarf der "Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre"(9). Adorno konstatiert eine menschliche Qualität, durch die alle modernen Individuen geschlagen sind und die auch den Schuldlosen mitschuldig macht: "Die Schuld des Lebens, das als pures Faktum bereits andern Lebenden Atem raubt, einer Statistik gemäß, die eine überwältigende Zahl Ermordeter durch eine minimale Geretteter ergänzt, wie wenn das von der Wahrscheinlichkeitsrechnung vorgesehen wäre, ist mit dem Leben nicht mehr zu versöhnen. Jene Schuld reproduziert sich unablässig, weil sie dem Bewußtsein in keinem Augenblick ganz gegenwärtig sein kann."(10)

Der Ursprung bürgerlicher Subjektivität, wie wir ihn beim jungen Fichte beobachten können, ist aber kein bloß subjektiver: Meinung tritt hier zwar als Setzung auf, wird aber behauptet als Tatsache. Sie objektiviert sich in der Trennung von Menschen- und Bürgerrechten. Die in der Meinung latente Gewalttat wird manifest: "Menschenrechte müssen sie haben, ob sie gleich uns dieselben nicht zugestehen; denn sie sind Menschen, und ihre Ungerechtigkeit berechtigt uns nicht, ihnen gleich zu werden. Zwinge keinen Juden wider seinen Willen, und leide nicht, daß es geschehe, wo du der Nächste bist, der es hindern kann; das bist du ihm schlechterdings schuldig. Wenn du gestern gegessen hast, und hungerst wieder, und hast nur auf heute Brot, so gib's dem Juden, der neben dir hungert, wenn er gestern nicht gegessen hat, und tust sehr wohl daran. - Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein ander Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern und sie alle dahin zu schicken."(11)

Normalerweise werden nur die letzten Zeilen zitiert, um Fichte dann als Vorläufer der Nazis zu charakterisieren. Das Grauen wird aber erst durch den Zusammenhang unerträglich: Die sittlichen Regeln, die im ersten Absatz in aller Strenge und Rigidität betont werden, sind von der Wirklichkeit der nationalsozialistischen Herrschaft um eine Welt entfernt: Gerade als Menschen werden die Juden nicht behandelt, sondern - im Nazi-Sprachgebrauch - "sonderbehandelt als Untermenschen", als lebendige Dinge, über die die Herrenmenschen absolut verfügen.

Fichte überträgt die Spaltung, die im Unterschied von Menschen- und Bürgerrechten erscheint, und der alle Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft faktisch unterliegen, allein auf die Juden. Die Trennung von Menschen- und Bürgerrechten reflektiert den zentralen Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft selbst, den Fichte nicht durchschaut. Er spricht den Juden die Fähigkeit zur Emanzipation ab - sie sind der Heteronomie verhaftet durch die Praxis des Kleinhandels, und sie gelten darum als zur Autonomie des Staatsbürgers, des Citoyen, unfähig. Der Widerspruch des bürgerlichen Menschen, Bürger und Staatsbürger, Bourgeois und Citoyen in einer Person zu sein, wird von Fichte projiziert auf die Juden. Nur den Juden wird der Widerspruch, dem alle Subjekte der bürgerlichen Gesellschaft unterliegen, als unlösbarer schuldhaft zugeschoben: im Verweis auf ihre traditionelle ökonomische Praxis, auf Geld- und Warenhandel.

An Fichtes Argumentation kann man sehen, dass antisemitisches Meinen sich nur gesellschaftlich begreifen lässt, nicht als Tatsachendiskussion über die Juden. Unreflektiert bleibt bei Fichte der ökonomische Prozess, mit dem er die Juden identifiziert. Die Heteronomie ökonomischer Prozesse bedroht die Autonomie des selbstgesetzten Ichs. Die abstrakte Setzung einer Identität schließt die Juden aus; der gesellschaftlich emanzipative Inhalt weicht gegenüber der Autonomie des Subjekts zurück. Fichtes Gesellschaftsschrift "Der geschlossene Handelsstaat" macht aus der Not eine Tugend - die des absoluten Zwanges. Aus Fichtes Argumentation sind nur die schieren, subjektivistischen Urteile ins Arsenal des modernen Antisemitismus übergegangen. Fichte erscheint bloß als verdammungswürdiger Halsabschneider, nicht aber als der Antisemit, als der er zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft gehört - nicht als Ausnahme, sondern als Normalfall. Die Forderung nach Menschenrechten für die Juden bei gleichzeitigem Ausschluss von den Bürgerrechten erscheint heute noch: in der scheinbar anti-antisemitischen Allerweltsaussage "Die Juden sind doch auch Menschen".

Es sind die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft, die im antisemitischen Meinen ihren Ausdruck finden. Dieses Meinen ist latente Gewalttat, wie wir aus Fichtes Argumentation wissen. Bei seinen Nachfolgern wird aus der Argumentation die affektive Seite - der "süße" Tausch des Frohsinns mit uns von "Herz zu Herzen" - herausgebrochen und in einen "Brei des Herzens, der Freundschaft und Begeisterung" verwandelt, wie Hegel seinen Kollegen Fries, als "Heerführer dieser Seichtigkeit", kritisiert hat. (12) Eine Literatur, die Emanzipation und Assimilation als Irrweg verdammt, hat eine abschüssige Traditionslinie von Reformation über Aufklärung, deutschen Idealismus, Marxismus bis zu Hitler und Himmler gezogen, die selber einer irrationalen Formel gleicht. Der moderne Antisemitismus läßt sich aber ohne die im gesellschaftlichen Leben wirksame Dialektik nicht erkennen. Das trifft vor allem auf das monumentale Werk von Leon Poliakov "Geschichte des Antisemitismus" zu, einer ungeheuren Materialsammlung, aus der jüngere Autoren sich wie aus einem Steinbruch bedienen. (13)

"Wohl sieht retrospektiv alles so aus, als hätte es so kommen müssen und nicht anders sein können. Man wird unter den Berühmten der deutschen Vergangenheit bis hinauf zu Kant und Goethe nur wenige nennen können, die von judenfeindlichen Regungen ganz frei waren. Aber indem man auf solche Universalität insistiert und die Fatalität des Geschehens im Begriff nochmals wiederholt, macht man sie in gewissem Sinn sich selbst zu eigen. Den Spuren des heraufdämmernden Verhängnisses in der deutschen Vergangenheit ist allerorten auch deren Gegenteil gesellt, und die Weisheit, ex post facto zu dekretieren, was von vornherein das Stärkere gewesen sei, macht es sich allzu leicht, indem sie das Wirkliche als das allein Mögliche unterstellt."(14)

Der moderne Antisemitismus resultiert aus missglückter Emanzipation. Gerade weil weder Toleranz noch Intoleranz bei der antisemitischen Argumentation eine Rolle spielen, ist Fichtes Verteidigung der Französischen Revolution so genau zu lesen: Begründend wirkt eine Fehlinterpretation des gesellschaftlichen Prozesses. In den Juden wird der Inbegriff ökonomischer Modernisierung gesehen - die Vorkehrung von persönlicher Gewalt in die Gewalt der Sachen, die wesentliche Veränderung in jenem Prozess, wird zwar erfahren, aber nicht begriffen. Deswegen spricht Fichte von "Ausplündern". Fichte verteidigt eine Revolution ohne ihren gesellschaftlichen Inhalt; "Revolution" ohne Inhalt derart im nationalen Rahmen zu sehen, heißt nicht anderes als chauvinistischen Existenzkampf zu propagieren. Wo ein bestimmter Begriff der bürgerlichen Gesellschaft fehlt, leistet der Begriff der Nation Ersatz. Der gesellschaftliche Zusammenhang der Individuen erscheint als ein quasi natürlicher; es geht dann nur mehr um Bestimmungen des "Volks". Auf diese Weise konnte Fichte zum Ideologen der antinapoleonischen Befreiungskriege werden. Der Kantianer Saul Ascher hat diesen Umschwung als Germanomie bezeichnet. Fichte avancierte nicht zufällig zum Lieblingsphilosophen der deutschen Romantik. "Der Judenhaß beginnt erst mit der romantischen Schule (Freude am Mittelalter, Katholizismus, Adel, gesteigert durch die Teutomanen - Ruehs -)" heißt eine fragmentarische Notiz in Heines Nachlass. (15)

Wiederholung bedeutet nicht Identität. Freilich gibt es einen Zusammenhang von traditionellem Judenhass und modernem Antisemitismus. Beide, Judenhass und Antisemitismus, besitzen eine gemeinsame Substanz: Hass auf die nahen Fremden, die das Geheimnis des gesellschaftlich verweigerten Ersehnten kennen. Es gibt nur eine in der europäischen Geschichte identische Gruppe, auf die sich dieser Hass anwenden lässt: Das sind die Juden. Die Interpretationen, die einen ewigen Antisemitismus am Werke sehen, gehen fehl, weil sie die bestimmten Unterschiede nicht sehen wollen. Judenfeindliche Tendenzen hat es zweifellos in der Antike gegeben, und es hat solche Tendenzen im ersten christlichen Jahrtausend gegeben. (16) Aber es lässt sich kein identisches System hinter den Unruhen in Alexandria (38 nach christlicher Zeitrechnung) und den antijüdischen Attacken der Kirchenväter entdecken, - wenn man nicht ein nationales Modell mystifiziert, wie es in der zionistischen Literatur meist geschieht. (17) Andere Autoren sprechen von den Juden als Minderheit (18), - auch gegen die Absicht der Autoren verfälscht dieser Begriff der Minderheit das Einzigartige des Phänomens. "Minderheit" sagt nichts über die spezifische geschichtliche Konstellation, in welcher Juden mit anderen Völkern in verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen lebten. Um diese wechselvollen gesellschaftlichen Beziehungen geht es hier. Die seit dem Ausgang der Antike bis zur Säkularisierung in Europa vorherrschende Interpretation der Welt entstammt wesentlich der jüdischen Tradition und bekämpft sie zugleich: das nahe Fremde. Bissig hat das der junge Marx mit seinem Freund Friedrich Engels formuliert: "Ein Dorn, der mir - wie das Judentum der christlichen Welt - von der Stunde der Geburt im Auge sitzt, sitzen bleibt, mit ihm wächst und sich gestaltet, ist kein gewöhnlicher, sondern ein wunderbarer, ein zu meinem Auge gehöriger Dorn, der sogar zu einer höchst originellen Entwicklung meines Gesichtssinnes beitragen müßte."(19)

Diesen christlich verzerrten Gesichtssinn wollte die europäische Aufklärung korrigieren; aber es gelang ihr nur in begrenztem Maße, weil die geschichtliche und gesellschaftliche Dynamik, die diesen Sinn verzerrte, ihr verschlossen blieb. Die Aufklärer blieben an einer Vorstellung unverzerrter Kommunikation von großen Einzelnen hängen: Die überragende Rolle von Moses Mendelssohn als Dialogpartner der gebildeten europäischen Spitze lässt sich aus dieser Lage verstehen. Dem idealisierten Einzelnen, dem Weltbürger als der Zielvorstellung des aufgeklärten Emanzipationsanspruchs entspricht, als Kehrseite, die Verachtung der Masse. Der Individualitätsanspruch wird universalisiert. Dieser weltbürgerliche Kosmopolitismus wird allen späteren Nationalisten zum Greuel, denn damit wird die Vorherrschaft des traditionalen wie des modernen Kollektivs in Frage gestellt. Gegenaufklärung und Restauration, die auf Aufklärung und Emanzipation antworten, müssen der gesellschaftlich bereits erfolgten Verweltlichung soweit Rechnung tragen, dass traditionelle christliche Legitimationsfiguren in einen neuen ökonomisch-gesellschaftlichen Begründungszusammenhang eingeschmolzen werden müssen. Der moderne Antisemitismus als Reaktion auf die Französische Revolution und ihre politisch- ökonomischen Folgen erfüllt genau diese Funktion.

Wenn wir vom modernen Antisemitismus sprechen, bedeutet dies, dass der traditionelle Judenhass auch ein Antisemitismus war: Geschichtliches Denken erklärt aus der Anatomie des Menschen die des Affen und nicht umgekehrt. Die Periode von 1750 bis 1850 ist für die Geschichte des Antisemitismus deshalb so aufschlussreich, weil in dieser Zeit der Formwechsel des traditionellen Judenhasses zum Antisemitismus stattfindet - bevor Antisemitismus als Wort existiert. Der nationalsozialistische Antisemitismus hat versucht, sich noch einmal aufs Schärfste gegen den christlich legitimierten Judenhass abzugrenzen. Horkheimer und Adorno analysierten diese Verleugnung der geschichtlichen Wurzeln: "Der durchschnittliche Gläubige ist heute schon so schlau wie früher bloß ein Kardinal. Den Juden vorzuwerfen, sie seien verstockte Ungläubige, bringt keine Masse mehr in Bewegung. Schwerlich aber ist die religiöse Feindschaft, die für zweitausend Jahre zur Judenverfolgung antrieb, ganz erloschen. Eher bezeugt der Eifer, mit dem der Antisemitismus seine religiöse Tradition verleugnet, daß sie ihm insgeheim nicht weniger tief innewohnt als dem Glaubenseifer früher einmal die profane Idiosynkrasie."(20)

Beim traditionellen Judenhass verschränken sich rationale Kalküle und christliche Legitimation. In einer aufschlussreichen Untersuchung über Judenpogrome im 14. Jahrhundert hat Franticek Graus herausgearbeitet, dass es durchaus übliche Praxis war unter den Herrschenden, die besten Judenhäuser im voraus den christlichen Herren zu versprechen, "wann die Juden dasselbes un nehst werden geslagen". So steht es in einer Urkunde Karls IV. vom Juni 1349. (21) Manipulative Aufstachelung zeichnet nicht nur das Pogrom im späten Zarismus Ende des 19. Jahrhunderts, sondern schon das mittelalterliche Pogrom aus. Nicht nur das Christentum wird als Legitimation profaner Motive benutzt, auch die Revolte gegen die Herrschaft im Interesse der Herrschaft.

"Gott will es" - dieser fürchterliche Ruf der Kreuzzügler leitete die ersten systematischen Massaker an den Juden in Europa ein: 1096. Das nationalistisch werdende Europa des 19. Jahrhunderts hat in den Kreuzzügen sein identitätsstiftendes Modell gesehen. Die Praxis besteht in der von höchster moralischer und weltlicher Stelle gebilligten Aufhebung des Tötungstabus. Zeitlich wie räumlich kommt die Rechtfertigung von weit her: Die Ungläubigen sprich die Muslime - haben die heilige Stadt Jerusalem und das Grab des Herren in Besitz genommen. Elieser bar Nathan hat überliefert, wie damit der Massenmord an den Juden der Rheinländer gerechtfertigt wurde:"Sie sprachen in ihrem Herzen: 'Sehet, wir ziehen hinab, unseren Heiland zu suchen und Rache zu üben für ihn an den Ismaeliten; hier aber sind die Juden, welche ihn umgebracht haben und gekreuziget! Auf, lasset denn zuerst an ihnen uns Rache nehmen und sie austilgen unter den Völkern, auf das vergessen werde der Name Israel; oder sie sollen unseresgleichen werden und zu unserem Glauben sich bekennen!'" (22)

Die Herrschaft der christlichen Religion wird mit barbarischen Mitteln in Europa befestigt. Als ein Herrschaftsmittel spielt der Judenhass eine Rolle, der im Schoße der christlichen Herrschaft zur Tradition des christlichen Abendlandes wird. An der Schwelle zur Neuzeit haben wir es mit einem in ganz Europa verbreiteten traditionellen Judenhass zu tun. Heine hat diesen Vorgang in einem großartigen aufklärerischen Aphorismus ausgedrückt: "Juden - sie waren die einzigen, die bei der Christlichwerdung Europas sich ihre Glaubensfreiheit behaupteten -."(23) Der elementare Charakter des Judenhasses richtet sich gegen die Härte der christlichen Herrschaft, trifft aber die der Vaterreligion treuen Juden. Freud hat im Angesicht des nationalsozialistischen Triumphes Ursprungselemente des Judenhasses herausgearbeitet. Er hat nicht die simple Ideologie christlichen Judenhasses a la lettre genommen, sondern ihre Dialektik entwickelt: "Und endlich das späteste Motiv in dieser Reihe, man sollte nicht vergessen, daß alle diese Völker, die sich heute im Judenhaß hervortun, erst in späthistorischen Zeiten Christen geworden sind, oft durch blutigen Zwang getrieben. Man könnte sagen, sie sind alle 'schlecht getauft', unter einer dünnen Tünche von Christentum sind sie geblieben, was ihre Ahnen waren, die einem barbarischen Polytheismus huldigten. Sie haben ihren Groll gegen die neue aufgedrängte Religion nicht überwunden, aber sie haben ihn auf die Quelle verschoben, von der das Christentum zu ihnen kam. Die Tatsache, daß die Evangelien eine Geschichte erzählen, die unter Juden und eigentlich nur von Juden handelt, hat ihnen eine solche Verschiebung erleichtert. Ihr Judenhaß ist im Grunde Christenhass, und man braucht sich nicht zu wundern, daß in der deutschen nationalsozialistischen Religion diese innige Beziehung der zwei monotheistischen Religionen in der feindseligen Behandlung beider so deutlichen Ausdruck findet."(24) Die Entwicklung des modernen Antisemitismus wirft auch an dieser Stelle ein Licht nach rückwärts: auf den traditionellen Judenhass. Aus diesem Grunde sollte man nicht von einem christlichen, sondern von einem in der Volkstradition verwurzelten Judenhass sprechen, der von der christlich organisierten Herrschaft funktionalisiert wird. Der Judenhass bietet sich an wegen der Verschiebungsmöglichkeit der Affekte, die sich primär gegen die drückende Herrschaft richten. Dazu ist eine wesentliche psychische Qualität nötig, von der Adorno gesagt hat, sie könne soziologische Wunder vollbringen: Ambivalenz. In einer patriachalischen Gesellschaft gehört Ambivalenz zur psychischen Grundausstattung jeden Individuums; sie gehört zum "Wesen des Vaterverhältnisses"(25), das Modell von Herrschaft wird.

Die Individuen verinnerlichen den von der Herrschaft aufgezwungenen Triebverzicht; in ihnen selbst bildet sich eine Ambivalenz von Liebe und Hass gegen diesen mächtigen Herren, der einst der Vater oder Gott war. "Gott will es" - dieser Schlachtruf der Kreuzzüge ermöglicht es, das Schuldbewusstsein, das dem Hass auf den Herren entspringt, auf die Juden zu verschieben, die mit dem Herren identifiziert werden, aber doch nicht mit ihm identisch sind. Die christliche Herrschaft bedient sich dieser Gefühlsambivalenz, indem sie die verhassten Juden schlagen lässt und selbst, als Autorität, Liebe und Achtung einstreicht. Auf die antisemitische Untat, das Pogrom, muss deshalb auch die Strafe folgen, die wiederum die Autorität des Herren steigert. Der Tat gegenüber bleibt bei den Unterdrückten die Ambivalenz: Lustvoll war die Gewalt, weil sie die eigene Unterdrückung kurz aufhob, angstvoll wird sie verdrängt oder gar verleugnet, weil auf sie Strafe stand oder noch steht. Das eigene Schuldbewusstsein gegen den Herren der schlecht getauften Christen lässt sich im Pogrom ganz auf die Juden verschieben, bis die alte Ordnung wiederhergestellt ist. Die christliche Herrschaftsordnung bedarf der speziellen Unterdrückung der Juden, damit die allgemeine Unterdrückung erträglicher wirkt. Die Kreuzzüge stehen in der Geschichte als das brutalste Mittel zur Errichtung christlicher Herrschaft da; sie liefern das Modell des Heidenkriegs, der den Besiegten vor die Alternative Taufe oder Tod stellt. Nichtanerkennung des Feindes als oberstes Prinzip wird durch die christliche Religion legitimiert. Im 11. Jahrhundert gibt es Judenverfolgungen als Generalprobe, lange bevor es zu den Massakern der Kreuzzüge kommt. Die Verschwörungstheorie spielt dabei immer eine große Rolle: Die Juden seien mit dem äußeren Feind, und, ist der nicht sichtbar, mit dem Teufel im Bunde.

Verschwörungstheorie und Gerücht gehören zusammen: "Um so bezeichnender ist es, daß bis zum XI. Jahrhundert keine Chronik von Ausbruechen des Volkszorns gegenüber den Juden berichtet. Aber nun kurz nach tausend versetzen wirre Gerüchte die Christenheit in Unruhe. Auf Anstiften der Juden habe der 'Fürst von Babylon' das Grab des Herren zerstören lassen; er habe auch gegen die Christen im Land unzählige Verfolgungen in Gang gebracht und hätte dabei auch den Patriarchen von Jerusalem enthaupten lassen. Was hier auch immer in den Bereich der orientalischen Märchen gehören mag (in Wirklichkeit ging der unduldsame Hakim ebenso scharf gegen Juden wie auch gegen Christen vor), im Abendland beginnen Fürsten, Bischöfe oder Bauernlümmel unverzüglich damit, Rache an den Juden zu üben: die Juden werden in Rouen, Orleans, Limoges (1010), Mainz (1012) und zweifellos auch in anderen Städten am Rhein und, wie es scheint, auch in Rom zwangsweise bekehrt, niedergemacht und ausgetrieben."(26) Die reale Tat wird begangen - legitimiert durch das Gerücht. Schon zu Beginn der organisierten Judenverfolgung in Europa lässt sich Adornos Aphorismus lokalisieren: "Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden." (27)

Damit das Gerücht greift, müssen die Opfer designiert werden. Weltliches und noch viel mehr kirchliches Judenrecht besorgen dies in einem säkularen Prozess. Die Jahrtausendwende mit den spanischen Heidenkriegen und den Kreuzzügen ist gekennzeichnet durch den Zugriff der kirchlichen Macht, die eine äußerliche Kennzeichnung der Juden zur Folge hat. Die Juden werden von den Herrschenden verurteilt, in einer elenden Lage zu leben. "Anhand einer zusammenhängenden Urkundengruppe läßt sich so der Weg verfolgen vom freien königlichen Kaufmann, der weite Räume durchzieht und den Karolingerhof mit erlesenen Waren des Fernhandels versorgt, bis zum königlichen Kammerknecht, der - Objekt eines lehnbaren königlichen Rechts - inzwischen schon und künftig immer häufiger Gegenstand der Verleihung von Territorialfürsten ist. Obwohl Friedrich Il. nach seiner Einleitung über die Kammerknechtschaft den Text Heinrichs IV. von 1090 unverändert wiederholt, bedeutet dieser Text nicht mehr dasselbe. Denn der faktische Status der Juden, die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kirchenrechtlichen Bedingungen hatten eine allmähliche, aber gründliche Änderung erfahren, und Friedrich trug ihr mit dem Status der Kammerknechtschaft Rechnung. Die nun allseitig fixierte 'Knechtschaft' der Juden gab den Rechtstitel her für die seit dem 13. Jahrhundert erheblich beschleunigte Absonderung, Diskriminierung und Unterdrückung der Minderheit, deren ökonomische Unentbehrlichkeit abnahm."(28) Die geschichtliche Reflexion klärt darüber auf, dass dem modernen Vorurteil ein materielles Urteil der Herrschaft vorausgegangen ist, das die Verurteilten gezeichnet hat.

In der Geschichte des Antisemitismus ist auch dies wörtlich zu nehmen. Die klare Trennung von Christen und Juden teilt den Juden einen in jeder Beziehung anderen Status zu. Das IV. Laterankonzil 1215 macht den Juden deutlich Kleidervorschriften, aus denen dann der obligatorische Gelbe Fleck entwickelt wird. Die Juden werden nun auch auf eine soziale Rolle fixiert: auf die des Agenten im Waren- und Geldverkehr, auf letzteren in seiner gefährlichsten Form, den Geldverleih genannten Wucher. In der traditionalen Gesellschaft versucht die herrschaftliche Gewalt den freien Geldverkehr zu begrenzen: Den Christen hatte das III. Lateranische Konzil 1179 verboten, Zinsen zu nehmen. Den Juden hatte man damit ein zweifelhaftes Monopol zugeschanzt: die Geldwirtschaft innerhalb einer agrarischen Traditionsgesellschaft. Als Geldbesitzer, bei denen die christliche Umwelt verschuldet war, waren sie vorzügliche Objekte gewalttätiger Begierde: der Herren wie der christlichen Untertanen. Da es überhaupt keine Vergleichsmaßstäbe gab und das Risiko für den Verleiher ungeheuer war, setzte sich das Wort Wucher für jede Zinsnahme fest. Das ökonomische Vorurteil im modernen Antisemitismus hat seine materielle Basis in der verschleierten vorkapitalistischen Ökonomie. Der Konzilsbeschluss über den jüdischen Wucher schränkte gerade den jüdischen Zins ein und machte ihn kalkulierbar; der stille Profiteur des Zinsverbotes war die Kurie, besonders zur Zeit der Kreuzzüge. (29)

Das gefährliche Zinsgeschäft hatte noch eine andere Seite: Die Juden, denen agrarische Tätigkeit unmöglich gemacht wurde, mussten ihr Gewerbe ausüben als servi camerales - als Kammerknechte. Die Knechtschaft war total, denn die Juden wurden zu waffenlosen Schutzbedürftigen: "Wer das Waffenrecht verloren hat, ist in seiner rechtlichen und sozialen Umstellung herabgedrückt und nach germanischer und mittelalterlich- deutscher Auffassung Unfreier, Knecht und in vollständige Abhängigkeit von seinem Herrn gebracht."(30) Die jüdische Existenz im agrarischen Europa ist seitdem abhängig vom Geldgeschäft. Nur aus dessen Profiten können die Schutzgelder an die Herren bezahlt werden. Unter den Gezeichneten bildet sich eine ganz besondere Moral aus, die auf die Verfolgung und Verbannung in die Zirkulationssphäre reagiert: "Es ist die Religiösität der 'Frommen Deutschlands', wesentlich formuliert von dem 1207 gestorbenen Juda ben Samuel im 'Buch der Frommen'. Die 1096 aufgezwungene Alternative 'Tod oder Taufe' wird darin mit der Aktivierung der Theologie des Kidusch ha-schem, der 'Heiligung seines Namens', beantwortet, die die Selbsttötung in der Verfolgung zur unbedingten Forderung erhebt, Selbstverteidigung (wie sie 1097 geübt wurde) ablehnt und Selbsttötung als Askese, Weltabkehr, Fatalismus und rigorose Lebensverneinung verinnerlicht."(31) Schon dieses Zitat macht deutlich, wie sehr die radikale Abkehr von Gewalt die traditionellen Denkschemata sprengt. Die aschkenasischen Juden haben sich dem Gleich für Gleich traditioneller Gewalt entzogen und alle Verfolgungen bis in die Moderne überlebt: Die Verfolger empfinden diese Tatsache als unheimlich. Der moderne Antisemitismus wird die Juden als feige beschimpfen; die Auseinandersetzungen um die Kriegsteilnahme von Juden reichen von den sogenannten Befreiungskriegen bis in den ersten Weltkrieg.

Wie sehr die Stellung zur Gewalt von der gesellschaftlichen Lage abhängt, zeigt die Geschichte der sephardischen Juden. "Die Juden der frühen Neuzeit waren keine einheitliche Gruppe. Sie waren durch ihre Jahrhunderte währende Akkulturation an das arabische und christliche Spanien und an den deutschsprachigen Raum Mitteleuropas in zwei große Kulturen geschieden, die Sephardim und die Aschkenasim (von hebräisch spharad = Spanien, bzw. aschkenaz = Deutschland), also in eine spanisch- und eine deutschsprachige Gruppe. Die Sephardim erlebten als Teil der islamischen Kultur des mittelalterlichen Spanien eine kulturelle und wirtschaftliche Blüte, die sich nur mit der hellenistischen und der deutsch-jüdischen Periode der Emanzipationszeit vergleichen läßt."(32)

Das IV. Laterankonzil beschäftigte sich schon damit, die Juden aus hohen Ämtern fernzuhalten. Das galt nicht für Deutschland, sondern für das christlich werdende Spanien. In der Reconquista, der christlichen Eroberung des islamischen Spanien, die vor den Kreuzzügen des 11. Jahrhunderts schon das Modell des Heidenkrieges abgab, geht es um die Durchsetzung christlicher Herrschaft in Spanien. In dem Kampf gegen den Islam sind aber die kastilischen Könige zu schwach, ihr gewonnenes Land allein mit christlichen Herren zu verwalten. Die Juden, die im islamischen Spanien schon eine kulturelle und wirtschaftliche Blüte erlebten, waren sogar weit besser geeignet als die christlichen Krieger und Abenteurer, ein geordnetes gesellschaftliches Leben zu organisieren. Die Kurie versuchte auch hier, mit den Beschlüssen des IV. Laterankonzils die christliche Herrschaft exklusiv durchzusetzen.

Zunehmend verstärkt sich im 13. und 14. Jahrhundert, was man Subreconquista genannt hat. Spanien sollte durch den Druck des Heiligen Stuhls an das übrige Europa angeglichen werden: "Solange die eigentliche Reconquista im vollen Gange war und die militärische Streitmacht der Christen sich auf eine im wesentlichen von Juden wahrgenommene Verwaltung stützte, dachte jedoch in dem Spanien der drei Religionen niemand daran, an die traditionellen Strukturen zu rühren. Wie wir schon gesagt haben, verwandten die Kirchenfürsten und die Führer der militärischen Orden, ganz wie die Könige, die Juden als Verwaltungsbeamte und Finanzfachleute. "(33) Man lebte so eng zusammen, daß die Kirche sich nicht scheute, den Zehnten auch von den Juden zu nehmen - sie also als Mitglieder der Kirchengemeinden betrachtete. Der Neid gegen die Juden wurde jedoch geschürt; als sichtbare Zeichen ihrer Blüte unter dem Islam existierten noch die Aljamas, die nicht mit den europäischen Gettogemeinden zu vergleichen waren. Der Druck nahm zu, obwohl oder gerade weil sich im Laufe der Jahrhunderte viele gemeinsame Rituale und Praktiken zwischen den drei unterschiedlichen Religionen entwickelt hatten. Viele Juden wurden im 14. Jahrhundert gezwungen, das Christentum anzunehmen; diese Neuchristen hießen Conversos, in jüdischer Tradition auch verständnisvoller Anussirn (Gezwungene) genannt: Bekannt geworden aber ist ihr spanischer Schimpfname Marranen, der die Juden zu Schweinen macht.

1492, unmittelbar nach dem Fall Granadas und dem Ende islamischer Herrschaft in Spanien, setzte sich Ferdinand von Spanien an die Spitze der klerikal angefachten antijüdischen Bewegung und vertrieb die Juden aus Spanien; ihnen wurde eine Frist von vier Monaten gewährt, Geld und wertvolle Metalle auszuführen, war ihnen untersagt. Religion wird in diesem Kampf als Herrschaftsmittel benützt - so eindeutig, dass der erste Theoretiker moderner Staatsgewalt, Machiavelli, den spanischen König als Beispiel des Neuen Principe lobt, der sich der Religion bedient. Der Kampf gegen die Marranen ging der Austreibung der Juden voraus. Die besonders hässliche Gestalt der Inquisition in Spanien fand ihre Legitimation in der Behauptung, dass die Übergetretenen nur Scheinchristen seien. Reiche Marranen als Opfer der Inquisition kamen auch Ferdinand recht; er finanzierte mit dem konfiszierten Vermögen den Sturm auf Granada.

Nach der Austreibung flohen viele Juden nach Portugal, das wirtschaftlich hinter Spanien zurückgeblieben war. Als aber eine Heirat Manuels 1. von Portugal mit der Infantin Spaniens in Aussicht genommen wurde, verlangten die Katholischen Könige, wie sich Ferdinand und Isabella stolz nannten, die Austreibung der Juden aus Portugal. Um den drohenden wirtschaftlichen Ruin Portugals abzuwenden, fand Ostern 1497 eine brutal durchgeführte Massenzwangstaufe statt. Auf diese Weise entstand die marranische Bevölkerung Portugals, eine Population von fünfhunderttausend Menschen, deren Nachkommen sich später stolz "Die Nation" nennen ließen.(34) Marranen, denen die Auswanderung gelang, haben sich oft in anderen Ländern wieder zum Judentum bekannt und zusammen mit den übrigen Juden die Erinnerung an eine Zeit stolzer jüdischer Herren in die Welt getragen, die Egon Erwin Kisch noch in seinen Reportagen von den sieben Gettos festgehalten hat - in den frühen dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Marranen wurden verfolgt; sie besetzten die Stellen, die einst den Neid auf die Juden geweckt hatten. Im Vollzug der Inquisition, als die Alternative Taufe oder Tod sich als nicht hinreichend erwies, entstand auch ein neues, unüberwindliches Postulat: Limpieza de sangre, Reinheit des Blutes. Von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts musste jeder einen reinen Stammbaum vorweisen, der in Spanien bestimmte höhere Ämter erlangen wollte -Dreiviertel Jahrhunderte später setzten die Nazis die Nürnberger Rassengesetze in Deutschland durch. Gibt es also doch einen "ewigen Antisemitismus", und ist alles schon einmal dagewesen? Die Unterscheidung, die man nach 1945 zwischen religiösem und rassischem Antisemitismus getroffen hat, ist jedoch allzu formal und ungesellschaftlich.

Der Historiker Reinhard Rürup hat 1975 allzu optimistisch konstatiert: "Die These, daß der moderne Antisemitismus ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ist und aus den Strukturen und Tendenzen dieser Gesellschaft begriffen werden muß, dürfte in der wissenschaftlichen Diskussion heute kaum noch ernsthaft bestritten werden. Man ist sich einig darüber, daß es trotz einer scheinbaren räumlichen und zeitlichen Universalität der Judenfeindschaft seit hellenistischer Zeit keine Kontinuität eines 'ewigen' Antisemitismus gibt, daß vielmehr die religiös und wirtschaftlich motivierte, durch einen einzigartigen Minderheitsstatus der Juden bedingte Judenfeindschaft der vorbürgerlichen abendländisch- christlichen Welt deutlich vom Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts geschieden werden muß."(35) Dieser im Prinzip richtigen Feststellung fehlt der gesellschaftstheoretische Zusammenhang, ohne den die geschichtlichen Ereignisse bis zur Unverbindlichkeit relativiert werden.

Aus diesem Relativismus lässt sich aber kein Argument mehr gewinnen, mit dem man die These des "ewigen Antisemitismus" bestimmt zurückweisen könnte; eine These, mit der noch die unterschiedlichsten Aktionen gegen Juden in den zweitausend Jahren christlicher Geschichte auf einen abstrakten Generalnenner gebracht werden. Die Rede vom Antisemitismus als einer Naturkonstante abendländischer Geschichte ist politisch äußerst gefährlich. Denn, um die Generalthese halten zu können, muss die historisch entscheidende Epoche von Aufklärung und Emanzipation ebenso wie jede sozialrevolutionäre Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft für genuin judenfeindlich erklärt werden.

Die Verdrängung der Marxschen Theorie aus dem spätkapitalistischen Forschungsbetrieb wie aus dem marxistisch- leninistisch zugerichteten Kanon im "real existierenden Sozialismus" hat die produktive Marxsche Leistung in der Analyse der Emanzipationsepoche ganz in Vergessenheit geraten lassen. Ohne die Auseinandersetzung mit der Herrschaft der Religion im (hinter England und Frankreich) zurückgebliebenen Preußen ist die Marxsche Theorie nicht denkbar, im Vormärz spitzte sich die Frage moderner Gesellschaftsform an der damals sogenannten "Judenfrage" zu. Zwei Schriften des Junghegelianers Bruno Bauer "Die Judenfrage" und "Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden" provozierten den jungen Marx 1843 zu einer Antwort unter dem Titel "Zur Judenfrage". Wesentlich für die Marxsche Schrift ist das Argument, Bruno Bauer stelle die Frage falsch - er stelle als Judenfrage, was nur als Frage der allgemein menschlichen Emanzipation zu behandeln sei.

Die Bauersche Frage nämlich läuft auf die Absurdität hinaus, den unterdrückten Juden den Verzicht auf ihre Religion sozusagen als Vorschuss auf eine allgemeine Emanzipation abzuverlangen. Marx dagegen fragt: ist die durch die Französische Revolution erreichte menschliche Emanzipation schon die ganze Emanzipation? Zunächst, im Vergleich zwischen Frankreich und Preußen, stellt Marx fest, Preußen befinde sich noch gar nicht auf dem historischen Stand Frankreichs, die Säkularisation habe gar nicht stattgefunden, die Unterdrückung der Juden in Deutschland bedeute ein Stück reales Mittelalter. Die politische Konsequenz daraus zieht Marx im nächsten, um die Jahreswende 1843/44 geschriebenen Aufsatz: "Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt. In Deutschland ist die Emanzipation von dem Mittelalter nur möglich als die Emanzipation von den teilweisen Überwindungen des Mittelalters. In Deutschland kann keine Art der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen."(36) Marx unterstützt die Judenemanzipation, weil sie ein Teil der allgemein menschlichen Emanzipation ist; er kritisiert die isoliert gestellte "Judenfrage", weil er dies für den Versuch einer bloß teilweisen Abschaffung des Mittelalters hält, der misslingen muss und wird.

