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= Geschichte und Politik =

NA Verlag, Mainz 2017, ISBN: 978-3-961760-06-0

Geschichte und Politik

Im Folgenden werden spannende Neuerscheinungen aus den Bereichen Politik, Geschichte und Gesellschaft aus verschiedenen Verlagen rezensiert.

Rita Wagner (Hrsg.): Konrad der Große. Die Adenauerzeit in Köln 1917-1933, NA Verlag, Mainz 2017, ISBN: 978-3-961760-06-0

Am 18. September 1917 wählte die Kölner Stadtverordnetenversammlung Konrad Adenauer ohne Gegenstimme auf 12 Jahre zum damals jüngsten Oberbürgermeister einer deutschen Großstadt; das Amt wurde offiziell am 21. Oktober 1917 durch Erlass des Königs von Preußen übertragen. Von 1917 bis 1933 und für einige Monate des Jahres 1945 war er Oberbürgermeister der Stadt Köln.

Dies ist Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Kölnischen Stadtmuseum vom 1. Juli bis zum 19. November 2017. Darin entwerfen verschiedene Autoren ein Bild der Regierungszeit Adenauers in Köln, , die „in bester Erinnerung“ geblieben ist. (S. 21), zwischen 1917 und 1933, seinen persönlichen Umfeld und des gesellschaftlichen Umfeldes in der Stadt in der Weimarer Republik wie die Rolle der Frau oder der Homosexuellenbewegung.

Der Band wird eingeleitet von einem kurzen Statement der Oberbürgermeisterin der Stadt Köln, Henriette Reker, über die Adenauerzeit in Köln. Danach folgt eine kurze Charakterisierung des „Königs von Köln“ von Mario Kramp, dem Direktor des Kölnischen Stadtmuseums. Danach folgen die oben erwähnten kurzen Essays.

Adenauer wurde als „König des Rheinlandes“ bezeichnet und ihm wurden auch noch höhere Ämter zugetraut. In der Weimarer Republik war Adenauer mehrfach als Kandidat für das Amt des Reichskanzlers im Gespräch. Ein Tausch des sicheren und persönlich befriedigenden Amtes in Köln mit der unsicheren Reichskanzlerschaft erschien ihm auch nicht als Gewinn.

Vom 7. Mai 1921 bis 1933 war er mit Unterstützung von Zentrum, SPD und DDP Präsident des preußischen Staatsrats. In dieser Funktion stand er in einer politischen Dauerfehde mit dem sozialdemokratischen preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun. Während Braun ein starkes zentralisiertes Preußen als Bollwerk der Demokratie begriff, stand Adenauer den Bestrebungen der Zentrumspartei nahe. Sie zielte in den Krisenjahren nach dem Ersten Weltkrieg 1918/19 und 1929 auf ein Rheinland ab, das autonom von Preußen sein sollte. Damals und später wurde daher der Vorwurf gemacht, Adenauer habe das Rheinland auch von Deutschland trennen wollen.

In der Regierungszeit veränderte sich Köln in den verschiedensten Bereichen: Gemäß dem Vertrag von Versailles begann die Stadt 1921 mit der Schleifung der Festungsringe und legte ab 1922 auf deren Rayons die Grüngürtel an. 1923 wurde das erste Müngersdorfer Stadion fertiggestellt, 1924 der Rohbau des höchsten Wolkenkratzers seiner Zeit in Europa, des späteren Hansahochhauses. Am 11. Mai öffnete die Kölner Messe ihre Tore. Am 30. November wurde mit der St. Petersglocke des Kölner Doms die mit rund 24 Tonnen größte freischwingende läutbare Glocke der Welt geweiht.

1926 zog der Vorläufer des WDR, die Westdeutsche Funkstunde AG (Wefag), von Münster nach Köln. die Stadt Köln. Die Stadt investierte 1,6 Millionen Reichsmark in das ehemalige Militärflugfeld Butzweilerhof. Am 26. Juli 1926 begann dort der planmäßige Flugverkehr. Der Butzweilerhof entwickelte sich auf Grund seiner zentralen Lage schnell zum zweitgrößten deutschen Flughafen. Am 10. Oktober 1928 wurde die Rheinlandhalle eröffnet. Die Mühlheimer Brücke wurde am 13. Oktober 1929 in Betrieb genommen.

Adenauer bemühte sich intensiv, ausländische Investoren nach Köln zu holen. 1927 hatte er bereits eine Zusage von Citroën für eine Automobilfabrik, das Projekt verlief dann aber doch im Sande. Nach intensiven Verhandlungen mit dem US-amerikanischen Autohersteller Ford gelang es ihm, das Unternehmen davon zu überzeugen, ein komplett neues Werk in Köln zu errichten, anstatt die schon bestehenden kleineren Anlagen in Berlin auszubauen. Am 2. Oktober 1930 kam Henry Ford nach Köln-Niehl zur Grundsteinlegung des neuen Werkes. Die Eröffnung der Kraftwagenstraße Köln-Bonn als erste Reichsautobahnstrecke erfolgte am 6. August 1932.

Köln war während der Weimarer Republik bedeutende Kultur- und Musikstadt. Während seiner Amtszeit wurden 1925 die Musikhochschule und 1926 die Kölner Werkschulen, nachdem er die Kunsthochschule „Das Bauhaus“ nicht nach Köln holen konnte, neu- beziehungsweise wieder eröffnet. Bekannte Dirigenten wie Otto Klemperer wirkten an der Kölner Oper. Seit 1926 gibt es ein Rundfunkorchester. In Köln existierten 1929/30 insgesamt 15 Häuser mit dauerhaften oder zeitweiligen Varietéprogrammen und Revuen. Mit dem Kaiserhof erhielt Köln im September 1931 ein internationales Varieté.

Die weit verzweigten wirtschaftlichen Einflussbereiche Adenauers bleiben jedoch weitestgehend im Dunkeln. In den zwanziger Jahren gehörte Adenauer den Aufsichtsräten der Deutschen Bank, der Deutschen Lufthansa, des Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerkes, der Rhein AG für Braunkohlenbergbau und Brikettfabriken (Rheinbraun) und weiterer zwölf Unternehmen sowie dem Reichswirtschaftsrat an. Sonst ist der Begleitband nicht nur inhaltlich, sondern auch mit den 181 Abbildungen zur Visualisierung gelungen. Seine bleibenden Leistungen werden herausgestellt, bevor dann die NSDAP die Macht übernahm und ihn als Oberbürgermeister absetzte.

Bernhard Stahl: Internationale Politik verstehen, 2. Auflage, Verlag Barbara Budrich, Opladen & Toronto 2017, ISBN: 978-3-8352-8725-2

Das Buch über internationale Politik wurde im Vergleich zur ersten Auflage aktualisiert und auf den neuesten Stand gebracht. Drei neue Themen wurden hinzugefügt: der Syrienkrieg, die daraus resultierenden Flüchtlingsbewegungen nach Westeuropa und der Krieg in der Ukraine mitsamt den Diskussionen über den Umgang damit. Außerdem gibt es eine Studie zum Klassischen Realismus, um diese wiederentdeckte Theorie vorzustellen.

Das Buch will „einen leicht zugänglichen Einstieg in die Internationale Politik mittels empirischer Beschreibungen, Analysen und fallbezogener Erklärungen bieten.“ (S. 14) Jedes Kapitel ist von derselben Machart, um die Strukturierung des Wissens zu erleichtern. Es beginnt mit einem Einstieg, dann folgt die Leitfrage, die Beschreibung, die Analyse, die Erklärung, die Prognose/Bewertung und zum Schluss eine Handlungsempfehlung. Am Ende eines jeden Kapitels gibt es Übungsfragen, einen Filmtipp zum Thema und ein kleines Literaturverzeichnis.

Zu Beginn des Buches wird ein alphabetisches Theorieverzeichnis mit der Nummer des Kapitels und die Seitenzahl vorgestellt.

Im ersten Kapitel werden die Grundlagen und Inhalte der internationalen Politik dargestellt. Dann folgt ein Kapitel über Globale Fragen I, das sich mit den Vereinten Nationen, die Welthandelsordnung, die Finanzkrise, die Klimapolitik und Akteure in der Umweltpolitik beschäftigt. Weiterhin geht es im nächsten Kapitel um verschiedene Kriege wie den Nahostkonflikt, den Ukraine-Konflikt sowie um die Folgen von 9/11. Anschließend folgt ein Kapitel Frieden, wo es um pazifistische Konfliktbewältigungsstrategien, die Erweiterung der EU oder der politischen Gemeinschaftsbildung in Südostasien geht. Dann wird in dem Kapitel Globale Fragen II die Themenschwerpunkte Menschenrechte, die deutsche Außenpolitik, die Flüchtlingssituation 2015 in der BRD, die Entwicklungszusammenarbeit mit nicht so entwickelten Staaten und die atomare Aufrüstung Irans besprochen.