In den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wird die "Judenfrage" überall dort diskutiert, wo sich die bürgerliche Gesellschaft noch nicht durchgesetzt hat und die bürgerliche Ökonomie noch von traditionellen Herrschaftsformen gefesselt wird. Die Bedeutung der Ökonomie bleibt verdeckt, das macht die Verzerrung der Perspektive aus: "Im christlich-germanischen Staat ist aber die Religion eine 'Wirtschaftssache', wie die 'Wirtschaftssache' Religion ist. Im christlich-germanischen Staat ist die Herrschaft der Religion die Religion der Herrschaft."(37)

Die Unkenntnis bürgerlicher Ökonomie lässt den Junghegelianer Bauer die spezifische Differenz zwischen einer vorbürgerlichen und der bürgerlichen Gesellschaft übersehen. Bauer bleibt fixiert an die politische Oberfläche, darin ähnelt seine Position der von Fichte, fünfzig Jahre vorher. Aus dem politischen Verständnis der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft bleibt alles Ökonomische ausgeblendet, daraus folgt, in der Zeit nach 1850, ein politischer Antisemitismus, wie er von Bruno Bauer und auch von Richard Wagner vertreten wurde. Bei Richard Wagner erscheint dieselbe Vorkehrung wie bei Fichte - nun aber auf dem Hintergrund der zurückgewiesenen Emanzipation: "Ganz unvermerkt ist der 'Gläubiger der Könige' zum König der Gläubigen geworden, und wir können um das Nachsuchen dieses Königs um Emanzipierung nicht anders als ungemein naiv finden, da wir uns vielmehr in die Notwendigkeit versetzt sehen, um Emanzipierung von den Juden zu kämpfen. Der Jude ist, nach dem gegenwärtigen Stande der Dinge dieser Welt wirklich bereits mehr als emanzipiert: er herrscht und wird so lange herrschen als das Geld die Macht bleibt, vor welcher all' unser Tun und Treiben seine Kraft verliert."(38)

Diese Sätze ähneln zwar dem Schluss der Marxschen Schrift "Zur Judenfrage", aber ein Unterschied sollte nicht übersehen werden. "Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden", heisst es beim jungen Marx, "ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum."(39) In diesem pointierten Schlusssatz erscheint komplex zusammengezogen ein richtiger Grundgedanke, doch in verzerrter Form. In der vorbürgerlichen Gesellschaft bezeichnet "Judentum" weniger eine Religionszugehörigkeit als den Umstand, dass den Juden zu ihrer gesellschaftlichen Reproduktion nur Handel und Geldverkehr, also die Sphäre der Zirkulation offenstand. Die im Mittelalter randständige zirkulative Praxis wird aber in der modernen bürgerlichen Gesellschaft zum Zentrum aller gesellschaftlichen Beziehungen: In der "modernen", der bürgerlichen Gesellschaft regiert das Tauschprinzip alle gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse der Individuen. Was einst "jüdische" Domäne war, herrscht jetzt allgemein. Aber keineswegs herrschen, wie Richard Wagner nahelegt, "die Juden", in der bürgerlichen Gesellschaft herrscht ein unpersönliches ökonomisches Prinzip. Die Verzerrung beim jungen Marx kommt zustande, weil er 1842 die kapitalistische Gesellschaft noch nicht durchschaut. Er spricht von der Geldmacht und meint die Ökonomie; das Produktionsprinzip dieser Ökonomie erkennt erst der Autor des "Kapital". An zwei Stellen kommt Marx in seinem ökonomischen Hauptwerk auf die Stellung von Juden in vorkapitalistischer und kapitalistischer Produktionsweise zu sprechen - ein Wechsel der Gesellschaftsformation, von der schon der junge Marx wusste, dass er nicht ausschließlich jüdischer Tätigkeit zu verdanken war: "Die Handelsvölker der Alten existierten wie die Götter des Epikur in den Intermundien der Welt, oder vielmehr wie die Juden in den Poren der polnischen Gesellschaft. Der Handel der ersten selbständigen, großartig entwickelten Handelsstädte und Handelsvölker beruht als reiner Zwischenhandel auf der Barbarei der produzierenden Völker, zwischen denen sie die Vermittler spielten."(40)

Gesellschaftstheoretisch bedeutet "ökonomisch" wesentlich Bestimmteres als das, was Zeithistoriker unter "wirtschaftlich" subsumieren. Die Juden waren nicht das einzige Handelsvolk, aber durch die Geschichte sind sie zu dem einzig identifizierbaren Handelsvolk geworden, das vom europäischen Mittelalter bis an die Schwelle der Emanzipationsepoche als identisches existiert. In der Entwicklung von der vorkapitalistischen zur kapitalistischen Gesellschaft geschieht etwas Entscheidendes: Die Ökonomie, ein rationales, über Sachen und sachliche Verhältnisse (Eigentum und Tausch) vermitteltes Machtverhältnis, erfasst alle menschlichen Beziehungen. Gleichwohl lebt, im Denken und Fühlen der Zeitgenossen, die Vorstellung persönlicher Machtverhältnisse fort. Gerade weil die Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse sich nicht ohne Leiden durchsetzte und darum auch nicht widerstandslos hingenommen wurde, heftet sich der antiökonomische Affekt, wie seit dem Mittelalter Tradition und Vorurteil, an die Juden. Sie waren keineswegs die einzigen Vermittler von Handel und Geldverkehr, aber die Juden waren die einzige Gruppe, die sich identifizieren ließ. Darum konnten die Vorstellungen von der Rolle und der Macht des Geldes mit der Person des Juden, mit dem Charakter des jüdischen Volkes verschmelzen.

Solche Vorstellungen überlebten selbst dann noch, als, wie beispielsweise in Frankreich oder England, die Juden schon recht früh, in der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert, vertrieben worden waren. England, bis zur Cromwellschen Revolution ohne Juden, gilt seitdem als das klassische Beispiel eines Landes, das Antisemitismus kennt, ohne Juden zu kennen. Dieses Phänomen verlangt eine genauere Untersuchung. Zunächst einmal bedeutet der säkulare Prozess der Ökonomisierung der menschlichen Beziehungen die Ersetzbarkeit eines Gegenstandes durch den anderen; sinnlich erscheint diese Fähigkeit im Tauschmittel, im Geld. Selbst der junge Marx war noch an das Tauschmittel fixiert. Das Geld nivelliert die naturwüchsigen Unterschiede und löst naturwüchsige Identität auf. An die Stelle persönlicher Macht tritt eine unpersönliche. Nur differenzierendes Denken vermag beide auseinanderzuhalten.

In ihrem unmittelbaren Erleben, in ihrer Phantasie heften die Zeitgenossen, zumal sie selbst, wie bewusst auch immer, sich als Opfer eines übergreifenden Prozesses erfahren, unpersönliche Machtverhältnisse an Personen, die gesellschaftliche Prozesse verantworten sollen. Ökonomisierung ist ein Prozess der Entpersönlichung. Mit dem Mittel der Personalisierung setzen die unter Entfremdung und Verdinglichung Leidenden wieder Personen an die Stelle versachlichter Prozesse. Einst waren die Juden identifizierbar als Tauschagenten. Obwohl die moderne bürgerliche Gesellschaft diese Funktion des Tausches verallgemeinert hat und jeder am Tauschverkehr teilhat, werden immer noch allein die Juden mit dem Tauschakt identifiziert, weil die versachlichten modernen Verhältnisse psychisch schwer zu ertragen sind. Die Juden waren schon im Mittelalter weder die einzigen Zirkulationsagenten, noch waren sie - wegen ihrer äußerlichen Beschränkung und ihrer Notsituation - die schlechtesten Geldverleiher. Ihre äußerliche Kennzeichnung aber diente gerade dazu, sie identifizierbar zu machen. Das abenteuerliche Schicksal der Hofjuden im 17. und 18. Jahrhundert, die in einer vorkapitalistischen Welt Modernität repräsentierten, bildet den Stoff für Massenphantasien, die in Antisemitismus umschlugen. Als Gläubiger der Herrscher erschienen die Juden als persönlich verantwortlich für das ökonomische Missgeschick der Massen. Die Nationalsozialisten haben für ihren erfolgreichen Propagandafilm "Jud Süß" sehr geschickt einen Stoff aus dem 18. Jahrhundert gewählt, an dem sich alle antisemitischen Alltagsphantasien auch im 20. Jahrhundert noch entzünden konnten.

Was aber hat die vorkapitalistische Welt mit dem Antisemitismus der Gegenwart zu tun? In der vorkapitalistischen Welt erschienen die Juden als das personifizierte Unglück. Sie selbst waren gezwungen, ohne Heimat zerstreut im Ausland zu leben was früher auch sprachlich identisch war mit "im Elend" leben (Ausland = Elend). Die Begegnung mit Juden beschwor dunkle Gefahren. Man suchte sie meist nur in Not auf, die Unberechenbarkeit ökonomischer Verhältnisse konnte einen Verschuldeten sehr schnell ins Elend hinabstoßen, wenn er seine Schuld nicht zahlen konnte. Periodisch gab es aber Entlastungen vom herrschaftlichen Druck, wenn die Juden "geschlagen" wurden Pogrome hießen im altertümlichen Deutsch "Judenschlachten". Die Schulden, die aus dem ökonomischen Prozess resultierten, wurden auf barbarische Weise getilgt.

In der modernen Gesellschaft ist die vorherrschende Verkehrsform die Tauschbeziehung geworden: Sie erfordert Verzicht auf unmittelbare Gewalt. Um seine Bedürfnisse zu befriedigen, muss das Individuum am gesellschaftlichen Tauschverkehr teilnehmen. Der Tausch vermittelt zwischen Sachen, den Gegenständen der Begierde, und Personen. Im Warentausch steht der fremde Warenbesitzer B zwischen dem Warenbesitzer A und dem Gegenstand seiner Begierde, der Ware B. Im Mittel Geld, das die Tauschverhältnisse reguliert, versachlicht sich diese Beziehung. Der Tausch erfordert Abstraktion vom Bedürfnis solange, bis der Genuss eintreten kann. Die Volksweisheit: "Geld macht sinnlich" beinhaltet den begehrlichen Wunsch des Warenbesitzers auf fremde Ware, die er auch mit Gewalt nehmen würde. Das Tötungstabu und die schweren Sanktionen verhindern dies im Normalverlauf; in der Phantasie aber lebt die Erinnerung fort, dass es einmal möglich und nicht in jedem Fall verboten war, sich fremden Besitz gewaltsam und direkt anzueignen. Jeder Tauschakt bewegt diese komplexen psychischen Transaktionen. Der Warenbesitzer B wird von dem Warenbesitzer A als Fremder erlebt und umgekehrt. Äußerlich scheint ihre Begegnung ganz sachlich zu verlaufen, aber innerlich geschieht Entscheidendes: "Andererseits anerkennen wir den Tod für Fremde und Feinde und verhängen ihn ebenso bereitwillig und unbedenklich wie der Unmensch. Hier zeigt sich freilich ein Unterschied, den man in der Wirklichkeit für entscheidend erklären wird. Unser Unbewußtes führt die Tötung nicht aus, es denkt und wünscht sie bloß. Aber es wäre unrecht, diese psychische Realität im Vergleich zur faktischen so ganz zu unterschätzen. Sie ist bedeutsam und folgenschwer genug. Wir beseitigen in unseren unbewußten Regungen täglich und stündlich alle, die uns im Wege stehen, die uns beleidigt und geschädigt haben. Das 'Hol' ihn der Teufel', das sich so häufig in scherzendem Unterton über unsere Lippen drängt, in unserem Unbewußten ist es ein ernsthafter, kraftvoller Todeswunsch. Ja, unser Unbewußtes mordet selbst für Kleinigkeiten; wie die alte athenische Gesetzgebung des Drakon, kennt es für Verbrechen keine andere Strafe als den Tod, und dies mit einer gewissen Konsequenz, denn jede Schädigung unseres allmächtigen und selbstherrlichen Ichs ist im Grunde ein crimen laesae majestatis."(41)

Genau dieses prekäre Kräfteverhältnis zwischen äußerer und psychischer Realität verschafft sich im antisemitischen Meinen Luft: Die Meinung wird zur Gewalttat; die Meinung veräußerlicht verinnerlichte Gewalt. Das Vorurteil bekommt auf diesem Hintergrund einen verbindlichen Sinn: "Man darf endlich annehmen, daß aller innere Zwang, der sich in der Entwicklung des Menschen geltend macht, ursprünglich, d.h. in der Menschheitsgeschichte, nur äußerer Zwang war."(42) Im Tauschakt wird die materielle Welt angeeignet, ohne dass durchschaubar wird, wie und wo die Dinge, die zu Waren wurden, produziert werden. Im Tauschakt bildet sich aber die Meinung, das Modell primärer intellektueller Aneignung. Im Meinen wird etwas noch Subjektives als Wahrheit behauptet; die Meinung wird festgehalten gegen den weiteren Lauf der Dinge, der ohnedies nur schwer zu durchschauen ist. So verhärtet Meinung sich zum Vorurteil. Meinung wird zudem gebildet unter affektiver Beteiligung: "Töricht wäre, wer von dieser Neigung sich freispräche. Sie beruht auf Narzißmus, also darauf, daß die Menschen bis heute dazu gehalten sind, ein Maß ihrer Liebesfähigkeit nicht etwa geliebten Anderen zuzuwenden, sondern sich selber, auf eine verdrückte, uneingestandene und darum giftige Weise zu lieben. Was einer für eine Meinung hat, wird als sein Besitz zu einem Bestandstück seiner Person, und was die Meinung entkräftet, wird vom Unbewußten und Vorbewußten registriert, als werde ihm selber geschadet. Rechthaberei, der Hang der Menschen, törichte Meinungen selbst dann hartnäckig zu verteidigen, wenn ihre Falschheit rational einsichtig geworden ist, bezeugt die Verbreitung des Sachverhalts."(43)

In das Meinen sickert über die effektive Besetzung des Meinenden der geschichtliche Gehalt unreflektiert ein - und verdinglicht zum Vorurteil. Das Meinen scheint nur individuell, ist der Struktur nach aber konformistisch. Gerade indem er auf seiner Meinung beharrt, fühlt der einzelne sich von den anderen bestätigt, das ist gewissermaßen der psychische Gewinn des Einzelnen, kommt seinem Selbstwertgefühl zugute. Man muss sich lösen von der Vorstellung, das antisemitische Meinen wären das Unnormale und aufgeklärte Rationalität das Normale - das Gegenteil ist der Fall. Aber kritische Selbstreflexion ist auf subjektiver Seite das einzige Gegengift gegen antisemitisches Meinen - Subjektivität, die sich in den Produktionsprozess objektiver Wahrheit versenkt. Die Einsicht in die Beschränktheit des sich allmächtig wähnenden Subjekts ruft Abwehr hervor. Die Hilflosigkeit rationaler Argumente gegen antisemitisches Meinen erfährt jeder, der gegen Vorurteile Wahrheit zu behaupten versucht. Antisemitisches Meinen ist gerade deswegen schwer zu erschüttern, weil es nicht allein auf subjektiv fehlerhaftem Denken beruht, sondern dem ohnmächtigen Individuum das Gefühl gibt, mit einer objektiven gesellschaftlichen Tendenz im Bunde, also: stark zu sein.

Das Meinen entzieht sich der Sache; mit jedem Meinen ist die Gefahr der Hypostase verbunden. "Die Grenze zwischen der gesunden und der pathogenen Meinung wird in praxi von der geltenden Autorität gezogen, nicht von sachlicher Einsicht."(44) Autorität aber bedeutet verinnerlichte, vergangene Gewalt, der sich das Individuum unterworfen hat. Die Autorität in der tausendjährigen europäischen Geschichte verhielt sich zweideutig gegenüber den Juden: Die herrschende Autorität verurteilte die Juden, im Elend zu leben, gleichzeitig beschützte sie die Juden als willkommene Einnahmequelle. Die Emanzipation sollte die Juden aus dieser Zweideutigkeit befreien; dazu musste aber der Staat selbst von der Herrschaft der Religion befreit und zu einem vernünftigen Staat werden. Bei Hegel finden wir, in Abgrenzung zu Fichte, deutliche Worte: "So formelles Recht man etwa gegen die Juden in Ansehung selbst von bürgerlichen Rechten gehabt hätte, indem sie nicht bloß als eine besondere Religionspartei, sondern als einem fremden Volk angehörig ansehen sollten, so sehr hat das aus diesen und anderen Gesichtspunkten erhobene Geschrei übersehen, daß sie zuallererst Menschen sind und daß dies nicht nur eine flache abstrakte Qualität ist, sondern daß darin liegt, daß durch die zugestandenen bürgerlichen Rechte vielmehr das Selbstgefühl, als rechtliche Person in der bürgerlichen Gesellschaft zu gelten, und aus dieser unendlichen, von allem anderen freien Wurzel die verlangte Ausgleichung der Denkungsart und Gesinnung zustande kommt. Die den Juden vorgeworfene Trennung hätte sich vielmehr erhalten und wäre dem ausschließenden Staate mit Recht zur Schuld und Vorwurf geworden; denn er hätte damit sein Prinzip, die objektive Institution und deren Macht verkannt. Die Behauptung dieser Ausschließung, indem sie aufs höchste recht zu haben vermeinte, hat sich auch in der Erfahrung am törichtsten, die Handlungsart der Regierungen hingegen als das Weise und Würdige erwiesen."(45)

Hegel spricht hier gegen die aufkommende, moderne antisemitische Literatur zu einem Zeitpunkt, als es das Wort Antisemitismus noch nicht gab. Das "Geschrei" ist nicht nur im übertragenen, sondern auch im Wortsinne zu verstehen. Während der Abfassung der Rechtsphilosophie erschütterten mehrere Ereignisse das Deutschland der beginnenden Restauration: das Wartburgfest 1817, auf dem unter anderen der Code Napoleon als Inbegriff der Fremdherrschaft verbrannt wurde; die HEP-HEP-Unruhen 1819, bei denen in den ehemaligen Ländern der Kontinentalsperre jüdische Läden gestürmt wurden; und die Ermordung Kotzebues, der keineswegs die finstere Gestalt war, als der er von den teutomanen Studenten hingestellt wurde. Aus Hegels Worten spricht der Geist der Emanzipation, den er schon in seinem ersten großen Werk, der "Phänomenologie des Geistes" 1806 in Gedanken fasste. Das für den Emanzipationszusammenhang entscheidende Kapitel heißt "Herrschaft und Knechtschaft". Hegel begreift die Arbeit des Knechtes als Möglichkeit von Emanzipation in einer agrarischen Gesellschaft; am Ende triumphiert die geistige Arbeit, die zum Denken sublimierte Arbeit des ehemaligen Knechtes.

Die wirkliche Geschichte hat allerdings die Gesellschaft nicht vernünftig werden lassen, wie es Hegels Vorstellung der Vernunftherrschaft entspricht. Hegels Philosophie entmachtet die Herrschaft der Religion und setzt an ihre Stelle die Herrschaft des Gesetzes; in den Juden sieht er das erste "Volk des Geistes", das aber auf eine elende gesellschaftliche Stellung herabgedrückt ist. Objektiv gesehen sind die vorbürgerlichen Juden weder Herren noch Knechte, sie sind die Vermittler. Ohne Vermittlung aber kann es kein dialektisches Denken geben: Auf die Beziehung kommt es an. Die Emanzipation aus den vorbürgerlichen Verhältnissen missglückt: Auf die bürgerliche Gleichstellung folgt schon 1808 das Decret Infaeme, das die unveräußerlichen Rechte wieder aufhebt; auf Revolution und Reform folgt die Restauration, die auch alle Judenemanzipation wieder einschränkt. Das Ergebnis der großen Epoche von Revolution und Napoleonischen Kriegen entspricht nicht der Wirklichkeit der Vernunft, sondern dem auf Herrschaft und Knechtschaft folgenden "unglücklichen Bewußtsein" - das unglückliche, in sich entzweite Bewusstsein, das einer entzweigebrochenen Wirklichkeit entspricht. In der deutschen Literatur hat Heinrich Heine wie kein zweiter dieses unglückliche Bewusstsein artikuliert: "Wir haben nicht mehr die Kraft, einen Bart zu tragen, zu fasten, zu hassen und aus Haß zu dulden; das ist das Motiv unserer Reformation. Die einen, die durch Komödianten ihre Bildung und Aufklärung empfangen, wollen dem Judentum neue Kulissen geben, und der Souffleur soll ein weißes Bettchen tragen; sie wollen das Weltmeer in ein niedliches Bassin von Papiermache gießen und wollen dem Herkules auf der Kasseler Wilhelmshöhe das braune Jäckchen des kleinen Marcus anziehen. Andere wollen ein evangelisches Christentümchen unterjüdischer Firina und machen sich ein Talles aus der Wolle des Lamm Gottes und machen sich ein Wams aus den Federn der Heiligen-Geist-Taube und Unterhosen aus christlicher Liebe, und sie fallieren, und die Nachkommenschaft schreibt sich: Gott, Christus & Co. Zu allem Glück wird sich dieses Haus nicht lange halten, seine Tratten auf die Philosophie kommen mit Protest zurück, und es macht bankrott in Europa, wenn sich auch seine von Missionarien in Afrika und Asien gestifteten Kommissionshäuser einige Jahrhunderte länger halten. Dieser endliche Sturz des Christentums wird mir täglich einleuchtender. Lange genug hat sich diese faule Idee gehalten."(46)

Heines Ausbruch reagiert auf die Rücknahme der Emanzipationsgesetzgebung von 1812, die ihn und seinen Freund Eduard Gans zwangen, sich taufen zu lassen. Es ist völlig verkehrt, diese Taufen noch in religiösen Termini fassen zu wollen. Diese Generation ist schon ein Produkt der Emanzipationsepoche - als Bürger fühlen sie in religiösen Angelegenheiten indifferent. Sie erleiden die Konflikte des unglücklichen Bewusstseins in einer emanzipationsfeindlichen Gesellschaft, in der die bürgerliche Emanzipation zur Judenfrage sich verengt. Der Judenhass im christlichen Europa ließ keine Wahl: Taufe oder Tod. Traditionelle Juden behandelten einen abgefallenen Juden als tot. Der Getaufte war ein neuer Mensch, ein Fremder in einer manichäischen Welt. Die bürgerliche Gesellschaft schafft zum ersten Mal die Möglichkeit, sich aus diesem Manichäismus zu befreien. Aufklärung, Kantische und Hegelsche Philosophie wie die Marxsche Theorie befördern diesen Vorgang der Befreiung vom vorbürgerlichen Manichäismus. Aber die Dialektik der Aufklärung fällt auch auf diese Autoren zurück, weil sie ein objektiver Vorgang ist. Man kann diese Dialektik bewußt machen; hierin besteht die einzige Chance, dem Antisemitismus nicht blind sich auszuliefern.

Der Antisemitismus ist in den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen verankert. Der ökonomische Prozess verlangt Triebverzicht oder zumindest unlustvollen Triebaufschub von den gesellschaftlichen Individuen, den sie nicht unter Umgehung des Tötungstabus verkürzen dürfen. Die fremde Warenwelt erinnert vor jedem Tauschakt an diese unlustvolle Wirklichkeit. In der vorbürgerlichen europäischen Gesellschaft fand der Tausch nur am Rand des gesellschaftlichen Geschehens, nur in Ausnahmefällen statt, und wurde mit den Juden identifiziert, in der bürgerlichen Gesellschaft wird der Mensch durch Tauschakte vergesellschaftet, orientiert sich aber weiterhin an der Sozialisierung durch unmittelbare persönliche Beziehungen. Das subjektive Meinen entspricht der Unmittelbarkeit vorökonomischen Begehrens; der unpersönliche Tauschakt wird in persönliche Beziehungen rückübersetzt; als vermittelnde Instanz fungiert im falschen Bewusstsein nicht das Geld, sondern der Jude. Der marginale vorbürgerliche Judenhass wird in der bürgerlichen Gesellschaft an den zentralen ökonomischen Mechanismus gekoppelt: Die bürgerliche Gesellschaft wird zur antisemitischen Gesellschaft per excellence.(47)

In der kapitalistischen Gesellschaft dominiert das abstrakt Allgemeine, das Kapital, der Wert. Der Warenfetischismus, das im Tauschakt entstehende verkehrte Bewusstsein, verhindert, dass die Menschen durchschauen, was der Wert eigentlich ist: ein an Dinge gebundenes, vermitteltes Verhältnis von Personen. Der Wert erscheint an den Dingen und ist doch nirgends zu greifen: "Die Wertgegenständlichkeit unterscheidet sich dadurch von der Wittib Hurtig, daß man nicht weiß, wo sie zu haben ist."(48) Diese Unfassbarkeit des Wertes wird von den Warenbesitzern identifiziert mit den ehemaligen Tauschagenten, den Juden, die auch unfassbar und überall sind. Die Arbeit wird dem Tauschakt unterworfen, und selbst bei einem geistigen Arbeiter wie Fichte kommt antisemitisches Ressentiment zum Vorschein, weil er die Durchsetzung der Herrschaft geistiger Arbeit in Form der Kapitalherrschaft nicht begreift. Der gebildete Antisemitismus hat hier seine Quelle: Er idealisiert die geistige Arbeit zur geld- und wertfreien Tätigkeit und hasst im "jüdischen Geist" die bürgerliche Wirklichkeit geistiger Arbeit, für welche die gleichen Markt- und Tauschgesetze gelten wie für die materielle Arbeit. Ebenso heftet sich das Ressentiment der Unterdrückten gegen die Herrschaft des Wertes an die Juden, das als Volk des Geistes gilt: "Sie sind irgendwie schlauer." Antisemitismus und Antiintellektualismus zehren vom selben Stoff.

Gegen viele Beschwichtigungsversuche und Relativierungen muss man betonen: Der Antisemitismus ist in der objektiven Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft begründet. Aber die gesellschaftlichen Individuen fassen die Gesellschaft nicht so auf, wie sie ist. Das antisemitische Meinen setzt die Gefühlswelt anstelle der in Abstraktion vom unmittelbaren Gefühl erarbeiteten Erkenntnis. Um zu tauschen und eine Meinung zu haben, muss man vielleicht schlau sein, aber wirklich nachdenken muss man nicht. Deswegen hat der moderne Antisemitismus diesen pseudodemokratischen Gestus des Mitreden- Wollens: "Man wird doch einmal sagen dürfen ... " Das antisemitische setzt an die Stelle disziplinierten Denkens die Willkür: "Da für wirkliches Dasein und Handeln jedoch entschieden werden muss, so tritt dasselbe ein wie bei der als das Absolute wissenden Subjektivität des Willens überhaupt, dass aus der subjektiven Vorstellung, d. i. dem Meinen und dem Belieben der Willkür entschieden wird."(49)

Gefühl und unkritische Positivität fallen aus einem Grund zusammen, den Hegel noch nicht durchschauen konnte. Die Kritik der politischen Ökonomie hat, gut dreißig Jahre nach Hegel, gezeigt, dass die bürgerliche Gesellschaft keineswegs die Geschichte abschließt. Dieser Schein konnte entstehen, weil, im Unterschied zu den vorbürgerlichen Gesellschaftsformationen, die bürgerliche die von Zeit und Raum scheinbar unbeschränkt warenproduzierende Gesellschaft ist. Dieser gesellschaftlich produzierten Geschichtslosigkeit, die in der Struktur des Wertes begründet ist, korreliert die Geschichtslosigkeit des psychischen Geschehens. Das Unbewusste entspricht der Struktur des Wertes in seiner Zeitlosigkeit, zugleich aber bewahrt es auf, was in der äußeren Realität vergeht: "Wir rühren hiermit an das allgemeine Problem der Erhaltung im Psychischen, das kaum noch Bearbeitung gefunden hat, aber so reizvoll und bedeutsam ist, daß wir ihm auch bei unzureichendem Anlass eine Weile Aufmerksamkeit schenken dürfen. Seitdem wir den Irrtum überwunden haben, daß das uns geläufige Vergessen eine Zerstörung der Gedächtnisspur, also eine Vernichtung bedeutet, neigen wir zu der entgegengesetzten Annahme, daß im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann, daß alles irgendwie erhalten bleibt und unter geeigneten Umständen, z. B. durch eine so weit reichende Regression, wieder zum Vorschein gebracht werden kann."(50)

Durch diese Möglichkeit des psychischen Apparates wird verständlich, warum Vorurteile die gesellschaftlichen Situationen überleben, in denen sie entstanden sind. Psychische Gesetze spielen in der unkritischen Aneignung der Realität, im Meinen, eine entscheidende Rolle. Erwähnt sei nur das in diesem Sachverhalt Wichtigste: die Ambivalenz. Die Ambivalenz lebt davon, dass es zwei Arten von Juden gibt: den Herren und den Elenden. Die alten Trennungen von Sephardim und Aschkenasim, von Portugieser Juden und Elsässer Juden, von deutschen Juden und Ostjuden lassen sich mit den Netteln der Ambivalenz gut bearbeiten: In der Vorstellung der "zwei Arten von Juden" kämpft die antisemitische Vorstellung mit Widersprüchen, die auf diese Weise erträglich gestaltet werden. In der Untersuchung "Authoritarian Personality" hat ein weißer Boy- Scout-Fuehrer diese Unterscheidung zwischen weißen und nichtangepassten Juden zum Ausgangspunkt seiner "Lieblingstheorie" gemacht: "Nehmen Sie die Juden. Es gibt Gute und Schlechte in allen Rassen. Wir wissen das, und wir wissen, daß die Juden eine Religionsgemeinschaft sind und keine Rasse; aber die Schwierigkeit ist, daß es zwei Typen von Juden gibt. Da sind die weißen Juden und die Kikes. Meine Lieblingstheorie ist, dass die weißen Juden die Kikes ebensosehr hassen wie wir. Ich kannte sogar einen guten Juden, der einen Laden hatte und einige Kikes rauswarf, indem er erklärte, mit Kikes wolle er nichts zu tun haben."(51)

Die Unterscheidung zweier Arten von Juden entlastet in Normalzeiten vom Schuldgefühl, das mit dem gewöhnlichen Antisemitismus einhergeht. Die antisemitische Propaganda versucht aus der Ambivalenz ihr Kapital zu schlagen: Der Agitierte kann sich zugleich als Herr und als Rebell gegen die Herrschaft fühlen. Ambivalenz aber ist auch wirksam in der Relation von Antisemitismus und Philosemitismus; beiden gemeinsam ist die unaufgeklärte affektive Beziehung zum Meinen. In Deutschland konnte das Umschlagen von Antisemitismus in Philosemitismus und umgekehrt mit den wechselnden Autoritätsverhältnissen in den letzten Jahrzehnten gut beobachtet werden. Die Grundstruktur bleibt die Korrelation von Antisemitismus und Gesellschaft; der erklärte "offizielle" Philosemitismus ist jederzeit kündbar. Als Lackmus können Auseinandersetzungen um kulturelle Phänomene gelten.

Kultur gilt als positiver Wert in der spätkapitalistischen Gesellschaft; Protest gegen Antisemitismus, der sich in kulturellen Objektivationen niederschlägt, provoziert sofort antisemitisches Vorurteil. Ebenso wenn es um die "nationale Selbstachtung" oder Identität geht: Nationales Selbstgefühl gilt als natürlich; wird es gekränkt, schlägt der offiziell gepflegte Philosemitismus in Antisemitismus um. Falsch an beiden, Philo- und Antisemitismus, pflegt die vorgeordnete Rolle des Kollektive zu sein, die der Emanzipation des einzelnen zuwiderläuft: "Einen Menschen a priori, nicht als einzelnen, als Person, sondern generell und vornehmlich als Deutschen, Neger, Juden, Fremden oder Welschen zu behandeln, ohne daß man schon die Erfahrungen hätte, er ermangele eigenen Urteils und verdiene nicht, für sich selbst zu gelten, ist barbarisch."(52)

Der Antisemitismus der Nazis musste vom modernen Antisemitismus abstrahieren, um zu der Tat zu gelangen, die mit dem Namen Auschwitz verbunden ist. Die fabrikmäßige Tötung von Millionen Juden gelang nur unter der Abstraktion von dem gefühlsgebundenen Agitationsantisemitismus. Von den antisemitischen Parteien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Berliner Sportpalast durchzieht den modernen Antisemitismus etwas Theatralisches, das Adorno auch an der faschistischen Agitation in den USA beobachtet hat: "So wenig die Menschen im Innersten wirklich glauben, daß die Juden Teufel sind, glauben sie ganz an den Führer. Sie identifizieren sich nicht mit ihm, sondern agieren diese Identifizierung, schauspielern ihre eigene Begeisterung und nehmen so an der "Show" ihres Fuehrers teil."(53)

Die Praxis der Versammlungsrede widersprach schon den von Hitler früh geforderten veränderten Politikformen: Hitler forderte einen "Antisemitismus der Vernunft"(54), der die begrenzte Gewaltform des Pogroms überwindet. Nur unter Abstraktion von Gefühlen lässt sich die mechanische Tötung von Millionen organisieren und durchführen. Sadistische Qual- und Folterszenen, mit der die Unterhaltungsindustrie das Geschehen in Auschwitz oft aufbereitet, hindern nur den sachlichen Ablauf des Mordens. Selbst die Massenerschießung erweist sich in der Praxis als zu aufwendig; die psychische Rückwirkung, die Demoralisierung der Erschießungspelotons wird gefürchtet.

Die Nichtanerkennung des Feindes offenbart sich in der Tötungsart: Zyklon B - Unkrautvernichtung, wie die Propaganda es versprochen hat. Die Massenvernichtung von Menschen im Konzentrationslageruniversum lässt die Geschichte des Antisemitismus hinter sich. In der Aufhebung aller bisherigen Geschichte wollten die nationalsozialistischen Machthaber eine bleibende Tat begangen haben. Um diese unbegreifliche Vorstellungswelt überhaupt als real zu zeigen, muss man Zeugen und Täter selbst sprechen lassen. Der Eichmann verhörende Offizier Avner Less berichtet von einem SS-Zeugen, der Eichmanns letzte offizielle Worte zu Protokoll gab, und hält sie Eichmann im Verhör vor: "Eichmann" - so hat der Zeuge Wisliceny erzählt - "drückte das in einer besonders zynischen Weise aus, er sagte, er würde lachend in die Grube springen, denn das Gefühl, daß er fünf Millionen Menschen auf dem Gewissen habe, wäre für ihn außerordentlich befriedigend." Eichmann regt sich im Verhör auf: "Das ist ... Theater, Theater! ... Das ist die letzte Ansprache gewesen, die ich an meine Leute hielt, wie ich schon gesagt habe. Was ich da gesagt habe, das muß nicht wörtlich stimmen, aber sinngemäß stimmt's ganz genau. Denn das ist meine... meine... das ist meine, mein Resuemee gewesen damals in der... in der... wie soll ich sagen Weltuntergangsstimmung, in der ich lebte - die dann einige Tage einen Schock in mir - ah - also nicht einen, einen Nervenschock, sondern einen ... einen moralischen Schock hervorrief: Das Reich ist kaputt, es hat alles nichts genutzt, es ist alles, es ist alles umsonst, umsonst der ganze Krieg. Das habe ich da gesagt, was da angegeben ist. Aber das ist Theater!"(55)

Aus Eichmanns Worten spricht die Verharmlosung des Geschehens: Eigentlich soll alles nur ein 'Theater gewesen sein - wie vorher im Sportpalast, als man noch sagen konnte, man habe sich verführen lassen. Der Antisemitismus ist nicht trotz Auschwitz wiedergekehrt, sondern der Antisemitismus nach Auschwitz hat Auschwitz in sein System der Abwehr von Schuld aufgenommen. Auf der einen Seite gibt es die brutale Verleugnung der Existenz von Auschwitz. Diese Behauptung hat nur eine Funktion: Man will am Status quo ante des Antisemitismus anknüpfen können. Auf der anderen Seite lässt sich die Nivellierung von Auschwitz, der Vorgeschichte und der Nachgeschichte beobachten. Es wird oft (pseudopsychoanalytisch) von Verdrängung gesprochen, aber in beiden Fällen ist Verleugnung am Werk: Die Geschichte, also reale Taten in der Außenwelt, nicht in der Phantasie, soll nicht so wahrgenommen werden wie sie wahrgenommen werden müsste. Jedes Aufkommen von Schuldgefühl soll verhindert werden. Die Verleugnung soll schützen vor einem Wirrwarr der Gefühle, die mit intellektueller Anstrengung bearbeitet werden müssten.

Im Reden über Antisemitismus nach Auschwitz ziehen die meisten Gesprächspartner die Ebene der Gefühle vor; denn allein auf der Gefühlsebene lässt sich das psychische Meisterstück leisten, das von Schuld entlasten soll: die sinnliche Gewissheit, dass auch das Opfer schuldig ist. Denn psychische Schuld rechnet sich nach dem Gleich für Gleich des Blutracheschemas. Nur die Wahrnehmung der ganzen Geschichte vom traditionellen Judenhass in der vorbürgerlichen Welt bis zum modernen Antisemitismus, von Auschwitz und der Gleichmacherei von Täter und Opfer nach Auschwitz, ermöglicht eine klare Sicht auf mögliche Schuld. "Man darf vielleicht sagen, daß eigentlich nur der von neurotischem Schuldgefühl frei ist und fähig, den ganzen Komplex zu überwinden, der sich selbst als schuldig erfährt, auch an dem, woran er im handgreiflichen Sinne nicht schuldig ist"(56).

Anmerkungen:

  1. Vgl. Detlev Claussen, Grenzen der Aufklärung, Frankfurt 1987.
  2. Max Horkheimer, Theodor W Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, S. 235. Mit diesem Satz beginnt die Nachschrift von 1947 zu den 1944 geschriebenen "Elementen des Antisemitismus".
  3. Max Horkheimer, Theodor W Adorno, Vorwort, Sommer 1959, zu Paul W Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt 1959,S.VI f., der deutschen Ausgabe des 1949 in der Reihe "Studies in Prejudice" erschienenen Rehearsal for Destruction.
  4. Zitiert nach Simon Dubnow, Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes 1789-1914, Berlin 1920, Bd. 1, S. 70.
  5. F.W.v. Schütz, Niedersaechsischer Merkur, Altona 1792, zitiert in: Bernhard Wilms, Johann Gottlieb Fichte - Schriften zur Revolution, Frankfurt Berlin -Wien 1973, S. 299.
  6. J.G.Fichte, Schriften zur Revolution, a. a. 0., S. 175.
  7. Ebd., S. 176.
  8. Ebd. An Fichtes persönlichem Verhalten ist auch später kein Tadel zu üben. Aufschlußreich verhält er sich in der Affäre Brogi, 1812, als ein handfest beleidigter jüdischer Student aus armen Verhältnissen den Beleidiger verklagt, statt sich zu duellieren. Das widersprach ganz dem studentischen Kodex, den Schleiermacher noch rechtfertigte. Fichte verhält sich in diesem Konflikt gar nicht deutschtümelnd, sondern zivilisatorisch: Gesetz gegen Gewohnheit. Vgl. Wilhelm G. Jacobs, Johann Gottlieb Fichte, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 122f.
  9. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankturt 1966, S. 353
  10. Ebd., S. 355.
  11. Fichte, a. a. 0., S. 176.
  12. G. W F Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hegels Werke (HW), Bd. 7, S. 19, 18.
  13. Von Poliakovs instruktive Geschichte des Antisemitismus, Worms 1977ff., erweist sich als brauchbar, soweit es um die Vorgeschichte und den traditionellen Judenhass geht. Bd. V, Die Aufklärung und ihre judenfeindliche Tendenz, kann das Neue nicht erkennen, weil es nur das Alte im Neuen sucht. So wird z. B. die Philosophie des deutschen Idealismus in toto als antisemitisch beurteilt, weil die Philosophen Protestanten und Luther ein Antisemit war.
  14. Max Horkheimer Theodor W. Adorno, Vorwort zu P.Massing...,S.VII.
  15. Heinrich Heine, Aphorismen und Fragmente, Werke und Briefe, Bd. 7 (HW), Berlin und Weimar 1980, S. 412.
  16. Ausgesprochen instruktiv lesen sich die Vorträge von Walter Schmitthenner "Kennt die hellenistisch-römische Antike eine "Judenfrage"?" und ""Adversus Judäos" in der Alten Kirche" von Karl Suso Frank in der von Bernd Martin und Ernst Schulin herausgegebenen Vorlesungesreihe Die Juden als Minderheit in der Geschichte, Muenchen 1981.
  17. Alex Bein bringt sein Thema unter den Oberbegriff "Die Judenfrage, Biographie eines Weltproblems", 2 Bde., Stuttgart 1980, der im säkularisierten Sinne von einer dreitausendjährigen Einheit der jüdischen Nation ausgeht. "Judenfrage" als Begriff faßt schwammig Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Judenemanzipation - eine ebenso vage Formulierung wie die gleichzeitig im Vormärz gestellte "Soziale Frage". In der Formulierung "Judenfrage" deutet sich schon eine Verschiebung der Emanzipationsforderung an - aufgegriffen wird die "Judenfrage" gegen die Emanzipationsgesetzgebung in ganz Deutschland in den 70er Jahren des Zweiten Reiches. Die "Judenfrage" wird von der zionistischen Literatur zum Ausgangspunkt der zionistischen Lösungsvorschläge gemacht. In dieser Tradition versteht sich Alex Bein.
  18. Bernd Martin und Ernst Schulin wählten den Oberbegriff "Minderheit" für ihre Vorlesungsreihe, die nicht nur den Antisemitismus zum Gegenstand hat, sondern auch jüdische Geschichte. Ein Reclamband von Hans-Gert Oomen und Hans-Dieter Schnüd versteckt eine Materialauswahl über die "Anfänge des modernen Antisemitismus am Beispiel Deutschlands" unter dem Titel Vorurteile gegen Minderheiten (Stuttgart 1978). Die pädagogisierte Bearbeitung des Themas steht immer in Gefahr, das Spezifische des Antisemitismus in leere Allgemeinheiten aufzulösen. Was ist nicht alles ein Vorurteil, was nicht alles eine Minderheit? Diese Formulierungen kommen dem Alltagsbedürfnis entgegen, das Grauen, das mit Antisemitismus assoziiert wird, zu nivellieren. Der Wunsch nach Beliebigkeit drückt sich in der allzu häufigen Formulierung xy sind die Juden von heute" - man setzt ein, was gerade gefällt - Türken, Asylanten etc.
  19. Karl Marx, Friedrich Engels, Die heilige Familie, 1845, MEW 2, S. 93.
  20. Horkheimer, Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. 0., S. 208.
  21. Franticek Graus, "Judenpogrome im 14. Jahrhundert: Der schwarze Tod", in: Martin, Schulin, Die Juden . . ., a. a. 0.,S. 72.
  22. Zitiert nach: Hans Wollschläger, Die bewaffneten Wallfahrten gen Jerusalem, Geschichte der Kreuzzuege, Zuerich 1973, S. 20.
  23. Heinrich Heine, Aphorismen und Fragmente, HW 7, S. 374.
  24. Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Gesammelte Werke (GW), Bd. XVI, London 1950, S. 198.
  25. Ebd., S. 243 "Gleichzeitige Anwesenheit einander entgegengesetzter Strebungen, Haltungen und Gefühle, z. B. Liebe und Hass, in der Beziehung zu ein- und demselben Objekt". (J. Laplanche, J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt 1972, Bd. 1, S. 55)
  26. Leon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Bd. 1, Von der Antike bis zu den Kreuzzuegen, Worms 1977, S. 32.
  27. Theodor W Adorno, Minima moralia, 1945, Frankfurt 1951, S.141.
  28. Dieter Mertens, "Christen und Juden zur Zeit des ersten Kreuzzuges", in: Schulin/Martin, Die Juden . . ., a. a. 0., S.61 f.
  29. Im 36. Kapitel "Vorkapitalistisches" macht Marx sich Gedanken über diesen historischen Abschnitt. Stichwort Wucher: "Im Mittelalter herrschte in keinem Lande ein allgemeiner Zinsfuß. Die Kirche verbot Zinsgeschäfte von vornherein. Gesetze und Gerichte sicherten Anleihen nur wenig. Desto höher war der Zinssatz in einzelnen Fällen. Der geringe Geldumlauf, die Notwendigkeit, die meisten Zahlungen bar zu leisten, zwangen zu Geldaufnahmen, und um so mehr, je weniger das Wechselgeschäft noch ausgebildet war. Es herrschte große Verschiedenheit sowohl des Zinsfusses wie der Begriffe vom Wucher. Zu Karls des Grossen Zeit galt es fuer wucherisch, wenn jemand 100% nahm. Zu Lindau am Bodensee nahmen 1344 einheimische Buerger 216%. In Zuerich bestimmte der Rat 43« % als gesetzlichen Zins. In Italien mußten zuweilen 40 % gezahlt werden, obgleich vom 12.-14. Jahrhundert der gewöhnliche Satz 20% nicht überschritt. Verona ordnete 12«% als gesetzlichen Zins an. Kaiser Friedr. 1. setzte 10% fest, aber nur für Juden. Fuer die Christen mochte er nicht sprechen. 10% war schon im 13. Jahrhundert im rheinischen Deutschland das gewöhnliche." (MEW 25, S. 611) Das Zinsverbot brachte den jüdischen Zins unter Kontrolle der Herrschaft und zwang vor allem die Kreuzzügler, ihren Besitz der sog. "toten Hand" zu übergeben. Juden waren selbstverständlich von diesem heiligen Geschaeft ausgeschlossen. Kam der Kreuzzügler nicht wieder und/oder konnte seinen Besitz nicht auslösen, fiel er an die Kirche. Marx zitiert J. G. Büscher "Theokratisch-praktische Darstellung der Handlung etc.": "Ohne das Verbot der Zinsen würden die Kirchen und die Klöster nimmermehr so reich haben werden können." (MEW 25, S. 626).
  30. Wanda Kampmann, Deutsche und Juden, Frankfurt 1979, S. 21. Unter die Kategorie der besonders Schutzbeduerftigen fallen neben den Juden Geistliche und Frauen.
  31. Mertens, Christen und Juden. . ., a. a. 0., S. 64.
  32. Herbert A. Strauss, "Juden und Judenfeindschaft in der fruehen Neuzeit", in: Herbert A. Strauss, Norbert Kampe (Hg.), Antisemitismus, Von der Judenfeindschaft zum Holocaust, Frankfurt 1985, S. 70.
  33. Leon Poliakov, Religiöse und soziale Toleranz unter dem Islam. Geschichte des Antisemitismus Bd. 3, a. a. 0., S. 143.
  34. "In den staatlichen Urkunden wurden die neuen Christen als die Nation gefuehrt, als ein gesonderter Teil der Bevoelkerung. Das wollten sie so und waren stolz darauf. Sie hatten die ummauerten Juderias verlassen und wohnten nun in anderen Quartieren der Stadt, dicht beieinander, Haus an Haus. Die Reichen unter ihnen waren jetzt mit dem hohen Adel versippt und selbst zu Rattern geschlagen. Der große Haufen blieb geruhig, was er auch im Ghetto gewesen war: Portugals Mittelstand. Die jüngeren Soehne jedoch suchten die grosse Karriere in dem weiten Feld, das den Juden versperrt war, den neuen Christen jedoch, den Vollbürgern, weit offenstand. Sie wurden Offiziere, Richter, Bürgermeister, sie sicherten sich ihr Teil an den fetten geistlichen Pfründen." (Fritz Heymann, Der Chevalier von Geldern. Geschichten jüdischer Abenteurer, Königstein 1985, S. 27).
  35. Reinhard Ruerup, Emanzipation und Antisemitismus, Göttingen 1975, S. 74.
  36. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung 1844, MEW 1, S. 391.
  37. Karl Marx, Zur Judenfrage, 1843, MEW Bd. 1, S. 359.
  38. Richard Wagner, "Das Judentum in der Musik", 1850, in: Richard Wagner, Mein Denken, hg. von Martin Gregor-Delhn, München 1982, S. 174. Bruno Bauers Artikel "Das Judenthum in der Fremde" erschien 1863 als Separatdruck, gut zwanzig Jahre nach der "Judenfrage", als Bauer längst ins konservative Lager zurückgekehrt war. Vgl. Hermann Greive, Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland, Darmstadt 1983, S. 91 f.
  39. MEW 1, S. 377.
  40. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, S. 342. Beim jungen Marx heißt es: "Der Jude hat sich auf jüdische Weise emanzipiert, nicht nur, indem er sich die Geldmacht angeeignet, sondern indem durch ihn und ohne ihn das Geld zur Weltmacht und der praktische Judengeist zum praktischen Geist der christlichen Völker geworden ist." (MEW 1, S. 373. Erste Hervorhebung von mir, D. C., zweite von Marx).
  41. Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, 1915, GW X, S. 351.
  42. A. a. 0., S. 333 "Im antisemitischen Meinen wird ständig legitime Gewalt in der psychischen Realitaet ausgeuebt. Das waren ja nur Worte, "persoenliche" Meinung. Hypostasierte Meinung - wissen wir - ersetzt die Gewalttat oder ist ein Versprechen auf sie." (Detlev Claussen, "Ueber Psychoanalyse und Antisemitismus", in: Psyche 1, 41. Jahrgang, Stuttgart, Januar 1987, S. 16.)
  43. Theodor W Adorno, "Meinung Wahn Gesellschaft", 1961, in: Eingriffe, Frankfurt 1963, S. 150.
  44. A. a. 0., S. 153.
  45. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, 270, HW 7, S. 421. "Der gegen Hegel stets erhobene Vorwurf, er habe den preußischen Staat vergottet, pflegt zu übersehen, daß zu jener Zeit in Deutschland Preussen recht fortgeschrittene Institutionen besaß, und daß es dem Philosophen mehr als um Preußen um die Einrichtung der Freiheit ging." (Max Horkheimer, "Nachwort zu Porträts deutsch-jüdischer Geistesgeschichte", 1961, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt 1985, S. 181.)
  46. Heine, Brief an Imanuel Wohlwill 1. 4. 1823, in: HW 8, S. 64f. Hans Mayer hat die Literatur der Emanzipationsepoche unter der Kategorie Das unglueckliche Bewusstsein (Frankfurt 1986) interpretiert.
  47. "Dass Emanzipation und Liberalismus nicht gelangen, dass sie nicht verwirklichten, was einmal die Aufklärung und die Revolution an Hoffnungen auf Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit aufbrechen lassen, dafür, und nicht für eine partielle Schwierigkeit im Verhaeltnis einer bestimmten Gruppe zur Gesamtgesellschaft, ist der Antisemitismus ein Index. Antisemitische Gesellschaft, d. h. eine Gesellschaft, in der die zahlenmässig größten Schichten des Volkes ihr unerhelltes Unbehagen, ja ihre Wut und Verzweiflung in Hass gegen eine schwache, an den Ursachen des Unbehagens durchaus unschuldige Minderheit umsetzen, entsteht im ausgeprägten Sinne erst mit bürgerlicher Revolution, Liberalismus und industrieller Wirtschaft." (Margherita v. Brentano, "Die Endloesung - Ihre Funktion in Theorie und Praxis des Faschismus", in: H. Huss, A. Schroeder [Hg.1, Antisemitismus, Frankfurt 1965, S. 56.)
  48. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 62.
  49. Hegel, Grundlinien. . ., HW 7, S. 419.
  50. Sigrnund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1929, in: GW XIV, S. 426.
  51. Zitiert nach Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. M. 1973, S. 131.
  52. Max Horkheimer, "Nachwort ... ", a. a. 0., S. 191 f. "Es ist mir fast nicht weniger verdaechtig, wenn einer sagt, daß er "Die Juden", schlechthin liebt, als wenn er ihnen etwas Falsches vorwirft - " (S. 192)
  53. Theodor W. Adorno, "Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda", in: Helmut Dahmer (Hg.), Analytische Sozialpsychologie, Bd. 1, Frankfurt 1980, S. 340.
  54. Adolf Hitler, Brief an Adolf Gemlich, 16. 9. 1919, in: Sämtliche Aufzeichnungen, hg. v. E. Jäckel, S. 89: "Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Progromen. Der Antisemitismus der Vernunft jedoch muß führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte der Juden, die er zum Unterschied der anderen zwischen uns lebenden Fremden besitzt (Fremdengesetzgebung). Sein letztes Ziel aber muss unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein." Wie viele Nazis kennt Hitler nicht einmal den Namen der traditionellen antisemitischen Gewalttat: Pogrom.
  55. Jochen v. Lang (Hg.), Das Eichmann-Protokoll, Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre, Berlin 1982, S. 150.
  56. 1950 hat Theodor W Adorno dies in einer erschütternden Studie über "Schuld und Abwehr" (Gesammelte Schriften 9,2, Frankfurt 1975, S. 320) resümiert. Das heutige Gerede vom "Man muß doch endlich vergessen können" war schon damals gang und gäbe (Vgl. Detlev Claussen, "Auschwitz erinnern", in: Neue Rundschau, Heft 3/4, 96. Jg., Frankfurt 1985, S. 205), Jean Paul Sartre ("Betrachtungen zur Judenfrage", Oktober 1944, in: Drei Essays, Frankfurt - Berlin - Wien 1975, S. 181) hat sich am Abend der Befreiung Gedanken über Schuld auch derer gemacht, die gegen die Nazis gekämpft haben: "Keiner von uns ist unter diesen Umständen unschuldig, wir sind Verbrecher, und das Blut, das die Nazis vergessen haben, kommt auf unser Haupt." Das gilt auch für die Nachgeborenen.

Psychische Bedingungen der Individuen und gesellschaftliche Bedingungen ergänzen einander; aber es hängt von den gesellschaftlichen Bedingungen ab, dass die Menschen vom Antisemitismus nicht loskommen und ihn affektiv besetzen. An dem nach Auschwitz fortlebenden Antisemitismus lässt sich die fortwirkende Barbarei erkennen, an der Aufklärung ihre Grenzen erfährt. (1)

Aufklärung versprach einst, im 18. Jahrhundert, die Menschen aus ihren Grenzen herauszuführen, ihnen eine kosmopolitische Welt zu eröffnen. Judenhass galt damals als der Inbegriff finsteren Mittelalters, das man überwunden glaubte. Aufklärung koppelte sich an den Fortschrittsbegriff, und das europäische neunzehnte Jahrhundert wird geprägt durch die Vorstellung vom Verschwinden des Überholten. Aber der Judenhass verschwindet nicht im 19. Jahrhundert, er transformiert sich zum modernen Antisemitismus. Inhaltsleerer Fortschrittsglaube muß dazu herhalten, die Gegenwart des Antisemitismus aus dem Bewusstsein der Menschen fernzuhalten. Alltagsvorstellung vom Leben und wissenschaftliche Praxis decken sich in der falschen Überzeugung: Antisemitismus hat es gegeben, aber gibt es nicht mehr. Dieses moderne Durchschnittsbewusstsein identifiziert Judenhass mit Antisemitismus oder unterscheidet bloß formal zwischen christlichem Mittelalter und säkularasierter Neuzeit.

Die Unterscheidung zwischen Judenhass und Antisemitismus eröffnet aber dem Erkennenden die Möglichkeit, sich vom naturwüchsigen Antisemitismus zu befreien. Die stete Wiederkehr des Antisemitismus erzeugt den Schein des "ewigen" Antisemitismus - aber dies ist ein falscher Schein. Spätestens nach Auschwitz, hat man gemeint, sei es unmöglich, noch Antisemit zu sein. Adorno und Horkheimer haben dies prägnant in ihrem Schlüsselwerk "Dialektik der Aufklärung" ausgedrückt: "Aber es gibt keine Antisemiten mehr."(2) A la lettre genommen, können wir über diese Formulierung aus dem Jahre 1947 vierzig Jahre später nur milde lächeln; aber es wird ein richtiger Gedanke angezeigt: Der Antisemitismus, der zu Auschwitz führte, und der Antisemitismus nach Auschwitz sind nicht identisch. Dieser Gedanke führt über das eng abgesteckte Feld der Antisemitismusforschung hinaus: Antisemitismus ist ein Moment im gesellschaftlichen Prozess, das nur künstlich zu isolieren ist. Auf den gesellschaftlichen Zusammenhang kommt es an, in dem der Antisemitismus erscheint. Dieser gesellschaftliche Zusammenhang läßt sich nur erkennen, wenn man die geschichtlichen Unterschiede herausarbeitet.

Die Rede vom "ewigen Antisemitismus" bedeutet nichts anderes als eine intellektuell-politische Kapitulation vor dem Sachverhalt: Man isoliert den Antisemitismus aus seinem jeweiligen gesellschaftlich-geschichtlichen Kontext und verwandelt ihn in eine anthropologische Konstante. Schnell folgt daraus der Kurzschluss auf angebliche Nationalcharaktere, zu denen ein nationalspezifischer Antisemitismus gehört. Die Rede von "Deutschen und Juden" macht den Antisemitismus zu einer Angelegenheit von anthropologisch differenten Personengruppen, ohne auf die gesellschaftlich-geschichtliche Bestimmung der Individuen zu achten.

Der moderne Antisemitismus ist zweifellos an den Nationalismus gekoppelt, aber die Reduktion des Antisemitismus auf die nationale Besonderheit gibt gerade der ideologischen Form nach, zu der Nationalismus und Antisemitismus gehören. Das Gerede von der nationalen Identität putzt nur die alte Ideologie auf; die Identifikation mit nationalen Kollektiven wird für alle Beteiligten bestätigt. Über der Freude "irgendwo dazuzugehören" wird vergessen, dass Kollektivzugehörigkeit zunächst ein gesellschaftlicher Zwang ist. Der gelbe Stern ist äußeres Zeichen für diesen Zwang. Die Kennzeichnung der Juden als Juden im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich ermöglichte überhaupt erst ihre Erfassung und Vernichtung. Die Praxis, Individuen - unabhängig davon, was sie tun und sagen - Kollektiven zuzuschlagen, ahmt den gesellschaftlichen Zwang nach, statt ihn zu kritisieren.

Es beruhigt ungemein, Auschwitz als Folge des deutschen Nationalcharakters zu begreifen und Traditionslinien durch die letzten tausend Jahre zu ziehen. Aber diese anthropologische Formel verdeckt den wirklichen Zusammenhang von modernem Antisemitismus und der Massenvernichtung wehrloser, unbewaffneter Menschen. "Keineswegs ist der totalitäre Antisemitismus ein spezifisch deutsches Phänomen. Versuche, ihn aus einer so fragwürdigen Entität wie dem Nationalcharakter, dem armseligen Abhub dessen, was einmal Volksgeist hieß, abzuleiten, verharmlosen das zu begreifende Unbegreifliche. Das wissenschaftliche Bewusstsein darf sich nicht dabei bescheiden, das Rätsel der antisemitischen Irrationalität auf eine selber irrationale Formel zu bringen. Sondern das Rätsel verlangt nach seiner gesellschaftlichen Auflösung, und die ist in der Sphäre nationaler Besonderheiten unmöglich."(3) Die falsche Auflösung des antisemitischen Rätsels durch nationale Formeln beruht nicht allein auf falschem Denken, sondern ist in der materiellen Realität begründet.

Der Triumph des totalen Klassenkampfes und Krieges, den die Nationalsozialisten führten, lebt in der Entsubstantialisierung der bürgerlichen Gesellschaft nach. Die kosmopolitischen Ideale der Französischen Revolution "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" haben sich in den Individuen nicht durchgesetzt, sondern diese klammerten sich im Verlauf der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft an einen illusionären Strohhalm: an die Nation, der sie sich scheinbar von Natur zugehörig glaubten. In diesem Prozess zeigt sich, dass "Dialektik der Aufklärung" mehr ist als ein Buchtitel. Die bürgerliche Gesellschaft sollte, ihrem Begriff nach, die Menschen aus ihren naturwüchsigen kollektiven Zusammenhängen herauslösen und individuieren. Die Individuen hätten auf einem bestimmten geschichtlichen Stand die Fähigkeit erwerben sollen, sich von der Macht der Vergangenheit zu emanzipieren und frei zu handeln.

Dieses Emanzipationsversprechen wird aber schon im 18. Jahrhundert gekoppelt an die Verklärung der bürgerlichen Gesellschaft als einer natürlichen Beziehungsform der Individuen untereinander. Durch die Französische Revolution ist überhaupt erst die französische Nation als politische entstanden. In der vorbürgerlichen Gesellschaft verstand man unter "Nation" hauptsächlich eine - die Juden. Die Proklamation der Menschenrechte löst die Juden als Nation auf in die konstituierte Französische Nation. Dieser Widerspruch drückt sich in den berühmten Worten Clermont-Tonnerres während der Emanzipationsdebatte der Nationalversammlung im Dezember 1789 aus: "Den Juden als Nation ist alles zu verweigern, den Juden als Menschen ist alles zu gewaehren."(4) Darin zeigt sich Verschränkung von Emanzipationsversprechen und Assimilationszwang als Fortschritt von Freiheit und Unterdrückung. Diese Dialektik durchzieht nicht nur die Geschichte der Großen Französischen Revolution, sie bestimmt auch die Verwandlung des Judenhass in Antisemitismus. Dialektik der Aufklärung kennzeichnet also den Prozess des Bewusstseins wie den der materiellen Realität.

Die widersprüchliche Struktur materieller Veränderungen und solchen des bürgerlichen Bewusstseins schlägt sich in der wissenschaftlichen Literatur der letzten zwei Jahrhunderte nieder - meist einseitig. Die große Emanzipationsliteratur, angefangen mit dem aufgeklärten preußischen Beamten Christian Wilhelm Dohm, macht Vorschläge, den traditionellen Judenhass gesellschaftlich aufzulösen. Die ungehemmte Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft wird nach den Vorstellungen von Dohm, Mirabeau, Gregoire und anderen die alten Vorurteile beseitigen. "Vorurteil" bedeutet in dieser Literatur nicht bloß "falsche Meinung", sondern Vorurteil bedeutet wesentlich die rechtliche und gesellschaftliche Sonderstellung der Juden in der traditionellen Gesellschaft, deren hässlichster Ausdruck das ummauerte Getto war. Der vom Kriegsrat Dohm gewählte Titel seines 1781 erschienenen Buches kann durchaus als Programm genommen werden: "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden". Aus der Perspektive des aufgeklärten Beamten erscheint die Masse der Juden als Objekt - von Besserungsmaßnahmen, durchaus im doppeldeutigen Sinn. Aber die Formulierung trifft ein wesentliches Verhältnis: Die bürgerliche Emanzipation erreicht die Masse der europäischen Juden von außen - sie werden zwangsemanzipiert.

Nach der Großen Revolution sind in Frankreich die reaktionären christlichen Argumente gegen jüdische Gleichberechtigung kaum noch zu hören, obwohl sie in Deutschland bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts nicht ganz verschwinden. Aber der Geist der neuen Zeit macht sich in der Verwandlung des christlich begründeten Judenhasses in modern antisemitische Argumentationen bemerkbar. Im Denken Fichtes, der zunächst die Revolution verteidigt, erscheint ein neues geschichtliches Subjekt: die Nation. Die deutschen Jakobiner hatten zur Beseitigung der "herrschenden Vorurteile" - darunter wurde wesentlich die Unterdrückung der Juden verstanden - aufgerufen (5); 1793 macht Fichte aber eine erschreckende Wendung, die aus naturrechtlichem Geiste kommt: "Von einem Volke, dessen Geringster seine Ahnen höher hinaufführt, als wir andern alle unsere Geschichte, und in einem Emir, der älter ist, als sie, seinen Stammvater sieht - eine Sage, die wir selbst unter unsere Glaubensartikel aufgenommen haben; das in allen Völkern die Nachkommen derer erblickt, welche sie aus ihrem schwärmerisch geliebten Vaterlande vertrieben haben; das sich zu dem den Körper erschlaffenden, und den Geist für jedes edle Gefühl tötenden Kleinhandel verdammt hat, und verdammt wird; das durch das bindendste, was die Menschheit hat, durch seine Religion, von unsern Mahlen, von unseren Freudenbecher, und von dem süßen Tausche des Frohsinns ausgeschlossen ist; das bis in seinen Pflichten und Rechten, und bis in der Seele des Allvaters uns andere alle von sich absondert, - von so einem Volke sollte sich etwas anderes erwarten lassen, als was wir sehen; daß in einem Staate, wo der unumschränkte König mir meine väterliche Hütte nicht nehmen darf, und wo ich gegen den allmächtigen Minister mein Recht halte, der erste Jude, dem es gefällt, mich ausplündert."(6)

Fichte versucht den der bürgerlichen Gesellschaft inhärenten Widerspruch von politischer Freiheit und ökonomischer Unterdrückung auf Kosten der Juden zu lösen. Menschenrecht solle man ihnen gewähren, aber keine Bürgerrechte.

Diese Argumentation von Fichte verdient besondere Beachtung, weil sie deutlich die Differenz von traditionellem Judenhass und modernem Antisemitismus zeigt. In einer Fußnote versucht Fichte sich zu erklären. Er weist jede religiöse Intoleranz von sich - keineswegs aus taktischen Gründen: "Ich will nicht etwa sagen, daß man die Juden um ihres Glaubens willen verfolgen solle."(7) Fichte stellt der Emanzipationsliteratur und Aufklärung seine "Tatsachen" gegenüber; der Idealist wird zum Positivisten: "Ich weiß, daß man vor verschiedenen gelehrten Tribunalen eher die ganze Sittlichkeit, und ihr heiligstes Produkt, die Religion, angreifen darf, als die jüdische Nation. Denen sage ich, daß mich nie ein Jude betrog, weil ich mich nie mit einem einließ, daß ich mehrmals Juden, die man neckte, mit eigener Gefahr und zu eigenem Nachteil in Schutz genommen habe, daß also nicht Privatanimosität aus mir redet. Was ich sage, halte ich für wahr; ich sagte es so, weil ich das für nötig hielt: ich setze hinzu, daß mir das Verfahren vieler neuerer Schriftsteller in Rücksicht der Juden sehr folgewidrig scheint, und daß ich ein Recht zu haben glaube, zu sagen, was und wie ich's denke. Wem das Gesagte nicht gefällt, der schimpfe nicht, verleumde nicht, empfinde nicht, sondern widerlege obige Tatsachen."(8)

In Fichtes Argumentation erscheint noch unverstellt das Kennzeichen des modernen (bürgerlichen) Antisemitismus, das später durch die psychische Abwehr der Antisemiten verschleiert wird: Indifferenz. Ausdrücklich weist Fichte, "Privatanimositäet" von sich: Der Antisemitismus ist abstrakt, der Judenhass konkretistisch. Beim Judenhass geht es ums Totschlagen, brutal, mit Knüppeln und was dem Pogromisten gerade so in die Hand fällt; der Fortschritt zum Antisemitismus bedeutet nicht weniger Gewalt, sondern andere. Fichtes Argumentation bedarf der "Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre"(9).

Adorno konstatiert eine menschliche Qualität, durch die alle modernen Individuen geschlagen sind und die auch den Schuldlosen mitschuldig macht: "Die Schuld des Lebens, das als pures Faktum bereits andern Lebenden Atem raubt, einer Statistik gemäß, die eine überwältigende Zahl Ermordeter durch eine minimale Geretteter ergänzt, wie wenn das von der Wahrscheinlichkeitsrechnung vorgesehen wäre, ist mit dem Leben nicht mehr zu versöhnen. Jene Schuld reproduziert sich unablässig, weil sie dem Bewußtsein in keinem Augenblick ganz gegenwärtig sein kann."(10)

Der Ursprung bürgerlicher Subjektivität, wie wir ihn beim jungen Fichte beobachten können, ist aber kein bloß subjektiver: Meinung tritt hier zwar als Setzung auf, wird aber behauptet als Tatsache. Sie objektiviert sich in der Trennung von Menschen- und Bürgerrechten. Die in der Meinung latente Gewalttat wird manifest: "Menschenrechte müssen sie haben, ob sie gleich uns dieselben nicht zugestehen; denn sie sind Menschen, und ihre Ungerechtigkeit berechtigt uns nicht, ihnen gleich zu werden. Zwinge keinen Juden wider seinen Willen, und leide nicht, daß es geschehe, wo du der Nächste bist, der es hindern kann; das bist du ihm schlechterdings schuldig. Wenn du gestern gegessen hast, und hungerst wieder, und hast nur auf heute Brot, so gib's dem Juden, der neben dir hungert, wenn er gestern nicht gegessen hat, und tust sehr wohl daran. - Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein ander Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern und sie alle dahin zu schicken."(11)

Normalerweise werden nur die letzten Zeilen zitiert, um Fichte dann als Vorläufer der Nazis zu charakterisieren. Das Grauen wird aber erst durch den Zusammenhang unerträglich: Die sittlichen Regeln, die im ersten Absatz in aller Strenge und Rigidität betont werden, sind von der Wirklichkeit der nationalsozialistischen Herrschaft um eine Welt entfernt: Gerade als Menschen werden die Juden nicht behandelt, sondern - im Nazi-Sprachgebrauch - "sonderbehandelt als Untermenschen", als lebendige Dinge, über die die Herrenmenschen absolut verfügen. Fichte überträgt die Spaltung, die im Unterschied von Menschen- und Bürgerrechten erscheint, und der alle Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft faktisch unterliegen, allein auf die Juden. Die Trennung von Menschen- und Bürgerrechten reflektiert den zentralen Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft selbst, den Fichte nicht durchschaut. Er spricht den Juden die Fähigkeit zur Emanzipation ab - sie sind der Heteronomie verhaftet durch die Praxis des Kleinhandels, und sie gelten darum als zur Autonomie des Staatsbürgers, des Citoyen, unfähig. Der Widerspruch des bürgerlichen Menschen, Bürger und Staatsbürger, Bourgeois und Citoyen in einer Person zu sein, wird von Fichte projiziert auf die Juden. Nur den Juden wird der Widerspruch, dem alle Subjekte der bürgerlichen Gesellschaft unterliegen, als unlösbarer schuldhaft zugeschoben: im Verweis auf ihre traditionelle ökonomische Praxis, auf Geld- und Warenhandel.

An Fichtes Argumentation kann man sehen, dass antisemitisches Meinen sich nur gesellschaftlich begreifen lässt, nicht als Tatsachendiskussion über die Juden. Undurchschaut bleibt bei Fichte der ökonomische Prozess, mit dem er die Juden identifiziert. Die Heteronomie ökonomischer Prozesse bedroht die Autonomie des selbstgesetzten Ichs. Die abstrakte Setzung einer Identität schließt die Juden aus; der gesellschaftlich emanzipative Inhalt weicht gegenüber der Autonomie des Subjekts zurück. Fichtes Gesellschaftsschrift "Der geschlossene Handelsstaat" macht aus der Not eine Tugend - die des absoluten Zwanges. Aus Fichtes Argumentation sind nur die schieren, subjektivistischen Urteile ins Arsenal des modernen Antisemitismus übergegangen. Fichte erscheint bloß als verdammungswürdiger Halsabschneider, nicht aber als der Antisemit, als der er zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft gehört - nicht als Ausnahme, sondern als Normalfall. Die Forderung nach Menschenrechten für die Juden bei gleichzeitigem Ausschluss von den Bürgerrechten erscheint heute noch: in der scheinbar anti-antisemitischen Allerweltsaussage "Die Juden sind doch auch Menschen".

Es sind die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft, die im antisemitischen Meinen ihren Ausdruck finden. Dieses Meinen ist latente Gewalttat, wie wir aus Fichtes Argumentation wissen. Bei seinen Nachfolgern wird aus der Argumentation die affektive Seite - der "süße" Tausch des Frohsinns mit uns von "Herz zu Herzen" - herausgebrochen und in einen "Brei des Herzens, der Freundschaft und Begeisterung" verwandelt, wie Hegel seinen Kollegen Fries, als "Heerführer dieser Seichtigkeit", kritisiert hat. (12) Eine Literatur, die Emanzipation und Assimilation als Irrweg verdammt, hat eine abschüssige Traditionslinie von Reformation über Aufklärung, deutschen Idealismus, Marxismus bis zu Hitler und Himmler gezogen, die selber einer irrationalen Formel gleicht. Der moderne Antisemitismus läßt sich aber ohne die im gesellschaftlichen Leben wirksame Dialektik nicht erkennen. Das trifft vor allem auf das monumentale Werk von Leon Poliakov "Geschichte des Antisemitismus" zu, einer ungeheuren Materialsammlung, aus der jüngere Autoren sich wie aus einem Steinbruch bedienen. (13)

"Wohl sieht retrospektiv alles so aus, als hätte es so kommen müssen und nicht anders sein können. Man wird unter den Berühmten der deutschen Vergangenheit bis hinauf zu Kant und Goethe nur wenige nennen können, die von judenfeindlichen Regungen ganz frei waren. Aber indem man auf solche Universalität insistiert und die Fatalität des Geschehens im Begriff nochmals wiederholt, macht man sie in gewissem Sinn sich selbst zu eigen. Den Spuren des heraufdämmernden Verhängnisses in der deutschen Vergangenheit ist allerorten auch deren Gegenteil gesellt, und die Weisheit, ex post facto zu dekretieren, was von vornherein das Stärkere gewesen sei, macht es sich allzu leicht, indem sie das Wirkliche als das allein Mögliche unterstellt."(14)

Der moderne Antisemitismus resultiert aus missglückter Emanzipation. Gerade weil weder Toleranz noch Intoleranz bei der antisemitischen Argumentation eine Rolle spielen, ist Fichtes Verteidigung der Französischen Revolution so genau zu lesen: Begründend wirkt eine Fehlinterpretation des gesellschaftlichen Prozesses. In den Juden wird der Inbegriff ökonomischer Modernisierung gesehen - die Vorkehrung von persönlicher Gewalt in die Gewalt der Sachen, die wesentliche Veränderung in jenem Prozeß, wird zwar erfahren, aber nicht begriffen. Deswegen spricht Fichte von "Ausplündern". Fichte verteidigt eine Revolution ohne ihren gesellschaftlichen Inhalt; "Revolution" ohne Inhalt derart im nationalen Rahmen zu sehen, heißt nicht anderes als chauvinistischen Existenzkampf zu propagieren. Wo ein bestimmter Begriff der bürgerlichen Gesellschaft fehlt, leistet der Begriff der Nation Ersatz. Der gesellschaftliche Zusammenhang der Individuen erscheint als ein quasi natürlicher; es geht dann nur mehr um Bestimmungen des "Volks". Auf diese Weise konnte Fichte zum Ideologen der antinapoleonischen Befreiungskriege werden. Der Kantianer Saul Ascher hat diesen Umschwung als Germanomie bezeichnet. Fichte avancierte nicht zufällig zum Lieblingsphilosophen der deutschen Romantik. "Der Judenhaß beginnt erst mit der romantischen Schule (Freude am Mittelalter, Katholizismus, Adel, gesteigert durch die Teutomanen - Ruehs -)" heißt eine fragmentarische Notiz in Heines Nachlass. (15)

Wiederholung bedeutet nicht Identität. Freilich gibt es einen Zusammenhang von traditionellem Judenhass und modernem Antisemitismus. Beide, Judenhass und Antisemitismus, besitzen eine gemeinsame Substanz: Hass auf die nahen Fremden, die das Geheimnis des gesellschaftlich verweigerten Ersehnten kennen. Es gibt nur eine in der europäischen Geschichte identische Gruppe, auf die sich dieser Hass anwenden lässt: Das sind die Juden. Die Interpretationen, die einen ewigen Antisemitismus am Werke sehen, gehen fehl, weil sie die bestimmten Unterschiede nicht sehen wollen.

Judenfeindliche Tendenzen hat es zweifellos in der Antike gegeben, und es hat solche Tendenzen im ersten christlichen Jahrtausend gegeben. (16) Aber es lässt sich kein identisches System hinter den Unruhen in Alexandria (38 nach christlicher Zeitrechnung) und den antijüdischen Attacken der Kirchenväter entdecken, - wenn man nicht ein nationales Modell mystifiziert, wie es in der zionistischen Literatur meist geschieht. (17) Andere Autoren sprechen von den Juden als Minderheit (18), - auch gegen die Absicht der Autoren verfälscht dieser Begriff der Minderheit das Einzigartige des Phänomens. "Minderheit" sagt nichts über die spezifische geschichtliche Konstellation, in welcher Juden mit anderen Völkern in verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen lebten. Um diese wechselvollen gesellschaftlichen Beziehungen geht es hier.

Die seit dem Ausgang der Antike bis zur Säkularisierung in Europa vorherrschende Interpretation der Welt entstammt wesentlich der jüdischen Tradition und bekämpft sie zugleich: das nahe Fremde. Bissig hat das der junge Marx mit seinem Freund Friedrich Engels formuliert: "Ein Dorn, der mir - wie das Judentum der christlichen Welt - von der Stunde der Geburt im Auge sitzt, sitzen bleibt, mit ihm wächst und sich gestaltet, ist kein gewöhnlicher, sondern ein wunderbarer, ein zu meinem Auge gehöriger Dorn, der sogar zu einer höchst originellen Entwicklung meines Gesichtssinnes beitragen müßte."(19) Diesen christlich verzerrten Gesichtssinn wollte die europäische Aufklärung korrigieren; aber es gelang ihr nur in begrenztem Maße, weil die geschichtliche und gesellschaftliche Dynamik, die diesen Sinn verzerrte, ihr verschlossen blieb. Die Aufklärer blieben an einer Vorstellung unverzerrter Kommunikation von großen Einzelnen hängen: Die überragende Rolle von Moses Mendelssohn als Dialogpartner der gebildeten europäischen Spitze läyyt sich aus dieser Lage verstehen. Dem idealisierten Einzelnen, dem Weltbürger als der Zielvorstellung des aufgeklärten Emanzipationsanspruchs entspricht, als Kehrseite, die Verachtung der Masse. Der Individualitätsanspruch wird universalisiert.

Dieser weltbürgerliche Kosmopolitismus wird allen späteren Nationalisten zum Greuel, denn damit wird die Vorherrschaft des traditionalen wie des modernen Kollektivs in Frage gestellt. Gegenaufklärung und Restauration, die auf Aufklärung und Emanzipation antworten, müssen der gesellschaftlich bereits erfolgten Verweltlichung soweit Rechnung tragen, dass traditionelle christliche Legitimationsfiguren in einen neuen ökonomisch-gesellschaftlichen Begründungszusammenhang eingeschmolzen werden müssen. Der moderne Antisemitismus als Reaktion auf die Französische Revolution und ihre politisch- ökonomischen Folgen erfüllt genau diese Funktion.

Wenn wir vom modernen Antisemitismus sprechen, bedeutet dies, dass der traditionelle Judenhass auch ein Antisemitismus war: Geschichtliches Denken erklärt aus der Anatomie des Menschen die des Affen und nicht umgekehrt. Die Periode von 1750 bis 1850 ist für die Geschichte des Antisemitismus deshalb so aufschlussreich, weil in dieser Zeit der Formwechsel des traditionellen Judenhasses zum Antisemitismus stattfindet - bevor Antisemitismus als Wort existiert. Der nationalsozialistische Antisemitismus hat versucht, sich noch einmal aufs Schärfste gegen den christlich legitimierten Judenhass abzugrenzen. Horkheimer und Adorno analysierten diese Verleugnung der geschichtlichen Wurzeln: "Der durchschnittliche Gläubige ist heute schon so schlau wie früher bloß ein Kardinal. Den Juden vorzuwerfen, sie seien verstockte Ungläubige, bringt keine Masse mehr in Bewegung. Schwerlich aber ist die religiöse Feindschaft, die für zweitausend Jahre zur Judenverfolgung antrieb, ganz erloschen. Eher bezeugt der Eifer, mit dem der Antisemitismus seine religiöse Tradition verleugnet, dass sie ihm insgeheim nicht weniger tief innewohnt als dem Glaubenseifer früher einmal die profane Idiosynkrasie."(20)

Beim traditionellen Judenhass verschränken sich rationale Kalküle und christliche Legitimation. In einer aufschlussreichen Untersuchung über Judenpogrome im 14. Jahrhundert hat Franticek Graus herausgearbeitet, dass es durchaus übliche Praxis war unter den Herrschenden, die besten Judenhäuser im voraus den christlichen Herren zu versprechen, "wann die Juden dasselbes un nehst werden geslagen". So steht es in einer Urkunde Karls IV. vom Juni 1349. (21) Manipulative Aufstachelung zeichnet nicht nur das Pogrom im späten Zarismus Ende des 19. Jahrhunderts, sondern schon das mittelalterliche Pogrom aus. Nicht nur das Christentum wird als Legitimation profaner Motive benutzt, auch die Revolte gegen die Herrschaft im Interesse der Herrschaft.