Das Buch eignet sich besonders für Studienanfänger des ersten Bachelorjahres, aber auch für ältere Semester, die sich mit dem Themengebiet der internationalen Politik auseinandersetzen möchten oder müssen. Inhaltlich fehlen einige grundlegende Themen wie der Aufbau der NATO und ihre Ziele, der Nord-Süd-Gegensatz bei den Lebensverhältnissen oder eine kurze Erörterung über das Zeitalter der Globalisierung. Didaktisch ist das Buch hervorragend aufgearbeitet, es ist strukturiert, gut lesbar und man kann anhand der Übungsfragen sein Wissen prüfen. Die 90 graphischen Darstellungen visualisieren das erworbene Wissen. Insgesamt gesehen ist es ein gutes Einführungsbuch, bei dem aber unverständlicherweise solch ein wichtiges Bündnis wie die NATO weitgehend fehlt.

Alfred Pfoser/Andreas Weigl: Die erste Stunde Null. Gründungsjahre der österreichischen Republik 1918-1922, Residenz Verlag, Salzburg/Wien 2017, ISBN: 978-3-7017-3422-1

Dieses Geschichtswerk erscheint zur Gründung der österreichischen Republik vor 100 Jahren, die Schwierigkeiten und die Aufbruchsstimmung einer neuen demokratischen Ordnung.

Nach dem Auseinanderbrechen der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie am Ende des Ersten Weltkriegs entstand Österreich 1918–1921 in seinen heutigen Grenzen. Die Provisorische Nationalversammlung rief am 12. November 1918 die Republik und den Anschluss an Deutschland aus. Im März 1919 verließ Ex-Kaiser Karl I. Deutschösterreich, im April 1919 wurden das Habsburgergesetz und das Adelsaufhebungsgesetz beschlossen.

Das Buch wird in drei große Teilabschnitte unterteilt. Es gab zwei unterschiedliche Versionen über diese Zeit der Gründung, die der „Niederlage“ und die des „Aufbruchs“, die gleichzeitig die ersten beiden Teilabschnitte sind. Begonnen wird mit der Lesart der „Niederlage“ als „Zeit der Konfusion, der Extremsituationen und der alltäglichen Überlebenskämpfe“. (S.7) Danach wird die Lesart des „Aufbruchs“ beschrieben, die „neue Fundamente des Zusammenlebens“ gesetzt hat. (S. 9) Im letzten großen Teilabschnitt geht es um die Kulturkämpfe in der jungen Republik, die sich zu einem „mentalen Bürgerkrieg steigerten“. (S. 10)

Die Provisorische Nationalversammlung beschloss am 12. November 1918 für den vorerst „Deutschösterreich“ genannten Staat die Form der demokratischen Republik Zugleich wurde in Artikel 2 des Gesetzes festgehalten, dass das Land Teil der drei Tage zuvor ausgerufenen deutschen Republik sei. Erster Staatskanzler wurde Karl Renner (SDAP) der einer Großen Koalition vorstand. Beansprucht, aber für den neuen Staat nicht gewonnen, wurden Teile der neu bzw. wieder entstandenen Staaten Tschechoslowakei (Provinz Deutschböhmen, Provinz Sudetenland, Teile Mährens und Polen (Schlesien)) sowie das von Italien annektierte Südtirol. Weite Teile der Bevölkerung und die meisten Vertreter der politischen Parteien waren der Auffassung, dieser „Rest-“ bzw. „Runpfstaat“ sei ohne die ungarische Agrarwirtschaft und die böhmische Industrie allein nicht lebensfähig.

Der Zusammenschluss mit dem Deutschen Reich wurde von den alliierten Siegermächten 1919 im Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye ausgeschlossen, indem in Art. 88 ein förmliches Unabhängigkeitsgebot für Österreich bestimmt wurde. In Österreich und Deutschland wurde der Artikel als „Anschlussverbot“ bezeichnet. Gemäß dem Vertrag wurde auch der Staatsname „Republik Österreich“ festgelegt. Am 21. Oktober 1919, mit der Ratifizierung des Staatsvertrages wurde dieser Name verbindlich. Als Bundeskanzler Iganz Seipel mit dem Völkerbund später die sogenannte „Genfer Sanierung“ zur Stützung des inflationsgeschüttelten Staatshaushaltes vereinbarte, wurde das Unabhängigkeitsgebot bekräftigt.

In Salzburg gab es Bestrebungen, sich unabhängig von anderen Teilen Österreichs Deutschland anzuschließen, dies wurde aber von Deutschland abgelehnt. In Tirol befürwortete ein kleiner Teil der Bürger einen Anschluss an Italien, um die Einheit Tirols zu wahren. Eine andere politische Linie strebte den Anschluss an Deutschland an. In der Volksabstimmung in Vorarlberg 1919 traten 81 % der Abstimmenden dafür ein, Anschlussverhandlungen mit der Schweiz zu führen. In der Schweiz gab es ebenfalls eine diesbezügliche Initiative; die Schweizer Landesregierung wollte aber den austarierten Modus vivendi zwischen protestantischen und katholischen sowie zwischen deutschsprachigen und anderssprachigen Kantonen nicht in Gefahr bringen und nahm daher von dieser Idee Abstand.

Die 1920 beschlossene Verfassung ist inhaltlich vor allem von Hans Kelsen (1881–1973), einem angesehenen Staatsrechtsexperten, geprägt. Er musste darin aufgrund der politischen Wünsche (Sozialdemokraten: Zentralismus; Konservative: Föderalismus) bundesstaatliche Grundsätze mit einer starken Position von Nationalrat und Bundesregierung verbinden. Die Funktion des Bundespräsidenten war vorerst schwach ausgeprägt; auf Wunsch der Sozialdemokraten war das Parlament das zentrale Organ der Republik (eine Reaktion auf die vorangegangene Monarchie).

Konflikte zwischen den Prinzipien Landeseinheit und Selbstbestimmungsrecht und gab es ab 1918 in Kärnten, weil die slowenische Bevölkerung Südkärntens teilweise zum Anschluss an den neuen südslawischen Staat neigte und das Königreich SHS, um Fakten zu schaffen, Südkärnten im Mai/Juni 1919 militärisch besetzte. Der Kärtner Abwehrkampf gegen die südslawischen Truppen war zwar militärisch aussichtslos, mobilisierte aber die internationale Öffentlichkeit und führte auf Wunsch der Siegermächte zur Volksabstimmung in Südkärnten am 10. Oktober 1920. Bei dieser sprachen sich die Bürger des Abstimmungsgebietes südlich der Drau eindeutig für die Zugehörigkeit zur Republik Österreich aus.

Zwei Verträge – der Vertrag von Saint-Germain (September 1919) mit Österreich und von Trianon mit Ungarn (die ungarische Delegation unterschrieb den Vertrag unter Widerspruch am 4. Juni 1920) – sahen vor, das seit Jahrhunderten deutschsprachig besiedelte Westungarn an Österreich anzuschließen. Trotz des Versuchs ungarischer Freischärler, dies zu verhindern, wurde „Deutsch-Westungarn“ 1921 mit dem Namen Burgenland das neunte Bundesland der neuen Republik. Für die natürliche Hauptstadt des Gebietes, Ödenburg (Sopron), wurde 1921 auf ungarischen Wunsch, der von Italien unterstützt wurde, eine Volksabstimmung durchgeführt, in der sich die Mehrheit der Bürger für eine Zugehörigkeit zu Ungarn entschied. In den zeitgenössischen österreichischen und ungarischen Darstellungen dieser Volksabstimmung sind zahlreiche Divergenzen zu bemerken.

Niederösterreich war 1918 mit über drei Millionen Einwohnern das bei weitem bevölkerungsstärkste und außerdem das flächengrößte Bundesland Österreichs. Die politischen Absichten der im ländlichen Raum stark vertretenen Konservativen und der vor allem in Wien sehr starken Sozialdemokraten waren schwer zu harmonisieren, außerdem bedrückte das niederösterreichische Übergewicht die anderen Bundesländer. Daher wurde Wien in der am 10. November 1920 in Kraft getretenen Bundesverfassung als eigenes (achtes) Bundesland definiert, das Ende 1921 im Trennungsgesetz mit Niederösterreich auch die vermögensrechtliche Aufteilung des gemeinsamen Eigentums vereinbarte.

Die Wirtschaft des neuen Staates lag aufgrund der Kriegsfolgen (Reparationen, Gebietsverluste, neue Zollgrenzen) darnieder. Die damit zusammenhängende Hyperinflation („galoppierende Inflation“) konnte erst durch eine Währungsreform am 20. Dezember 1924, 13 Monate nach der deutschen Währungsreform, gestoppt werden.

Innenpolitische Erfolge ließen sich am besten mit Identitäts-, Erinnerungs- und Symbolpolitik erreichen. Es gab eine starke Fraktion von antirepublikanischen Eliten, die offen Revisionsbestrebungen forderten und sich nicht mit dem „Rumpfstaat“ anfreunden konnten. Dies führte zu Kulturkämpfen mit den Anhängern der Republik und fortschrittlichen Kräften, auch auf dem Feld der allmählich beginnenden Frauenemanzipation. Erinnerungspolitische Fragen zeigten immer wieder das Zerwürfnis in der Bevölkerung. Die Rolle des Antisemitismus in den Gründungsjahren wird ebenso thematisiert wie der Faktor des politischen Katholizismus.

Das Buch zeichnet sich durch das Zusammenwirken von politischer Geschichte, Sozialgeschichte und Kulturgeschichte aus. Es fehlt allerdings ein Fazit, das die Auswirkungen der Gründerjahre der Republik auf die weitere Entwicklung Österreichs aufzeigt. Auch die Frage, ob es Leitlinien bis zum „Anschluss“ an das „Dritte Reich“ gab und wie diese ausgesehen haben, bleibt offen. Um die inneren Widersprüche der jungen Republik zu verstehen, eignet sich das Buch hervorragend.

Andreas Fahrmeir: Die Deutschen und ihre Nation. Geschichte einer Idee, Reclam Verlag, Ditzingen 2017, ISBN: 978-3-15-011136-9

In diesem Buch geht es um eine ideengeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Entstehung der deutschen Nation und ihrer Geschichte durch die Jahrhunderte. Fahrmeir unterscheidet dabei zwischen einem inklusiven und exklusiven Nationalismus. Inklusiver Nationalismen zielen auf eine Integration aller Teilgruppen einer Gesellschaft, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung und ihrer kulturellen Identität ab. Sie setzen sich für die Werte und Symbole der eigenen Nation ein und billigen dies auch anderen Nationen zu. Als exklusiver Nationalismus oder Chauvinismus wird ein übersteigertes Wertgefühl bezeichnet, das auf die teilweise aggressive Abgrenzung von anderen Nationen zielt. Die Überhöhung der eigenen Nation mit dem Ziel einer möglichst weitgehenden Einheit von „Volk und Raum“ geht oft einher mit der Ausgrenzung und Diskriminierung, im Extrem bis zu Vertreibung oder Vernichtung ethnischer und anderer Minderheiten, die als dem imaginierten „Volkskörper fremd oder schädlich“ angesehen werden. Dabei ist die Geschichte des deutschen Nationalismus „eine Geschichte der Ambivalenzen, die mit dem Nationalismus als historischem Phänomen und seiner Instrumentalisierung in verschiedenen politischen Zusammenhängen einhergehen.“ (S. 11)

In der Einleitung geht es hauptsächlich um eine Definition, was unter einer Nation zu verstehen ist. Dann beleuchtet er die Anfänge der deutschen Nationalismus, die Bedeutung der Französischen Revolution und den Kriegen gegen die französische Herrschaft, wo ein gemeinschaftliches „Nationalgefühl“ entstand. Über die Geschichte des Deutschen Bundes und der 1848er Revolution beschreibt er dann ab der Gründung des deutschen Kaiserreiches 1871 die allmähliche imperialistische, chauvinistische und rassistische Variante der Nation, die im 1. Weltkrieg und dem Kriegsnationalismus gipfelte. Die destruktive Kraft des Nationalismus, die sich schon in der Weimarer Republik zeigte, hätte sich dann im NS-Regime, dem 2. Weltkrieg und in den Vernichtungslagern gezeigt. Nach 1945 sieht er einen Bruch mit diesen Traditionen vor allem nach der 1968er Revolte und den Abschied vom ethnischen Nationalismus. Dabei werden jedoch die Kontinuitäten von 1945 bis heute nicht ausreichend berücksichtigt sowie die Zeit nach 1989 nach der „Wiedervereinigung“, wo ein deutlicher Ruck nach rechts stattfand und in zahllosen Morden an Migranten, Obdachlosen usw. gipfelte.

Der Autor bezweifelt die These eines „postnationalen Zeitalters“ in der Globalisierung, vor allem nach dem parteipolitischen Aufstieg der AfD in den letzten Jahren: „Die Zukunft ist mithin (…) völlig offen, aber es scheint derzeit so, als sei der (deutsche) Nationalismus lebendiger, als man lange Zeit geglaubt hat, und seine Geschichte noch keineswegs vorbei.“ (S. 182)

Das Werk vernachlässigt, dass der Begriff „Nation“ in Teilen der wissenschaftlichen Forschung als Konstrukt gilt. Ernest Gellner kam zu dem Schluss: „Nationalismus ist keineswegs das Erwachen von Nationen zu Selbstbewußtsein: man erfindet Nationen, wo es sie vorher nicht gab.“ Balibar und Wallerstein diagnostizierten: „Sicher ist indessen, dass es uns beiden gleichermaßen wichtig erscheint, die Nation und das Volk als historische Konstruktionen zu denken, dank derer die heutigen Institutionen und Antagonismen in die Vergangenheit projiziert werden können, um den ‚Gemeinschaften‘ eine relative Stabilität zu verleihen, von denen das Gefühl der individuellen ‚Identität‘ abhängt.“ Benedict Anderson definiert „Nation“ als „eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist die deswegen, weil ihre Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert.“

Daher ist dieses Werk nur mit einer kritischen Herangehensweise zu lesen.

Robert Kain: Otto Weidt. Anarchist und »Gerechter unter den Völkern« Schriften der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Reihe A: Analysen und Darstellungen (10), 652 Seiten, Lukas Verlag, Berlin 2017,

ISBN 978-3-86732-271-3

Die Person Otto Weidts, sein soziales Umfeld und ihn beeinflussende kontextuelle Bedingungen innerhalb der anarchistischen Bewegung Berlins und seine in der NS-Zeit Rettung von Jüdinnen und Juden stehen im Mittelpunkt dieses Werkes.

Die bisherige wissenschaftliche Forschung zu Otto Weidt und seine Taten hat die aktive politische Bestätigung bislang keine Rolle gespielt. Dies will der Autor mit dieser opulenten Biographie zu ändern: „(…) steht es doch zu vermuten, dass seine politische Gesinnung und seine politischen Erfahrungen, die er im Verlauf seiner aktiven politischen Arbeit sammelte, auch späterhin, in der Zeit des Nationalsozialismus, für ihn bedeutsam waren. Eine genaue Untersuchung seiner Betätigung in der anarchistischen Arbeiterbewegung ist somit von erheblicher Relevanz.“ (S. 16)

Berlin war damals das Zentrum des deutschen Anarchismus, die einzelnen Gruppen waren untereinander aber zerstritten. Weidt schloss sich der Gruppe „Anarchist“ an und wurde 1905 verantwortlicher Redakteur der Zeitung „Der Anarchist“. Schon bald kam er in das Visier der „Politischen Polizei“ in Berlin und ihm wurde schon bald wegen „Pressvergehens“ der Prozess gemacht. In der Folgezeit wurde er einer der prägenden Figuren auch in der Dachorganisation „Anarchistische Föderation Deutschlands“. Als es zum Bruch zwischen ihm und der Gruppe „Anarchist“ kam, gab es Zentralisierungsbestrebungen innerhalb der anarchistischen Szene im Deutschen Reich. In der Folgezeit verließ er Berlin, traf Pierre Ramus in Wien, wo er jedoch ausgewiesen wurde. Ramus machte ihm das Angebot, die Geschäftsleitung der Zeitung „Freie Generation“ zu übernehmen, die „alle Fragen des Lebens unter anarchistischen Gesichtspunkten beleuchten, eine Übersicht über die Literatur des Anarchismus geben und ‚endlich einmal die grandiose und opferreiche Geschichte des Anarchismus‘ veröffentlichen.“ (S. 157) Doch dieses Projekt scheiterte, er verlor den Kontakt mit Ramus und ging nach Berlin zurück. Dort fand er keinen Anschluss und kehrte dem organisierten Anarchismus enttäuscht den Rücken.

Weidt wollte den Staat als Herrschaftsinstrument ersetzen durch ein gemeinschaftliches Miteinander auf freier Grundlage, um den Menschen ihre Selbständigkeit zurückzugeben und eine höhere Form von Freiheit zu erreichen. Er proklamierte die Loslösung aus staatlichen Zwängen, aus sämtlichen Zwangsgemeinschaften; radikaler Bruch mit den Überlieferungen des Privateigentums, der Familienautorität sowie der nationalen Überhebung. Für ihn war der Staat ein großer Verursacher gesellschaftlicher Probleme und forderte dessen Ersetzung durch eine freie und sozial gerechte Gemeinschaftsordnung ohne Zwangsinstitutionen, Hierarchie und Konkurrenz. Weidt wandte sich nicht nur gegen die staatlichen Zwänge des wilhelminischen Deutschland, sondern gegen jeglichen Etatismus und Zentralismus marxistischen Denkens. Er verabschiedete sich vom vorherrschenden Dogma einer marxistischen, angeblich naturgesetzlichen Revolution und entwickelte sich zu einem der Kritiker der deutschen Sozialdemokratie im sozialistischen Lager. Seine Vorstellung von Sozialismus besaß herrschaftsfreien, egalitären und selbstverwalteten Charakter ohne hierarchische Strukturen und autoritäre Gesetze oder Gehorsamspflicht.

Er betont auch, dass sich nur durch die gedankenlose Unterordnung der Menschen staatliche oder andere autoritäre Herrschaftsweisen entwickeln und verfestigen konnten. Im Zeitalter des Imperialismus setzte er von der im Deutschen Reich herrschenden Nationalstaatlichkeit, Nationalismus und Rassismus ab. Die regionalen, nationalen und internationalen Geschehnisse seiner Zeit verarbeitete Weidt publizistisch, seine Worte waren seine Waffe im Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaftsform, den Staat und autoritäre Organisationen.

Die Erfahrungen, die Weidt während seiner aktiven politischen Zeit als Anarchist sammelte, prägten ihn zeitlebens. Auch als er eine Familie gründete und einen bürgerlicheren Lebenswandel mit einem festen Einkommen hatte, blieb er geistig den anarchistischen Werten treu. Er gründete die „Blinden-Werkstätte Otto Weidt“, nachdem er selbst nahezu erblindete.