"Gott will es" - dieser fürchterliche Ruf der Kreuzzügler leitete die ersten systematischen Massaker an den Juden in Europa ein: 1096. Das nationalistisch werdende Europa des 19. Jahrhunderts hat in den Kreuzzügen sein identitätsstiftendes Modell gesehen. Die Praxis besteht in der von höchster moralischer und weltlicher Stelle gebilligten Aufhebung des Tötungstabus. Zeitlich wie räumlich kommt die Rechtfertigung von weit her: Die Ungläubigen sprich die Muslime - haben die heilige Stadt Jerusalem und das Grab des Herren in Besitz genommen. Elieser bar Nathan hat überliefert, wie damit der Massenmord an den Juden der Rheinländer gerechtfertigt wurde:

"Sie sprachen in ihrem Herzen: 'Sehet, wir ziehen hinab, unseren Heiland zu suchen und Rache zu üben für ihn an den Ismaeliten; hier aber sind die Juden, welche ihn umgebracht haben und gekreuziget! Auf, lasset denn zuerst an ihnen uns Rache nehmen und sie austilgen unter den Völkern, auf das vergessen werde der Name Israel; oder sie sollen unseresgleichen werden und zu unserem Glauben sich bekennen!'" (22)

Die Herrschaft der christlichen Religion wird mit barbarischen Mitteln in Europa befestigt. Als ein Herrschaftsmittel spielt der Judenhass eine Rolle, der im Schoße der christlichen Herrschaft zur Tradition des christlichen Abendlandes wird. An der Schwelle zur Neuzeit haben wir es mit einem in ganz Europa verbreiteten traditionellen Judenhass zu tun. Heine hat diesen Vorgang in einem großartigen aufklärerischen Aphorismus ausgedrückt: "Juden - sie waren die einzigen, die bei der Christlichwerdung Europas sich ihre Glaubensfreiheit behaupteten -."(23)

Der elementare Charakter des Judenhasses richtet sich gegen die Härte der christlichen Herrschaft, trifft aber die der Vaterreligion treuen Juden. Freud hat im Angesicht des nationalsozialistischen Triumphes Ursprungselemente des Judenhasses herausgearbeitet. Er hat nicht die simple Ideologie christlichen Judenhasses a la lettre genommen, sondern ihre Dialektik entwickelt: "Und endlich das späteste Motiv in dieser Reihe, man sollte nicht vergessen, dass alle diese Völker, die sich heute im Judenhass hervortun, erst in späthistorischen Zeiten Christen geworden sind, oft durch blutigen Zwang getrieben. Man könnte sagen, sie sind alle 'schlecht getauft', unter einer dünnen Tünche von Christentum sind sie geblieben, was ihre Ahnen waren, die einem barbarischen Polytheismus huldigten. Sie haben ihren Groll gegen die neue aufgedrängte Religion nicht überwunden, aber sie haben ihn auf die Quelle verschoben, von der das Christentum zu ihnen kam. Die Tatsache, dass die Evangelien eine Geschichte erzählen, die unter Juden und eigentlich nur von Juden handelt, hat ihnen eine solche Verschiebung erleichtert. Ihr Judenhass ist im Grunde Christenhass, und man braucht sich nicht zu wundern, dass in der deutschen nationalsozialistischen Religion diese innige Beziehung der zwei monotheistischen Religionen in der feindseligen Behandlung beider so deutlichen Ausdruck findet."(24)

Die Entwicklung des modernen Antisemitismus wirft auch an dieser Stelle ein Licht nach rückwärts: auf den traditionellen Judenhass. Aus diesem Grunde sollte man nicht von einem christlichen, sondern von einem in der Volkstradition verwurzelten Judenhass sprechen, der von der christlich organisierten Herrschaft funktionalisiert wird. Der Judenhass bietet sich an wegen der Verschiebungsmöglichkeit der Affekte, die sich primär gegen die drückende Herrschaft richten. Dazu ist eine wesentliche psychische Qualität nötig, von der Adorno gesagt hat, sie könne soziologische Wunder vollbringen: Ambivalenz. In einer patriachalischen Gesellschaft gehört Ambivalenz zur psychischen Grundausstattung jeden Individuums; sie gehört zum "Wesen des Vaterverhältnisses"(25), das Modell von Herrschaft wird.

Die Individuen verinnerlichen den von der Herrschaft aufgezwungenen Triebverzicht; in ihnen selbst bildet sich eine Ambivalenz von Liebe und Hass gegen diesen mächtigen Herren, der einst der Vater oder Gott war. "Gott will es" - dieser Schlachtruf der Kreuzzüge ermöglicht es, das Schuldbewusstsein, das dem Hass auf den Herren entspringt, auf die Juden zu verschieben, die mit dem Herren identifiziert werden, aber doch nicht mit ihm identisch sind. Die christliche Herrschaft bedient sich dieser Gefühlsambivalenz, indem sie die verhassten Juden schlagen lässt und selbst, als Autorität, Liebe und Achtung einstreicht. Auf die antisemitische Untat, das Pogrom, muss deshalb auch die Strafe folgen, die wiederum die Autorität des Herren steigert.

Der Tat gegenüber bleibt bei den Unterdrückten die Ambivalenz: Lustvoll war die Gewalt, weil sie die eigene Unterdrückung kurz aufhob, angstvoll wird sie verdrängt oder gar verleugnet, weil auf sie Strafe stand oder noch steht. Das eigene Schuldbewusstsein gegen den Herren der schlecht getauften Christen lässt sich im Pogrom ganz auf die Juden verschieben, bis die alte Ordnung wiederhergestellt ist. Die christliche Herrschaftsordnung bedarf der speziellen Unterdrückung der Juden, damit die allgemeine Unterdrückung erträglicher wirkt. Die Kreuzzüge stehen in der Geschichte als das brutalste Mittel zur Errichtung christlicher Herrschaft da; sie liefern das Modell des Heidenkriegs, der den Besiegten vor die Alternative Taufe oder Tod stellt. Nichtanerkennung des Feindes als oberstes Prinzip wird durch die christliche Religion legitimiert. Im 11. Jahrhundert gibt es Judenverfolgungen als Generalprobe, lange bevor es zu den Massakern der Kreuzzüge kommt. Die Verschwörungstheorie spielt dabei immer eine große Rolle: Die Juden seien mit dem äußeren Feind, und, ist der nicht sichtbar, mit dem Teufel im Bunde. Verschwörungstheorie und Gerücht gehören zusammen: "Um so bezeichnender ist es, daß bis zum XI. Jahrhundert keine Chronik von Ausbruechen des Volkszorns gegenüber den Juden berichtet. Aber nun kurz nach tausend versetzen wirre Gerüchte die Christenheit in Unruhe. Auf Anstiften der Juden habe der 'Fürst von Babylon' das Grab des Herren zerstören lassen; er habe auch gegen die Christen im Land unzählige Verfolgungen in Gang gebracht und hätte dabei auch den Patriarchen von Jerusalem enthaupten lassen. Was hier auch immer in den Bereich der orientalischen Märchen gehören mag (in Wirklichkeit ging der unduldsame Hakim ebenso scharf gegen Juden wie auch gegen Christen vor), im Abendland beginnen Fürsten, Bischöfe oder Bauernlümmel unverzüglich damit, Rache an den Juden zu üben: die Juden werden in Rouen, Orleans, Limoges (1010), Mainz (1012) und zweifellos auch in anderen Städten am Rhein und, wie es scheint, auch in Rom zwangsweise bekehrt, niedergemacht und ausgetrieben."(26) Die reale Tat wird begangen - legitimiert durch das Gerücht. Schon zu Beginn der organisierten Judenverfolgung in Europa läßt sich Adornos Aphorismus lokalisieren: "Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden." (27)

Damit das Gerücht greift, müssen die Opfer designiert werden. Weltliches und noch viel mehr kirchliches Judenrecht besorgen dies in einem säkularen Prozess. Die Jahrtausendwende mit den spanischen Heidenkriegen und den Kreuzzügen ist gekennzeichnet durch den Zugriff der kirchlichen Macht, die eine äußerliche Kennzeichnung der Juden zur Folge hat. Die Juden werden von den Herrschenden verurteilt, in einer elenden Lage zu leben. "Anhand einer zusammenhängenden Urkundengruppe lässt sich so der Weg verfolgen vom freien königlichen Kaufmann, der weite Räume durchzieht und den Karolingerhof mit erlesenen Waren des Fernhandels versorgt, bis zum königlichen Kammerknecht, der - Objekt eines lehnbaren königlichen Rechts - inzwischen schon und künftig immer häufiger Gegenstand der Verleihung von Territorialfürsten ist. Obwohl Friedrich Il. nach seiner Einleitung über die Kammerknechtschaft den Text Heinrichs IV. von 1090 unverändert wiederholt, bedeutet dieser Text nicht mehr dasselbe. Denn der faktische Status der Juden, die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kirchenrechtlichen Bedingungen hatten eine allmähliche, aber gründliche Änderung erfahren, und Friedrich trug ihr mit dem Status der Kammerknechtschaft Rechnung. Die nun allseitig fixierte 'Knechtschaft' der Juden gab den Rechtstitel her für die seit dem 13. Jahrhundert erheblich beschleunigte Absonderung, Diskriminierung und Unterdrückung der Minderheit, deren ökonomische Unentbehrlichkeit abnahm."(28) Die geschichtliche Reflexion klärt darüber auf, daß dem modernen Vorurteil ein materielles Urteil der Herrschaft vorausgegangen ist, das die Verurteilten gezeichnet hat.

In der Geschichte des Antisemitismus ist auch dies wörtlich zu nehmen. Die klare Trennung von Christen und Juden teilt den Juden einen in jeder Beziehung anderen Status zu. Das IV. Laterankonzil 1215 macht den Juden deutlich Kleidervorschriften, aus denen dann der obligatorische Gelbe Fleck entwickelt wird. Die Juden werden nun auch auf eine soziale Rolle fixiert: auf die des Agenten im Waren- und Geldverkehr, auf letzteren in seiner gefährlichsten Form, den Geldverleih genannten Wucher. In der traditionalen Gesellschaft versucht die herrschaftliche Gewalt den freien Geldverkehr zu begrenzen: Den Christen hatte das III. Lateranische Konzil 1179 verboten, Zinsen zu nehmen. Den Juden hatte man damit ein zweifelhaftes Monopol zugeschanzt: die Geldwirtschaft innerhalb einer agrarischen Traditionsgesellschaft. Als Geldbesitzer, bei denen die christliche Umwelt verschuldet war, waren sie vorzügliche Objekte gewalttätiger Begierde: der Herren wie der christlichen Untertanen. Da es überhaupt keine Vergleichsmaßstäbe gab und das Risiko für den Verleiher ungeheuer war, setzte sich das Wort Wucher für jede Zinsnahme fest. Das ökonomische Vorurteil im modernen Antisemitismus hat seine materielle Basis in der verschleierten vorkapitalistischen Ökonomie. Der Konzilsbeschluss über den jüdischen Wucher schränkte gerade den jüdischen Zins ein und machte ihn kalkulierbar; der stille Profiteur des Zinsverbotes war die Kurie, besonders zur Zeit der Kreuzzüge. (29)

Das gefährliche Zinsgeschäft hatte noch eine andere Seite: Die Juden, denen agrarische Tätigkeit unmöglich gemacht wurde, mussten ihr Gewerbe ausüben als servi camerales - als Kammerknechte. Die Knechtschaft war total, denn die Juden wurden zu waffenlosen Schutzbedürftigen: "Wer das Waffenrecht verloren hat, ist in seiner rechtlichen und sozialen Umstellung herabgedrückt und nach germanischer und mittelalterlich- deutscher Auffassung Unfreier, Knecht und in vollständige Abhängigkeit von seinem Herrn gebracht."(30) Die jüdische Existenz im agrarischen Europa ist seitdem abhängig vom Geldgeschäft. Nur aus dessen Profiten können die Schutzgelder an die Herren bezahlt werden.

Unter den Gezeichneten bildet sich eine ganz besondere Moral aus, die auf die Verfolgung und Verbannung in die Zirkulationssphäre reagiert: "Es ist die Religiösität der 'Frommen Deutschlands', wesentlich formuliert von dem 1207 gestorbenen Juda ben Samuel im 'Buch der Frommen'. Die 1096 aufgezwungene Alternative 'Tod oder Taufe' wird darin mit der Aktivierung der Theologie des Kidusch ha-schem, der 'Heiligung seines Namens', beantwortet, die die Selbsttötung in der Verfolgung zur unbedingten Forderung erhebt, Selbstverteidigung (wie sie 1097 geübt wurde) ablehnt und Selbsttötung als Askese, Weltabkehr, Fatalismus und rigorose Lebensverneinung verinnerlicht."(31) Schon dieses Zitat macht deutlich, wie sehr die radikale Abkehr von Gewalt die traditionellen Denkschemata sprengt. Die aschkenasischen Juden haben sich dem Gleich für Gleich traditioneller Gewalt entzogen und alle Verfolgungen bis in die Moderne überlebt: Die Verfolger empfinden diese Tatsache als unheimlich. Der moderne Antisemitismus wird die Juden als feige beschimpfen; die Auseinandersetzungen um die Kriegsteilnahme von Juden reichen von den sogenannten Befreiungskriegen bis in den ersten Weltkrieg.

Wie sehr die Stellung zur Gewalt von der gesellschaftlichen Lage abhängt, zeigt die Geschichte der sephardischen Juden. "Die Juden der frühen Neuzeit waren keine einheitliche Gruppe. Sie waren durch ihre Jahrhunderte währende Akkulturation an das arabische und christliche Spanien und an den deutschsprachigen Raum Mitteleuropas in zwei große Kulturen geschieden, die Sephardim und die Aschkenasim (von hebräisch spharad = Spanien, bzw. aschkenaz = Deutschland), also in eine spanisch- und eine deutschsprachige Gruppe. Die Sephardim erlebten als Teil der islamischen Kultur des mittelalterlichen Spanien eine kulturelle und wirtschaftliche Blüte, die sich nur mit der hellenistischen und der deutsch-jüdischen Periode der Emanzipationszeit vergleichen läßt."(32)

Das IV. Laterankonzil beschäftigte sich schon damit, die Juden aus hohen Ämtern fernzuhalten. Das galt nicht für Deutschland, sondern für das christlich werdende Spanien. In der Reconquista, der christlichen Eroberung des islamischen Spanien, die vor den Kreuzzügen des 11. Jahrhunderts schon das Modell des Heidenkrieges abgab, geht es um die Durchsetzung christlicher Herrschaft in Spanien. In dem Kampf gegen den Islam sind aber die kastilischen Könige zu schwach, ihr gewonnenes Land allein mit christlichen Herren zu verwalten. Die Juden, die im islamischen Spanien schon eine kulturelle und wirtschaftliche Blüte erlebten, waren sogar weit besser geeignet als die christlichen Krieger und Abenteurer, ein geordnetes gesellschaftliches Leben zu organisieren. Die Kurie versuchte auch hier, mit den Beschlüssen des IV. Laterankonzils die christliche Herrschaft exklusiv durchzusetzen.

Zunehmend verstärkt sich im 13. und 14. Jahrhundert, was man Subreconquista genannt hat. Spanien sollte durch den Druck des Heiligen Stuhls an das übrige Europa angeglichen werden: "Solange die eigentliche Reconquista im vollen Gange war und die militärische Streitmacht der Christen sich auf eine im Wesentlichen von Juden wahrgenommene Verwaltung stützte, dachte jedoch in dem Spanien der drei Religionen niemand daran, an die traditionellen Strukturen zu rühren. Wie wir schon gesagt haben, verwandten die Kirchenfürsten und die Führer der militärischen Orden, ganz wie die Könige, die Juden als Verwaltungsbeamte und Finanzfachleute. "(33) Man lebte so eng zusammen, dass die Kirche sich nicht scheute, den Zehnten auch von den Juden zu nehmen - sie also als Mitglieder der Kirchengemeinden betrachtete. Der Neid gegen die Juden wurde jedoch geschürt; als sichtbare Zeichen ihrer Blüte unter dem Islam existierten noch die Aljamas, die nicht mit den europäischen Gettogemeinden zu vergleichen waren. Der Druck nahm zu, obwohl oder gerade weil sich im Laufe der Jahrhunderte viele gemeinsame Rituale und Praktiken zwischen den drei unterschiedlichen Religionen entwickelt hatten. Viele Juden wurden im 14. Jahrhundert gezwungen, das Christentum anzunehmen; diese Neuchristen hießen Conversos, in jüdischer Tradition auch verständnisvoller Anussirn (Gezwungene) genannt: Bekannt geworden aber ist ihr spanischer Schimpfname Marranen, der die Juden zu Schweinen macht.

1492, unmittelbar nach dem Fall Granadas und dem Ende islamischer Herrschaft in Spanien, setzte sich Ferdinand von Spanien an die Spitze der klerikal angefachten antijüdischen Bewegung und vertrieb die Juden aus Spanien; ihnen wurde eine Frist von vier Monaten gewährt, Geld und wertvolle Metalle auszuführen, war ihnen untersagt. Religion wird in diesem Kampf als Herrschaftsmittel benützt - so eindeutig, daß der erste Theoretiker moderner Staatsgewalt, Machiavelli, den spanischen König als Beispiel des Neuen Principe lobt, der sich der Religion bedient. Der Kampf gegen die Marranen ging der Austreibung der Juden voraus. Die besonders hässliche Gestalt der Inquisition in Spanien fand ihre Legitimation in der Behauptung, dass die Übergetretenen nur Scheinchristen seien.

Reiche Marranen als Opfer der Inquisition kamen auch Ferdinand recht; er finanzierte mit dem konfiszierten Vermögen den Sturm auf Granada. Nach der Austreibung flohen viele Juden nach Portugal, das wirtschaftlich hinter Spanien zurückgeblieben war. Als aber eine Heirat Manuels 1. von Portugal mit der Infantin Spaniens in Aussicht genommen wurde, verlangten die Katholischen Könige, wie sich Ferdinand und Isabella stolz nannten, die Austreibung der Juden aus Portugal. Um den drohenden wirtschaftlichen Ruin Portugals abzuwenden, fand Ostern 1497 eine brutal durchgeführte Massenzwangstaufe statt. Auf diese Weise entstand die marranische Bevölkerung Portugals, eine Population von fünfhunderttausend Menschen, deren Nachkommen sich später stolz "Die Nation" nennen ließen.(34) Marranen, denen die Auswanderung gelang, haben sich oft in anderen Ländern wieder zum Judentum bekannt und zusammen mit den übrigen Juden die Erinnerung an eine Zeit stolzer jüdischer Herren in die Welt getragen, die Egon Erwin Kisch noch in seinen Reportagen von den sieben Gettos festgehalten hat - in den frühen dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Marranen wurden verfolgt; sie besetzten die Stellen, die einst den Neid auf die Juden geweckt hatten.

Im Vollzug der Inquisition, als die Alternative Taufe oder Tod sich als nicht hinreichend erwies, entstand auch ein neues, unüberwindliches Postulat: Limpieza de sangre, Reinheit des Blutes. Von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts mußte jeder einen reinen Stammbaum vorweisen, der in Spanien bestimmte höhere Ämter erlangen wollte -Dreiviertel Jahrhunderte später setzten die Nazis die Nürnberger Rassengesetze in Deutschland durch. Gibt es also doch einen "ewigen Antisemitismus", und ist alles schon einmal dagewesen? Die Unterscheidung, die man nach 1945 zwischen religiösem und rassischem Antisemitismus getroffen hat, ist jedoch allzu formal und ungesellschaftlich.

Der Historiker Reinhard Rürup hat 1975 allzu optimistisch konstatiert: "Die These, daß der moderne Antisemitismus ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ist und aus den Strukturen und Tendenzen dieser Gesellschaft begriffen werden muß, dürfte in der wissenschaftlichen Diskussion heute kaum noch ernsthaft bestritten werden. Man ist sich einig darüber, daß es trotz einer scheinbaren räumlichen und zeitlichen Universalität der Judenfeindschaft seit hellenistischer Zeit keine Kontinuität eines 'ewigen' Antisemitismus gibt, daß vielmehr die religiös und wirtschaftlich motivierte, durch einen einzigartigen Minderheitsstatus der Juden bedingte Judenfeindschaft der vorbürgerlichen abendländisch- christlichen Welt deutlich vom Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts geschieden werden muß."(35)

Dieser im Prinzip richtigen Feststellung fehlt der gesellschaftstheoretische Zusammenhang, ohne den die geschichtlichen Ereignisse bis zur Unverbindlichkeit relativiert werden. Aus diesem Relativismus lässt sich aber kein Argument mehr gewinnen, mit dem man die These des "ewigen Antisemitismus" bestimmt zurückweisen könnte; eine These, mit der noch die unterschiedlichsten Aktionen gegen Juden in den zweitausend Jahren christlicher Geschichte auf einen abstrakten Generalnenner gebracht werden. Die Rede vom Antisemitismus als einer Naturkonstante abendländischer Geschichte ist politisch äußerst gefährlich. Denn, um die Generalthese halten zu können, muss die historisch entscheidende Epoche von Aufklärung und Emanzipation ebenso wie jede sozialrevolutionäre Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft für genuin judenfeindlich erklärt werden.

Die Verdrängung der Marxschen Theorie aus dem spätkapitalistischen Forschungsbetrieb wie aus dem marxistisch- leninistisch zugerichteten Kanon im "real existierenden Sozialismus" hat die produktive Marxsche Leistung in der Analyse der Emanzipationsepoche ganz in Vergessenheit geraten lassen. Ohne die Auseinandersetzung mit der Herrschaft der Religion im (hinter England und Frankreich) zurückgebliebenen Preußen ist die Marxsche Theorie nicht denkbar, im Vormärz spitzte sich die Frage moderner Gesellschaftsform an der damals sogenannten "Judenfrage" zu. Zwei Schriften des Junghegelianers Bruno Bauer "Die Judenfrage" und "Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden" provozierten den jungen Marx 1843 zu einer Antwort unter dem Titel "Zur Judenfrage". Wesentlich für die Marxsche Schrift ist das Argument, Bruno Bauer stelle die Frage falsch - er stelle als Judenfrage, was nur als Frage der allgemein menschlichen Emanzipation zu behandeln sei.

Die Bauersche Frage nämlich läuft auf die Absurdität hinaus, den unterdrückten Juden den Verzicht auf ihre Religion sozusagen als Vorschuss auf eine allgemeine Emanzipation abzuverlangen. Marx dagegen fragt: ist die durch die Französische Revolution erreichte menschliche Emanzipation schon die ganze Emanzipation? Zunächst, im Vergleich zwischen Frankreich und Preußen, stellt Marx fest, Preußen befinde sich noch gar nicht auf dem historischen Stand Frankreichs, die Säkularisation habe gar nicht stattgefunden, die Unterdrückung der Juden in Deutschland bedeute ein Stück reales Mittelalter. Die politische Konsequenz daraus zieht Marx im nächsten, um die Jahreswende 1843/44 geschriebenen Aufsatz: "Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt. In Deutschland ist die Emanzipation von dem Mittelalter nur möglich als die Emanzipation von den teilweisen Überwindungen des Mittelalters. In Deutschland kann keine Art der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen."(36)

Marx unterstützt die Judenemanzipation, weil sie ein Teil der allgemein menschlichen Emanzipation ist; er kritisiert die isoliert gestellte "Judenfrage", weil er dies für den Versuch einer bloß teilweisen Abschaffung des Mittelalters hält, der misslingen muss und wird.

In den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wird die "Judenfrage" überall dort diskutiert, wo sich die bürgerliche Gesellschaft noch nicht durchgesetzt hat und die bürgerliche Ökonomie noch von traditionellen Herrschaftsformen gefesselt wird. Die Bedeutung der Ökonomie bleibt verdeckt, das macht die Verzerrung der Perspektive aus: "Im christlich-germanischen Staat ist aber die Religion eine 'Wirtschaftssache', wie die 'Wirtschaftssache' Religion ist. Im christlich-germanischen Staat ist die Herrschaft der Religion die Religion der Herrschaft."(37) Die Unkenntnis bürgerlicher Ökonomie lässt den Junghegelianer Bauer die spezifische Differenz zwischen einer vorbürgerlichen und der bürgerlichen Gesellschaft übersehen. Bauer bleibt fixiert an die politische Oberfläche, darin ähnelt seine Position der von Fichte, fünfzig Jahre vorher.

Aus dem politischen Verständnis der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft bleibt alles Ökonomische ausgeblendet, daraus folgt, in der Zeit nach 1850, ein politischer Antisemitismus, wie er von Bruno Bauer und auch von Richard Wagner vertreten wurde. Bei Richard Wagner erscheint dieselbe Vorkehrung wie bei Fichte - nun aber auf dem Hintergrund der zurückgewiesenen Emanzipation: "Ganz unvermerkt ist der 'Gläubiger der Könige' zum König der Gläubigen geworden, und wir können um das Nachsuchen dieses Königs um Emanzipierung nicht anders als ungemein naiv finden, da wir uns vielmehr in die Notwendigkeit versetzt sehen, um Emanzipierung von den Juden zu kämpfen. Der Jude ist, nach dem gegenwärtigen Stande der Dinge dieser Welt wirklich bereits mehr als emanzipiert: er herrscht und wird so lange herrschen als das Geld die Macht bleibt, vor welcher all' unser Tun und Treiben seine Kraft verliert."(38)

Diese Sätze ähneln zwar dem Schluss der Marxschen Schrift "Zur Judenfrage", aber ein Unterschied sollte nicht übersehen werden. "Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden", heisst es beim jungen Marx, "ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum."(39) In diesem pointierten Schlusssatz erscheint komplex zusammengezogen ein richtiger Grundgedanke, doch in verzerrter Form.

In der vorbürgerlichen Gesellschaft bezeichnet "Judentum" weniger eine Religionszugehörigkeit als den Umstand, dass den Juden zu ihrer gesellschaftlichen Reproduktion nur Handel und Geldverkehr, also die Sphäre der Zirkulation offenstand. Die im Mittelalter randständige zirkulative Praxis wird aber in der modernen bürgerlichen Gesellschaft zum Zentrum aller gesellschaftlichen Beziehungen: In der "modernen", der bürgerlichen Gesellschaft regiert das Tauschprinzip alle gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse der Individuen. Was einst "jüdische" Domäne war, herrscht jetzt allgemein. Aber keineswegs herrschen, wie Richard Wagner nahelegt, "die Juden", in der bürgerlichen Gesellschaft herrscht ein unpersönliches ökonomisches Prinzip.

Die Verzerrung beim jungen Marx kommt zustande, weil er 1842 die kapitalistische Gesellschaft noch nicht durchschaut. Er spricht von der Geldmacht und meint die Ökonomie; das Produktionsprinzip dieser Ökonomie erkennt erst der Autor des "Kapital". An zwei Stellen kommt Marx in seinem ökonomischen Hauptwerk auf die Stellung von Juden in vorkapitalistischer und kapitalistischer Produktionsweise zu sprechen - ein Wechsel der Gesellschaftsformation, von der schon der junge Marx wusste, dass er nicht ausschließlich jüdischer Tätigkeit zu verdanken war: "Die Handelsvölker der Alten existierten wie die Götter des Epikur in den Intermundien der Welt, oder vielmehr wie die Juden in den Poren der polnischen Gesellschaft. Der Handel der ersten selbständigen, großartig entwickelten Handelsstädte und Handelsvölker beruht als reiner Zwischenhandel auf der Barbarei der produzierenden Völker, zwischen denen sie die Vermittler spielten."(40)

Gesellschaftstheoretisch bedeutet "ökonomisch" wesentlich Bestimmteres als das, was Zeithistoriker unter "wirtschaftlich" subsumieren. Die Juden waren nicht das einzige Handelsvolk, aber durch die Geschichte sind sie zu dem einzig identifizierbaren Handelsvolk geworden, das vom europäischen Mittelalter bis an die Schwelle der Emanzipationsepoche als identisches existiert. In der Entwicklung von der vorkapitalistischen zur kapitalistischen Gesellschaft geschieht etwas Entscheidendes: Die Ökonomie, ein rationales, über Sachen und sachliche Verhältnisse (Eigentum und Tausch) vermitteltes Machtverhältnis, erfasst alle menschlichen Beziehungen. Gleichwohl lebt, im Denken und Fühlen der Zeitgenossen, die Vorstellung persönlicher Machtverhältnisse fort.

Gerade weil die Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse sich nicht ohne Leiden durchsetzte und darum auch nicht widerstandslos hingenommen wurde, heftet sich der antiökonomische Affekt, wie seit dem Mittelalter Tradition und Vorurteil, an die Juden. Sie waren keineswegs die einzigen Vermittler von Handel und Geldverkehr, aber die Juden waren die einzige Gruppe, die sich identifizieren ließ. Darum konnten die Vorstellungen von der Rolle und der Macht des Geldes mit der Person des Juden, mit dem Charakter des jüdischen Volkes verschmelzen. Solche Vorstellungen überlebten selbst dann noch, als, wie beispielsweise in Frankreich oder England, die Juden schon recht früh, in der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert, vertrieben worden waren. England, bis zur Cromwellschen Revolution ohne Juden, gilt seitdem als das klassische Beispiel eines Landes, das Antisemitismus kennt, ohne Juden zu kennen.

Dieses Phänomen verlangt eine genauere Untersuchung. Zunächst einmal bedeutet der säkulare Prozess der Ökonomisierung der menschlichen Beziehungen die Ersetzbarkeit eines Gegenstandes durch den anderen; sinnlich erscheint diese Fähigkeit im Tauschmittel, im Geld. Selbst der junge Marx war noch an das Tauschmittel fixiert. Das Geld nivelliert die naturwüchsigen Unterschiede und löst naturwüchsige Identität auf. An die Stelle persönlicher Macht tritt eine unpersönliche. Nur differenzierendes Denken vermag beide auseinanderzuhalten. In ihrem unmittelbaren Erleben, in ihrer Phantasie heften die Zeitgenossen, zumal sie selbst, wie bewußt auch immer, sich als Opfer eines übergreifenden Prozesses erfahren, unpersönliche Machtverhältnisse an Personen, die gesellschaftliche Prozesse verantworten sollen. Ökonomisierung ist ein Prozess der Entpersönlichung. Mit dem Mittel der Personalisierung setzen die unter Entfremdung und Verdinglichung Leidenden wieder Personen an die Stelle versachlichter Prozesse. Einst waren die Juden identifizierbar als Tauschagenten. Obwohl die moderne bürgerliche Gesellschaft diese Funktion des Tausches verallgemeinert hat und jeder am Tauschverkehr teilhat, werden immer noch allein die Juden mit dem Tauschakt identifiziert, weil die versachlichten modernen Verhältnisse psychisch schwer zu ertragen sind.

Die Juden waren schon im Mittelalter weder die einzigen Zirkulationsagenten, noch waren sie - wegen ihrer äußerlichen Beschränkung und ihrer Notsituation - die schlechtesten Geldverleiher. Ihre äußerliche Kennzeichnung aber diente gerade dazu, sie identifizierbar zu machen. Das abenteuerliche Schicksal der Hofjuden im 17. und 18. Jahrhundert, die in einer vorkapitalistischen Welt Modernität repräsentierten, bildet den Stoff für Massenphantasien, die in Antisemitismus umschlugen. Als Gläubiger der Herrscher erschienen die Juden als persönlich verantwortlich für das ökonomische Missgeschick der Massen. Die Nationalsozialisten haben für ihren erfolgreichen Propagandafilm "Jud Süß" sehr geschickt einen Stoff aus dem 18. Jahrhundert gewählt, an dem sich alle antisemitischen Alltagsphantasien auch im 20. Jahrhundert noch entzünden konnten.

Was aber hat die vorkapitalistische Welt mit dem Antisemitismus der Gegenwart zu tun? In der vorkapitalistischen Welt erschienen die Juden als das personifizierte Unglück. Sie selbst waren gezwungen, ohne Heimat zerstreut im Ausland zu leben was früher auch sprachlich identisch war mit "im Elend" leben (Ausland = Elend). Die Begegnung mit Juden beschwor dunkle Gefahren. Man suchte sie meist nur in Not auf, die Unberechenbarkeit ökonomischer Verhältnisse konnte einen Verschuldeten sehr schnell ins Elend hinabstoßen, wenn er seine Schuld nicht zahlen konnte. Periodisch gab es aber Entlastungen vom herrschaftlichen Druck, wenn die Juden "geschlagen" wurden Pogrome hießen im altertümlichen Deutsch "Judenschlachten". Die Schulden, die aus dem ökonomischen Prozess resultierten, wurden auf barbarische Weise getilgt.

In der modernen Gesellschaft ist die vorherrschende Verkehrsform die Tauschbeziehung geworden: Sie erfordert Verzicht auf unmittelbare Gewalt. Um seine Bedürfnisse zu befriedigen, muss das Individuum am gesellschaftlichen Tauschverkehr teilnehmen. Der Tausch vermittelt zwischen Sachen, den Gegenständen der Begierde, und Personen. Im Warentausch steht der fremde Warenbesitzer B zwischen dem Warenbesitzer A und dem Gegenstand seiner Begierde, der Ware B. Im Mittel Geld, das die Tauschverhältnisse reguliert, versachlicht sich diese Beziehung. Der Tausch erfordert Abstraktion vom Bedürfnis solange, bis der Genuss eintreten kann.

Die Volksweisheit: "Geld macht sinnlich" beinhaltet den begehrlichen Wunsch des Warenbesitzers auf fremde Ware, die er auch mit Gewalt nehmen würde. Das Tötungstabu und die schweren Sanktionen verhindern dies im Normalverlauf; in der Phantasie aber lebt die Erinnerung fort, dass es einmal möglich und nicht in jedem Fall verboten war, sich fremden Besitz gewaltsam und direkt anzueignen. Jeder Tauschakt bewegt diese komplexen psychischen Transaktionen. Der Warenbesitzer B wird von dem Warenbesitzer A als Fremder erlebt und umgekehrt. Äußerlich scheint ihre Begegnung ganz sachlich zu verlaufen, aber innerlich geschieht Entscheidendes: "Andererseits anerkennen wir den Tod für Fremde und Feinde und verhängen ihn ebenso bereitwillig und unbedenklich wie der Unmensch. Hier zeigt sich freilich ein Unterschied, den man in der Wirklichkeit für entscheidend erklären wird.

Unser Unbewusstes führt die Tötung nicht aus, es denkt und wünscht sie bloß. Aber es wäre unrecht, diese psychische Realität im Vergleich zur faktischen so ganz zu unterschätzen. Sie ist bedeutsam und folgenschwer genug. Wir beseitigen in unseren unbewussten Regungen täglich und stündlich alle, die uns im Wege stehen, die uns beleidigt und geschädigt haben. Das 'Hol' ihn der Teufel', das sich so häufig in scherzendem Unterton über unsere Lippen drängt, in unserem Unbewussten ist es ein ernsthafter, kraftvoller Todeswunsch. Ja, unser Unbewusstes mordet selbst für Kleinigkeiten; wie die alte athenische Gesetzgebung des Drakon, kennt es für Verbrechen keine andere Strafe als den Tod, und dies mit einer gewissen Konsequenz, denn jede Schädigung unseres allmächtigen und selbstherrlichen Ichs ist im Grunde ein crimen laesae majestatis."(41)

Genau dieses prekäre Kräfteverhältnis zwischen äußerer und psychischer Realität verschafft sich im antisemitischen Meinen Luft: Die Meinung wird zur Gewalttat; die Meinung veräußerlicht verinnerlichte Gewalt. Das Vorurteil bekommt auf diesem Hintergrund einen verbindlichen Sinn: "Man darf endlich annehmen, daß aller innere Zwang, der sich in der Entwicklung des Menschen geltend macht, ursprünglich, d.h. in der Menschheitsgeschichte, nur äußerer Zwang war."(42) Im Tauschakt wird die materielle Welt angeeignet, ohne dass durchschaubar wird, wie und wo die Dinge, die zu Waren wurden, produziert werden.

Im Tauschakt bildet sich aber die Meinung, das Modell primärer intellektueller Aneignung. Im Meinen wird etwas noch Subjektives als Wahrheit behauptet; die Meinung wird festgehalten gegen den weiteren Lauf der Dinge, der ohnedies nur schwer zu durchschauen ist. So verhärtet Meinung sich zum Vorurteil. Meinung wird zudem gebildet unter affektiver Beteiligung: "Töricht wäre, wer von dieser Neigung sich freispräche. Sie beruht auf Narzißmus, also darauf, daß die Menschen bis heute dazu gehalten sind, ein Maß ihrer Liebesfähigkeit nicht etwa geliebten Anderen zuzuwenden, sondern sich selber, auf eine verdrückte, uneingestandene und darum giftige Weise zu lieben. Was einer für eine Meinung hat, wird als sein Besitz zu einem Bestandstück seiner Person, und was die Meinung entkräftet, wird vom Unbewußten und Vorbewußten registriert, als werde ihm selber geschadet. Rechthaberei, der Hang der Menschen, törichte Meinungen selbst dann hartnäckig zu verteidigen, wenn ihre Falschheit rational einsichtig geworden ist, bezeugt die Verbreitung des Sachverhalts."(43)

In das Meinen sickert über die effektive Besetzung des Meinenden der geschichtliche Gehalt unreflektiert ein - und verdinglicht zum Vorurteil. Das Meinen scheint nur individuell, ist der Struktur nach aber konformistisch. Gerade indem er auf seiner Meinung beharrt, fühlt der einzelne sich von den anderen bestätigt, das ist gewissermaßen der psychische Gewinn des Einzelnen, kommt seinem Selbstwertgefühl zugute. Man muss sich lösen von der Vorstellung, das antisemitische Meinen wären das Unnormale und aufgeklärte Rationalität das Normale - das Gegenteil ist der Fall. Aber kritische Selbstreflexion ist auf subjektiver Seite das einzige Gegengift gegen antisemitisches Meinen - Subjektivität, die sich in den Produktionsprozess objektiver Wahrheit versenkt. Die Einsicht in die Beschränktheit des sich allmächtig wähnenden Subjekts ruft Abwehr hervor. Die Hilflosigkeit rationaler Argumente gegen antisemitisches Meinen erfährt jeder, der gegen Vorurteile Wahrheit zu behaupten versucht. Antisemitisches Meinen ist gerade deswegen schwer zu erschüttern, weil es nicht allein auf subjektiv fehlerhaftem Denken beruht, sondern dem ohnmächtigen Individuum das Gefühl gibt, mit einer objektiven gesellschaftlichen Tendenz im Bunde, also: stark zu sein.