Als der Nationalsozialismus die Macht in Deutschland übernahm, reagierte er geschockt. Die anschließende Verfolgung der Juden in Berlin und die drohende Deportation in ein KZ wollte Weidt entgegentreten. Er wollte Zwangsarbeiter in seiner Blindenwerkstatt aufnehmen und sie so vor der Willkür der NSDAP schützen.

Seine Aktivität im Rettungswiderstand kann nur richtig verstanden werden, wenn man seine bisherige Biographie und seine anarchistischen und solidarischen Vorstellungen angelehnt an Kropotkin versteht.

In seiner Bürstenwerkstatt im Hinterhof der Rosenthaler Straße 39 in Berlin Mitte gelegen beschäftigte er während des 2. Weltkrieges hauptsächlich blinde und gehörlose Jüdinnen und Juden. Die Werkstatt bildete oft den letzten Zufluchtsort für die Verfolgten und ihre Angehörigen, die von der Deportation in ein Konzentrationslager bedroht waren. Neben der Beschäftigung besorgte ihnen Weidt Nahrungsmittel und falsche Papiere. Weidt versteckte mehrere Jüdinnen und Juden im hinteren Raum seiner Werkstatt und an anderen sicheren Orten. Auch die Repressalien durch die Gestapo und eine Razzia konnten ihn nicht von seinen Schutz verfolgter Menschen abbringen. Als Arbeiter und Arbeiterinnen 1942 in das Sammellager in der Großen Hamburger Straße gesteckt wurden, gelang es Weidt mittels der Bestechung der Gestapo, die Menschen dort herauszuholen. Aus dem Betriebsgewinn ließ Weidt Gemüse und Kartoffeln außerhalb von Berlin einkaufen, um dies an seine jüdischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verteilen. Mit Paketsendungen ins KZ Theresienstadt half er seiner ehemaligen Angestellten Paula Frahm und anderen blinden und taubstummen Menschen aus dem ehemaligen Heim in Berlin-Weißensee. Alice Licht, einer seiner Arbeiterinnen, half er unter dem Einsatz seines Lebens, während der Evakuierungsmärsche aus dem KZ Christianstadt zu entkommen.

Weiterhin war er Mitglied eines Retter-Netzwerkes, das untergetauchten Jüdinnen und Juden Verstecke vor der Gestapo besorgte und sie auch sonst mit den nötigsten Lebensmittel und Informationen versorgte. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich ausführlich mit den Verstecken, dem Schicksal der Untergetauchten und anderen Helferinnen und Helfern.

Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus half Weidt weiterhin NS-Verfolgten und setzte sich für den Bau eines jüdischen Waisenhauses und eines Altenheimes für KZ-Überlebende ein. er selbst wurde immer mehr von Krankheiten geplagt und starb 1947. Der Autor resümiert: „Er war Initiator, Organisator, Koordinator und Berater vieler Rettungsbemühungen. Weidt hatte eine Art Führungsrolle im kollektiven Rettungswiderstand des um seine Blindenwerkstatt herum ausgebildeten Netzwerkes inne. Vielleicht diente er einigen Akteuren dieses Netzwerkes sogar als moralisches Vorbild, vielen Verfolgten war er mit Sicherheit eine Stütze in den Zeiten des Terrors.“ (S. 508)

Nach seinem Tod geriet der Rettungswiderstand von Weidt in Vergessenheit; erst die jüdisch-deutsche Journalistin Inge Deutschkron, die in der Blindenwerkstatt Weidts selbst von 1941 bis Anfang 1943 beschäftigt war, sorgte mit ihren Publikationen über die „stillen Helden, die in der NS-Zeit ihr und anderen Jüdinnen und Juden halfen, für eine angemessene Würdigung des solidarischen Engagements des Anarchisten ins Rollen brachte. Am 7.9.1971 bekam Otto Weidt daher posthum von der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem den Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen. Heute existiert das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt, seit 2001 ist die Dauerausstellung an das jüdische Museum angebunden. Anhand von persönlichen Dokumenten wie Briefen, Gedichten und Fotografien, aber auch die zeithistorische Situation im „Dritten Reich“ gezeichnet von Verfolgung und Furcht vor der Gestapo wird dort illustriert.

Otto Weidts anarchistische Betätigung im Kaiserreich war vorprägend für sein späteres Handels, jüdischen behinderten Menschen während der NS-Zeit zu schützen und sie vor Verfolgung, Deportation und Tod zu retten. Robert Kain schildert ausführlich und deutlich Weidts politisches Wirken in der deutschen anarchistischen Bewegung, wo er Werte der Solidarität, Antinationalismus und Pazifismus vorlebte. Diese Faktoren für seine Aktivität im Rettungswiderstand; seine Werkstatt bildete oft den letzten Zufluchtsort für die Verfolgten und ihre Angehörigen, die von der Deportation in ein Konzentrationslager bedroht waren. Eine beeindruckende Biographie über einen beeindruckenden Menschen, der Verfolgten unter Lebensgefahr half. Weidts späte Ehrungen sind auch ein Ausdruck der Anerkennung dieser besonderen Persönlichkeit. Nebenbei liefert das Buch auch noch einen Ausschnitt der deutschen anarchistischen Bewegung vor dem 1. Weltkrieg. Unbedingt zur Lektüre zu empfehlen.

Robin Lane Fox: Augustinus. Bekenntnisse im Leben eines antiken Menschen. Aus dem Englischen von Karin Schuler und Heike Schlatterer, Klett-Cotta 2017, 746 Seiten, ISBN: 978-3-608-98115-5, 38 Euro

Als einer der größten Theologen der Kirchengeschichte entwickelte Augustinus (354-430) in der Auseinandersetzung mit den philosophischen und religiösen Strömungen seiner Zeit seine Lehren von der Erbsünde, der göttlichen Gnade, der göttlichen Souveränität und der Prädestination , die über Jahrhunderte bis ins hohe Mittelalter die katholische Theologie, dann auch die Reformation des Augustinermönches Martin Luther beeinflussten. Stark vom griechischen Philosophen Plato geprägt, war Augustinus die Welt der Erfahrung weniger wichtig als die Welt des Geistes - die für ihn immer die Welt des guten Geistes Gottes ist. Mit Plato lehnte er die Existenz eines Bösen an sich ab, da Gott allmächtig und gut ist; alles Böse ist deshalb Mangel an Gutem. Sein Hauptwerk ist De Civitate Dei, „Vom Gottesstaat“ oder „Stadt Gottes“ bekannt. Darin lehrt der hl. Kirchenvater die katholische Differenz zwischen der bürgerlichen, irdischen Welt Civitas terrena und dem Reiche Gottes Civitas Dei. Diese Unterscheidung hat das gesamte abendländische Mittelalter -- bis zur Reformation -- geprägt, im Unterschied zur engeren Zuordnung beider "Gewalten" im orthodoxen Staatskirchentum. Im Prinzip gilt diese Unterscheidung weiterhin als Kennzeichen des Katholizismus.

Nach Augustinus gab Gott den Menschen die Vernunft, um Gott besser verstehen zu können, und den freien Willen, um Entscheidungen in der Verantwortung vor Gott treffen zu können. Unmoralische Entscheidungen seien solche, die ohne Gott gefällt werden. Überliefert sind fast 1000 seiner Predigten, 113 Bücher und 218 Briefe.

Robin Lane Fox, Emeritus Fellow des New College an der Universität Oxford, ist von Haus aus Althistoriker machte sich schon mit seinen Forschungen und Veröffentlichungen über Alexander von Makedonien einen Namen.

Lane gibt eine monumentale Biographie über den Kirchenvater Augustinus heraus und beschreibt dessen außergewöhnliche Persönlichkeit und seine ständige geistige Weiterentwicklungen. Seine „ruhelose Intelligenz und seine grandiose Wortgewandtheit“ fasziniert Lane dabei besonders. (S. 11). Das Buch ist „durchgehend als biographische Symphonie komponiert, deren Thema das Leben des Augustinus bis zum Alter von dreiundvierzig Jahren ist.“ (S. 12). Die Herausforderung dieses Buches ist, „zu entscheiden, was man glauben soll und was man am besten zu einem neuen Ganzen verarbeitet.“ Unter diesen Gesichtspunkten beginnt Lane mit der Auseinandersetzung von Augustinus‘ Confessiones: „Es ist ein christliches Meisterwerk, doch sein Zauber wirkte und wirkt weit über die christliche Kirche hinaus.“ (S. 17) Lane stellt die These auf, dass die Confessiones nicht das Ergebnis einer plötzlichen Veränderung in Augustinus‘ Sicht auf Gott und die Menschen“ ist, sondern „die Wurzeln des Werkes vielmehr schon in den vorherigen elf Jahren zu finden“ seien.

Ferner beschreibt er die weltliche und geistige Umgebung, in der er aufwuchs, und stellte fest, dass Augustinus nach seiner Bekehrung den „weltlichen Glanz und Ehrgeiz“ kritisierte: „Er betrachtet ihn als Beleg für den ‚Stolz‘, die Wurzel der Sünde, und als eine Ablenkung der Seele hin zu flüchtigen, unbefriedigenden Vergnügen.“ (S. 34) Das heißt aber nicht, dass Augustinus nicht an weltlichen Dingen gefallen fand. Lane beschreibt ihn als leidenschaftlichen Jäger, Anhänger des Gesangs und aufgeschlossen gegenüber seinen Mitmenschen.