Das Meinen entzieht sich der Sache; mit jedem Meinen ist die Gefahr der Hypostase verbunden. "Die Grenze zwischen der gesunden und der pathogenen Meinung wird in praxi von der geltenden Autorität gezogen, nicht von sachlicher Einsicht."(44) Autorität aber bedeutet verinnerlichte, vergangene Gewalt, der sich das Individuum unterworfen hat. Die Autorität in der tausendjährigen europäischen Geschichte verhielt sich zweideutig gegenüber den Juden: Die herrschende Autorität verurteilte die Juden, im Elend zu leben, gleichzeitig beschützte sie die Juden als willkommene Einnahmequelle. Die Emanzipation sollte die Juden aus dieser Zweideutigkeit befreien; dazu musste aber der Staat selbst von der Herrschaft der Religion befreit und zu einem vernünftigen Staat werden. Bei Hegel finden wir, in Abgrenzung zu Fichte, deutliche Worte: "So formelles Recht man etwa gegen die Juden in Ansehung selbst von bürgerlichen Rechten gehabt hätte, indem sie nicht bloß als eine besondere Religionspartei, sondern als einem fremden Volk angehörig ansehen sollten, so sehr hat das aus diesen und anderen Gesichtspunkten erhobene Geschrei übersehen, daß sie zuallererst Menschen sind und daß dies nicht nur eine flache abstrakte Qualität ist, sondern daß darin liegt, daß durch die zugestandenen bürgerlichen Rechte vielmehr das Selbstgefühl, als rechtliche Person in der bürgerlichen Gesellschaft zu gelten, und aus dieser unendlichen, von allem anderen freien Wurzel die verlangte Ausgleichung der Denkungsart und Gesinnung zustande kommt. Die den Juden vorgeworfene Trennung hätte sich vielmehr erhalten und wäre dem ausschließenden Staate mit Recht zur Schuld und Vorwurf geworden; denn er hätte damit sein Prinzip, die objektive Institution und deren Macht verkannt. Die Behauptung dieser Ausschließung, indem sie aufs höchste recht zu haben vermeinte, hat sich auch in der Erfahrung am törichtsten, die Handlungsart der Regierungen hingegen als das Weise und Würdige erwiesen."(45)

Hegel spricht hier gegen die aufkommende, moderne antisemitische Literatur zu einem Zeitpunkt, als es das Wort Antisemitismus noch nicht gab. Das "Geschrei" ist nicht nur im übertragenen, sondern auch im Wortsinne zu verstehen. Während der Abfassung der Rechtsphilosophie erschütterten mehrere Ereignisse das Deutschland der beginnenden Restauration: das Wartburgfest 1817, auf dem unter anderen der Code Napoleon als Inbegriff der Fremdherrschaft verbrannt wurde; die HEP-HEP-Unruhen 1819, bei denen in den ehemaligen Ländern der Kontinentalsperre jüdische Läden gestürmt wurden; und die Ermordung Kotzebues, der keineswegs die finstere Gestalt war, als der er von den teutomanen Studenten hingestellt wurde.

Aus Hegels Worten spricht der Geist der Emanzipation, den er schon in seinem ersten großen Werk, der "Phänomenologie des Geistes" 1806 in Gedanken fasste. Das für den Emanzipationszusammenhang entscheidende Kapitel heißt "Herrschaft und Knechtschaft". Hegel begreift die Arbeit des Knechtes als Möglichkeit von Emanzipation in einer agrarischen Gesellschaft; am Ende triumphiert die geistige Arbeit, die zum Denken sublimierte Arbeit des ehemaligen Knechtes.

Die wirkliche Geschichte hat allerdings die Gesellschaft nicht vernünftig werden lassen, wie es Hegels Vorstellung der Vernunftherrschaft entspricht. Hegels Philosophie entmachtet die Herrschaft der Religion und setzt an ihre Stelle die Herrschaft des Gesetzes; in den Juden sieht er das erste "Volk des Geistes", das aber auf eine elende gesellschaftliche Stellung herabgedrückt ist. Objektiv gesehen sind die vorbürgerlichen Juden weder Herren noch Knechte, sie sind die Vermittler. Ohne Vermittlung aber kann es kein dialektisches Denken geben: Auf die Beziehung kommt es an. Die Emanzipation aus den vorbürgerlichen Verhältnissen missglückt: Auf die bürgerliche Gleichstellung folgt schon 1808 das Decret Infaeme, das die unveräußerlichen Rechte wieder aufhebt; auf Revolution und Reform folgt die Restauration, die auch alle Judenemanzipation wieder einschränkt.

Das Ergebnis der großen Epoche von Revolution und Napoleonischen Kriegen entspricht nicht der Wirklichkeit der Vernunft, sondern dem auf Herrschaft und Knechtschaft folgenden "unglücklichen Bewußtsein" - das unglückliche, in sich entzweite Bewusstsein, das einer entzweigebrochenen Wirklichkeit entspricht. In der deutschen Literatur hat Heinrich Heine wie kein zweiter dieses unglückliche Bewusstsein artikuliert: "Wir haben nicht mehr die Kraft, einen Bart zu tragen, zu fasten, zu hassen und aus Hass zu dulden; das ist das Motiv unserer Reformation. Die einen, die durch Komödianten ihre Bildung und Aufklärung empfangen, wollen dem Judentum neue Kulissen geben, und der Souffleur soll ein weißes Bettchen tragen; sie wollen das Weltmeer in ein niedliches Bassin von Papiermache gießen und wollen dem Herkules auf der Kasseler Wilhelmshöhe das braune Jäckchen des kleinen Marcus anziehen. Andere wollen ein evangelisches Christentümchen unterjüdischer Firina und machen sich ein Talles aus der Wolle des Lamm Gottes und machen sich ein Wams aus den Federn der Heiligen-Geist-Taube und Unterhosen aus christlicher Liebe, und sie fallieren, und die Nachkommenschaft schreibt sich: Gott, Christus & Co. Zu allem Glück wird sich dieses Haus nicht lange halten, seine Tratten auf die Philosophie kommen mit Protest zurück, und es macht bankrott in Europa, wenn sich auch seine von Missionarien in Afrika und Asien gestifteten Kommissionshäuser einige Jahrhunderte länger halten. Dieser endliche Sturz des Christentums wird mir täglich einleuchtender. Lange genug hat sich diese faule Idee gehalten."(46)

Heines Ausbruch reagiert auf die Rücknahme der Emanzipationsgesetzgebung von 1812, die ihn und seinen Freund Eduard Gans zwangen, sich taufen zu lassen. Es ist völlig verkehrt, diese Taufen noch in religiösen Termini fassen zu wollen. Diese Generation ist schon ein Produkt der Emanzipationsepoche - als Bürger fühlen sie in religiösen Angelegenheiten indifferent. Sie erleiden die Konflikte des unglücklichen Bewusstseins in einer emanzipationsfeindlichen Gesellschaft, in der die bürgerliche Emanzipation zur Judenfrage sich verengt. Der Judenhass im christlichen Europa ließ keine Wahl: Taufe oder Tod. Traditionelle Juden behandelten einen abgefallenen Juden als tot. Der Getaufte war ein neuer Mensch, ein Fremder in einer manichäischen Welt. Die bürgerliche Gesellschaft schafft zum ersten Mal die Möglichkeit, sich aus diesem Manichäismus zu befreien. Aufklärung, Kantische und Hegelsche Philosophie wie die Marxsche Theorie befördern diesen Vorgang der Befreiung vom vorbürgerlichen Manichäismus. Aber die Dialektik der Aufklärung fällt auch auf diese Autoren zurück, weil sie ein objektiver Vorgang ist. Man kann diese Dialektik bewusst machen; hierin besteht die einzige Chance, dem Antisemitismus nicht blind sich auszuliefern.

Der Antisemitismus ist in den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen verankert. Der ökonomische Prozess verlangt Triebverzicht oder zumindest unlustvollen Triebaufschub von den gesellschaftlichen Individuen, den sie nicht unter Umgehung des Tötungstabus verkürzen dürfen. Die fremde Warenwelt erinnert vor jedem Tauschakt an diese unlustvolle Wirklichkeit. In der vorbürgerlichen europäischen Gesellschaft fand der Tausch nur am Rand des gesellschaftlichen Geschehens, nur in Ausnahmefällen statt, und wurde mit den Juden identifiziert, in der bürgerlichen Gesellschaft wird der Mensch durch Tauschakte vergesellschaftet, orientiert sich aber weiterhin an der Sozialisierung durch unmittelbare persönliche Beziehungen. Das subjektive Meinen entspricht der Unmittelbarkeit vorökonomischen Begehrens; der unpersönliche Tauschakt wird in persönliche Beziehungen rückübersetzt; als vermittelnde Instanz fungiert im falschen Bewusstsein nicht das Geld, sondern der Jude. Der marginale vorbürgerliche Judenhass wird in der bürgerlichen Gesellschaft an den zentralen ökonomischen Mechanismus gekoppelt: Die bürgerliche Gesellschaft wird zur antisemitischen Gesellschaft per excellence.(47)

In der kapitalistischen Gesellschaft dominiert das abstrakt Allgemeine, das Kapital, der Wert. Der Warenfetischismus, das im Tauschakt entstehende verkehrte Bewusstsein, verhindert, dass die Menschen durchschauen, was der Wert eigentlich ist: ein an Dinge gebundenes, vermitteltes Verhältnis von Personen. Der Wert erscheint an den Dingen und ist doch nirgends zu greifen: "Die Wertgegenständlichkeit unterscheidet sich dadurch von der Wittib Hurtig, daß man nicht weiß, wo sie zu haben ist."(48) Diese Unfassbarkeit des Wertes wird von den Warenbesitzern identifiziert mit den ehemaligen Tauschagenten, den Juden, die auch unfassbar und überall sind. Die Arbeit wird dem Tauschakt unterworfen, und selbst bei einem geistigen Arbeiter wie Fichte kommt antisemitisches Ressentiment zum Vorschein, weil er die Durchsetzung der Herrschaft geistiger Arbeit in Form der Kapitalherrschaft nicht begreift. Der gebildete Antisemitismus hat hier seine Quelle: Er idealisiert die geistige Arbeit zur geld- und wertfreien Tätigkeit und haßt im "jüdischen Geist" die bürgerliche Wirklichkeit geistiger Arbeit, für welche die gleichen Markt- und Tauschgesetze gelten wie für die materielle Arbeit. Ebenso heftet sich das Ressentiment der Unterdrückten gegen die Herrschaft des Wertes an die Juden, das als Volk des Geistes gilt: "Sie sind irgendwie schlauer." Antisemitismus und Antiintellektualismus zehren vom selben Stoff.

Gegen viele Beschwichtigungsversuche und Relativierungen muss man betonen: Der Antisemitismus ist in der objektiven Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft begründet. Aber die gesellschaftlichen Individuen fassen die Gesellschaft nicht so auf, wie sie ist. Das antisemitische Meinen setzt die Gefühlswelt anstelle der in Abstraktion vom unmittelbaren Gefühl erarbeiteten Erkenntnis. Um zu tauschen und eine Meinung zu haben, muss man vielleicht schlau sein, aber wirklich nachdenken muss man nicht. Deswegen hat der moderne Antisemitismus diesen pseudodemokratischen Gestus des Mitreden- Wollens: "Man wird doch einmal sagen dürfen ... " Das antisemitische setzt an die Stelle disziplinierten Denkens die Willkür: "Da für wirkliches Dasein und Handeln jedoch entschieden werden muss, so tritt dasselbe ein wie bei der als das Absolute wissenden Subjektivität des Willens überhaupt, daß aus der subjektiven Vorstellung, d. i. dem Meinen und dem Belieben der Willkür entschieden wird."(49)

Gefühl und unkritische Positivität fallen aus einem Grund zusammen, den Hegel noch nicht durchschauen konnte. Die Kritik der politischen Ökonomie hat, gut dreißig Jahre nach Hegel, gezeigt, dass die bürgerliche Gesellschaft keineswegs die Geschichte abschließt. Dieser Schein konnte entstehen, weil, im Unterschied zu den vorbürgerlichen Gesellschaftsformationen, die bürgerliche die von Zeit und Raum scheinbar unbeschränkt warenproduzierende Gesellschaft ist. Dieser gesellschaftlich produzierten Geschichtslosigkeit, die in der Struktur des Wertes begründet ist, korreliert die Geschichtslosigkeit des psychischen Geschehens. Das Unbewusste entspricht der Struktur des Wertes in seiner Zeitlosigkeit, zugleich aber bewahrt es auf, was in der äußeren Realität vergeht: "Wir rühren hiermit an das allgemeine Problem der Erhaltung im Psychischen, das kaum noch Bearbeitung gefunden hat, aber so reizvoll und bedeutsam ist, dass wir ihm auch bei unzureichendem Anlass eine Weile Aufmerksamkeit schenken dürfen. Seitdem wir den Irrtum überwunden haben, daß das uns geläufige Vergessen eine Zerstörung der Gedächtnisspur, also eine Vernichtung bedeutet, neigen wir zu der entgegengesetzten Annahme, daß im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann, daß alles irgendwie erhalten bleibt und unter geeigneten Umständen, z. B. durch eine so weit reichende Regression, wieder zum Vorschein gebracht werden kann."(50)

Durch diese Möglichkeit des psychischen Apparates wird verständlich, warum Vorurteile die gesellschaftlichen Situationen überleben, in denen sie entstanden sind. Psychische Gesetze spielen in der unkritischen Aneignung der Realität, im Meinen, eine entscheidende Rolle. Erwähnt sei nur das in diesem Sachverhalt Wichtigste: die Ambivalenz. Die Ambivalenz lebt davon, dass es zwei Arten von Juden gibt: den Herren und den Elenden. Die alten Trennungen von Sephardim und Aschkenasim, von Portugieser Juden und Elsässer Juden, von deutschen Juden und Ostjuden lassen sich mit den Netteln der Ambivalenz gut bearbeiten: In der Vorstellung der "zwei Arten von Juden" kämpft die antisemitische Vorstellung mit Widersprüchen, die auf diese Weise erträglich gestaltet werden. In der Untersuchung "Authoritarian Personality" hat ein weißer Boy- Scout-Fuehrer diese Unterscheidung zwischen weißen und nichtangepassten Juden zum Ausgangspunkt seiner "Lieblingstheorie" gemacht: "Nehmen Sie die Juden. Es gibt Gute und Schlechte in allen Rassen. Wir wissen das, und wir wissen, daß die Juden eine Religionsgemeinschaft sind und keine Rasse; aber die Schwierigkeit ist, daß es zwei Typen von Juden gibt. Da sind die weißen Juden und die Kikes. Meine Lieblingstheorie ist, dass die weißen Juden die Kikes ebensosehr hassen wie wir. Ich kannte sogar einen guten Juden, der einen Laden hatte und einige Kikes rauswarf, indem er erklärte, mit Kikes wolle er nichts zu tun haben."(51)

Die Unterscheidung zweier Arten von Juden entlastet in Normalzeiten vom Schuldgefühl, das mit dem gewöhnlichen Antisemitismus einhergeht. Die antisemitische Propaganda versucht aus der Ambivalenz ihr Kapital zu schlagen: Der Agitierte kann sich zugleich als Herr und als Rebell gegen die Herrschaft fühlen. Ambivalenz aber ist auch wirksam in der Relation von Antisemitismus und Philosemitismus; beiden gemeinsam ist die unaufgeklärte affektive Beziehung zum Meinen. In Deutschland konnte das Umschlagen von Antisemitismus in Philosemitismus und umgekehrt mit den wechselnden Autoritätsverhältnissen in den letzten Jahrzehnten gut beobachtet werden. Die Grundstruktur bleibt die Korrelation von Antisemitismus und Gesellschaft; der erklärte "offizielle" Philosemitismus ist jederzeit kündbar.

Als Lackmus können Auseinandersetzungen um kulturelle Phänomene gelten. Kultur gilt als positiver Wert in der spätkapitalistischen Gesellschaft; Protest gegen Antisemitismus, der sich in kulturellen Objektivationen niederschlägt, provoziert sofort antisemitisches Vorurteil. Ebenso wenn es um die "nationale Selbstachtung" oder Identität geht: Nationales Selbstgefühl gilt als natürlich; wird es gekränkt, schlägt der offiziell gepflegte Philosemitismus in Antisemitismus um. Falsch an beiden, Philo- und Antisemitismus, pflegt die vorgeordnete Rolle des Kollektive zu sein, die der Emanzipation des einzelnen zuwiderläuft: "Einen Menschen a priori, nicht als einzelnen, als Person, sondern generell und vornehmlich als Deutschen, Neger, Juden, Fremden oder Welschen zu behandeln, ohne daß man schon die Erfahrungen hätte, er ermangele eigenen Urteils und verdiene nicht, für sich selbst zu gelten, ist barbarisch."(52)

Der Antisemitismus der Nazis musste vom modernen Antisemitismus abstrahieren, um zu der Tat zu gelangen, die mit dem Namen Auschwitz verbunden ist. Die fabrikmäßige Tötung von Millionen Juden gelang nur unter der Abstraktion von dem gefühlsgebundenen Agitationsantisemitismus. Von den antisemitischen Parteien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Berliner Sportpalast durchzieht den modernen Antisemitismus etwas Theatralisches, das Adorno auch an der faschistischen Agitation in den USA beobachtet hat: "So wenig die Menschen im Innersten wirklich glauben, dass die Juden Teufel sind, glauben sie ganz an den Führer. Sie identifizieren sich nicht mit ihm, sondern agieren diese Identifizierung, schauspielern ihre eigene Begeisterung und nehmen so an der "Show" ihres Fuehrers teil."(53)

Die Praxis der Versammlungsrede widersprach schon den von Hitler früh geforderten veränderten Politikformen: Hitler forderte einen "Antisemitismus der Vernunft"(54), der die begrenzte Gewaltform des Pogroms überwindet. Nur unter Abstraktion von Gefühlen läßt sich die mechanische Tötung von Millionen organisieren und durchführen. Sadistische Qual- und Folterszenen, mit der die Unterhaltungsindustrie das Geschehen in Auschwitz oft aufbereitet, hindern nur den sachlichen Ablauf des Mordens. Selbst die Massenerschießung erweist sich in der Praxis als zu aufwendig; die psychische Rückwirkung, die Demoralisierung der Erschießungspelotons wird gefürchtet.

Die Nichtanerkennung des Feindes offenbart sich in der Tötungsart: Zyklon B - Unkrautvernichtung, wie die Propaganda es versprochen hat. Die Massenvernichtung von Menschen im Konzentrationslageruniversum lässt die Geschichte des Antisemitismus hinter sich. In der Aufhebung aller bisherigen Geschichte wollten die nationalsozialistischen Machthaber eine bleibende Tat begangen haben. Um diese unbegreifliche Vorstellungswelt überhaupt als real zu zeigen, muss man Zeugen und Täter selbst sprechen lassen. Der Eichmann verhörende Offizier Avner Less berichtet von einem SS-Zeugen, der Eichmanns letzte offizielle Worte zu Protokoll gab, und hält sie Eichmann im Verhör vor: "Eichmann" - so hat der Zeuge Wisliceny erzählt - "drückte das in einer besonders zynischen Weise aus, er sagte, er würde lachend in die Grube springen, denn das Gefühl, daß er fünf Millionen Menschen auf dem Gewissen habe, wäre für ihn außerordentlich befriedigend." Eichmann regt sich im Verhör auf: "Das ist ... Theater, Theater! ... Das ist die letzte Ansprache gewesen, die ich an meine Leute hielt, wie ich schon gesagt habe. Was ich da gesagt habe, das muß nicht wörtlich stimmen, aber sinngemäß stimmt's ganz genau. Denn das ist meine... meine... das ist meine, mein Resuemee gewesen damals in der... in der... wie soll ich sagen Weltuntergangsstimmung, in der ich lebte - die dann einige Tage einen Schock in mir - ah - also nicht einen, einen Nervenschock, sondern einen ... einen moralischen Schock hervorrief: Das Reich ist kaputt, es hat alles nichts genutzt, es ist alles, es ist alles umsonst, umsonst der ganze Krieg. Das habe ich da gesagt, was da angegeben ist. Aber das ist Theater!"(55)

Aus Eichmanns Worten spricht die Verharmlosung des Geschehens: Eigentlich soll alles nur ein 'Theater gewesen sein - wie vorher im Sportpalast, als man noch sagen konnte, man habe sich verführen lassen.

Der Antisemitismus ist nicht trotz Auschwitz wiedergekehrt, sondern der Antisemitismus nach Auschwitz hat Auschwitz in sein System der Abwehr von Schuld aufgenommen. Auf der einen Seite gibt es die brutale Verleugnung der Existenz von Auschwitz. Diese Behauptung hat nur eine Funktion: Man will am Status quo ante des Antisemitismus anknüpfen können. Auf der anderen Seite lässt sich die Nivellierung von Auschwitz, der Vorgeschichte und der Nachgeschichte beobachten. Es wird oft (pseudopsychoanalytisch) von Verdrängung gesprochen, aber in beiden Fällen ist Verleugnung am Werk: Die Geschichte, also reale Taten in der Außenwelt, nicht in der Phantasie, soll nicht so wahrgenommen werden wie sie wahrgenommen werden müsste. Jedes Aufkommen von Schuldgefühl soll verhindert werden. Die Verleugnung soll schützen vor einem Wirrwarr der Gefühle, die mit intellektueller Anstrengung bearbeitet werden müssten.

Im Reden über Antisemitismus nach Auschwitz ziehen die meisten Gesprächspartner die Ebene der Gefühle vor; denn allein auf der Gefühlsebene lässt sich das psychische Meisterstück leisten, das von Schuld entlasten soll: die sinnliche Gewissheit, dass auch das Opfer schuldig ist. Denn psychische Schuld rechnet sich nach dem Gleich für Gleich des Blutracheschemas. Nur die Wahrnehmung der ganzen Geschichte vom traditionellen Judenhass in der vorbürgerlichen Welt bis zum modernen Antisemitismus, von Auschwitz und der Gleichmacherei von Täter und Opfer nach Auschwitz, ermöglicht eine klare Sicht auf mögliche Schuld. "Man darf vielleicht sagen, daß eigentlich nur der von neurotischem Schuldgefühl frei ist und fähig, den ganzen Komplex zu überwinden, der sich selbst als schuldig erfährt, auch an dem, woran er im handgreiflichen Sinne nicht schuldig ist"(56).

Eine geschichtsvergessene Kultur und Politik würde an der Aufgabe, Gegenwart zu begreifen und auf dieser Basis die Zukunft zu gestalten scheitern, so äußerte sich Gerhard Schröder aus Anlass der Eröffnung einer Dauerausstellung im Haus der Geschichte in Bonn Mitte 2001. Der Kampf um die Geschichte und deren Interpretation ist, und das gilt nicht nur für Deutschland, ein Kampf um die Zukunft. Für diese ist, trotz der verbreiteten Diskurse über Globalisierung, eine Restauration des Nationalen im wiedervereinten Deutschland, wesentlich. Diese Restauration geschieht nur in scheinbar modernisierter Form und umschließt Bezüge auf Europa als quasi vergrößertes nationales Projekt.

Als irrig entpuppte sich die Annahme, dass das Thema Nationalsozialismus und die Vernichtung der europäischen Juden mit den Jahren aus der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion verschwinden würde. Vielmehr veränderte sich über die Jahrzehnte die Diskursstruktur, hin zu einer zunehmenden Individualisierung und Emotionalisierung, die zu weitgehender Beliebigkeit im Umgang mit der Erinnerung führen. Hierfür stehen auch kulturindustrielle Produkte und deren Rezeption, wie 'Der Untergang', oder 'Napola', die den Umgang mit den Tätern individualisieren und aus jeglichem gesellschaftlichen Kontext lösen.

Die kritische Theorie konstatiert dem autoritären Subjekt, jenem Idealtypus bürgerlicher Subjektkonstitution, dass ihm die Nation Ersatz für die eigene beschädigte Identität ist. Das Nationalgefühl gewährt Identität in einer Welt, in der Natur in Naturwüchsigkeit statt in Freiheit aufgelöst wird. Ebenso wenig wie der Antisemitismus war nach 1945 die Autoritätsbindung einfach verschwunden. Die Schuldgefühle gegenüber den Verfolgten wurden von der eigenen Person abgespalten und nicht verarbeitet. Dadurch geht auch die Fähigkeit verloren zu unterscheiden zwischen Verantwortung, Schuld und angeblich äußeren Vorwürfen.

Die Thematisierung der NS-Verbrechen scheint derart nur im Interesse anderer, scheinbar drohender Mächte zu stehen. Der daraus entstehenden sozialen Paranoia gelten die Juden als immerwährende äußere moralische Instanz, als ewige Mahner, die es zur Restauration des Kollektivsubjekts Nation zu bekämpfen gilt. Solcher Mechanismus rief den gleichen Sadismus und dieselbe Kälte gegenüber den Opfern hervor, die schon Auschwitz ermöglicht hatte.

Die Deutschen neiden den Opfern noch ihr Leiden, da es einer Identifikation mit der nationalen Identität im Wege steht. Daher müssen die Taten verkleinert, relativiert, affirmiert oder geleugnet werden. Hierbei sind auch Schuldabwehr und sogenannte Vergangenheitsaufarbeitung keine sich ausschließenden Prozesse.

Auschwitz ist den Deutschen noch immer der Hemmschuh bei einer unbefangenen Rekonstruktion des Nationalen und eben hier haben Erinnerungs- und Schuldabwehr, wie auch Umkehrungen des Opfer-Täter Verhältnisses, als Motivationen eines sekundären Antisemitismus,  Ursprung und Ziel zugleich.

Die gerne betriebene Scheidung zwischen einem pathischen Nationalismus und Verfassungspatriotismus, für die Linksintellektuelle wie Jürgen Habermas und das Rot-Grüne Milieu einstehen, ist letztlich ideologisch motiviert, zu "unaufhaltsam ist" wie Adorno konstatierte, "die Dynamik des angeblich gesunden Nationalgefühls zum überwertigen, weil die Unwahrheit in der Identifikation der Person mit dem irrationalen Zusammenhang von Natur und Gesellschaft wurzelt, in dem die Person zufällig sich findet."

Nur ein dem linken Milieu entstammender Außenminister, respektive eine rot-grüne Regierung, dem Geschichtsrevisionismus scheinbar fernstehend, konnte auf eine spezielle Variante der Relativierung des deutschen Verbrechens im Rahmen des Normalisierungsdiskurses verfallen: Die Begründung militärischer Aggression und Intervention im ehemaligen Jugoslawien zur angeblichen "Verhinderung eines neuen Auschwitz im Kosovo".

Bei Joseph Fischers ehemaligen Staatssekretär Ludger Vollmer klang dann der Geschichtsrelativismus wie folgt: "Es war und ist Milosevics Absicht, einen Teil seines Staatsvolks zu vertreiben und auszurotten. Wer von dieser Analyse nicht ausgeht, ist für mich kein ernsthafter Gesprächspartner. Für mich steht fest: Das was Milosevic betreibt ist Völkermord. Und er bedient sich der gleichen Kategorien, derer Hitler sich bedient hat." Die propagierte spezielle Verantwortung Deutschlands im Angesicht von Auschwitz und nationalsozialistischer Vernichtungskriegspolitik ließ 'Serbien' erneut 'sterbien', wovon heute allerdings kaum mehr einer reden mag, zumal der ehemalige Verbündete in diesem Krieg, die USA, massiv zur Zielscheibe des antiamerikanischen Ressentiments seitens der 'Nation Europa' geworden ist, welches sich in der Regel mit der Rede von der angeblichen "Macht der Ostküste" und anderen antisemitischen Wahnvorstellungen paart. Nur am Rande sei hier angemerkt, dass sehr wohl Antisemitismus ohne Antiamerikanismus zu haben ist, das antiamerikanische Ressentiment jedoch stets von antisemitischen Invektiven begleitet ist.

Die staatsoffizielle Erinnerungs- und Gedenkkultur soll aber nicht nur das Image Deutschlands im Ausland stärken. Die Orientierung an der Verwertungslogik trifft auch eine mögliche Aufarbeitung der Vergangenheit und zielt darauf ab, was Adorno in anderem Kontext als die am Tauschprinzip orientierte Spießbürgersorge beschrieb, die für das eigene Tun auch immer etwas bekommen will.

Für die eigene Läuterung, erwarten die Deutschen nicht nur internationale Anerkennung, sondern auch die Aufnahme in einen globalen Opferdiskurs. So war in einer Spiegel-Ausgabe vom März 2002 zu lesen, dass "die Zeiten, in denen es schlicht als ungebührlich galt, nicht allein das vom NS-Terror der Welt zugefügte, sondern auch das selbst erlittene Leid zu diskutieren" offenkundig zu Ende gehen würden.

In den deutschen Normalitäts- und Opferdiskurs seit 1989 fügt sich auch die Rede Martin Walsers, jener teutonische Rundumschlag, anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Schriftsteller am 11. Oktober 1998. Walser steht exemplarisch für die Versuche die deutsche Vergangenheit zu historisieren und einen Schlussstrich zu ziehen.

Das Hauptthema von Walsers Rede ist die Selbstversöhnung der Deutschen mit sich und ihrer Vergangenheit. Seine Motive sind Schuldabwehr und daraus resultierende Abwehraggressionen. Walser phantasiert dass die Verantwortung für Auschwitz "uns", also den Deutschen mit Brutalität vorgehalten würde: "...die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird... Manchmal, wenn ich nirgends mehr hinschauen kann, ohne von einer Beschuldigung attackiert zu werden, muß ich mir zu meiner Entlastung einreden, in den Medien sei auch eine Routine des Beschuldigens entstanden." "Maßgebliche Intellektuelle" (er zielt hier konkret auf Grass und Habermas) würden ihm und den Deutschen diese Entlastung verwehren. Walser will sich befreien von den "Meinungssoldaten", die "mit vorgehaltener Moralpistole, den Schriftsteller in den Meinungsdienst zwingen. Die vage gehaltenen Intellektuellen grenzt er aus dem Kollektivkonstrukt Nation aus, um an anderer Stelle von "smarten Intellektuellen" zu sprechen. Diese Bemerkung verweist auf das judenfeindliche Klischee von 'verschmitzten Juden'. Überhaupt spielt Walser mit Anti-Intellektualismus als antisemitischem Code, in welcher der Intellektuelle als gerissen, zu keiner produktiven Arbeit fähig, dem Volk gegenübersteht. Wer also die Mängel eines Systems oder die Problematik eines bestimmten Zustands benennt, wird für diesen Zustand verantwortlich gemacht. Auch ohne vom Juden selbst zu sprechen, wissen die Zuhörenden wer gemeint ist. Walser bedient sich aus dem Repertoire des Krypto-Antisemitismus, den "oft nur leise verschleierte(n) Stereotypen(n) des Antisemitismus" (Theodor W. Adorno). Womit gemeint ist, dass Antisemitismus nicht erst beim Gröhlen von "Juden raus", dem Schänden jüdischer Friedhöfe oder tätlichen Angriffen beginnt. Tradierte antisemitische Bilder wie das des verschmitzten oder auch das Stereotyp des raffenden jüdischen Kapitals  müssen nicht offen ausgesprochen werden, um die notwendige Resonanz bei den Zuhörenden zu finden.

Gleichzeitig verkehrt Walsers in aggressiver Abwehr Opfer und Schuldige. Die Deutschen sind in seiner Weltsicht nun die Verfolgten. Die Opfer der deutschen Todesfabriken, der Bombardements von Rotterdam oder Coventry und des Vernichtungskrieges der Wehrmacht im Osten finden bei Walser kein Mitgefühl.

Walsers Rede veranlasste die in der Paulskirche versammelte politische, kulturelle und intellektuelle 'Elite', mit Ausnahme des damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden Ignatz Bubis, zu stehenden Ovationen und Gerhard Schröder zu der frühen Reaktion, dass ein Schriftsteller sagen könne, was "ein deutscher Bundeskanzler nicht sagen darf."

Zur gesellschaftlichen Debatte geriet die Walser-Rede in den Feuilletons erst, nachdem Ignatz Bubis Walser mehrfach als "geistigen Brandstifter" kritisierte, zuletzt in seiner Rede zum Gedenken der Reichspogromnacht am 9. November 1998. Im Verlauf der wochenlangen sogenannten Walser Debatte spitzte sich Personalisierungen bezüglich der Person von Ignatz Bubis zu, welcher beispielsweise in der 'Welt' als besonders mächtiges "Sprachrohr einer der wichtigsten Interessenverbände im Lande" bezeichnet wurde, der pathetisch mit "grotesken Wortungetüme(n)" (FAZ) hantiere. Bis dato wurde Walser weder von Bubis, noch von anderen als Antisemit bezeichnet.

Bubis hingegen wurde allgemein als Störenfried der nationalen Selbstfindung empfunden, die  sich in der Walserschen Rede gegen den "Erinnerungszwang" (so die FAZ am 10.11.98)  formulierte. Erst im weiteren Verlauf der Debatte wurden vermehrt Stimmen laut, die sich gegen die offenbar werdenden antijüdischen Ressentiments wandten und auch medial den Normalitätsdiskurs kritisierten oder von Missverständnissen sprachen. Zugleich eskalieren die antisemitischen Stimmungen.

Die Walser-Debatte findet vor allem in zwei Ereignissen ihren Abschluss:

  1. Ein sogenanntes Versöhnungsgespräch mit Walser und Bubis am 14.12. 98 unter Beteiligung des FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher und Salomon Korn. Im Verlauf dieses Gesprächs bricht Walsers dünne Decke des verschleierten Antisemitismus. Bezüglich der Judenvernichtung hält Walser Bubis entgegen, dass er sich schon früh, 1945 mit dem Holocaust auseinandergesetzt habe: "Herr Bubis, da muß ich Ihnen sagen, ich war in diesem Feld beschäftigt, da waren sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt." Die Anspielung Walsers baut auf dem Wissen der Zuhörer auf, dass Bubis seinen Lebensunterhalt seit der Nachkriegszeit als Händler und Immobilienmakler verdiente. Walser konstruiert derart die eigene moralische Überlegenheit gegenüber dem Holocaust-Überlebenden Bubis, welcher nur in materiellen Dingen behaftet gewesen sei. Zumal sei, so Walser, seine Rede "ausschließlich an ein deutsches Publikum" gerichtet sei und er würde nicht "über die Ansprüche von Zwangsarbeitern oder überhaupt für irgendein ausländisches Problem sprechen". Die Abwehrhaltung Walsers definiert so nicht nur Bubis aus der Nation heraus, sondern exterritorialisiert gleich noch den gesamten Komplex der Ausbeutung und Vernichtung durch Arbeit als "ausländisches Problem".
  2. Am 19.Dezember 98 zerstört eine Bombe das Berliner Grab von Heinz Galinski, dem Vorgänger von Bubis in der Funktion als Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland. Die Tat, die dem Deutschen Ansehen schaden würde, wird weitestetgehend abgekoppelt von der vorherigen Debatte betrachtet. So fand es Eberhard Diepgen "ärgerlich", "dass wir durch Taten von einzelnen Verrückten und Kriminellen immer wieder in Erklärungsbedarf gedrängt werden." Dabei sind es gerade derartige Diskurse, die dem sich gewalttätig äußernden Antisemitismus politische Gelegenheitsstrukturen schaffen und so seine Legitimationsgrundlage bilden.

Noch die Erinnerung an Auschwitz kann als Teil von aggressiver Schuldabwehr und zur Normalisierung des Nationalis­mus fungieren.

Exemplarisch soll hier die Einrichtung der Berliner "Neuen Wache" am Volkstrauertag des Novembers 1993 benannt werden. Mit der dort eingravierten Losung 'Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft' und der Einrichtung als zentrale Gedenkstätte der Bundes­republik Deutschland wird jegliche Spezifik des antisemitischen Wahns aufgelöst. Die Benutzung des Begriffs des 'Opfers' für alle "umgekommenen Soldaten und Zivilisten und alle ermordeten NS-Verfolgten sowie zugleich die vom kommunistischen Regime nach 1945 Ermordeten" (Thomas Haury) abstrahiert im Zeichen einer nationalen Versöhnung von den realen Bedingungen der zu Tode gekommenen oder ermordeten Menschen.

Im Zeichen einer erzwungenen Versöhnung von Juden und nicht-jüdischen Deutschen im Tode gerät eine nachträglich aufgeblasene Pieta von Käthe Kollwitz zur "nationalen Kranzabwurfstelle" (Eike Geisel). Die verschiedenen Ereignisse von der Einrichtung der "Neuen Wache" als diffuser Gedenkort, über die Diskussionen um das Mahnmal zur Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden, der krypto-antisemitischen Friedenspreisrede des Martin Walser bis zu den populistischen Serien á la "Stalingrad" des Fernsehhistorikers Guido Knopp zeigen, wie es Hajo Funke formulierte: "(E)ine neue Dimension von Versuchen, Auschwitz erinnerungspolitisch aus dem Gegenwartsbewusstsein und dem öffentlichen Raum auszusperren, in die Sphäre eines individualisierten schweigenden 'Gewissens' einzusperren und damit einen Schlussstrich unter die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu ziehen."

Wie sich der Diskurs um den Bau eines Mahnmals zum Gedenken an die ermordeten europäischen Juden zur nationalen Selbstvergewisserung verdichtet, lässt sich exemplarisch in einem Spiegel-Interview, in der Nummer 28/1995, mit der Journalistin Lea Rosh von der  Stiftungsinitiative für das Mahnmal nachlesen, in dem sie berichtet: "Ich habe dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats, Heinz Galinski gesagt: 'Halten sie sich da raus, die Nachkommen der Täter bauen das Mahnmal, nicht die Juden. Aber es wäre schön, wenn sie nicken könnten."

Und nicht von ungefähr hieß es im Begleitheft der Ausschreibung für das Denkmal: "Wir Deutsche müssen ein weithin sichtbares Zeichen setzen, um in aller Öffentlichkeit zu dokumentieren, dass wir die Last dieser unserer Geschichte annehmen, dass wir aber ein neues Kapitel in dieser unserer Geschichte zu schreiben gedenken." Den Juden wird bei  einer solchen "Gemeinschaftsaktion der Deutschen", wie sie Edzard Reuter nannte, wird die Rolle solcherart nationale Selbstfindung als Kronzeugen abzunicken, zugeschrieben.