Dann beginnt die eigentliche Biographie mit seiner Jugendzeit bis zu seiner Ankunft in Karthago. Seine Zeit in Rom wird knapp skizziert, bis dass er 384 durch Unterstützung manichäischer Freunde in Rom und auf Empfehlung des römischen Stadtpräfekten Quintus Aurelius Symmachus als Rhetoriklehrer nach Mailand berufen, wo Kaiser Valentinian II. residierte. Eine seiner Aufgaben bestand jetzt darin, die öffentlichen Ehrenreden auf Kaiser und Konsuln zu halten. Dort werden die Beziehung zu seinen Gönnern und Förderern dargelegt, seine Rezeption des Gedanken Plotins der Verbindung unserer oberen Seelenebene mit ihrem göttlichen Ursprung und die Beschäftigung mit dem Neuplatonismus insgesamt beschrieben. Sein „Bekehrungserlebnis“, also seine im Jahre 386 stattfindende religiöse Erfahrung, steht natürlich auch im Mittelpunkt. Seine geistige Wandlung, auf Ehe, Geschlechtsverkehr und Beruf zu verzichten und ein kontemplatives Leben zu führen, macht Augustinus zu einem neuen Menschen. Mit einigen Verwandten und Freunden zog Augustinus sich danach auf das Landgut eines Freundes in Cassiciacum zurück, hier verfasste er zahlreiche Schriften. In der Osternacht 387 (24./25. April) ließ er sich mit seinem Sohn Adeodatus und seinem Freund Alypius in Mailand taufen.

Dann kehrte Augustinus in seine Heimatstadt zurück, führte ein gottesfürchtiges Leben und schrieb seine bekannten Werke. Unter anderem als Reaktion auf die Eroberung Roms durch die Westgoten 410 verfasste er die Schrift Über den Gottesstaat (De civitate Dei), an der er von 413 bis 426 arbeitete; er entwickelt hier die für Jahrhunderte gültige Unterscheidung zwischen irdischem Staat und Gottesstaat (civitas terrena und civitas Dei) und widersprach der verbreiteten Auffassung, dass der Fall Roms auch den göttlichen Heilsplans in Frage stelle. Er diktierte Buch auf Buch; am Ende seines Lebens waren es mehr als 100 Werke. 396/397 entwickelte er erstmals seine Gnadentheologie; die autobiographischen Bekenntnisse (Confessiones) schrieb er 397/398; an der Schrift Über die Dreieinigkeit (De Trinitate), einem seiner Hauptwerke, arbeitete er von 399 bis 419. 396 wurde er Bischof von Hippo, eine Position, die er bis zu seinem Lebensende innehatte.

Lane beschreibt auch seine Gegnerschaft zu anderen christlichen Strömungen, insbesondere den Manichäismus, den Donatismus und den Pelagianismus. Dass er im Konflikt mit den Donatisten auch auf staatliche Zwangsmaßnahmen und Gewalt setzte, wird von Lane nicht ausführlich und kritisch gewürdigt.

Augustinus entwickelte sich zur wichtigsten Führungsfigur der Kirche in Nordafrika. Auch den römischen Bischöfen gegenüber betonte Augustinus die Eigenständigkeit der nordafrikanischen Kirche.

Lane stützt sich in seiner Biographie vor allem auf die Confessiones, bleibt dabei nahe an der oder anderen Quellen und schweift nicht ab. Augustinus’ weltanschauliche und religiöse Denken als Modifizierung neuplatonischer Elemente im christlichen Sinn werden richtig herausgearbeitet. Die Dreiteilung der Wirklichkeit in die Welt des höchsten Seins, die nur dem Geist zugänglich ist, die Geist-Seele des Menschen und die niedere Welt des Werdens, die den Sinnen zugänglich ist, haben eine lange Wirkungsgeschichte bis heute. Diese Wirkungsgeschichte fehlt in dem Buch, sollte aber auch nicht im Vordergrund stehen. Lane sieht die Person des Augustinus etwas zu unkritisch. Als einer der einflussreichsten Theologen und Philosophen der christlichen Spätantike bzw. der Patristik hat er das Denken des christlichen Abendlandes wesentlich geprägt. Aber er war auch ein Wortführer des christlichen Antisemitismus. Er formulierte den Gedanken der „Knechtschaft“ der Juden, und verurteilte sie wegen der Kreuzigung Jesu und wollte eine Zwangsbekehrung zum Christentum erreichen. Augustinus ist auch kein gutes Beispiel für interreligiösen Dialog oder Respekt, da war er ein Kind seiner Zeit.

Insgesamt aber schildert Lane in einem flüssigen Stil die eindrucksvolle Persönlichkeit eines der geistigen Wortführer der Spätantike. Gleichzeitig taucht man auch in die geistesgeschichtliche Welt der Epoche ein, ohne die ein tieferes Verständnis der Persönlichkeit Augustinus nicht möglich wäre. Dieses Buch bietet also eine intensive Auseinandersetzung mit der Person und seiner Werke, die Wirkungsgeschichte wird hier nicht dargestellt. Eine sehr umfangreiche Bibliographie am Ende des Buches lädt zum Weiterlesen ein. Eine lohnenswerte, hochwertige Lektüre über einen spannenden Menschen.

Pierre Bourdieu: Über den Staat. Vorlesungen am College de France 1989-1992 Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, ISBN: 978-3-518-19825-3

Der 2002 gestorbene Pierre Bourdieu war einer der wichtigsten Soziologen des 20. Jahrhundert. Bourdieu war ein politischer Intellektueller: Bekannt geworden ist seine Solidarisierung mit streikenden Bahnarbeitern auf einer Betriebsversammlung im Gare de Lyon am 13. Dezember 1995. Im Jahre 1998 unterstützte er die Arbeitslosenbewegung in Frankreich, kritisierte die zunehmende Prekarisierung auch in der Mittelschicht, war Mitbegründer der globalisierungskritischen Bewegung attac und trat im Mai 2000 für eine Vernetzung der sozialen Bewegungen in Europa gegen den Neoliberalismus ein. Das organisierte Gegeneinander der Lohnabhängigen war für ihn Bestandteil der neoliberalen Hegemonie und sollte zu Gunsten eines Erkennens der gemeinsamen Interessen aufgegeben werden.

Pierre Bourdieu sprach am College de France in den drei Studienjahren zwischen 1989 und 1992 über den Staat aus soziologischer Sicht. Dies war eine freie Rede ohne Ablesen eines vorbereiteten Dokumentes, daher sind seine Gedanken und Ausführungen bisweilen sprunghaft und unzusammenhängend.

Die Transkription der Herausgeber der Vorlesungen am College de France „nimmt leichte stilistische Korrekturen vor, glättet Unebenheiten der mündlichen Rede (…) und berichtigt einige unverständliche oder ungenaue Satzkonstruktionen.“ (S. 13)

Der Staat ist für ihn „eine außergewöhnliche, noch nie dagewesene Organisationsform, mit der Errichtung dieses Ensembles organisatorischer, materieller und symbolischer Ressourcen, (…). (S. 70) Eines der allgemeinsten Funktionen des Staates ist die Produktion und Kanonisierung sozialer Klassifikationen. (S. 29) Staatliche Akte enthalten für ihn „die Idee des Offiziellen, Amtlichen, Öffentlichen und Allgemeinen.“ (S. 24) Der Begriff der symbolischen Dimension von Herrschaft taucht immer wieder auf und ist der eigentliche Schlüssel seiner gesamten Ausführungen. Bei der Genese des Staates orientiert er sich an Norbert Elias und erörtert außerdem die beiden Bedeutungen des Wortes Staat: der Verwaltung und des Gebietes. Außerdem geht es auf den historischen dynastischen Staat und seine zentralen Elemente ein und erörtert den Zusammenhang zwischen Staat und Nation.

Am Ende des Buches gibt es eine umfangreiche Bibliographie von Werken Bourdieus, die sich unmittelbar auf den Staat, seine Macht und die politische Ideengeschichte beziehen und als weiterführende Lektüre empfohlen werden.

Wer hier ein geschlossenes Theoriegebäude erwartet, der wird enttäuscht werden. Es ist keine zusammenhängende Schrift, die aufeinander aufbaut wie bei Klassikern der politischen Theorie wie Platon, Machiavelli oder Hobbes. Bourdieu spricht als Soziologe über zahlreiche Bereiche, die den Staat ausmachen und analysiert ihn mit Hilfe von hauptsächlich soziologischen Klassikern wie Max Weber oder Norbert Elias.

Geoff Blackwell/Ruth Hobday mit Fotos von Kieran E. Scott: 200 Frauen. Was uns bewegt, Elisabeth Sandmann Verlag, München 2017, ISBN: 978-3-3945543-41-2

In diesem Buch werden 200 mutige, selbständige und offene Frauen vorgestellt, die zu den folgenden fünf Fragen Stellung nehmen:

1) Was ist Ihnen wirklich wichtig?

2) Was macht Sie glücklich?

3) Was empfinden Sie als tiefstes Leid?

4) Was würden Sie in der Welt verändern, wenn Sie könnten?

5) Wählen Sie ein Wort, was Sie beschreibt?

Dabei wurden „Frauen aus unterschiedlichsten Gegenden der Welt –seien sie nun reich oder arm, gebildet oder ungebildet, bekannt oder unbekannt – dazu zu bringen, sich vor ein einfaches Stück Baumwollstoff zu setzen oder zu stellen, um sich fotografieren oder filmen zu lassen, während sie die (…) Fragen beantworten.

Die Zusammenstellung der 200 Frauen lag in den Händen von Prominenten und Frauen, von denen die Autoren erst bei der „Recherche vor Ort“ erfuhren. (S. 9)

Alle diese Frauen haben jedoch eins gemeinsam, die Hoffnung auf ein Ende der Ungerechtigkeiten der männlich dominierten Gesellschaften der Welt und ihre mutiges Eintreten dafür. Die Verlegerin Elisabeth Sandmann dazu: „Aber welche Geschichte auch immer sichtbar wurde, die Antworten sind berührend, weil sie authentisch und mutig sind. Sie bewegen uns, denn sie erreichen uns im Innersten. Die zum Teil radikale Offenheit der Frauen, mit der sie bereit waren, über Glück, Liebe und Träume, aber auch über den erlittenen körperlichen und seelischen Schmerz zu sprechen, macht uns gleichzeitig so demütig und lässt uns zugleich zuversichtlich zurück, weil sie keine Opfer sein wollen, sondern energiegeladen und voller Hoffnung über sich sprechen.“ (S. 11)

Angefangen von der Literatin Aminatta Forna bis zur Anita Heiss, Botschafterin der Indegenous Literacy Foundation der Aborigenes in Australien, werden die Frauen auf einem ganzseitigen Bild porträtiert. Dann folgt eine Kurzvita, bevor dann die Beantwortung der Fragen erfolgt.

Manche dieser Schicksale machen wütend und traurig, andere sind eher rührender Natur. Es stimmt zwar, dass alle Frauen in ihrer Ablehnung patriarchalischer Gesellschaftsstrukturen gleich sind und ihr Leben mit Mut und Geschick selbstbestimmt führen. Manche Frauen sind aber in Sachen Bekanntheitsgrad, Vermögen, Staatsangehörigkeit und Hautfarbe sicherlich privilegierter als andere, das sollte immer im Hinterkopf sein. Das Buch ist insgesamt mit einem tollen Design ausgestattet, allein die Schriftgröße erschwert das konzentrierte Lesen doch zum Teil. Inhaltlich ist das Buch ein gelungenes Werk, das auf einem durchdachten Konzept basiert.

Ulrike Zander/Harald Biermann (Hrsg.): Ulrich Wegener. GSG 9. Stärker als der Terror, Lit Verlag, Münster 2017, ISBN: 978-3-643-13762-3

Dieses Buch über das Leben des langjährigen Leiter des GSG 9 Ulrich Wegener und die Antiterroreinheit als solche kommt zum 40ten Jahrestag der Operation Feuerzauber heraus.

Die GSG 9 als Antiterroreinheit und zur Geiselbefreiung und Bombenentschärfung wurde im September 1972 nach der Geiselnahme von München gegründet, nachdem die überforderte Polizei die Ermordung von elf israelischen Teilnehmern der Olympischen Spiele in München durch das Terrorkommando Schwarzer September nicht hatte verhindern können. Öffentlich in Erscheinung trat sie danach in der Nacht zum 18. Oktober 1977, als die Geiseln der von palästinensischen Terroristen der PFLP entführten Lufthansa-Maschine in Mogadischu befreit wurden (Operation Feuerzauber).

Wegener verteilte Anfang der 1950er Jahre Flugblätter gegen die DDR-Regierung, wurde daraufhin verhaftet und für ein Jahr inhaftiert. Nach seiner Entlassung flüchtete er 1952 zunächst nach West-Berlin und siedelte sich dann in Westdeutschland an. Dort nahm er Aufnahmeprüfungen sowohl für die Offizierslaufbahn bei der Bundeswehr als auch der Bereitschaftspolizei teil.

Nach einem Intermezzo beim Bundesgrenzschutz wurde er Hundertschaftsführer der 15./GSG 2 in Coburg. Später arbeitete er bei der NATO und dann als Verbindungsoffizier des BGS beim Innenministerium. Anschließend wurde er am 26. September 1972 vom damaligen Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher beauftragt, als Kommandeur mit der Aufstellung der Grenzschutzgruppe 9 zu beginnen. Ihren größten Einsatz hatte die GSG 9, als sie die Geiseln der von palästinensischen Terroristen der PFLP entführten Lufthansa-Maschine in Mogadischu befreiten. Die GSG 9 und auch Wegener standen in der Öffentlichkeit und bekamen Lobeshymnen von allen Seiten zu hören. 1979 gab er das Kommando über die Einheit ab und wurde zum Kommandeur des Grenzschutzkommandos West (Kommandeur im BGS) ernannt. Wegener galt als einer der weltweit führenden Experten zur Terrorismusbekämpfung und war Berater beim Aufbau zahlreicher Sondereinheiten anderer Länder.

Die große Schwäche des Buches ist, die GSG 9 nur unkritisch und einseitig zu betrachten. Ihren größten Skandal hatte die GSG 9 bei ihrem Einsatz in Bad Kleinen am 27. Juni 1993, bei dem die RAF-Mitglieder Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams im mecklenburgischen Bad Kleinen festgenommen werden sollten.. Die Festnahme Hogefelds im Bahnhof Bad Kleinen verlief erfolgreich, während Grams fliehen konnte. Bei einem anschließenden Feuergefecht erschoss er den GSG-9-Beamten Michael Newrzella. Dann starb Wolfgang Grams durch einen aufgesetzten Kopfschuss, der aus seiner eigenen Schusswaffe abgegeben worden war. Es ist bis heute umstritten, ob er sich den Schuss selbst in auswegloser Lage zufügte oder– ob nacheilende GSG-9-Beamte, möglicherweise aus Rache für den sterbenden Kollegen Michael Newrzella, Grams bereits auf dem Gleis liegend dessen Waffe entwanden und erschossen. Die anschließenden Diskussionen und Ungereimtheiten bei den Zeugenbefragungen kratzten stark an dem guten Ruf der Antiterroreinheit. Auch Berichte über falsch verstandenen Korpsgeist, autoritäre Führung und fehlende demokratische Kontrolle über die Spezialeinheit unterstützten dies noch.

In Zeiten konkreter Terrorgefahr in Westeuropa durch extreme Islamisten, Breivik-Nachahmern und psychisch kranke Täter mit zahlreichen Anschlägen und Toten in verschiedenen Städten wächst die Sehnsucht in der Bevölkerung nach Schutz und Sicherheit. Diesem Wunsch wird das Buch gerecht, es präsentiert den starken Mann, der sich gegen den Terror stellt, und präsentiert ihn als Helden. Wegener ist aber keiner, er ist lediglich ein international angesehener Terrorismusexperte, der in der Praxis zahlreiche Antiterroreinheiten aufgebaut hat. Andere Menschen, die auch wie Wegener ihre Leben für andere einsetzen wie Feuerwehrleute, Bergretter usw. bekommen keine Orden der BRD und kein eigenes Buch. Dabei leisten sie in ihrem Bereich dasselbe, bleiben aber zeitlebens anonym und ohne öffentliche Ehren.

Daher ist das Buch ein gutes zeithistorisches Dokument der Terrorabwehr in der BRD. Die Person Wegener als Heroen zu preisen, ist dagegen strikt abzulehnen. Die GSG 9 wird ebenfalls unkritisch als erfolgreiche Antiterroreinheit beschränkt auf den Mogadishu-Einsatz konstruiert, ohne deren Schattenseiten zu beleuchten.

Thorsten Dette: Wuppertal so wie es war, Droste Verlag, Düsseldorf 2017, ISBN: 978-3-7700-1580-1, 29,99 Euro

Wuppertal blickt auf eine lange und reiche Geschichte zurück: Es war schon früh eines der Industriezentren in Deutschland und ist heute die Metropole des Bergischen Landes. Die Stadt wurde erst zum 1. August 1929 durch Vereinigung der kreisfreien Städte Elberfeld und Barmen sowie der Städte Ronsdorf, Cronenberg und Vohwinkel unter dem Namen Barmen-Elberfeld als kreisfreie Stadt gegründet und im Jahr 1930 nach einer Bürgerbefragung in Wuppertal umbenannt.

Nun ist eine umfassende Dokumentation der Stadtgeschichte von 1870 bis 1970 aus der Feder von Thorsten Dette, Mitarbeiter des Stadtarchivs Wuppertal, erschienen, das neben Texten über 300 historische Aufnahmen aus dem Stadtarchiv enthält.

Bedingt durch die frühe Industrialisierung musste die Stadt in wirtschaftlicher Hinsicht mehrere Strukturwandel durchleben und auch in politischer Hinsicht enthält ihre Entwicklung auch Stück deutscher Geschichte.