So gerät das Mahnmal in Mitte, so Eike Geisel, zum "Monument der Vernichtungsgewinnler",  die dort "dann die Messe eines neuen Kollektivs zelebrieren, das sich wahlweise Erinnerungsgemeinschaft, Verantwortungs- oder Wertgemeinschaft, vorzugsweise aber (...) Land der Täter nennt." Bis heute weigern sich die Deutschen, die der Tätergeneration, wie die der Nachfolgenden anzuerkennen, dass sie auch materielle Profiteure der zur Vernichtung vorgesehenen Juden waren und sind. "Durch von Eltern begangenes Unrecht leben heute viele der nicht schuldig gewordenen Arisierungserben ein weitaus besseres Leben als die meisten jener jüdischen Nachfahren, deren Eltern nach 1933 ihres Besitzes beraubt wurden." (Salomon Korn). Durch die Nichtanerkennung dieser Schuld und Verantwortung, verstricken sich auch die nachgeborenen nicht-jüdischen Deutschen noch in einen 'sekundären Schuldzusammenhang'. Von daher ist sowohl das Mahnmal, als auch die Zahlung der deutschen Industrie in den Fonds zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter ein materielles, wie auch geschichtspolitisches Schnäppchen.

Im Vergleich zum Holocaust-Mahnmal hat die "Topographie des Terrors" auf dem ehemaligen "Prinz-Albrecht Gelände" solcherart Attraktion nicht zu bieten. Dort wo im Nebeneinander von Gestapo-Zentrale, Reichssicherheitshauptamt und SS-Führung die organisatorischen Schaltstellen von nationalsozialistischer Verfolgung und Vernichtung lagen, besteht ein zentraler Ort und eine Freiluftausstellung zur Auseinandersetzung mit dem NS-System und den Tätern.

Der Ausbau des Provisoriums der "Topographie des Terrors" wurde im selben Jahr beschlossen, wie der Bau des Holocaust-Mahnmals, 1989. Um den Entwurf des Ausbaus, der von dem Architekten Peter Zumthor stammt, gab es langjährige Kontroversen. Wie bei Berliner Großbauten üblich überschritt, aufgrund von Statikproblemen und dem Bankrott zweier Baufirmen, die Bausumme den Entwurf um ein Vielfaches und der Ausbau wurde nach Errichtung dreier Treppenhäuser gestoppt. Letztere werden derzeit zurückgebaut, sprich abgerissen, und ein neuer Architektenwettbewerb ausgeschrieben. Die Entscheidung selbst zeigt die Prioritätensetzung in dem was sich Umgang mit der Vergangenheit nennt. Die Zeiten sich mit den Tätern auseinander zusetzen scheinen vorbei, die Konjunktur des Gedenkens hat sich gewendet. Dem entsprechend wurde auch einem Vorschlag seitens der "Stiftung Topographie des Terrors" nicht nachgegangen die drei Türme stehenzulassen, als Mahnmal für den Umgang mit dem "historischen Ort der Täter".

Zukunftsweisender als solcherlei Gedenken scheint daher die von konservativer Seite betriebene Initiative "zur Förderung von Gedenkstätten zur Diktaturgeschichte in Deutschland". Oder wie es der Initiator, der Berliner CDU-Abgeordnete Nooke in dem inzwischen, nach vielfältiger Kritik, zurückgezogenen Gedenkstättenkonzepts formulierte: "Beide deutsche Diktaturen waren von einer Gewaltherrschaft geprägt, die sich in der systematischen Verfolgung und Unterdrückung ganzer Bevölkerungsgruppen manifestiert hat."

Ihr Vorbild findet diese Initiative im sächsischen Gedenkstättengesetz vom Februar 2003 zur Errichtung einer "Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft", die, wie es in dem Gesetz heißt an "politische Gewaltverbrechen von überregionaler Tragweite, von besonderer historischer Bedeutung, an politische Verfolgung, an Staatsterror und staatliche Morde erinnern" soll.

Die der Totalitarismustheorie entnommenen Gleichsetzungen von Nationalsozialismus und  stalinistisch geprägtem autoritären Sozialismus sind nicht nur das Ticket mit dem die Spezifik des NS, eben die Vernichtung des europäischen Judentums auf der Basis eines eliminatorischen Antisemitismus verwischt wird, sondern  stellen einen "Schritt zur teilweisen Leugnung" der deutschen Verbrechen dar, wie es Efraim Zuroff, Leiter des Wiesenthal-Zentrums formulierte.

Die CDU-Initiative formuliert so auch implizit eine deutsche Opfergemeinschaft, die unter rotem und braunem Terror litt und trägt zur eigenen Exkulpierung bei. Dabei ist der Vorstoß der CDU kein Einzelfall. Seit 1990 gab es eine Vielzahl sogenannter Umwidmungen  von Mahnmalen und Gedenksteinen für die Opfer der NS-Verbrechen im Osten Deutschlands. Diese sind nun diffus den "Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft" oder dem "Faschismus und Stalinismus" gewidmet. So scheint eingetreten zu sein,  was Jean Améry bereits 1966 in seinem Buch "Jenseits von Schuld und Sühne" als Befürchtung äußerte:"Was 1933 bis 1945 geschah, so wird man lehren und sagen, hätte sich unter ähnlichen Voraussetzungen überall ereignen können – und wird nicht weiter insistieren auf der Bagatelle, daß es sich eben gerade in Deutschland ereignet hat und nicht anderswo. [...] Alles wird untergehen in einem summarischen 'Jahrhundert der Barbarei'.

Das systematische Wegsehen und Weghören, das die Auseinandersetzung mit den Verbrechen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg kennzeichnet, findet auch im Umgang mit der sogenannten "Wiedergutmachung" bzw. der Entschädigung von Opfern des NS-Regimes seinen beschämenden Ausdruck.

Dies zeigte sich erneut in der Debatte um die Entschädigung von für den deutschen Staat und die deutschen Konzerne geleisteten Zwangsarbeit im "Dritten Reich". Ob Deutsche und Dresdner Bank, Volkswagen AG, Allianz oder jüngst IG Farben i.A. - die Entschädigungsdebatte sorgt für Unruhe in den Führungsetagen. Das Ausgreifen deutscher Konzerne auf den US-Markt auf der einen und die neu formierten Sammelklagen Betroffener auf der anderen Seite bringen Staat und Wirtschaft erheblich unter Druck. Die unter diesem Druck avisierte Notlösung der Gründung von Entschädigungsfonds hilft den Konzernen auf die Sprünge. Da und dort stellt man sich sogar der angeblich frisch entdeckten eigenen Geschichte.

Soeben geschehen bei der Deutschen Bank, deren aus gegebenem Anlass emsig arbeitendes "Historisches Institut" die Leichen im Keller der Bank - in Form von Aktenbergen zur Mitfinanzierung von Auschwitz in Polen über Kredite von Tochterunternehmen an die lokale SS - ausgrub. Überhaupt nichts Neues im übrigen: Seit den leider wenig beachteten "Ermittlungen gegen die Deutsche Bank", dem sog. OMGUS-Bericht (Office of Military Government for Germany, United States, Finance Division / Financial Investigation Section) von 1947 und der vor ein paar Jahren erstellten Studie "Das Gold der Juden" des britischen Juristen Tom Bower ist der Zusammenhang zwischen Deutscher Bank und dem Chemiewerk der IG Farben in Auschwitz klar herausgestellt, was die Bank damals jedoch wohlweislich ignorierte. Diesmal aber tut man so, als stelle man sich aufgrund soeben entdeckter Sachverhalte seiner "geschichtlichen Verantwortung" und gibt seinem Institut das Okay zur Enthüllung dessen, was man zuvor wissentlich verschleierte: die Inhalte von sage und schreibe 15 Kilometer Aktenmaterial (FAZ) aus der Zeit des "Dritten Reiches" - eine Menge, der man schon rein räumlich nur schwer aus dem Weg gehen kann. 

Gegen diese Übermacht von Beweismaterial verbinden sich Staat und Wirtschaft zu einer Solidargemeinschaft von deren Spitze aus der rotgrüne Kanzler Schröder - sich selbst als Schutzschild deutscher Interessen verstehend - verkündet: "Es wird in Deutschland keine neue Wiedergutmachungsdebatte geben." Auf diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Moral des deutschen Staats kaum noch. Vielmehr scheint sich zu bestätigen, was bereits im September 1964 ein ehemaliger Auschwitz-Häftling bitter notierte: "Die großen Rüstungskonzerne, die Milliarden am Massenmord des zweiten Weltkrieges verdienten, beherrschen heute wieder Staat und Wirtschaft in Westdeutschland."

Im Folgenden wird der Umgang mit Zwangsarbeit und Entschädigung zunächst am Beispiel des IG Farben Konzerns dargestellt. Im Anschluss daran ist die Rechtslage zum Thema diskutiert und von Fallbeispielen unterlegt. Hier zeigt sich: Es ist ein schweres Unterfangen für die Betroffenen mit häufig schlechtem Ausgang.

Gelinde gesagt zäh gehen die Mühlen bei dem deutschen Unternehmen, deren Aktionäre sich am 25.3.99 in Frankfurt/M. versammelten. Die "IG Farben in Abwicklung" ist die Nachfolge-Gesellschaft des Chemiekonzerns IG Farben, der während des Zweiten Weltkriegs etwa 350 000 Zwangsarbeiter beschäftigte - unter anderem im firmeneigenen Auschwitz-Lager Monowitz -, deren Tochterfirma DEGESCH (Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung mbH, Frankfurt/M.) Zyklon B für den Massenmord lieferte und der so enorme Kriegsprofite anhäufen konnte.

Während der Konzern 1939 ein Eigenkapital von 1038,9 Millionen Mark auswies, betrug das Eigenkapital seiner drei Hauptgesellschaften Bayer, Hoechst und BASF 1952 nach Abschreibung sämtlicher Verluste 1660,3 Millionen Mark. Eigenkapital, das durch den Kriegsgewinnler Nummer 1 mit Zwangsarbeit, Patentierung von in Konzentrationslagern erprobten medizinischen Präparaten und Massenmord erwirtschaftet wurde. Nach dem Krieg erzwangen die Alliierten die Auflösung des Konzerns und die Wieder-Aufspaltung in die früheren Unternehmen BASF, Hoechst und Bayer, deren Eigenkapital 1963 bereits die 6-Miliarden-Grenze erreichte. Das Restvermögen des Ex-Konzerns wurde nach dem Krieg auf die "IG Farben in Abwicklung" übertragen. Die IG Farben i.A. wird nunmehr seit mehr als 50 Jahren liquidiert. Wegen zahlreicher Einsprüche und Prozesse ehemaliger Aktionäre der IG Farben, die um den Gewinn aus ihren Anteilen bangten, wurde die schon vor 50 Jahren beschlossene Auflösung der Gesellschaft bis heute nicht vollzogen; ihr Firmenvermögen wird zur Zeit mit 27,8 Millionen Mark angegeben. Obwohl die Firma als das Symbol für die Zusammenarbeit der Industrie mit dem Nazi-Regime gilt und immer wieder mit Entschädigungs-Forderungen und seit kurzem auch mit Klagen konfrontiert wurde, erfolgten bislang keinerlei Entschädigungszahlungen an die Opfer. So haben drei ehemalige IG Farben-Zwangsarbeiter die Nachfolge-Gesellschaft jüngst auf Schmerzensgeld und Lohn-Nachzahlung verklagt. Die heute zwischen 73 und 76 Jahre alten Männer leben in Israel. Sie waren aus Polen nach Deutschland verschleppt worden. Die Entscheidung über ihre Klage ist noch offen. Sie könnte wegweisend sein, aber die biologische Uhr tickt.

Da sich BASF, Hoechst und Bayer nicht als Rechtsnachfolger der IG Farben betrachten, sehen sie für sich auch keine gesetzliche Verpflichtung zur Entschädigung ehemaligen Zwangsarbeiter. Gleich einem Tropfen auf dem heißen Stein erklärten sich die Konzerne im Februar bei ihrem Treffen mit Schröder zur Beteiligung an einem geplanten Staatsfonds zur Entschädigung der Nazi-Opfer bereit.

Als sich nun im März die Aktionäre der IG Farben i.A. im vierten Anlauf - im letzten Jahr war es dem Konzern wegen anhaltender öffentlicher Proteste nicht gelungen, geeignete Räumlichkeiten zu finden - in Frankfurt/M. zu ihrer Hauptversammlung trafen, war der Aufruhr groß: Etwa 180 Demonstranten, darunter ehemalige Zwangsarbeiter und andere Holocaust-Opfer der IG Farben, hinderten zunächst die Aktionäre am Betreten des Gebäudes, indem sie sich mit der Polizei ein Handgemenge lieferten. Im weiteren versuchten sie immer wieder, die Versammlung zu stören und wurden teilweise von Sicherheitskräften aus dem Saal gebracht. Demonstranten und kritische Aktionäre fordern die sofortige Auflösung des Unternehmens und die Verwendung des gesamten Firmenvermögens zur schnellstmöglichen Entschädigung von Opfern. Denn alles andere wäre "doch nur Verzögerung, um die Sache biologisch vom Tisch zu kriegen", wie der Auschwitz-Häftling Hans Frankenberg hervorhob, der wie andere seit einen halben Jahrhundert auf sein Recht wartet. Im Verlauf der Versammlung boten sich schamvoll hässlichste Zwischenfälle; so wurde eine kritische Aktionärin als "Judenhure" beschimpft und im Folgenden auch noch belehrt: "Die Juden sind von Deutschland seit 50 Jahren unterstützt worden - einmal muß ja Schluß sein." Symptomatisch dafür, wie die Entschädigungsdebatte in der BRD geführt wird!

Die Liquidatoren, der Rechtsanwalt Volker Pollehn und der CDU-Bundestagsabgeordnete Otto Bernhardt verwässerten dann auch gleich den harten, berechtigten Kurs Kritischer Aktionäre. Unter der Berufung, "ihrer historischen Verantwortung" gerecht zu werden, räumten sie hinsichtlich der Firmenbeurteilung ein: "Ob es uns gefällt oder nicht: Die IG Farben sind ein Negativ-Symbol für die Zusammenarbeit der Industrie mit den Nationalsozialisten." Aus dieser Tatsache zogen sie dann freilich nicht die gleichen Schlüsse wie Demonstranten und Kritische Aktionäre. Sie baten die Aktionäre lediglich darum, sie mit der Vorbereitung einer Stiftung zur Entschädigung zu beauftragen, für die - unklar formuliert - nunmehr ein Großteil des Firmenvermögens in einem nicht genannten Zeitraum verwendet werden soll. Diesem Antrag schloss sich die Hauptversammlung mehrheitlich an.

Die Liquidatoren bekräftigten vor allem in Richtung der Kritischen Aktionären ihren Willen, das Unternehmen beschleunigt zu liquidieren, jedoch schneide man sich bei einer sofortigen Auflösung ins eigene Fleisch, da nicht alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft seien, um an das ehemalige Ost- und Auslandsvermögen der IG Farben heranzukommen. So wollen sie - trotz einer rechtskräftigen Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus den 80er Jahren - Zugriff auf das frühere Auslandsvermögen der IG Farben verlangen, das die IG Farben kurz vor Kriegsende durch Gründung der Holding IG Chemie in der Schweiz in Sicherheit gebracht hatte. Diese firmierte 1945 in "Interhandel" um, die bald darauf mit der schweizerischen Bankgesellschaft (UBS) fusionierte - eine alles in allem perfekte Verschleierung. Nach Bernhardt handele es sich bei dem ehemaligen Auslandsvermögen der IG Farben mit Zinsen um etwa 4,4 Milliarden Mark, die man von dem zweitgrößten Schweizer Bankhaus zurückfordert. So vergeht wiederum wertvolle Zeit mit dem fadenscheinigem Ausblick, eine größere Summe in den Entschädigungstopf werfen zu können.

Nach Henry Mathews (Vorstand des Verbands kritischer Aktionäre) durchaus "typische Lippen-Bekenntnisse der Liquidatoren". Mathews bezeichnete die IG Farben als die einzige kriminelle Vereinigung, die von der Polizei geschützt werde.

In einem Brief an die Liquidatoren des Chemiekonzerns verlangt auch der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, vertreten durch Romani Rose, Entschädigungszahlungen an die überlebenden Sklavenarbeiter noch in diesem Jahr. "IG Farben und Degussa müssen sich wegen ihrer Mitverantwortung an den Massenmorden mit Zyklon B auch an weiteren Entschädigungsfonds beteiligen." Jeder ehemalige Zwangsarbeiter müsse für die erbrachte Leistung und die erlittenen Gesundheitsschäden mindestens 10.000 Mark erhalten, schrieb Rose. Nach dem 1991 gefällten Beschluss der Aktionärsversammlung der IG i.A. zur "Vorbereitung der Gründung einer Stiftung" sei es zynisch, jetzt diesen Beschluss lediglich zu wiederholen. In Wirklichkeit würden die Zahlungen auf diese Weise bis zum Tode der letzten Überlebenden hinausgezögert. Auch der Sprecher der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes, Peter Gingold, erinnert sich an "das Gerede" von der Stiftung zu Beginn der 90er Jahre, aus der dann nichts wurde.

Der Zentralrat vertritt nach eigenen Angaben die aus der Nazizeit resultierenden Entschädigungsansprüche von insgesamt 2850 Personen an Deutsche und Schweizer Firmen. Von den Sinti und Roma, die während der Nazizeit Zwangsarbeit für die IG Farben leisteten, leben den Angaben zufolge heute noch zehn bis 15 Personen. Im April wollen sich Vertreter des Zentralrates der Sinti und Roma in den USA mit Anwälten treffen, um Sammelklagen gegen Firmen in Deutschland und der Schweiz vorzubereiten.

Ein Sprecher des deutschen Bündnisses gegen IG Farben sagte, solange es keine definitiven Zusagen seitens des Unternehmens gebe, würden die Proteste weitergehen.

Der Koordinator der Klägerseite gegen IG Farben, Andrzeij Bodek, begrüßte im Namen seiner Mandanten die Einrichtung einer Stiftung. Doch müsse eine sofortige und direkte Zahlung erfolgen. Dabei dürfe es keine Pauschal-Entschädigungen geben, sondern nur individuelle Regelungen. Er warf der IG Farben eine "Strategie der biologischen Lösung" vor. Die jüngsten Opfer seien schließlich schon 70 Jahre alt.

Unterdessen richtete die Organisation "claims for jewish slave-labour compensation" einen offenen Brief an den deutschen Regierungschef Schröder. Darin fordern überlebende Zwangsarbeiter finanzielle Entschädigung als überfälliges Recht ein.

Am 11. November 1986 legte die Bundesregierung ihren Bericht zur Wiedergut-machung und Entschädigung vor: Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die BRD Leistungen in Höhe von 77,07 Milliarden DM erbracht und wird künftig, von 1986 hochgerechnet bis ins Jahr 2000, etwa weitere 25,59 Milliarden hierfür aufbringen. Man brüstet sich damit, dass die "Wiedergutmachung insgesamt gesehen als eine historisch einzigartige Leistung angesehen werden" könne. Einmalig allerdings ist auch die Ermordung von 6 Millionen Juden und der Diebstahl deren Vermögen, einmalig auch die planvolle Vernichtung von Millionen durch Arbeit für deutsche Konzerne und den deutschen Staat. Vom kalten Zahlenspiel abgesehen stellt sich die Frage, was es tatsächlich mit der Wiedergutmachung auf sich hat. Wie die gesetzlichen Grundlagen hierfür aussehen, soll im Folgenden dargestellt werden.

"Wiedergutmachung" ist ein zweiteiliges Verfahren: der eine Teil beinhaltet die Rückerstattung geraubten Vermögens und ist Gegenstand vor allem des Gesetzes Nr. 59 des Alliierten Kontrollrats (AKR) vom 10. November 1947 gewesen. Der andere Teil umfasst überwiegend andere (immaterielle) "Schadenstatbestände" wie den Schaden an Leben, Gesundheitsschäden, Berufsschäden.

Das Gesetz Nr. 59 über die Rückerstattung "arisierten" Vermögens des AKR wurde zwar von deutschen Juristen (Otto Küster, Adolf Arndt) erarbeitet, aber als von den Alliierten auferlegt erlassen. So brauchten sich deutsche Länderregierungen nicht nachsagen zu lassen, eine gesetzliche Verpflichtung zur Rückerstattung veranlasst zu haben. Es regelte die Rückgabe von im Verlauf der "Arisierung der Wirtschaft" geraubten Vermögens wie Grundstücke, Fabriken, Wertpapiere durch private deutsche "Ariseure". Hierbei handelte es sich um eine individuelle Rückerstattung, die gegen Ende der 50er Jahre als weitgehend abgeschlossen betrachtet werden konnte. Das Bundesrückerstattungsgesetz von 1957 klärte abschließend die Rückerstattung von in öffentlicher Hand des Rechtsnachfolgers des "Dritten Reichs" befindlichen "arisierten" Vermögensgegenständen.

Der Nachweis durch Einträge in Handelsregistern, Grundbüchern, öffentliche Bekanntmachungen und Zeitungsannoncen verhalfen den ursprünglichen Besitzern zur Rückerstattung. Die zahlreichen weniger wohlhabenden Verfolgten und Beraubten mussten sich in die Schiene der Entschädigung nach Bundesergänzungs- und Bundesentschädigungsgesetz einspulen und begutachten lassen. Bis heute sind auf dieser Grundlage etwa 4 Milliarden DM an Leistungen geflossen. Zwar nahmen die privaten Ariseure an der Rückerstattung Schaden. Allerdings konnten sie diesen "Schaden" ab 1969 als "Opfer der Wiedergutmachung" auf der Basis des Reparationsschädengesetzes wieder gut machen; sofern sie sich nicht bereits für ihre verlorenen Ostgebiets-Firmen nach dem Lastenausgleichsgesetz von 1952 hatten entschädigen lassen.

Soweit der deutsche Staat willens war, die Eigentums- bzw., Vermögensnachweise, die die während der Zeit des "Dritten Reichs" beraubten Antragsteller vorlegten, anzuerkennen, wurde diesen Ansprüchen in der Regel nachgegeben. Allerdings sah dies konkreten Fall beispielsweise so aus: Ein ehemaliger Regierungsrat in Nordbaden hatte einen Rückerstattungsantrag vorgelegt mit einem Anspruch auf 2.000 DM für den Verlust seiner Bibliothek. Das zuständige Gericht verlangte ein Verzeichnis aller 900 Titel mit Anschaffungsjahr und -preis sowie Quittungen der Buchhandlungen, was der Antragsteller natürlich nicht erbringen konnte, also keine Rückerstattung.

Diese zynische Entschädigungspraxis verschärft sich im Fall sog. "Wilde Arisierung", bei denen ohne jede institutionelle Rückbindung Personen willkürlich Person um ihr Hab und Gut gebracht wurden. Im Fall des Gelnhäuser Autohändlers, Tankstellen- und Kfz-Werkstattbesitzers Joseph Blumenbach erfolgte 1933 eine solche "Wilde Arisierung". Der Tatort, die Barabarossastadt Gelnhausen sollte noch für ihren "Radau-Antisemitismus" berüchtigt werden und sich schließlich am 1. November 1938 stolz für "judenfrei" erklären. Am 23. März 1933 suchten örtliche SA-Männer in per Armbinde ausgewiesener Eigenschaft als Hilfspolizisten Haus und Geschäft heim und durchsuchten beides. Anschließend sind das Benzingeld (400 DM), eine antike Waffensammlung und Blumenbachs Armeerevolver ohne Hinterlassen einer Quittung verschwunden. Er selbst wird ohne Haftbefehl abgeführt und erst am 17. Juni 1933 wieder aus der Haftanstalt Preungesheim entlassen. Da er seine Heimatstadt Gelnhausen nicht mehr betreten darf - nur unter dieser Zusicherung wird er überhaupt freigelassen - , geht er nach Mannheim, von wo im August 1938 ihm und seiner Familie die Flucht in die USA gelingt.

Nach dem Krieg erhielt Blumenbach für die beiden "arisierten" Häuser, Werkstatt und Tankstelle Hailerer Straße 1 und Geschäftssitz und Wohnhaus Roether Gasse 10 - heute beliebtes - eine Nachzahlung wegen Schaden aus Arisierung. Die Ariseure selbst - wir erinnern uns - konnten sich diese Nachzahlung ab 1969 nach dem "Reparationsschädengesetz wiedergutmachen lassen. Die Zahlung stand jedoch "in gar keinem Verhältnis zu dem wirklichen Wert der Geschäftsanwesen", so Blumenbach: "Wir klagten auf die Rückgabe der sehr wertvollen antiken Waffensammlung, wofür wir am Ende 1.000 DM bekamen, weil wir keine Quittung für die einzelnen Artikel vorlegen konnten. Als wir nach dem Krieg den Versuch machten, Geschäftsentschädigung zu bekommen, erhielten wir die Mitteilung, daß das Finanzamt während des Kriegs zerstört wurde und alle Steuererklärungen verbrannt seien." Als Blumenbachs aus Gelnhausen vertrieben wurden, hatten sie 58.000 RM Außenstände bei Geschäftspartnern. Von Mannheim aus mussten sie ein Inkasso-Büro zur Eintreibung der Forderungen beauftragen. Das Ergebnis nach fünf Jahren: 6.000 RM Eingänge rechnete das Büro ab, davon 50% für Blumenbach - blieben also schlappe 3.000 RM. Der zur Ausreise notwendige Heimatschein, ausgestellt im Juli 1938, galt bis Juli 1943. Danach verloren sie, da sie ja nun keine Gelegenheit mehr hatten, den Heimatschein verlängern zu lassen, ihre Staatsbürgerschaft.

In der amerikanischen Zone verabschiedete der Länderrat am 26. April 1949 das erste einheitliche Entschädigungsgesetz für diese Länder. Wieder waren Küster und Arndt am Werk und es wurde erlassen als "Gesetz Nr. 951 zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts vom 16.8.1949". Hier wurden erstmals grundlegende Begriffe definiert: Was ist "Verfolgung", wer gilt als "Verfolgter", welche Schäden sind erlitten worden. Zum ersten Mal bezog ein Gesetz die Displaced Persons mit ein - 1949!. Diese hatten nicht vor 1937 im Reichsgebiet gelebt, sondern waren aus den Konzentrationslagern befreit worden und warteten nun in DP-Lagern auf Rückkehr in die alte oder Einreisemöglichkeiten in die neue Heimat. Nach diesem und anderen Ländergesetzen, die bis 1953 erlassen wurden, sind bis 1986 1,835 Milliarden DM geleistet worden. Bis zum Jahr 2000 werden es 1,935 Milliarden sein.

Im September 1949 gibt Konrad Adenauer im ersten deutschen Bundestag seine Regierungserklärung ab. Er spricht davon, dass durch die "Denazifizierung viel Unglück und Unheil angerichtet worden" sei, die "wirklich Schuldigen an den Verbrechen, die in der nationalsozialistischen Zeit und im Kriege begangen worden sind, mit aller Strenge bestraft werden" sollen. Der Krieg und die Wirren der Nachkriegszeit hätten "eine so harte Prüfung für viele gebracht und solche Versuchungen, daß man für manche Verfehlungen und Vergehen Verständnis aufbringen" müsse, weswegen über eine Amnestie nachgedacht werden müsse. Das "wichtigste Kapitel" ist für Adenauer aber "die Frage der deutschen Kriegsgefangenen und Verschleppten" und es fällt ihm schwer "mit der notwendigen leidenschaftslosen Zurückhaltung zu sprechen (wenn er) an das Schicksal der Vertriebenen, die zu Millionen umgekommen sind", denkt. Mit keinem Wort wird vier Jahre nach der Befreiung der Überlebenden aus den KZ deren Entschädigung auch nur erwähnt.

Im März 1951 wandte Israel sich mit einem Reparationsanspruch gegenüber Deutschland in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar an die Besatzungsmächte. Die Höhe der Forderung begründete der israelische Staat damit, dass er für die Eingliederung der etwa 500.000 aus ehemaligem deutschen Machtbereich nach Palästina geflohenen Juden ca. 3.000 Dollar Eingliederungshilfe pro Person geleistet habe. Daneben stehe das in den besetzten Ländern geraubte und an Ermordete nicht mehr rückerstattbare Vermögen. Im Dezember des gleichen Jahres veröffentlicht ein Meinungsforschungs-institut das Ergebnis der vom US-Hochkommissar in Auftrag gegebenen Umfrage zu den Forderungen Israels: Auf die Frage, ob Juden und anderen verfolgten Gruppen geholfen werden sollte, antworteten 68% der Befragten mit Ja. Davon billigten 17% den Juden das geringste Anrecht auf Entschädigung zu. 49% der Befragten stellten das Schicksal der Juden dem aller anderen Gruppen gleich, 21% lehnten jede Wiedergutmachung an Juden ab. Bei den Antworten auf die zweite Frage, welche Gruppen das größte Anrecht besäßen, standen die Juden an letzter Stelle. Kriegswitwen und -waisen, Bombengeschädigte und Vertriebene rangierten vor ihnen.

So gab es sechs Jahre nach Kriegsende und zwei Jahre nach Gründung der BRD noch immer kein Bundesgesetz zur Entschädigung nationalsozialistisch Verfolgter. Aber das gesunde deutsche Volksempfinden wollte schon Unrecht wieder gut machen. Deshalb verabschiedete der Bundestag am 11. Mai 1951 die Regelung zur Wiedereinstellung ehemaliger Angehöriger der NSDAP in den Staatsdienst nach Artikel 131 GG (daher auch 131er-Gesetz genannt). Diese waren teilweise 1945 von der Ausübung öffentlicher Ämter und von Ruhestandsbezügen ausgeschlossen worden. Am selben Tag erging dann noch ein "Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung für Angehörige des öffentlichen Dienstes" (BWGöD). Danach erhielten die ab April 1933 von dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Beamtentums" und Folgegesetzen Betroffenen eine bundeseinheitliche Entschädigung. Nach dem BWGöD sind bis 1986 etwa 1,9 Milliarden DM geleistet worden.

Dass das 131er-Gesetz vor allen Entschädigungsgesetzen verabschiedet wurde, fanden nur wenige peinlich. Schließlich sanktionierte es nur bestehende Zustände. Nebenbei bemerkt waren von den 402 Mitgliedern des Bundestags mindestens 53 ehemals Mitglied der NSDAP, die sich bis auf zehn auf die Regierungsparteien CDU/CSU, FDP und DP verteilten.

Inwieweit die Wiedergutmachungsgesetze wirklich aus der Einsicht, etwas wieder gut machen zu müssen, erwachsen sind, ist fraglich. Das Bundessozialgericht sieht die Sache folgendermaßen: "Alle Wiedergutmachungsgesetze der BRD sind in Ausführung des am 26. Mai 1952 zwischen der BRD und den alliierten Mächten geschlossenen Vertrages zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen (sog. Überleitungsvertrag), der das Besatzungsstatut ablöste, ergangen ... . In dessen viertem Teil wurde der BRD die Verpflichtung zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung auferlegt." Obwohl der deutsche Finanzminister Schäffer alles tat, um eine Einigung zu torpedieren, legte das "Luxemburger Abkommen" vom 10. September 1952 die Zahlung eines Betrag von 3 Milliarden DM an den Staat Israel innerhalb von zwölf Jahren durch die BRD fest. Des weiteren sagte Deutschland die Verbesserung der innerdeutschen Wiedergutmachungs-gesetzgebung zu. Als der Vertrag dann endlich im Wahljahr am 18. März 1953 im Bundestag ratifiziert wurde, stimmten 238 der 360 Anwesenden dafür (125 SPD, 105 Regierungskoalition), 34 lehnten ab (15 Regierungskoalition) und 86 enthielten sich (68 Regierungskoalition). Die Leistungen aus diesem Abkommen betragen bis heute 3,450 Milliarden DM.

Mit dem Luxemburger Abkommen war nun ein bundeseinheitliches Entschädigungs-gesetz unumgänglich geworden. Beim Gesetzesentwurf führte ausgerechnet der Entschädigungsgegner Ernst Féaus de la Croix die Feder. Der Volkswirt und Jurist - zuständig im Bonner Finanzministerium für alle Wiedergutmachungsleistungen - hatte 1938 zu den Verfassern der Nazi-Denkschrift "Rasse, Volk, Staat und Raum in der Begriffs- und Wortbildung" gehört.

Die Bundesregierung setzte ihren Entwurf am 29. Juli 1953 im Bundestag durch. Im Wahljahr wollte sie ihn dezidiert nicht als eigenständiges Gesetzeswerk des bundesdeutschen Gesetzgebers verstanden wissen. Der Öffentlichkeit verkauft wurde es daher als Ergänzung zu US-Zonen-Gesetzen, als "Bundesergänzungsgesetz". Das erste bundeseinheitliche Entschädigungsgesetz durfte künftiger Wählerstimmen wegen keines sein. Was war neu am BErgG?

Zu den Regelungen bisher genannter Gesetze wurden nun die aus den osteuropäischen Vertreibungsgebieten ausgewanderten Verfolgten entschädigungsberechtigt. Auch die Verfolgten in der ehemaligen britischen Zone (Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hamburg) konnten einen Entschädigungsanspruch für Schäden im wirtschaftlichen und beruflichen Fortkommen geltend machen. Der Bundesgerichtshof wurde als oberste Instanz in Wiedergutmachungssachen bestimmt. Das klingt theoretisch ganz gut, war aber nur schwer in die Praxis umzusetzen: Der Beanspruchende musste nachweisen, dass seine Verfolgung eine gegen ihn persönlich gerichtete "amtliche Maßnahme" gewesen war. Nicht einfach, legte doch bereits der §1 BErgG eindeutig die Verfolgungsbestände fest: Rasse, politische Gegnerschaft, Glaube, Weltanschauung. Konkret: Wer also nicht im Reichsgesetzblatt als ausgebürgert veröffentlicht wurde, ging nach der Rückkehr aus dem überlebensnotwendigen Exil leer aus. Wer ohne die schriftliche Vorlage "amtlicher Billigung" sich der Deportation durch Selbstmord entzog, machte es seinen Hinterbliebenen unmöglich, Entschädigung zu beanspruchen. Er hätte damit warten müssen, bis der Zug fuhr!

Nichtbeamtete Verfolgte - wir erinnern uns, Beamte fielen unter das BWGöD - konnten einen einmaligen Betrag von 25.000 DM für Existenzschäden beantragen. Bei Berechnungen der Renten- und Kapitalentschädigungen wurden die Entschädigungsberechtigten nach einer der vier Stufen der Beamtenhierarchie - einfacher, mittlerer, gehobener Dienst - eingestuft. Klar, dass die meisten an den ersten beiden Stufen hängen blieben. Gesundheitsschäden, die die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigten, waren erst ab 30% entschädigungsberechtigt. Hierbei musste oft in harten Gutachter-Verfahren die Verfolgungsbedingtheit der Gesundheitsschäden nachgewiesen werden.

Bei der Novellierung des BErgG konnte Schäffer seinen harten Kurs nicht mehr gänzlich durchsetzen, so dass eine Verbesserung durch die Verabschiedung des BEG entstand: Anspruch konnte jetzt auch geltend machen, wer bis zum 31.12.1952 (bisher: 1.1.1947) in die BRD zugezogen war und wer als amtlich gebilligter Emigrant zuvor im Deutschland der Grenzen von 1937 (statt BRD 1953) gewohnt hatte. Gesundheitsschäden konnten ab 25% geltend gemacht werden, die Höchstgrenze für Eigentumsschäden wurde von 25.000 auf 75.000 DM heraufgesetzt. Der Tarif für KZ-Haft-Entschädigung lag jedoch bei lächerlichen 150 DM pro Monat. Die Anträge hatten bis zum 1. Oktober 1957 bei den Entschädigungsämtern gestellt zu sein und das ein Jahr nach Veröffentlichung! Zur weiteren Begründung der Anträge wurde nochmals eine Frist bis zum 1. April 1958 gewährt (Ausschlussfristen). Ähnlich wie das BErgG legte das BEG folgende acht Schadenstatbestände fest: Schaden an Leben, an Körper und Gesundheit, an Freiheit, an Eigentum, an Vermögen (durch Zahlungen von Sonderabgaben, Geldstrafen, Bußen und Kosten), im beruflichen und im wirtschaftlichen Fortkommen.

Der Mann im Stützkorsett war früher Leiter des Jüdischen Altersheims in Frankfurt/M. Er trägt die Nummer 105 105 auf dem linken Unterarm. Die Nummer erhielt er in Monowitz, wo er von März 1943 bis Januar 1945 für die IG Farben im Buna-Werk Stahlrohre schleppte - zwölf Stunden täglich. Das Stützkorsett trägt er, weil er sich auf dem Todesmarsch im Januar 45 von Auschwitz nach Gleiwitz durch meterhohen Schnee kämpfte. Er war einer der 12.000, die ankamen in Gleiwitz. Am nächsten Morgen brachte ein Güterzug sie nach Kieferstädtel, wo sie in den Wald getrieben wurden. Am Abend lagen Tausende von Leichen im roten Schnee. Alfred Jachmann hatte sich verkriechen können und überlebte. Die Folgen der Erfrierungen versucht er mit dem Stützkorsett zu lindern. Entschädigung? Ja, fünf DM Haftentschädigung pro Tag. Gesundheitsschadenrente: zuerst 635 DM, 1991 erhält er; nach allen Erhöhungen; 1.003 DM. Ausbildungsschaden: einmalig 5.600 DM. Die Leistungen nach BErgG und BEG betrugen bis 1986 etwa 64 Milliarden DM und werden auf etwa 87 Milliarden DM im Jahr 2000 prognostiziert. Die "Schadenstatbetände" wurden genannt und am traurigen Beispiel des Alfred Jachmann auf den Punkt gebracht. Wer aber konnte der Schäden wegen Entschädigung beantragen? Oder andersherum gefragt: Wer blieb davon ausgeschlossen?

Der §1 des BErgG gilt als Generalklausel: Alle, die "aus Gründen der politischen Gegnerschaft, der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung" verfolgt waren, sind in die Regelungen eingeschlossen. Daraus ergeben sich zwangsläufig die "Ausschlußgründe": Alle, die nicht unter diese Generalklausel fallen, sind ausgeschlossen, also:

Auch Kommunisten, die nicht mehr als Kommunisten galten, wurden nach diesem Schema abgewiesen. Der Jude, Kommunist, Spanienkämpfer und Schriftsteller Alfred Kantorowicz war im Pétain'schen Frankreich interniert. 1941 konnte er in die USA fliehen. 1947 kehrte er nach Berlin (Ost) zurück, wo er zweieinhalb Jahre die Zeitschrift "Ost und West" heraus gab. Nach dem Ungarn-Desaster 1956 überwarf sich der Literaturprofessor mit der offiziellen Lehrmeinung, was ihm Job und Pensionsanspruch kostete. Er floh in den Westen, wo ihm der westdeutsche Staat in Gestalt des Bayrischen Landesentschädigungsamtes (BLEA) die Entschädigung als unter den Nazis politisch Verfolgtem verweigerte. Er habe der "Unmenschlichkeit Vorschub geleistet", weshalb ihn das BLEA auch nicht als in der DDR Verfolgten anerkannte - was das Amt bei Nicht-Kommunisten, Nicht-Spanienkämpfern und Nicht-Juden recht gern tat. Erst die Stadt Hamburg zahlte ihm ab 1961 eine Gnadenrente von monatlich 500 DM. Er starb 1979 als bettelarmer Mann.

Sämtliche anhängigen Verfahren zur Entschädigung von Zwangsarbeit wurden abschlägig beschieden, außer, wenn der Antragsteller BEG-Voraussetzungen erfüllte und bislang noch keine Leistungen nach BEG erhalten hatte. Dies blieb so, bis man 1965 einen Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit ziehen wollte.

Am 26. Mai diesen Jahres erging das sog. "Schlußgesetz", das nun eine "KZ-Vermutung"; also die Annahme von KZ-Haft - bei einem Gesundheitsschaden von 25% Minderung der Erwerbstätigkeit nach einem "KZ-Aufenthalt" (so der zynische Gesetzesbegriff) vorlegte. Gesundheitsschäden durch Ghetto- und Haftaufenthalt sowie ein Leben in der Illegalität fielen nicht darunter. War ein Verfolgter vor dem 1.10.1953 gestorben (Datum der Inkrafttretung des BErgG), ging seine Witwe bislang leer aus. Erst nach dem Schlussgesetz konnte auch sie eine Hinterbliebenenrente beantragen. Darüber hinaus wurde ein Härtefonds für diejenigen eingerichtet, die nach dem 1.10.1953 aus dem Osten in die BRD eingewandert waren - ergo: die Gesetzgebung gewährte gnadenreich, statt einem Rechtsanspruch zu genügen. Die Antragsfristen waren eng gesetzt: Anträge konnten bis zum 30. September 1966 gestellt werden, zur Substantiierung wurde eine Nachfrist bis zum 31. März 1967 gewährt.

Zum Kontrast: Das Lastenausgleichsgesetz von 1952, nach dem - nichtjüdische - deutsche Vertriebene ihre in den "Vertreibungsgebieten" erlittenen Schäden entschädigen lassen konnten, kennt derartige Fristen nicht! Das Schlussgesetz ließ zudem nur Erstanträge zu. In Erwartung der erneuten Einreichung vormals abgelehnter Anträge nahm man in den §150 BEG-Schlussgesetz eilends des Absatz zwei auf. Dieser besagte, dass alle, die nach 1953 ausgewandert waren und vor Inkrafttreten des Schlussgesetzes einen Antrag gestellt hatten, abschlägig zu beschieden seien. Damit wurde rückwirkend ein Stichtag eingeführt, eben der 1.10.1953. Im vorauseilendem Gehorsam wiesen Behörden und Gerichte denn auch seit Ende 1963 - in Erwartung des neuen Schlussgesetzes - alle Ansprüche nach §150 BEG prophylaktisch ab. Tausende verloren damit ihre Berechtigung. Erst als 1971 das Bundesverfassungsgericht diese rückwirkende Festsetzung eines Stichtages für verfassungswidrig erklärte, waren die Anträge wieder durchsetzbar. Rechtsanwälte, die ihren Mandanten sechs Jahre lang abraten mussten, einen Anspruch zu stellen, konnten diesen nun mitteilen, dass es sich doch lohnen könnte, einen Antrag zu stellen. Hierzu ein konkreter Fall.

Bei der Nachfolgediskussion um den Vorsitzenden des Zentralrates der Juden scheint sich immer mehr die Position von Andreas Nachama, Vorsitzender der Gemeinde zu Berlin, durchzusetzen, wonach ein Überlebender der Shoah die Nachfolge von Bubis antreten sollte. Dies würde auf Charlotte Knobloch und Paul Spiegel hindeuten. Überraschungen sind jedoch nicht auszuschliessen.

Eine in Kanada lebende Jüdin, die vor den Nazis nach Osten geflohen und dort von den Russen ans Eismeer verschleppt worden war, entschuldigte ihre verspätete Antragstellung damit, „daß sie erst jetzt in einer jüdischen Zeitung gelesen habe, daß ein in Rußland erlittener Gesundheitsschaden entschädigt werde. Der BGH entschied, daß ihr eine solche Ungenauigkeit bei ihrer Antragstellung nicht nachgesehen werden könne, da sie weder den Titel, noch das Erscheinungsdatum der jüdischen Zeitung in ihrem Antrag genannt habe.“

Es wurde eine Menge gewährt, noch mehr wurde abschlägig beschieden und die Ausgeschlossenen blieben größtenteils ausgeschlossen; so auch die ehemals 10 Millionen Zwangsarbeiter der deutschen Wirtschaft und des deutschen Staates. Für die Entschädigungsberechtigten war es überwiegend schwer, Entschädigung zu bekommen. Nun droht nach 50 Jahren, im Mai 1999, die endgültige Verjährung. Die hier skizzierte deutsche Gesetzgebung zum Thema zeigte sich kompliziert und war daher für die Betroffenen ohne sachgemäßen Rechtsbeistand kaum zu meistern. Besonders die nicht selten gerade wegen ihrer Verfolgung verarmten und körperlich versehrten Menschen gingen und gehen leer aus. Und auf ein neues, gerechteres bundesdeutsches Entschädigungsgesetz ist nicht zu hoffen, wie Christian Kolbe darlegte: Die rotgrüne Bundesregierung wünscht keine neue Entschädigungsdebatte. Erst durch die US-amerikanische Praxis der preisgünstigeren Sammelklagen formieren sich Interessengruppen von Betroffenen, bei denen endlich auch Zwangsarbeiter zu ihrem Recht kommen können. Darüber hinaus lässt die gutachterliche Lehrmeinung in der BRD nahezu alle Erkenntnisse ausländischer Fakultäten zur Thematik "Folgen der Verfolgung" außer Betracht. "Insgesamt gesehen, hat das Entschädigungsprogramm das Leben einer ganzen Generation Überlebender sowie auch das ihrer Kinder beeinflußt, gleichgültig, ob sie Entschädigung erhielten, ob ihre Ansprüche von den westdeutschen Behörden abgewiesen wurden oder ob sie sich aufgrund moralischer Prinzipien weigerten, das so dringend benötigte Geld anzunehmen."

Gegen die so dringend gebotene Gerechtigkeit beginnt sich das Kapitel zu schließen. Alles spricht dafür, dass die, die in der Nachfolge des "Dritten Reichs" lange wegsahen und weghörten, über die obsiegten, die diesen Weg nicht gehen wollten und konnten. Mit dem bleiernen Langmut derer, die sich ihrer Schuld nicht stellen wollen, sucht sich das deutsche Volk letztlich aus seiner Verantwortung zu stehlen; ein vergeblicher, ein schändlicher Versuch.

"Niemand / zeugt für den / Zeugen" lauten die Schlußzeilen von Paul Celans Gedicht "Aschenglorie". Ein Zeuge, in Celans Gedicht und allgemein, steht ein für etwas anderes: für das Eingedenken des Schicksals anderer und für Geschehen, die sonst dem Vergessen oder Verdrängen preisgegeben sind. Zeugnis ablegen bedeutet, die eigene Person für die Wahrheit der Geschichte einzusetzen und das eigene Wort zum Bezugspunkt einer umstrittenen oder unbekannten Realität zu bestimmen, die man selbst erfahren oder beobachtet hat. Celan erinnert uns zunächst an die radikale Isolierung und absolute Singularität des Zeugen. Die Aussage eines Zeugen kann weder durch die Aussage einer anderen Person noch durch eine andere Aussage ersetzt werden. Doch steht neben Isolierung und Singularität noch weiteres: Eine Aussage wird erst dadurch zu einem Zeugnis, dass sich der Zeuge in seiner Erzählung an einen anderen richtet. Die persönlichen Belange des Zeugen werden erst in der Ansprache an andere überschritten, und die Aussage des Zeugen steht erst dann, durch diese Ansprache und diesen Anruf um Gehör, für eine universelle Wahrheit ein.

Celan bezeichnet die bezeugte Wirklichkeit in "Aschenglorie" als "Das vor euch, vom Osten her, Hin- / gewürfelte, furchtbar". Er verknüpft in diesen Zeilen die alttestamentarische Prophezeiung einer drohenden Vernichtung des Volkes Israel durch Feinde "aus dem Osten" mit Stephane Mallarmes Sinnbild des Würfelwurfs, das für den französischen Dichter schon 1892 für eine willkürlich erfahrene Realität einsteht. Das "Furchtbare", von dem Celan in seiner Dichtung Zeugnis abzulegen versucht, wird durch dieses eng verfugte Bild aus Jesajah und Mallarme als vormodern und jenseits des menschlichen Verstehens und zugleich als unvorhersehbar und außerhalb jeglicher "großen Erzählung" und somit als spät- oder postmodern gekennzeichnet. Doch für den Czernowitzer Juden Celan kam 1941 "das Furchtbare" nicht "vom Osten her", sondern aus dem Westen. Die systematische Vernichtung von Celans Familie, Freunden und Bekannten und seiner Welt, der Massenmord an den europäischen Juden, wurde dirigiert von "Meistern aus Deutschland". Trotzdem spricht Celan von etwas Furchtbarem "vom Osten her", da der Zeuge in seinem Gedicht mehr bezeugt als diese historisch und geographisch spezifische Katastrophe. Ihm fällt die Aufgabe zu, gerade auch die Spuren und Nachwirkungen der Vernichtung zu sondieren, die den historisch spezifischen Rahmen sprengen, da sie scheinbar erst heute aus dem "mythischen Gebiet "weiter im Osten", wo die NS-Verwaltung die endgültige Deportation der Juden situierte", zu uns stoßen.

Celans Dichtung ist diesen Nachbeben gewidmet, die nicht immer als solche erkennbar sind und dennoch unsere Existenz als eine "nach Auschwitz" definieren. Da bald niemand mehr am Leben sein wird, der dieses "Furchtbare" erfahren oder mit eigenen Augen sehen musste, und um sowohl den Opfern der Gewalt als auch uns selbst gerecht zu werden, wächst für uns die Verpflichtung, "für die Zeugen", die die universelle Bedeutung einer Katastrophe singulär verkörpern, durch Wahrnehmung und Handlungen Verantwortung zu übernehmen.

Es wird die Zeugenschaft als bislang übersehenes zentrales Moment in den Auseinandersetzungen um den Umgang mit dem Holocaust und den politischen, intellektuellen und persönlichen Entscheidungen über die Zukunft der Vergangenheit - über Erinnerungskultur und Entsorgung der Geschichte - herausgearbeitet. Ohne die Augenzeuginnen und -zeugen, von denen nach den Plänen der Täter niemand hätte überleben sollen, wäre unser Bild vom Holocaust böswillig verzerrt oder fehlte völlig.

Die wenigsten der Täter hätten überhaupt geredet, die vorhandenen Dokumente wären nicht entschlüsselt oder verifiziert worden, die vorhandenen fotografischen Aufnahmen wären als militärisch gerechtfertigte Partisanenerschießungen u.ä. abgetan worden, und der weltweite Unwille, gegen die Verbrechen einzuschreiten, hätte sich als allgemeines Vergessen nach dem Krieg fortgesetzt. Ohne den Zorn der Überlebenden hätte es nicht schon 1943 Augenzeugenberichte über die Lager gegeben, die im Eigenverlag erscheinen mussten. Ohne Zeugen hätten die Nachkriegsgerichte wegen unzureichender oder nicht eindeutiger Beweislage wahrscheinlich noch mehr Freisprüche wie Orden verteilt und ehemalige Handlanger des Regimes rehabilitiert, wären die populären Blendwerke von Speer und anderen nicht widerlegt worden, und die Welt hätte die Orts- und Personennamen vergessen, die zu Synonymen der Vernichtung tradierter Vorstellungen von Kultur, Aufklärung und Fortschritt wurden. "Es ist unser einziger armseliger Widerstand - dass nichts vertuscht wird, dass alle Zeugnisse erhalten bleiben", erklärt die Figur der Helene Marx schon 1933 ihrem ehemaligen Freund Karlanner, der zu den Nationalsozialisten übertritt und sie, als jüdische Deutsche, deshalb verlässt, in Ferdinand Bruckners Theaterstück "Die Rassen". Bruckner schrieb das erschütternde und dunkel prophetische Stück über die drohende Katastrophe nur wenige Wochen nach Hitlers Machtergreifung und seiner eigenen Flucht in die Schweiz; trotz seiner zeitgeschichtlichen und literarischen Bedeutung ist "Die Rassen" heute weitgehend vergessen.

Wir verdanken diesem Willen, Zeugnis abzulegen, von dem Bruckners Helene Marx spricht und der Bruckners eigene Schreibpraxis bestimmt, Victor Klemperers Tagebücher "Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten", wo die von der gesamten deutschen Bevölkerung mitangesehene tägliche Diskriminierung und Entwürdigung der Juden in Deutschland zwischen 1933 und 1945 minutiös beschrieben ist. Wir verdanken diesem Willen, dass Menschen wie der Historiker Emmanuel Ringelblum in den Jahren 1942 und 1943 die sogenannten "Oneg Shabbat"-Milchkannen mit unersetzlichen schriftlichen Zeugnissen des Untergangs und der Vernichtung der Warschauer Juden vergruben und dass die letzten Worte des bedeutenden russisch-jüdischen Historikers Simon Dubnow, den die Nazis 1933 aus Berlin vertrieben und am 8. Dezember 1941 im Getto von Riga auf offener Straße erschossen, überliefert worden sind: Shrayb un farshrayb, "Schreibt und zeichnet alles auf!"

Doch konnte auch dieser Wille der Zeuginnen und Zeugen nicht verhindern, dass die Möglichkeit, Zeugnis abzulegen, durch die extrem traumatischen Erfahrungen der Schoah selbst zumindest teilweise zunichte gemacht wurde. Die Zeuginnen und Zeugen legen Zeugnis ab von eigenen Erfahrungen, die ihnen paradoxerweise oft selbst nicht gänzlich zur Verfügung stehen, deren Ursprung nicht immer klar ist und die sie möglicherweise nicht verstehen. Dem Holocaust ist eigen, dass wir dank der Zeuginnen und Zeugen von seinem Geschehen wissen und dennoch nicht verstehen.

In vielen Fällen gab es außerdem überhaupt keine Überlebenden, die Zeugnis hätten ablegen können, sondern nur vereinzelte, verzerrende Berichte der Täter. Zwei Juden überlebten Belzec, wenig mehr Chelmno (Kulmhof), 32 Sobibór, und von 800.000 überlebten durch einen mutigen Aufstand 52 Häftlinge Treblinka, von denen nur wenige nach dem Krieg Zeugnis ablegten. Manche Historiker stützen sich dennoch eher auf apologetische und euphemistische Dokumente der Täter und nur bedingt auf existierende Augenzeugenberichte und mündliche Überlieferungen, da die Zeugen selbst oft unerträgliche oder entwürdigende Details ihrer eigenen Erfahrungen auslassen, angeblich nichts zur "historischen Faktenlage" beitragen oder - was in Berichten über die systematischen Zerstörungsversuche von kollektiver und individueller Identität ein fragliches Kriterium ist - da sie zu "subjektiv" sind.6 Oder nicht direkt betroffene Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie der Franzose Andre Schwarz-Bart, die Amerikanerin Cynthia Ozick, der Israeli David Grossman, der Deutsche Günter Grass oder die Österreicherin Elfriede Jelinek müssen Verantwortung für die Wahrheit einer Geschichte übernehmen, deren Überlieferung denjenigen, die diese Geschichte selbst durchmachen mussten, nun nicht noch zusätzlich aufgebürdet werden kann.7 Damit die Wahrheit der extrem traumatischen Erfahrungen ans Licht gelangt, benötigen Augenzeugen eine Art der Zuhörerschaft, die sich als sekundäre Zeugenschaft, als Zeugenschaft durch Vorstellungskraft oder als "Zeugenschaft der Erinnerung" verstehen läßt.

Auch dies ist Celans "für den Zeugen zeugen": die Aufnahme der Zeugenaussagen im Bewusstsein, dass auch unsere Zeugenschaft heute in Frage gestellt ist. Wenn die ursprünglichen Zeugen sprechen wollen, muss ihre Last geteilt werden. Da die Zeuginnen und Zeugen als Gedächtnisträger jedoch singulär und nicht zu ersetzen sind, müssen die Grenzen und Risiken dieser Form der sekundären Zeugenschaft sorgfältig untersucht werden.

Wie steht es also mit dieser Verpflichtung und der Möglichkeit, zusammen mit den Zeuginnen und Zeugen von Geschehen, welche die Rahmen des Verstehens und der Erfahrung überschreiten, Verantwortung für eine Vergangenheit zu übernehmen, die man selbst nicht direkt erlebt hat?

Maurice Blanchot hat den Holocaust als "Ereignis ohne Zeugen" bezeichnet: als eine Krise der Zeugenschaft, die individuelle und kollektive Verhaltensweisen bis in die Gegenwart bestimmt, da das geschichtliche Ereignis die Möglichkeit der Zeugenschaft radikal in Frage stellt. "Die Notwendigkeit, Zeugnis abzulegen", so Blanchot, "ist die Verpflichtung einer Zeugenschaft, die nur von unmöglichen Zeugen - von Zeugen des Unmöglichen - abgelegt werden kann, und nur in der Singularität eines jeden einzelnen; manche haben überlebt, doch ihr Über-Leben ist nicht länger Leben, es ist der Bruch mit der lebenden Bejahung, die Bezeugung dessen, dass das, was das Leben ist (nicht das narzisstische Leben, sondern das Leben für den anderen) den entscheidenden Anschlag erlitten hat, der nun nichts mehr intakt lässt."

Die Autorinnen und Autoren des Bandes "Niemand zeugt für den Zeugen" stellen sich den Auswirkungen dieser historischen Krise der Zeugenschaft und diesem Über-Leben, das nicht länger Leben im herkömmlichen Sinne ist. Statt sich auf die mittlerweile zu Klischees abgewerteten Begriffe der "Unsagbarkeit" oder "Undarstellbarkeit" von Auschwitz zu berufen, mit denen direkt nach dem Krieg die weitverbreitete Indifferenz gegenüber den Zeugnissen von Überlebenden gerechtfertigt wurde und die z. B. von Jorge Semprun und Georges Perec in ihren Werken bekämpft werden, arbeitet der vorliegende Band Fragen heraus, die über die historische Spezifizität des Holocaust hinausgehen.

Die nicht nachlassende Beschäftigung mit dem Holocaust als Ereignis, das unser Begriffs- und Deutungsvermögen übersteigt, wird darauf zurückgeführt, dass moralische, politische und kulturelle Grundannahmen der Nachkriegsdemokratien sich nur im Bewusstsein der radikalen Krise der Zeugenschaft verstehen lassen, als die der Holocaust hier erstmalig konsequent verstanden wird.

Können Personen, die ein traumatisches Ereignis selbst nicht erlebt haben, für die Zeugen, die ihre eigenen Erfahrungen aufgrund der aus dem Trauma resultierenden Ohnmacht selbst nicht gänzlich belegen können, eine Art Mitverantwortung für die Vergangenheit oder sogar eine Art "stellvertretende Zeugenschaft" übernehmen?

In der deutschen Forschung sind theoretisch fundierte Überlegungen zur Zeugenschaft, wie sie hier vorgestellt werden, noch ein Desiderat. Dafür gibt es mehrere Gründe: Die Berichte der nichtjüdischen Zeitzeugen und der Täter lassen sich in der Regel in "den Rahmen kultureller Erinnerungsmuster" der deutschen Nachkriegsgesellschaft einpassen und machen somit eine theoretisch fundierte Erfassung des Aktes und der Bedingungen der Zeugenschaft nicht erforderlich.

Die Rezeption der Berichte von jüdischen Überlebenden wiederum beschränkt sich weitgehend auf zum Teil in hohem Maße literarisierte Darstellungen, die tradierten Erzählmustern folgen. Der Welterfolg von zwei so unterschiedlichen Werken wie Elie Wiesels Nacht und dem Tagebuch der Anne Frank rührt beispielsweise auch daher, wie diese beiden Publikationen ganz bewusst - und notwendigerweise - auf ein nicht ausdrücklich jüdisches, sondern allgemeines europäisch-amerikanisches Publikum zugeschnitten wurden. Die Ehrfurcht im Umgang mit den Zeugenaussagen von Überlebenden mag selbst der begründeten Furcht entspringen, dass kritische Ansätze sich allzu leicht als Ausdruck niederer Motive auslegen lassen.

Die theoretische Überlegung, dass es so etwas wie eine sekundäre oder stellvertretende Zeugenschaft gibt, könnte aber auch das Primat und die Authentizität des Augenzeugens in Frage stellen. "Authentizität" der Zeugenschaft bedeutet in diesem Kontext die Beweiskraft und Glaubhaftigkeit des Zeugnisses für eine von der Zeugin oder dem Zeugen erlebte Wirklichkeit. Geht man vom Primat der Zeugenschaft aus, so setzt man voraus, dass Augenzeugenberichte glaubhafter als Nacherzählungen sind, selbst wenn diese noch so einfühlsam und ausdrucksstark formuliert werden. Wird eine sekundäre Zeugenschaft jedoch anerkannt, zersetzen wir dann nicht die vielbeschworene Differenz zwischen den ursprünglichen, authentischen Erfahrungen der Opfer und dem Nacherleben derjenigen, die später auf deren Aussagen treffen? Sobald man die Mithilfe an und die aktive Aufnahme der Zeugenschaft so versteht, dass jemand "für die Zeugen zeugt" und für die Wahrheit dessen, was man nicht selbst erlebte, eine Verantwortung übernimmt, droht der Unterschied zwischen authentischer Erfahrung und vorgestelltem Leid, zwischen geschichtlicher Wahrheit und konstruierter Nacherzählung, zwischen Realität und Rhetorik, zwischen Fakt und Fiktion zu schwinden.

Es wäre jedoch falsch, die sorgfältige Analyse der Unterschiede, der Struktur und insbesondere die Auseinandersetzung mit der erschütternden Spaltung im Inneren der Zeugenaussagen abzulehnen, da solche Gedankengänge unweigerlich dazu führen würden, dass man der extremen Erfahrung, wie sie die Überlebenden erlitten, ihre singuläre Bedeutung oder Wirklichkeit abspricht. Die Begriffe des "Authentischen" und der "Erfahrung" sind in diesem Jahrhundert auf das Furchtbarste durch Ereignisse erschüttert worden, die die Grenzen des Erfahrbaren überschritten. Die Zeuginnen und Zeugen extremer Katastrophen tragen die Erinnerung an eine Erfahrung in sich, deren Mitteilung keinesfalls immer befreiend wirkt, sondern selbst als traumatisch erlebt wird. Die zerstörerische psychische Gewalt des ursprünglichen Traumas lässt in vielen Fällen eine Einarbeitung in das Gedächtnis nicht zu.

Diese als "Fremdkörper in der Seele" empfundene Erinnerung drängt auf Mitteilung und muss möglicherweise zugleich vom Bewusstsein der Zeugin oder des Zeugen ferngehalten werden, da durch die Zeugenaussage Affekte mit einer dem ursprünglichen Trauma fast vergleichbaren Gewalt hervorbrechen können. Indem von dieser Wirklichkeit vor einer anderen Person Zeugnis abgelegt wird, kann die einzelne Person durch diese Mitteilung vom psychischen Druck der Erinnerung zumindest teilweise entlastet werden. Um das Zeugnis überhaupt hervorzubringen und um diese Erleichterung zu ermöglichen, bedarf es dieser zuhörenden Person, die eine Art der zweiten Zeugenschaft übernimmt.

Doch sollte man die antithetischen Begriffe der "authentischen Erfahrung" und der "sekundären Zeugenschaft" oder des "Nacherlebten" nicht einfach verwerfen. Sie lassen sich vielmehr unter Berücksichtigung eines nuancierten Verständnisses der wesentlichen und paradoxen Nichterfahrbarkeit von traumatischer Erfahrung dekonstruieren. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes stellen die Frage in den Vordergrund, inwieweit unser eigenes Denken und Verhalten in der Gegenwart einem nicht immer eingestandenen oder bewussten Verständnis dieser historisch belasteten Begriffe verschrieben ist. Beispielsweise wird uns der verdeckte Zusammenhang zwischen dem Alltagsbegriff der "Authentizität" und den belasteten Begriffen der "Echtheit" und "Reinheit", in deren Namen Millionen von Menschen für lebensunwürdig befunden und vernichtet wurden, erst langsam bewusst. Jacques Derrida hat die Ergründung dieser Verstrickung des eigenen Denkens und Sprechens in die Katastrophe als die unumgängliche Aufgabe unseres Denkens nach Auschwitz bezeichnet: "Gäbe es aber eine solche Lehre, eine einzigartige Lehre unter den stets einzigartigen Lehren, die man aus einem besonderen Mord, aus allen kollektiven Vernichtungen der Geschichte ziehen könnte (jeder individuelle Mord, jeder Kollektivmord ist ein Singuläres, ist also unendlich und unvergleichlich), so wäre die Lehre, die wir heute daraus ziehen können (und wenn wir sie ziehen können, müssen wir es auch tun), die, dass wir die mögliche Mitschuld all dieser Diskurse am Schlimmsten (hier geht es um die Endlösung), die mögliche komplizenhafte Verbindung, die zwischen diesen Diskursen und dem Schlimmsten besteht, denken, erkennen, vorstellen, formatieren, beurteilen müssen."

Statt den Begriff der Authentizität abzulehnen und damit die Singularität und nicht zuletzt auch Unentschiedenheit der Augenzeugenberichte in Frage zu stellen, zeigen die Beiträge dieses Bandes anhand der verschiedenen Formen und Dimensionen der Zeugenschaft, dass sich die Bedeutung von Authentizität in der Auseinandersetzung mit dem Wesen der Zeugenschaft verändert. Die Frage, wer das Recht auf die Echtheit und Glaubwürdigkeit einer Aussage beanspruchen kann - wer beispielsweise die extremen Erlebnisse von Opfern darstellen oder wiedergeben darf, die sich der Erfahrung selbst entziehen -, findet ihre Antwort darin, dass Authentizität sich nicht in der Zeugenaussage lokalisieren lässt. Die Wahrheit der Zeugenaussage, so zeigen diese Beiträge, entsteht und existiert vielmehr nur in und durch ihre Mitteilung; ohne ein Gegenüber, ohne eine zuhörende Person, kann eine Aussage nicht zum Zeugnis werden.

Alle Aufsätze widmen sich dieser schwierigen Einsicht im Bewusstsein der abgründigen und undurchdringlichen Stille, die sowohl hinter den leisesten wie auch ausdrucksvollsten Zeugenaussagen und selbst noch hinter dem Metapherngestöber der Kommentare herrscht; die Autorinnen und Autoren schreiben im Bewusstsein des Schweigens, das heute, aus dem Ereignis der Shoah heraus, von uns eine angemessene Antwort verlangt. Alle Beiträge verstehen das Wesen der Zeugenschaft als dialogischen Aufruf und Appell an die Verantwortung. Authentizität kann folglich nicht mehr so verstanden werden, als "gehöre" sie den Augenzeugen oder kennzeichne diese wie das unsichtbare Wasserzeichen in einem von der Geschichte selbst abgestempelten imaginären Pass. Authentizität ereignet sich vielmehr erst durch die Mitteilung des Zeugnisses an andere. Die diffizile Frage nach der Möglichkeit einer sekundären Zeugenschaft späterer Generationen wird somit nicht als Enteignung der Zeugnisse erster Hand aufgefasst, sondern als ein notwendiger und verantwortungsvoller und schließlich kritischer Vorgang der Rezeption und Aufnahme der Zeugnisse, durch welchen die Last der Überlieferung von Erfahrungen jenseits des Erfahrbaren mit den Zeuginnen und Zeugen geteilt wird.

Zeugnis ablegen zu müssen ist keine Auszeichnung. Für viele Überlebende von systematischer Gewalt wird der Moment, "wenn die Erinnerung kommt", um hier Saul Friedländers Ausdruck aufzugreifen, als weitere Traumatisierung erfahren. Die Aufgabe, Zeugnis abzulegen, scheint in manchen Fällen kaum vernarbte seelische Wunden wieder aufzureißen und die ursprüngliche Entwürdigung und das Leid zu wiederholen.

In ihrer Furchtbarkeit jagen die Zeugenaussagen über die Schrecken der Shoah nicht nur den Zuhörenden, sondern den Zeuginnen und Zeugen selbst Angst ein. So kommentiert ein norwegischer Überlebender von Dachau seine eigene Zeugenaussage mit den Worten, dass ihn die eigene Fähigkeit, unmenschliche Erfahrungen auszudrücken, nicht entlaste, sondern ihm im Gegenteil Furcht einflöße und ihn immer weiter von sich selbst entfremde. Die Selbstmorde von Paul Celan, Jean Amery, Primo Levi, Bruno Bettelheim und Richard Glazar und die Texte von Jorge Semprun sind ernüchternde Mahnungen daran, dass das Ablegen eines Zeugnisses oft wie unter Zwang geschieht und als überwältigende Verpflichtung keinesfalls immer befreit. Leicht verdecken Warnungen, dass Außenstehende als "sekundäre Zeugen" die Glaubwürdigkeit der Berichtenden und deren "Schlüsselrolle in der Erinnerung an den Holocaust" in Frage stellen könnten, den Mangel an Willen, sich der spezifischen Gewalt und der allgemeinen Bedeutung dieser Vergangenheit bewusst zu werden. Diese sekundäre Form der Zeugenschaft, wenn sie nicht usurpatorisch die Erfahrungen von anderen vereinnahmt, sondern durch das Ablegen des Zeugnisses Verantwortung mit den Zeuginnen und Zeugen teilt, wäre eine Antwort auf die Gefahr einer zweiten Traumatisierung dieser Zeugen.

Die Befürchtungen, dass die ursprünglichen Erfahrungen durch solche Zeugen zweiten Grades vereinnahmt werden können, entsprechen nicht immer dem Interesse oder dem Bedürfnis der traumatisierten Opfer. Auch wenn die singulären Erfahrungen ehemaliger Verfolgter vor der wiederholten Enteignung und Instrumentalisierung durch diverse Interessengruppen geschützt werden müssen, wird in solchen Argumenten leicht die radikale Entfremdung und Spaltung im Innern der traumatischen Erfahrung übersehen, die aufgrund der systematischen Erniedrigung und Vernichtung dazu führen, dass die Betroffenen sich ihrer extremen Erfahrungen - der Splitter der Geschichte - nicht einfach durch eine "authentische" Zeugenaussage entledigen können. Um zum Erinnern und Gedenken beitragen zu können, benötigen die Zeuginnen und Zeugen oft selbst eine Art Hilfe - ein Gegenüber, zu dem der vorliegende Band ermutigen soll -, die in einem Bewusstsein über unsere sich fortwährend ändernde Aufnahmefähigkeit für die Grauen der Vergangenheit und Gegenwart gründen muss.

Durch eine Analyse der Möglichkeiten und Einschränkungen der Zeugenschaft nach der Shoah werden wir schließlich mit der Frage konfrontiert, ob wir heutzutage nicht außer für die Wahrheit geschichtlicher Ereignisse auch für die Geschehen in der Gegenwart, hier "bei uns" sowie "jenseits" der selbstgerechten Grenzen der eigenen Lebenswelt, eine Art Zeugenschaft und Verantwortung übernehmen können und müssen. Wenn das Bezeugen der Geschichte den Opfern selbst überlassen wird, versäumen wir eine wichtige Gelegenheit, das von anderen erlittene Leid im Verhältnis zur eigenen Geschichte zu sehen und uns somit der eigenen Rolle und Verantwortung in dieser Geschichte und in der Gegenwart bewusst zu werden.

Es geht also nicht darum, "das authentische Geschehen der Vernichtung im eigenen Erleben wiederzuentdecken" - was immer dies bedeuten mag -, wie in Deutschland bisweilen angemahnt wird. Gerade im Land der Nachfahren der verängstigt oder angewidert Weitereilenden, der missgünstigen Zaungäste und Schaulustigen und derjenigen, die kurz nach dem Abtransport ihrer jüdischen Nachbarn und Bekannten "nach Osten" den Inhalt der von diesen zurückgelassenen Koffer und Taschen offiziell ersteigerten oder auf offiziellen Märkten für Spottpreise erstanden, verleitet eine oft lähmende Ehrfurcht vor dem Primat der "authentischen" Zeugenschaft der Überlebenden dazu, die eigene unverarbeitete Geschichte auf Distanz zu halten und Auschwitz zu einem entfernten und "nicht darstellbaren" Ereignis zu erklären, zu etwas Furchtbarem, was "bei uns" nicht zu finden ist.

Es geht aber auch nicht darum, sich mit den Opfern zu identifizieren, denn im Versuch der Identifikation wird unweigerlich der brutale Anschlag auf die Identität der Opfer, welche die traumatische Erfahrung kennzeichnet, zugunsten der psychologischen Befriedigung der Zuhörer durch die Projektion des Selbst auf andere übergangen oder verkannt.

Auch wenn der Begriff einer kritischen sekundären Zeugenschaft in der Absicht abgelehnt wird, die teilweise jahrzehntelang ignorierten schriftstellerischen und künstlerischen Zeugnisse der Überlebenden als eigenständige Werke bruchlos der deutschen Nachkriegskultur einzuverleiben, ist das Risiko, dass diese Werke damit vergessen werden, zu hoch. Die Zeugenaussagen, die im Namen einer unantastbaren Authentizität somit letztlich sich selbst überlassen bleiben, werden in der Flut der Dokumente versinken. Geschichte erzählt sich nicht von selbst, und die Zeugenaussagen, die unsere Auffassung von Kultur, Sprache und Menschlichkeit radikal in Frage stellen und uns an die Grenzen des Bekannten und Vertrauten bringen, sind alles andere als selbstverständlich.

Wenn die Möglichkeit einer Mitverantwortung von Nichtbeteiligten für die Zeugenschaft der Vergangenheit noch nicht einmal erwogen wird, werden die Augenzeugen schließlich in eine intellektuelle Sperrzone der "Authentizität" verbannt, die den radikalen Weltverlust und die traumatische Isolierung der Betroffenen in der ursprünglichen Erfahrung nun auf der Rezeptionsebene zu wiederholen scheint. Außerdem entfällt somit der Gedanke, dass auch unbeteiligte, entfernte und später geborene Zuschauer nicht nur fähig, sondern verpflichtet sind, eine nachträgliche Form der verantwortungsvollen Zeugenschaft für die Aussagen der traumatisierten und somit per Definition psychologisch überforderten Zeuginnen und Zeugen zu übernehmen.

Der Begriff der sekundären Zeugenschaft betrifft nicht die "deutsche Schuldphantasie" einer Kollektivschuld, welche die Debatten der ersten Nachkriegsjahrzehnte, durch Karl Jaspers ursprünglich 1946 veröffentlichten Text Die Schuldfrage angeregt, bestimmte. Wie Lawrence Douglas "Zeugenschaft und Medien" des Bands "Niemand zeugt für den Zeugen" belegt, vermieden die Alliierten den Begriff der Kollektivschuld schon in den Nürnberger Prozessen aus juristischen und politisch-strategischen Gründen; die Überlebenden selbst hätten einen solchen Vorwurf nur erheben können, wenn in Deutschland ein entsprechender "kollektiver" Wille existiert hätte, ihnen zuzuhören und auf diesen Vorwurf einzugehen. Die Deutschen waren nach dem Krieg für eine Weile damit beschäftigt, sich als Volk der vom "Führer" Verführten zu begreifen. Doch durch die Arbeiten von Walter Laqueur, Raul Hilberg, lan Kershaw und anderen Historikern ist deutlich geworden, dass die Frage nach der Kollektivschuld vielleicht von Beginn an falsch gewichtet war. Auch wenn jüngere Beiträge zur Erinnerungskultur mit dem erhobenen Zeigefinger der Nachgeborenen selbstgerecht darauf beharren, bestand und besteht die überwältigende Mehrheit der deutschen Nachkriegsbevölkerung nicht aus den "Angehörigen und Nachkommen der Täter", willigen Vollstreckern oder einem politisch immer noch existierenden "Täterkollektiv", sondern aus Millionen von Zeuginnen und Zeugen.Sicherlich lässt sich seit dem Medienwirbel um Daniel Goldhagens Bestseller und der vom Hamburger Institut für Sozialforschung vielerorts gezeigten Ausstellung über die "Verbrechen der Wehrmacht" die bestürzend hohe Anzahl von Tätern (und Zeugen) der fanatisch betriebenen Ausrottung der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung in Osteuropa unter den deutschen Soldaten nicht mehr abstreiten. Doch die deutsche Zivilbevölkerung bildete in ihrer Mehrheit eine Gemeinschaft von Zeuginnen und Zeugen, die der systematischen Ausgrenzung, Entwürdigung, Beraubung, Diskriminierung, Misshandlung, Verfolgung und Vertreibung der Juden und "Zigeuner" aus ihrer Heimat beiwohnten, ein Prozess, der der systematischen Vernichtung "im Osten" neun lange Jahre vorausging.

Mit dem Begriff der sekundären Zeugenschaft wird das Problem der unzureichenden Strafverfolgung der Täter und die letztlich unergiebige Frage nach der Kollektivschuld, die den Diskurs bis in den Historikerstreit und die Denkmaldebatte hinein polarisierte und schließlich oftmals zum Erliegen brachte, durch die Fragestellung über die Verantwortung der Zuschauer, der Dabeistehenden, der Zeugen ergänzt. Die vorliegenden Beiträge widmen sich dieser Problematik der Zeugenschaft, da in der gedanklichen Annäherung an den Holocaust offen blieb, wo die Grenzen zwischen Passivität, Billigung, Zustimmung, Beifallsbezeugung, Mitverantwortung und Beihilfe zu ziehen sind. Alle Aufsätze in diesem Band gehen von der Frage aus, wie die Erfahrung, durch die man zum Zeugen von etwas wird - ohne notwendigerweise zu verstehen, was erlebt oder gesehen wird -, in den Akt umgesetzt werden kann, durch den von dieser Erfahrung Zeugnis abgelegt wird. Es geht um das Verhältnis zwischen dem nicht immer voll bewussten und oft passiven Zum-Zeuge-Werden und dem Ablegen eines Zeugnisses. Es geht darum, wie Einzelpersonen und ganze Teile der Gesellschaft zufällig oder gewollt ein Geschehen mitansehen, aber diesen Teil der Wirklichkeit - auf noch unzureichend verstandene Weise - dann ausblenden, d.h. nicht in ihr Bild der Realität einlassen können. Es geht darum, wann und wie der Akt der Wahrnehmung zum Akt des Bezeugens und schließlich zum Bewusstsein der Verantwortung für die mitangesehene Realität werden kann.

Dass diese Fragestellung heute von zunehmender Bedeutung ist und über die spezifische Situation des Holocaust hinausgeht, zeigen zwei eigenständige Positionen, die unabhängig vom medialen oder akademischen Diskurs über den Holocaust entwickelt wurden und zentrale Punkte der gegenwärtigen Debatte über Verantwortung umreißen. So argumentiert Hans Magnus Enzensberger 1993 in seinen provokanten Aussichten auf den Bürgerkrieg, worin er sich auch auf die deutsche Passivität während der Nazizeit bezieht, dass Verantwortung heute zu einer permanenten Überforderung geworden ist. "Jede Ethik der Verantwortung", schreibt Enzensberger in seinen Betrachtungen zu gewalttätigen Konflikten, die sich sowohl fern als auch in unserer Nähe ereignen, hat es mit der "quälenden Ausweglosigkeit zu tun, die sich am Extremfall zeigt".