Die Region des späteren Wuppertal war Mitte des 19. Jahrhunderts eines der größten Wirtschaftszentren des Europäischen Kontinents und eine der ersten Industrieregionen Deutschlands. Die Herstellung von Textilien und deren Bleichung ist im Tal der Wupper seit dem Jahr 1450 belegt. Das Bleichen der Garne mit Wupperwasser auf den Talwiesen und das anschließende Färben begründeten die Entwicklung einer vielfältigen Textilindustrie vor allem in Elberfeld und Barmen. Zwischen 1830 und 1885 vervierfachte sich die Einwohnerschaft und Barmen und Elberfeld wuchsen jeweils zu Großstädten. Die Verelendung weiter Bevölkerungsteile als Schatten der Industrialisierung war dort ebenfalls zu beobachten. Um die Jahrhundertwende 1900 bescherten Kleineisenhandwerk und Textilindustrie mit florierender Produktion und beachtlichem Handel den Städten noch einmal einen kräftigen Wachstumsschub, was den Bau der weltberühmten Schwebebahn ermöglichte.

In der Weimarer Republik ging 1920 ging der Widerstand gegen den Kapp-Putsch von Elberfeld aus, wo sich Vertreter von KPD, USPD und SPD trafen, in einem gemeinsamen Aufruf zum Widerstand gegen die Putschisten durch Streik und Erringung der politischen Macht aufriefen und so den Ruhraufstand in Gang setzten. Der Ruhraufstand führte auch in Wuppertal zu schweren und opferreichen Kämpfen zwischen Freikorps und Polizei auf der einen sowie bewaffneten Arbeitern der Roten Ruhrarmee auf der anderen Seite. Der Kapp-Putsch, vom 13. März 1920 war ein nach 100 Stunden gescheiterter, konterrevolutionärer Putschversuch gegen die nach der Novemberrevolution geschaffene Weimarer Republik. Der Putschversuch brachte das republikanische Deutsche Reich an den Rand eines Bürgerkrieges und zwang die sozialdemokratischen Mitglieder der Reichsregierung zur Flucht aus Berlin. 1930 erhielt Wuppertal durch Vereinigung der kreisfreien Städte Elberfeld und Barmen sowie der Städte Ronsdorf, Cronenberg und Vohwinkel ihren heutigen Namen. In der NS-Zeit gab es eine starke NS-Fraktion und antifaschistischer Widerstand der Arbeiterbewegung und der Kirchen, was zu brutalen Kämpfen und Prozessen führte. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Innenstadt durch schwere Angriffe der Alliierten mit mehreren tausend Toten) zum großen Teil zerstört, insgesamt etwa 38 Prozent der bebauten Stadtfläche Wuppertals. Nach der Befreiung wurde Wuppertal Teil der britischen Besatzungszone. Der allmähliche Niedergang der Textilindustrie in den 1970er Jahren führte zu einem stetigen Strukturwandel einhergehend mit Arbeitslosigkeit und Armut.

Neben der politischen Geschichte setzt der Autor sich noch mit anderen Aspekten der Stadtgeschichte auseinander: Gesellschaft und Kultur, Sport, Gesundheit und Bildung, Natur und Freizeit. So liefert Thorsten Dette eine umfassende Aufarbeitung der Geschichte Wuppertals zwischen 1870 und 1970, bei der leider der Widerstand gegen den Kapp-Putsch 1920 und die Rolle der Roten Ruhrarmee etwas zu kurz kommt. Der Vorteil des Buches besteht darin, dass neben dem Text viele originale Bilder oder Fotografien enthalten sind, die den Leser in die Lage versetzen, Stadtgeschichte lebendig zu erleben.

William Drozdiak: Der Zerfall. Europas Krisen und das Schicksal des Westens, Orell Füssli, Zürich 2017, ISBN: 978-3-280-05652-3

William Drozdiak gilt als einer der besten Kenner der transatlantischen Beziehungen zwischen den USA und Europa. Sein Buch behandelt die Krise der EU und der transatlantischen Beziehungen und stellt die Frage, ob der Traum eines geeinten Europas zu zerfallen droht: „Die Aussicht, Jahrhunderte des Nationalismus, Blutvergießens und der Zerstörung hinter sich zu lassen – zugunsten eines zusammenhängenden Kontinents, geprägt vom postmodernen Ethos, aus dem Gedanken an Krieg zwischen Nationalstaaten für immer verbannt sind-, schien für Europa ein neues goldenes Zeitalter zu versprechen. In den Augen der Welt wäre Europa damit Vorbild für das edle Experiment geworden, nationale Souveränität mit neuen, effektiven Formen übernationaler Regierung zu verbinden.“ (S. 12)

Die multiplen Krisen der Europäischen Union haben sich zu einer Situation verdichtet, in der der Status Quo der europäischen Integration und sogar der Fortbestand der Union zunehmend hinterfragt werden. Mit der gemeinsamen Währung in der Eurozone und den offenen Grenzen im Schengenraum sind zwei Kernprojekte gefährdet, die wie keine anderen für das Zusammenwachsen der EU stehen. Der gemeinsame Währungsraum ist ein halbfertiges Integrationsprojekt, über dessen grundlegende Weiterentwicklung die Euro-Staaten tief gespalten sind. Schließlich wird mit dem mehrheitlichen Votum der Briten für den Brexit im Referendum am 23. Juni 2016 erstmals der Austritt eines Mitgliedstaates Realität. Nationalistische und rassistische Parteien konnten in den letzten Jahren bei Wahlen massiv an Stimmen gewinnen, in Polen und Ungarn stellen sie sogar die Regierung. Durch seine Politik des „America first“ setzt US-Präsident Donald Trump die bisher guten transatlantischen Beziehungen aufs Spiel, so dass in den internationalen Beziehungen viele offene Fragen entstehen.

Mit Länderberichten aus der BRD, Großbritannien, Frankreich, Brüssel, Spanien, Italien, Polen, Dänemark, Lettland und Griechenland will das Buch „Einblicke in die schmerzlichen und beunruhigenden Herausforderungen (…) vermitteln, mit denen Europa heute konfrontiert ist, und die wichtigsten Ursachen der politischen Turbulenzen, wirtschaftlichen Unsicherheiten und sozialen Unruhe auf dem Kontinent zu benennen.“ (S. 19) Seltsamerweise fehlt ein Bericht aus Ungarn dabei.

Dann kommt er auf die schwierigen Beziehungen der EU zu Russland, zur Türkei und zu Tunesien zu sprechen, bevor er auf die Trump-Regierung in den USA und deren Abkühlen der transatlantischen Beziehungen zu sprechen kommt. In einem Epilog stellt er sich des Szenarios eines Europa ohne die strategische Partnerschaft mit den USA und kommt zu dem Schluss: „Aber ohne die fortdauernde Unterstützung Amerikas in Sachen Sicherheit und Verteidigung ist nur schwer vorstellbar, wie ein brüchiger Kontinent seine vielen Risse überwinden und den Zusammenhalt wahren soll, der so viele Erfolge in den letzten 70 Jahren möglich gemacht hat.“ (S. 306)

Das Buch über die nationalen Egoismen, dem Brexit und den Folgen, der Krise der EU sowie die Störung der transatlantischen Beziehungen ist aktueller denn je. Vor allem außenpolitisch steht die westliche Welt vor einer Zeitenwende, wenn sie nicht schon längst da ist. Allerdings sind viele Krisenindikatoren innerhalb auch hausgemacht: Die undurchsichtige Politik Brüssels, die für viele Menschen nicht mehr verständlich ist, das Protegieren von Konzernen und Banken auf dem Rücken der Sozialpolitik, die sozialen Verwerfungen in Griechenland und die zunehmende Entsolidarisierung innerhalb der europäischen Staaten tragen eine wesentliche Mitschuld. Diese Punkte werden hier leider nicht alle offen benannt. Es herrscht eher eine Krise innerhalb der Organisationen der EU, nicht an dem Plan eines geeinten Europas.

Die Krisenindikatoren werden in dem Buch kompetent herausgearbeitet und mögliche Szenarien analytisch tiefgehend angedacht und durchgespielt. Man spürt die tiefe Sorge des Autors um die EU und den guten Beziehungen zu den USA in jedem Satz.

Jede Krise bietet auch die Chance zur Erneuerung, da sieht der Autor etwas zu pessimistisch. Es muss nicht zum Zerfall kommen, wenn die Legitimationskrise der EU offen benannt wird und glaubhafte Lösungsansätze gefunden werden.

Kurt Pätzold: Gefolgschaft hinterm Hakenkreuz. Zwanzig Kapitel zu zwölf Jahren deutscher Geschichte, Verlag am Park, Berlin 2017, ISBN: 978-3-845187-73-9

Kurt Pätzold war vor der Wende der führende Faschismus-Forscher in der DDR.Nach der Wende wurde er im Zuge der Abwicklung der Sektion Geschichte 1992 entlassen. Pätzold schrieb regelmäßig für die Junge Welt und war wissenschaftlicher Beirat der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehörten die Geschichte des Faschismus und der NSDAP, Entwicklungen im Bereich des Geschichtsrevisionismus sowie die Geschichte des Antisemitismus und der Judenverfolgung. Dieses Buch konnte Pätzold nicht mehr zu Ende schreiben, da er 2016 starb. Stattdessen schrieb sein Freund und Kollege Thomas Weißbecker das Fragment zu Ende und brachte es druckreif hinaus.