Diese Ausweglosigkeit resultiert aus folgender Lage: Da wir mittlerweile mit minimaler Verzögerung in Bild und Text Berichte von Grausamkeiten empfangen, die vor einem halben Jahrhundert erst Tage, Wochen oder Monate nach ihrem Geschehen an die Weltöffentlichkeit drangen, befinden wir uns pausenlos in einem Zustand der leichten moralischen Benommenheit oder, mit Enzensbergers Worten, in einer Lage der "psychischen und kognitiven Überforderung". Wie soll man auf das uns täglich ins Haus gelieferte Leiden in der Ferne angemessen reagieren? Wenn wir durch die Medien ein Geschehen live mitverfolgen können, das unser Gerechtigkeitsgefühl zutiefst verletzt, steht es uns dann noch frei, nur die am Ort Anwesenden und direkt Betroffenen für das Bezeugen dieses Vorfalls verantwortlich zu machen?

In seinen Überlegungen zu dieser ständigen moralischen Überforderung kritisiert Enzensberger die universalistische Ethik, da wir uns, wenn wir uns nach ihr richten, angesichts der medialen Überflutung mit schockierenden und unüberschaubaren Konflikten zwangsläufig einigeln und schließlich unsere moralische Entrüstung und unsere Reaktions- und Handlungsfähigkeit ganz abschalten. Enzensberger folgert daraus, dass wir die Nächstenliebe höher setzen sollten als die Fremdenliebe und uns "insgeheim" eingestehen müssen, dass wir uns zuerst, auch auf Kosten anderer, um unsere unmittelbare Umgebung und unsere eigene Zukunft - sprich "unsere Kinder" - kümmern sollten.

Im Gegensatz zu dieser scheinbar "pragmatisch" orientierten Antwort auf die Krise der Zeugenschaft, in die uns die täglich übertragene Gewalt bringt, insistiert Derrida in Politiques de l'amitie, worin er die belasteten Begriffe der Freundschaft und Brüderlichkeit dekonstruiert, darauf, dass die Verantwortung nicht auf diese Weise dem berechnenden Denken preiszugeben sei.

Im Kontext einer Lektüre der Texte zur Ethik von Emmanuel Levinas entwickelt Derrida Verantwortung als etwas, das per Definition unsere Fähigkeiten übersteigt und sich so "der Vorherrschaft der Interessen des Ichs entzieht".

Wenn man Verantwortung im Rahmen des Machbaren und Möglichen und der Vor- und Nachteile einer Handlung kalkuliert, handelt man nicht verantwortlich, sondern berechnend. Derrida definiert den Begriff der Verantwortung als den Aufruf zur Anerkennung des Anderen, der uns vor jeglicher gesetzlichen oder empirischen Verpflichtung und vor der Möglichkeit erreicht, diesen Aufruf abzulehnen oder anzuerkennen. Derrida schlägt vor, den Begriff der absolut unberechenbaren Verantwortung nicht als Verwässerung und Nivellierung der Ethik, sondern als Vermittlung zwischen den partikularen Anforderungen der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem universalistischen Anspruch der Verantwortung zu denken.

Auch wenn Enzensberger und Derrida daraus andere Schlüsse ziehen, bestehen sie auf der grundsätzlichen Überforderung, die aus der Verantwortung entsteht, für die Erfahrung und die Aussagen von anderen zu zeugen. Zwischen den Partikularinteressen des einzelnen und den unerfüllbaren Anforderungen einer universellen Verantwortung lässt sich nun genau das Problem der Zeugenschaft als eine Handlung situieren, die sich nur im und als Austausch zwischen Personen oder Gruppen ereignen kann.

Es geht im vorliegenden Band um die Gegenseitigkeit dieser Beziehung - um ebendiese vermittelnde Funktion zwischen dem universellen Anspruch der Verantwortung für andere und der singulären Bedürfnisse des einzelnen, die durch die Zeugin oder den Zeugen eingenommen wird. Es geht um die von Enzensberger und Derrida besprochene ethische Verpflichtung, für geographisch, kulturell oder zeitlich entfernte Geschehen - ob 50 Jahre zurück oder fünf Meter entfernt - Zeugnis abzulegen. Die Verfasserinnen und Verfasser des Bandes schreiben in dem Bewusstsein, dass die nach Auschwitz aufgeworfenen beunruhigenden Fragen nach der Authentizität und dem Primat der Zeugenschaft für niemanden vermeidbar sind. Da sie die Ehrfurcht vor einer sakrosankten authentischen Erfahrung durch eine Neudefinition des Begriffs der Verantwortung abbauen, wird deutlich, dass sich niemand für geschichtlich und geographisch ferne Geschehnisse unzuständig erklären kann. Ganz gleich, auf welche Identität oder Gruppenzugehörigkeit wir uns berufen, hat die Vernetzung der Medien uns alle zu Nachfolgern eben jener "Zuschauer" in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt gemacht, die vor einem halben Jahrhundert die von Deutschen ausgeführte Vernichtung der europäischen Juden geschehen ließen.

Unser eigenes Alltagsverhalten muss dieser Einsicht folgen und das Gefühl der moralischen Benommenheit, das eher zu- als abnimmt, in politisches Bewusstsein und Handlungen auflösen, durch welche die Rechte von Minderheiten untrennbar mit den Interessen der Mehrheit - in politischen, gesellschaftlichen und privaten Einrichtungen - verknüpft werden.

Die Auseinandersetzung mit den Leiden der Vergangenheit und den Leiden anderer kann in verantwortlichem Handeln münden, statt in der unmöglichen Einfühlung und Identifikation mit den Toten, in Verdrängung, in politisch lähmendem Mitleid, in melancholischer Fixierung oder im stummen Entsetzen über die schockierende Fremdheit der traumatischen Erfahrung zu enden.

Für den Zeugen zu zeugen, um auf Celan zurückzukommen, ist letztlich eine Aufgabe für uns selbst und bedeutet, um dies mit einer Formulierung von Cathy Caruth in diesem Band auszudrücken, "nicht das einfache Verstehen der [traumatischen] Vergangenheit von anderen, sondern vielmehr unsere Fähigkeit, innerhalb der Traumata der zeitgenössischen Geschichte die Bewegungen zu vernehmen, die uns alle von uns selbst weggeführt haben". Die Auseinandersetzung mit den Traumata der Geschichte führt zu einer zentralen Frage dieses Bandes, wie sich eine ethische Position in der Gegenwart einnehmen lässt.

Die Tatsache, dass in den mittlerweile mit symptomatischer Regelmäßigkeit in den deutschen Medien inszenierten öffentlichen Debatten über das Nachwirken des Holocaust einige der hier aufgeworfenen Fragen bisher nicht ausreichend berücksichtigt wurden, kann als kulturspezifisches Phänomen erklärt werden. Das Denken über die "Erfahrung" der Shoah wird oft "Betroffenen" zugeteilt, als ginge dieses Ereignis nicht alle Deutschen so direkt an, dass auch wohlmeinende Distanz - die durch ein reges Interesse an jüdischem Leben und philosemitische Bekundungen keineswegs verringert wird - leicht zu Verleugnung und Selbstschutz auf Kosten anderer wird. An vielen Zeugenaussagen ist zu erkennen, dass diese selbst ihre Autorität in Zweifel ziehen - deshalb fragen die hier versammelten Autorinnen und Autoren nach der Bedeutung von Zeugenaussagen, die über ein Verständnis der Geschichte als Wissensbildung hinausgeht. Die vorliegenden Beiträge präsentieren theoretisch fundierte und pädagogisch umsetzbare Überlegungen dazu, wie die jetzt aufwachsenden Generationen die Geschichtserfahrungen ihrer Vorfahren bezeugen und Verantwortung für Geschehen in der Gegenwart übernehmen können.

"Wo flammt ein Wort, das für uns beide zeugte", fragt Celan in dem 1965 verfassten Gedicht "Ich kenne dich". Celan lenkt unsere Aufmerksamkeit darauf, dass auch sekundäre Zeugenschaft eine Überforderung sein kann; dass die Zeuginnen und Zeugen zwar von einem Gegenüber entlastet werden können, doch dass diese schmerzliche Aufgabe für dieses Gegenüber dann ebenso unerträglich ist.

Jan Karski, der als Kurier der polnischen Exilregierung 1942 ins Warschauer Getto und ein Lager eingeschleust wurde und dann den Alliierten, dem amerikanischen Präsidenten und der Welt von der Massenvernichtung der polnischen Juden Bericht erstattete, bezeichnete seine gesamte Nachkriegsexistenz nach dem Erfüllen dieser offiziellen, aber auch persönlichen Aufgabe als emotional "leer" und ausgebrannt. Ebenso wie der Überlebende Abraham Bomba, der von seiner Aufgabe, Zeugnis abzulegen, völlig überfordert war, bricht Karski in Claude Lanzmanns Film Schoah vor der Kamera in Tränen aus und unterbricht das Interview, als er von seiner Besichtigung des Gettos vor Jahrzehnten berichten soll. Da wir als Zuschauer solcher Szenen in der Gegenwart der anhaltenden seelischen Belastung und der lebenslangen zerstörerischen Wirkungen dieser Geschichte selbst ebenso überfordert werden, brauchen wir Texte und Darstellungsformen, die unsere übermäßige Belastung durch das Empfangen von Zeugnissen zugleich auffangen und umsetzen können. Neben der Wichtigkeit der sekundären Zeugenschaft soll hier deshalb auch die Schwierigkeit unterstrichen werden, die entsteht, wenn wir versuchen, auf Zeugnisse verantwortungsvoll zu reagieren.

Wo besteht ein Wort, fragt Celan, "wo flammt ein Wort", welches diese zweifache Belastung seitens der Zeugen und seitens der Zuhörer zugleich bezeugen und mindern könnte? Das Wort, das diese Doppelung der Überforderung des Zeugen durch die Aufgabe des Publikums ausdrücken könnte, wäre ein "flammendes Wort": ein Wort, das auflodert, bevor es der Vernichtung durchs Feuer anheimfällt. Was zu lesen bleibt, sind Spuren, Asche, Abdrücke, sprich die Umrisse dessen, was aus der deutschen Sprache und Kultur für immer verloren ist und nun als unwiederbringliche Abwesenheit dieser Sprache und Kultur von innen ihre Form, und möglicherweise ihre Bestimmung für die Zukunft, gibt.

Was für ein Gewinn lässt sich aus der Auseinandersetzung mit Zeugenaussagen über eine so erschreckende Wirklichkeit wie die Shoah ziehen? In seinem Beitrag "Intellektuelle Zeugenschaft und die Schoah" entwickelt Geoffrey Hartman das Konzept der "intellektuellen Zeugenschaft", die die Zeugenschaft der Überlebenden nicht verdrängt, sondern deren Anspruch auf Zuhörerschaft gerecht wird. In seiner provokanten Verteidigung des kritischen Denkens und Lehrens und des reflektierenden Innehaltens untersucht Hartman, ob nach der Shoah die Rolle des Intellektuellen, wie vielerorts behauptet, wirklich einem notwendigen Pragmatismus weichen muss.

Auf Hartmans passionierte Rechtfertigung des Denkers im Umgang mit der Shoah folgt Lawrence Langers Aufsatz zur Zeiterfahrung in den Zeugenaussagen von Holocaust-Überlebenden. Als Verfasser der wichtigsten Studien zu Videozeugnissen über den Holocaust zeigt Langer, wie der Holocaust nicht nur traditionelle Formen des Erinnerns, sondern auch das allgemeine Verständnis einer durch die Zeit sich entwickelnden Erfahrung zum Erliegen bringt. Durch eine genaue Analyse des Paradoxes der "fortwährenden Dauer" führt Langer vor, wie vorhandene zwangsläufig abstrahierende und teleologische Diskurse nach der Shoah umzudenken sind.

In einem Artikel legt Cathy Caruth dar, dass das Bezeugen des Traumas zwangsläufig die starre Zeitlosigkeit des Traumas durchbrechen muss und somit auch ein Sakrileg an seiner Integrität bedeuten kann. Wie auch Langer betont Caruth, dass der Appell an einen Zeugen schon immer in die traumatische Erfahrung eingeschrieben ist. Caruth erkennt die absolute Genauigkeit der traumatischen Erfahrung als ein Symptom des Leidens und weist darauf hin, dass diese Genauigkeit keinesfalls fetischisiert werden darf und nicht nur in Psychiatrie und Therapie, sondern für uns alle neue Formen der Darstellung, des Denkens und des Handelns erforderlich macht.

Die Frage, wie Überlebenden des Holocaust eine Art Hilfestellung für ihre Zeugenschaft gegeben werden kann, wird von Dori Laub in seinem Beitrag behandelt. Laub analysiert, inwieweit einzelne Zeugen in ihrem Versuch der Darstellung der traumatischen Vergangenheit von der Hilfe und notwendigerweise begrenzten Aufnahmefähigkeit anderer abhängen. Der Rahmen eines rein historisch orientierten Verständnisses der Wirklichkeit kann, so Laub, durch das Konzept einer dialogischen Zeugenschaft gesprengt werden. Die Beiträge von Hartman, Langer, Caruth und Laub erschweren es, den Holocaust weiterhin als eine eindeutige historische "Erfahrung" zu definieren. Sie bieten neue Möglichkeiten, die scheinbar unüberwindbare Diskrepanz zwischen den furchtbaren persönlichen Erfahrungen der Opfer und unserem Verständnis der Geschichte, ohne eine Nivellierung dieser Erfahrungen, zu etwas Nachvollziehbarem in unser Denken einzulassen.

Die fortdauernde Gegenwart der Shoah und die Unmöglichkeit, das Ereignis einem Verständnis von chronologischer Zeit und Kausalität einzupassen, wird von Claude Lanzmann hervorgehoben. Als Autor des richtungweisenden Films Schoah erklärt Lanzmann, wie seine unerschütterliche Weigerung, das Geschehene zu erklären oder zu verstehen, die einzig mögliche Grundhaltung war, das Ereignis darzustellen. In der Beschreibung seines Films als einer Dokumentation nicht der geschichtlichen Vergangenheit, sondern der Gegenwart, in der die Zeugen ihre geschichtliche Bedeutung als handelnde Figuren heute nachspielen müssen, zeigt Lanzmann, dass seine eigene Rolle als Zeuge der Zeugen - und damit unsere Rolle als Zuschauer seines Films - noch nicht abgeschlossen ist.

In Shoshana Felmans Aufsatz zu Lanzmanns Film werden die verschiedenen Positionen ausgeleuchtet, die den Holocaust als Krise der Zeugenschaft kennzeichnen. Felman zufolge könne Lanzmanns Film eine Wahrheit bezeugen, die den auf sich selbst gestellten Zeugen nicht zur Verfügung steht. Die Wahrheit, die in der Geschichte unbezeugbar bleibt, wird hier als das erkennbar, was uns alle heute, ganz gleich wie wir uns selber definieren, im Hinblick auf die Zeugenaussage über die Belange der Geschichtswissenschaft hinaus zur Verantwortung ruft. Felmans Aufsatz versteht sich als Antwort auf Lanzmanns Werk, welches uns zum Hören und zur Auseinandersetzung mit den Zeugen - zur Aufnahme des Grauens und zu verantwortlichem Handeln - sowohl befähigt als auch verdammt.

Jared Stark erwägt die widersprüchlichen Forderungen, die durch jede Zeugenaussage von traumatischen Erfahrungen an uns gerichtet werden. Sollen die Erinnerungen einer Überlebenden des Holocaust genau so dargestellt werden, wie die Zeugin sie heute verstehen will, oder sollen die heutigen psychologischen Bedürfnisse der Zeugin den Maßstäben der historischen Genauigkeit, Faktizität und Verständlichkeit untergeordnet werden? Was für eine Verantwortung erwächst aus unserer angestrebten oder zufällig entstandenen Berührung mit einer Erfahrung, zu der die erzählende Person selbst nur eine fragile Verbindung hat? Wie können wir uns dieses Wissens wieder entledigen, ohne die ursprüngliche traumatische Isolierung und Ausgrenzung der Überlebenden und die weltweite Weigerung, die Realität der Verfolgung und des Leidens wahrzunehmen, ungewollt zu wiederholen?

Ähnlichen Fragen geht auch Robert Cohen in seiner Analyse der Rezeption von Peter Weiss' Die Ermittlung nach. Das Stück entfachte eine heftige Debatte über die Authentizität der Zeugenschaft und die Berechtigung, wer für die Opfer sprechen darf. In seiner Untersuchung der Identitätspolitik, die diese Debatte von Anfang an bestimmte, zeigt Cohen, inwieweit der gesellschaftliche Kontext Möglichkeit und Inhalt von Zeugenaussagen bedingt. Er umreißt damit auch das Dilemma, wie Auschwitz als Ereignis von universaler Bedeutung verstanden werden soll, das Grundannahmen unserer Gesellschaft in Frage stellt, wenn es zugleich als spezifisch jüdische Katastrophe definiert wird.

Der französische Historiker Pierre Vidal-Naquet untersucht, wie sich eine Zeugenaussage dem sich ändernden ideologischen und geschichtlichen Kontext anpasst. Er widmet sich der Zeugenaussage von Germaine Tillion über ihre Erfahrungen in Ravensbrück, die 1946, 1973 und 1988 veröffentlicht wurde. Wie ändert sich die Rezeption dieser Aufzeichnungen, wenn Tillion dieselben Vorfälle im Kontext der jeweiligen politischen und historischen Situation anders erklärt? Zusätzlich überdenkt Vidal-Naquet das Verhältnis zwischen den zutiefst persönlichen Zeugenaussagen Überlebender und der sich immer noch weitgehend auf Täterdokumente stützenden Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus. Lanzmann, Felman, Stark, Cohen und Vidal-Naquet erforschen die Bedingungen, unter denen auf uns, als Zeugen der Zeugen, heute Verantwortung entfällt. Statt Schuld und Scham werden hier Möglichkeiten besprochen, sich in der aktiven Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Ereignissen der eigenen Position in der Gegenwart bewusst zu werden.

Das Verhältnis der Medien zur Problematik der Zeugenschaft wird im letzten Teil des Bandes thematisiert. Um die scheinbare "Zeitlosigkeit" der technischen Medien zu betonen, die von der anhaltenden psychischen "Dauer" der traumatischen Erfahrungen nicht zu trennen ist, wird hier bewusst auf eine strikt chronologische Folge der behandelten Themen verzichtet. Lawrence Douglas geht der Frage nach, was im Holocaust überhaupt gesehen und somit bezeugt werden konnte. Er analysiert den Einsatz eines von den Alliierten produzierten Dokumentarfilms bei den Nürnberger Prozessen, um nachzuweisen, dass der Holocaust gerade in dem Augenblick aus dem juristischen und historischen Kontext ausgeblendet wurde, als er erstmalig der Welt bekannt gemacht werden sollte. Die Frage, wie Einzelpersonen oder eine ganze Gesellschaft vollkommen offensichtliche Geschehnisse "übersehen" können - wie und warum Zeugenschaft oft erst nachträglich einsetzt und warum eine Situation oft erst zu spät in ihrem Grauen erkannt wird -, wird hier im Kontext der institutionellen Wahrheitsfindung gestellt.

Bernd Hüppauf untersucht, was wir heute in den Bildern des Vernichtungskriegs sehen können und was die fotografierenden Täter damals sahen. Hüppauf stellt die Selbstverständlichkeit der primären Zeugenschaft in Frage und zeigt, dass die Fotos des Vernichtungskriegs sich nicht als bildliches Äquivalent oder Ausdruck der NS-Ideologie verstehen lassen. So wird ersichtlich, wie die Debatte über die Schuld der beteiligten Fotografen bisher den Blick auf die schwierigere Einsicht verstellt hat, dass die Täter selbst nicht sahen, was sie dennoch dokumentierten.

In meinem Aufsatz zu einer Fotografie von Dirk Reinartz gehe ich der Frage nach, wie ein Gefühl der Verantwortung für diejenigen entstehen kann, die den Holocaust nur aus dem Abstand von über einem halben Jahrhundert durch Darstellungen kennen. Der Rückgriff auf die ideologisch hochbelastete romantische Tradition der Landschaftsdarstellung im Werk eines deutschen Fotografen, der heute ehemalige Mordstätten fotografiert, belegt, dass Darstellungen des Holocaust sich nicht auf bestimmte Medien oder Konventionen beschränken lassen oder Schockeffekte einsetzen müssen. Ohne den Holocaust zu verkitschen, kann die aller Merkmale entleerte Landschaftsfotografie eines ehemaligen Vernichtungslagers zur Allegorie davon werden, dass die Position des Bezeugens der eigenen Geschichte für uns alle unausweichlich ist.

Dieser Unausweichlichkeit widmet sich auch Avital Ronell in ihrer Analyse des Fernsehereignisses, durch das die Welt Zeuge der rassistischen Brutalität der amerikanischen Polizei gegen den Afroamerikaner Rodney King wurde. Ronell macht deutlich, dass die Zeugenschaft, in der erst nachträglich erkannt wird, was man gesehen hat, für unsere allgemeine Verfassung in der Gegenwart maßgeblich ist. Adorno hatte auf die Eigenart des Faschismus hingewiesen, "äußerste technische Perfektion mit vollkommener Blindheit" zu vereinen. In ihren Überlegungen weist Ronell nachdrücklich darauf hin, dass die oft verteufelten Massenmedien die Kopplung von Staatsgewalt und Medientechnologien auf eine von Adorno nicht erkannte Art unterbrechen können, um uns zum Bezeugen der Gewalt in den heutigen Demokratien zu verpflichten. Die Auswirkungen der Shoah sind keineswegs vorbei, so Ronell, sondern manifestieren sich auf unvorhergesehene Weise an unerwarteten Orten. Gerade wenn wir annehmen, dass unsere Verantwortung für die Wirkungen der unverarbeiteten "Demozide" des 20. Jahrhunderts sich auf das passive Studium der Geschichte oder das Vertrauen auf den Einsatz von Streitkräften in strategisch oder politisch wichtigen "Krisengebieten" beschränkt, betont Ronell, daß auf uns sogar "zu Hause" vor dem Fernseher die unausweichliche Verantwortung entfällt, Zeugnis für die Gegenwart abzulegen.

Die abschließenden vier Beiträge des Bandes kehren damit zur ursprünglichen Frage zurück, ob die Auseinandersetzung mit dem Holocaust nicht auch dazu verpflichtet, uns unserer eigenen Rolle als indirekte Zeugen der in der Gegenwart alltäglich durch die Medien vermittelten Gewalt bewusst zu werden. Statt das Wegschauen zu empfehlen, was einem moralischen und intellektuellen - d. h. kritischen - Abschalten gleichkommt, arbeitet Ronell Möglichkeiten heraus, wie das Mitwissen am Leiden anderer nicht instrumentalisiert, sondern zum Maßstab für das eigene Denken und Handeln werden kann.

Anmerkungen:

  1. Vgl. Detlev Claussen, Grenzen der Aufklärung, Frankfurt 1987.
  2. Max Horkheimer, Theodor W Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, S. 235. Mit diesem Satz beginnt die Nachschrift von 1947 zu den 1944 geschriebenen "Elementen des Antisemitismus".
  3. Max Horkheimer, Theodor W Adorno, Vorwort, Sommer 1959, zu Paul W Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt 1959,S.VI f., der deutschen Ausgabe des 1949 in der Reihe "Studies in Prejudice" erschienenen Rehearsal for Destruction.
  4. Zitiert nach Simon Dubnow, Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes 1789-1914, Berlin 1920, Bd. 1, S. 70.
  5. F.W.v. Schütz, Niedersaechsischer Merkur, Altona 1792, zitiert in: Bernhard Wilms, Johann Gottlieb Fichte - Schriften zur Revolution, Frankfurt Berlin -Wien 1973, S. 299.
  6. J.G.Fichte, Schriften zur Revolution, a. a. 0., S. 175.
  7. Ebd., S. 176.
  8. Ebd. An Fichtes persönlichem Verhalten ist auch später kein Tadel zu üben. Aufschlussreich verhält er sich in der Affäre Brogi, 1812, als ein handfest beleidigter jüdischer Student aus armen Verhältnissen den Beleidiger verklagt, statt sich zu duellieren. Das widersprach ganz dem studentischen Kodex, den Schleiermacher noch rechtfertigte. Fichte verhält sich in diesem Konflikt gar nicht deutschtümelnd, sondern zivilisatorisch: Gesetz gegen Gewohnheit. Vgl. Wilhelm G. Jacobs, Johann Gottlieb Fichte, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 122f.
  9. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankturt 1966, S. 353
  10. Ebd., S. 355.
  11. Fichte, a. a. 0., S. 176.
  12. G. W F Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hegels Werke (HW), Bd. 7, S. 19, 18.
  13. Von Poliakovs instruktive Geschichte des Antisemitismus, Worms 1977ff., erweist sich als brauchbar, soweit es um die Vorgeschichte und den traditionellen Judenhass geht. Bd. V, Die Aufklärung und ihre judenfeindliche Tendenz, kann das Neue nicht erkennen, weil es nur das Alte im Neuen sucht. So wird z. B. die Philosophie des deutschen Idealismus in toto als antisemitisch beurteilt, weil die Philosophen Protestanten und Luther ein Antisemit war.
  14. Max Horkheimer Theodor W. Adorno, Vorwort zu P.Massing...,S.VII.
  15. Heinrich Heine, Aphorismen und Fragmente, Werke und Briefe, Bd. 7 (HW), Berlin und Weimar 1980, S. 412.
  16. Ausgesprochen instruktiv lesen sich die Vorträge von Walter Schmitthenner "Kennt die hellenistisch-römische Antike eine "Judenfrage"?" und ""Adversus Judäos" in der Alten Kirche" von Karl Suso Frank in der von Bernd Martin und Ernst Schulin herausgegebenen Vorlesungesreihe Die Juden als Minderheit in der Geschichte, Muenchen 1981.
  17. Alex Bein bringt sein Thema unter den Oberbegriff "Die Judenfrage, Biographie eines Weltproblems", 2 Bde., Stuttgart 1980, der im säkularisierten Sinne von einer dreitausendjährigen Einheit der jüdischen Nation ausgeht. "Judenfrage" als Begriff fasst schwammig Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Judenemanzipation - eine ebenso vage Formulierung wie die gleichzeitig im Vormärz gestellte "Soziale Frage". In der Formulierung "Judenfrage" deutet sich schon eine Verschiebung der Emanzipationsforderung an - aufgegriffen wird die "Judenfrage" gegen die Emanzipationsgesetzgebung in ganz Deutschland in den 70er Jahren des Zweiten Reiches. Die "Judenfrage" wird von der zionistischen Literatur zum Ausgangspunkt der zionistischen Lösungsvorschläge gemacht. In dieser Tradition versteht sich Alex Bein.
  18. Bernd Martin und Ernst Schulin wählten den Oberbegriff "Minderheit" für ihre Vorlesungsreihe, die nicht nur den Antisemitismus zum Gegenstand hat, sondern auch jüdische Geschichte. Ein Reclamband von Hans-Gert Oomen und Hans-Dieter Schnüd versteckt eine Materialauswahl über die "Anfänge des modernen Antisemitismus am Beispiel Deutschlands" unter dem Titel Vorurteile gegen Minderheiten (Stuttgart 1978). Die pädagogisierte Bearbeitung des Themas steht immer in Gefahr, das Spezifische des Antisemitismus in leere Allgemeinheiten aufzulösen. Was ist nicht alles ein Vorurteil, was nicht alles eine Minderheit? Diese Formulierungen kommen dem Alltagsbedürfnis entgegen, das Grauen, das mit Antisemitismus assoziiert wird, zu nivellieren. Der Wunsch nach Beliebigkeit drückt sich in der allzu häufigen Formulierung xy sind die Juden von heute" - man setzt ein, was gerade gefällt - Türken, Asylanten etc.
  19. Karl Marx, Friedrich Engels, Die heilige Familie, 1845, MEW 2, S. 93.
  20. Horkheimer, Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. 0., S. 208.
  21. Franticek Graus, "Judenpogrome im 14. Jahrhundert: Der schwarze Tod", in: Martin, Schulin, Die Juden . . ., a. a. 0.,S. 72.
  22. Zitiert nach: Hans Wollschläger, Die bewaffneten Wallfahrten gen Jerusalem, Geschichte der Kreuzzuege, Zuerich 1973, S. 20.
  23. Heinrich Heine, Aphorismen und Fragmente, HW 7, S. 374.
  24. Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Gesammelte Werke (GW), Bd. XVI, London 1950, S. 198.
  25. Ebd., S. 243 "Gleichzeitige Anwesenheit einander entgegengesetzter Strebungen, Haltungen und Gefühle, z. B. Liebe und Hass, in der Beziehung zu ein- und demselben Objekt". (J. Laplanche, J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt 1972, Bd. 1, S. 55)
  26. Leon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Bd. 1, Von der Antike bis zu den Kreuzzuegen, Worms 1977, S. 32.
  27. Theodor W Adorno, Minima moralia, 1945, Frankfurt 1951, S.141.
  28. Dieter Mertens, "Christen und Juden zur Zeit des ersten Kreuzzuges", in: Schulin/Martin, Die Juden . . ., a. a. 0., S.61 f. 29) Im 36. Kapitel "Vorkapitalistisches" macht Marx sich Gedanken über diesen historischen Abschnitt. Stichwort Wucher: "Im Mittelalter herrschte in keinem Lande ein allgemeiner Zinsfuß. Die Kirche verbot Zinsgeschäfte von vornherein. Gesetze und Gerichte sicherten Anleihen nur wenig. Desto höher war der Zinssatz in einzelnen Fällen. Der geringe Geldumlauf, die Notwendigkeit, die meisten Zahlungen bar zu leisten, zwangen zu Geldaufnahmen, und um so mehr, je weniger das Wechselgeschäft noch ausgebildet war. Es herrschte große Verschiedenheit sowohl des Zinsfusses wie der Begriffe vom Wucher. Zu Karls des Grossen Zeit galt es fuer wucherisch, wenn jemand 100% nahm. Zu Lindau am Bodensee nahmen 1344 einheimische Buerger 216%. In Zuerich bestimmte der Rat 43« % als gesetzlichen Zins. In Italien mußten zuweilen 40 % gezahlt werden, obgleich vom 12.-14. Jahrhundert der gewöhnliche Satz 20% nicht überschritt. Verona ordnete 12«% als gesetzlichen Zins an. Kaiser Friedr. 1. setzte 10% fest, aber nur für Juden. Fuer die Christen mochte er nicht sprechen. 10% war schon im 13. Jahrhundert im rheinischen Deutschland das gewöhnliche." (MEW 25, S. 611) Das Zinsverbot brachte den jüdischen Zins unter Kontrolle der Herrschaft und zwang vor allem die Kreuzzügler, ihren Besitz der sog. "toten Hand" zu übergeben. Juden waren selbstverständlich von diesem heiligen Geschaeft ausgeschlossen. Kam der Kreuzzügler nicht wieder und/oder konnte seinen Besitz nicht auslösen, fiel er an die Kirche. Marx zitiert J. G. Büscher "Theokratisch-praktische Darstellung der Handlung etc.": "Ohne das Verbot der Zinsen würden die Kirchen und die Klöster nimmermehr so reich haben werden können." (MEW 25, S. 626).
  29. Wanda Kampmann, Deutsche und Juden, Frankfurt 1979, S. 21. Unter die Kategorie der besonders Schutzbeduerftigen fallen neben den Juden Geistliche und Frauen.
  30. Mertens, Christen und Juden. . ., a. a. 0., S. 64.
  31. Herbert A. Strauss, "Juden und Judenfeindschaft in der fruehen Neuzeit", in: Herbert A. Strauss, Norbert Kampe (Hg.), Antisemitismus, Von der Judenfeindschaft zum Holocaust, Frankfurt 1985, S. 70.
  32. Leon Poliakov, Religiöse und soziale Toleranz unter dem Islam. Geschichte des Antisemitismus Bd. 3, a. a. 0., S. 143.
  33. "In den staatlichen Urkunden wurden die neuen Christen als die Nation gefuehrt, als ein gesonderter Teil der Bevoelkerung. Das wollten sie so und waren stolz darauf. Sie hatten die ummauerten Juderias verlassen und wohnten nun in anderen Quartieren der Stadt, dicht beieinander, Haus an Haus. Die Reichen unter ihnen waren jetzt mit dem hohen Adel versippt und selbst zu Rattern geschlagen. Der große Haufen blieb geruhig, was er auch im Ghetto gewesen war: Portugals Mittelstand. Die jüngeren Soehne jedoch suchten die grosse Karriere in dem weiten Feld, das den Juden versperrt war, den neuen Christen jedoch, den Vollbürgern, weit offenstand. Sie wurden Offiziere, Richter, Bürgermeister, sie sicherten sich ihr Teil an den fetten geistlichen Pfründen." (Fritz Heymann, Der Chevalier von Geldern. Geschichten jüdischer Abenteurer, Königstein 1985, S. 27).
  34. Reinhard Ruerup, Emanzipation und Antisemitismus, Göttingen 1975, S. 74.
  35. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung 1844, MEW 1, S. 391.
  36. Karl Marx, Zur Judenfrage, 1843, MEW Bd. 1, S. 359.
  37. Richard Wagner, "Das Judentum in der Musik", 1850, in: Richard Wagner, Mein Denken, hg. von Martin Gregor-Delhn, München 1982, S. 174. Bruno Bauers Artikel "Das Judenthum in der Fremde" erschien 1863 als Separatdruck, gut zwanzig Jahre nach der "Judenfrage", als Bauer längst ins konservative Lager zurückgekehrt war. Vgl. Hermann Greive, Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland, Darmstadt 1983, S. 91 f.
  38. MEW 1, S. 377.
  39. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, S. 342. Beim jungen Marx heißt es: "Der Jude hat sich auf jüdische Weise emanzipiert, nicht nur, indem er sich die Geldmacht angeeignet, sondern indem durch ihn und ohne ihn das Geld zur Weltmacht und der praktische Judengeist zum praktischen Geist der christlichen Völker geworden ist." (MEW 1, S. 373. Erste Hervorhebung von mir, D. C., zweite von Marx).
  40. Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, 1915, GW X, S. 351.
  41. A. a. 0., S. 333 "Im antisemitischen Meinen wird ständig legitime Gewalt in der psychischen Realitaet ausgeuebt. Das waren ja nur Worte, "persoenliche" Meinung. Hypostasierte Meinung - wissen wir - ersetzt die Gewalttat oder ist ein Versprechen auf sie." (Detlev Claussen, "Ueber Psychoanalyse und Antisemitismus", in: Psyche 1, 41. Jahrgang, Stuttgart, Januar 1987, S. 16.)
  42. Theodor W Adorno, "Meinung Wahn Gesellschaft", 1961, in: Eingriffe, Frankfurt 1963, S. 150.
  43. A. a. 0., S. 153.
  44. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, 270, HW 7, S. 421. "Der gegen Hegel stets erhobene Vorwurf, er habe den preußischen Staat vergottet, pflegt zu übersehen, daß zu jener Zeit in Deutschland Preussen recht fortgeschrittene Institutionen besaß, und daß es dem Philosophen mehr als um Preußen um die Einrichtung der Freiheit ging." (Max Horkheimer, "Nachwort zu Porträts deutsch-jüdischer Geistesgeschichte", 1961, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt 1985, S. 181.)
  45. Heine, Brief an Imanuel Wohlwill 1. 4. 1823, in: HW 8, S. 64f. Hans Mayer hat die Literatur der Emanzipationsepoche unter der Kategorie Das unglueckliche Bewusstsein (Frankfurt 1986) interpretiert.
  46. "Dass Emanzipation und Liberalismus nicht gelangen, dass sie nicht verwirklichten, was einmal die Aufklärung und die Revolution an Hoffnungen auf Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit aufbrechen lassen, dafür, und nicht für eine partielle Schwierigkeit im Verhaeltnis einer bestimmten Gruppe zur Gesamtgesellschaft, ist der Antisemitismus ein Index. Antisemitische Gesellschaft, d. h. eine Gesellschaft, in der die zahlenmässig größten Schichten des Volkes ihr unerhelltes Unbehagen, ja ihre Wut und Verzweiflung in Hass gegen eine schwache, an den Ursachen des Unbehagens durchaus unschuldige Minderheit umsetzen, entsteht im ausgeprägten Sinne erst mit bürgerlicher Revolution, Liberalismus und industrieller Wirtschaft." (Margherita v. Brentano, "Die Endloesung - Ihre Funktion in Theorie und Praxis des Faschismus", in: H. Huss, A. Schroeder [Hg.1, Antisemitismus, Frankfurt 1965, S. 56.)
  47. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 62.
  48. Hegel, Grundlinien. . ., HW 7, S. 419.
  49. Sigrnund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, 1929, in: GW XIV, S. 426.
  50. Zitiert nach Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. M. 1973, S. 131.
  51. Max Horkheimer, "Nachwort ... ", a. a. 0., S. 191 f. "Es ist mir fast nicht weniger verdaechtig, wenn einer sagt, daß er "Die Juden", schlechthin liebt, als wenn er ihnen etwas Falsches vorwirft - " (S. 192)
  52. Theodor W. Adorno, "Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda", in: Helmut Dahmer (Hg.), AnalytischeSozialpsychologie, Bd. 1, Frankfurt 1980, S. 340.
  53. Adolf Hitler, Brief an Adolf Gemlich, 16. 9. 1919, in: Sämtliche Aufzeichnungen, hg. v. E. Jäckel, S. 89: "Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Progromen. Der Antisemitismus der Vernunft jedoch muß führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte der Juden, die er zum Unterschied der anderen zwischen uns lebenden Fremden besitzt (Fremdengesetzgebung). Sein letztes Ziel aber muss unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein." Wie viele Nazis kennt Hitler nicht einmal den Namen der traditionellen antisemitischen Gewalttat: Pogrom.
  54. Jochen v. Lang (Hg.), Das Eichmann-Protokoll, Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre, Berlin 1982, S. 150.
  55. 1950 hat Theodor W Adorno dies in einer erschütternden Studie über "Schuld und Abwehr" (Gesammelte Schriften 9,2, Frankfurt 1975, S. 320) resümiert. Das heutige Gerede vom "Man muß doch endlich vergessen können" war schon damals gang und gäbe (Vgl. Detlev Claussen, "Auschwitz erinnern", in: Neue Rundschau, Heft 3/4, 96. Jg., Frankfurt 1985, S. 205), Jean Paul Sartre ("Betrachtungen zur Judenfrage", Oktober 1944, in: Drei Essays, Frankfurt - Berlin - Wien 1975, S. 181) hat sich am Abend der Befreiung Gedanken über Schuld auch derer gemacht, die gegen die Nazis gekämpft haben: "Keiner von uns ist unter diesen Umständen unschuldig, wir sind Verbrecher, und das Blut, das die Nazis vergessen haben, kommt auf unser Haupt." Das gilt auch für die Nachgeborenen.