In diesem Buch steht die Frage im Mittelpunkt, welche Faktoren dafür verantwortlich waren, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung dem Nationalsozialismus so bereitwillig folgte. Der hohe Grad an Kollaboration und Zusammenarbeit der meisten Deutschen mit dem nationalsozialistischen Regime wird nicht nur durch den Zwang, die drohenden Strafen oder Autorität erklärt. Es wird die These aufgestellt, dass die deutsche Bevölkerung keinen Totalverlust der Selbstbestimmung besaß und alle Möglichkeiten zu eigenen Entschlüssen verloren hatte. Im Zentrum dieser Suche nach den Ursachen stehen die „vielgestaltigen Wechselwirkungen zwischen denen, die aus ihrer Interessenlage heraus bewusst Manipulation betrieben, und denen, die sich aus vielerlei Gründen gegen ihre eigentlichen Interessen manipulieren ließen.“ (S. 8)

In den ersten neun Kapiteln werden diese Fragen anhand von verschiedenen Episoden aus den Jahren 1933 bis 1939 beantwortet. Danach folgen 11 Kapitel über Episoden aus dem 2. Weltkrieg, bevor im dritten Kapitel noch eine eingehende Untersuchung über die Forschungsergebnisse der Nachkriegszeit zu diesem Thema und die Verführbarkeit der Massen im Besonderen angestoßen wird.

Pätzolds Thesen über die Massenbasis der Herrschaft der Nationalsozialisten negiert die These von den Verantwortung Hitlers und einige seiner Offiziere und Gefolgsleute. Der immer noch gängigen Behauptung der reinen Befehlsempfänger wird auch vehement widersprochen. Ohne eine notwendige Basis und Zustimmung in der Bevölkerung hätte sich der Nationalsozialismus niemals so lange halten können. Das Buch hat jedoch nicht nur einen historischen Charakter: die Frage nach der Gefolgschaft von faschistischen Parteien hat gerade wieder Hochkonjunktur, da seit dem Ende des 2. Weltkrieges wieder erstmals eine völkische Partei in den Bundestag eingezogen ist. Genug Gründe, um dieses spannende Buch zu lesen.

Konstantin Wecker: Das ganze schrecklich schöne Leben. Die Biographie, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2017, ISBN: 978-3-579-08644-6

Immer noch singt Konstantin Wecker auf Demonstrationen gegen rechts, gegen Krieg und Kapitalismus, für Antiautorität und Solidarität. Für viele gilt er als Polit-Rentner ich der alte Sack, der nicht von seinen Vorstellungen lassen kann und längst sich aufs Altenteil zurückziehen wollte.

Anlässlich zu seinem 70 Geburtstag gibt es eine Biographie von Konstantin Wecker auf dem Markt. Dies ist nicht die erste, aber eine ganz besondere. Die Tatsache, dass der Liedermacher zwei Wegbegleiter bat sein Leben aus ihrer Perspektive zu erzählen, denn die eigene Wahrnehmung war ihm zu wenig. Eine gelungene, nicht alltägliche Kombination, bei der sich aus drei unterschiedlichen Sichtweisen ein Ganzes zusammenfügt. Günter Bauch, ein alter Freund, der Konstantin Wecker auch auf seiner Tour begleitete sein Leben, und der Journalist Roland Rottenfußer haben abwechselnd mit ihm einzelne Kapitel geschrieben. So erlebt der Leser die Biographie aus drei Blickwinkeln heraus, aufregend wie das Leben des nimmermüden Liedermachers. Dort geht es um Kokain, Träume, Musik, Pazifismus, Liebe, Antifaschismus, Fehler, Überzeugungen, Einmischung und die Tatsache des Alterns.

Das Buch handelt nicht nur von den vielen unterschiedlichen Facetten des Künstlers, sondern über seine auch noch mit 70 lautstark verkündeten politischen Überzeugungen: „gegen das von gewisssenlosen Populisten wiedererweckte völkische, nationalistische, kleingeistige und zutiefst inhumane Gespenst.“ (S. 450), für die 68er und Hippiebewegung, die „eine der wichtigsten Revolutionen der Weltgeschichte gewesen“ sei (S. 448) und für das „Recht auf Empörung und Engagement“ (S. 449).

Spannend ist das Buch aus dreierlei Gründen: Erstens ist Konstantin Weckers Biographie immer spannend, zweitens ist die dreifache Erzählperspektive spannend, drittens ist es spannend zu sehen, dass Wecker im Gegensatz zu anderen Alt 68ern wie der Neonazi und Antisemit Horst Mahler, der Nationalist Bernd Rabehl und andere Renegaten immer seinen Überzeugungen treu geblieben ist. Charakterstärke ist vielleicht sein hervorstechendes Markenzeichen.

Arlie Russell Hochschild: Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2017, ISBN: 978-3-593-50766-8, 29,90 Euro

Die US-amerikanische Soziologin Arlie Russell Rothschild beschäftigt sich mit den Gründen des Erstarken der rassistischen und nationalistischen Bewegung in den USA und reiste deshalb nach Louisiana, „ins Herz der amerikanischen Rechten“ und versuchte dort fünf Jahre lang in Gesprächen mit Einheimischen herauszufinden, warum sie Anhänger der Rechten geworden sind oder schon immer waren. Ihr Buch stand auf der Shortlist für den National Book Award 2016 und wurde nun ins Deutsche übersetzt.

Die gewalttätigen Auseinandersetzungen und der Tod einer Gegendemonstrantin während einer rechtsextremen Kundgebung in der Stadt Charlottesville im US- Bundesstaat Virginia vor einigen Wochen zeigt eindeutig den Charakter der rassistischen Szene in den USA. Die Kundgebung unter dem Motto „Vereinigt die Rechte“ war der größte Aufmarsch von Rassisten und Neonazis in den USA seit Jahrzehnten. Bisher sehen die Behörden die Ereignisse jedoch lediglich als Rechtsbrüche, nicht als Terror. In der Stadt waren hunderte, zum Teil mit Schusswaffen ausgerüstete Rechtsradikale aufmarschiert. Einer von ihnen, der 20-jährige James Alex Fields Jr. aus Ohio, raste mit seinem Wagen in eine Menge von Gegendemonstranten und tötete eine Frau. Fields aber soll wegen Totschlag vor Gericht gestellt werden, nicht wegen eines Terrorvergehens. Die Neonazi-Website „Daily Stormer“ titelte nach dem Mord: „ Und dieser Krieg hat gerade erst begonnen.“

Nach der aktuellsten Jahresstatistik des FBI wurden 2015 fast 6000 „Hassverbrechen“ in den USA verübt, rund sieben Prozent mehr als im Jahr zuvor. Fast 2000 der Vergehen richteten sich gegen Schwarze. In jeweils 660 weiteren Fällen waren Juden und Homosexuelle die Opfer, 300 „Hassverbrechen“ wurden gegen Latinos verübt, 250 gegen Muslime. Neuere Untersuchungen legen nahe, dass sich der Trend 2016 noch verstärkt hat. Der muslimische Dachverband CAIR registrierte allein im zweiten Quartal dieses Jahres fast 70 Verbrechen gegen Mitglieder der Minderheit. Am 5. August diesen Jahres warfen Unbekannte eine selbst gebastelte Bombe in eine Moschee in Minnesota.

Die extreme Rechte in den USA sammelt sich in Hunderten von Gruppen und Organisationen. Diese reichen von nationalen Propaganda-Websites bis zu offen neonazistischen Clubs und rechte Milizen, die sich mit Waffentraining auf den angeblich bevorstehenden Angriff auf weiße US-Bürger vorbereiten. Zu diesen Gruppen gehört auch der nach dem amerikanischen Bürgerkrieg 1865 gegründete Ku-Klux-Klan. Relativ neu in der Szene ist die sogenannte „Alternative Rechte“ (Alt Right), die seit etwa zehn Jahren nicht nur gegen Linke und Minderheiten, sondern auch gegen die traditionellen Konservativen in den USA agitiert. Die Alt Right ist in den sozialen Medien sehr aktiv und zieht unter anderem gegen die Aufnahme von muslimischen Flüchtlingen in den USA zu Felde. In allen rechten Gruppen ist der Tenor, dass die „weiße Rasse“ anderen überlegen ist und einer „Überfremdungskampagne“ durch Schwarze, Homosexuelle, Muslime und Juden gegenübersteht.

Das Lob für den Kampf der Sklavenhalterstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg gehört zum gemeinsamen ideologischen Nenner der Rechten. Sie machen Front gegen die Bemühungen vieler Kommunen im amerikanischen Süden, Symbole der Südstaaten wie Denkmäler für Südstaaten-Politiker und -Generäle von öffentlichen Plätzen zu entfernen. Auch der Anlass der Demonstration in Charlottesville war der geplante Abriss eines Denkmals des Bürgerkriegs-Generals Robert E. Lee der für die „Überlegenheit des weißen Mannes“ stehe, einem öffentlichen Park.

Der Einfluss der radikalen Rechten auf die Trump-Regierung ist sehr groß. Mit Steve Bannon, Chefstratege von Donald Trump, ist die Alt-Right-Bewegung direkt im Weißen Haus angekommen. Bannon leitete bis zum vergangenen Jahr die Internetseite „Breitbart News“, die als Sprachrohr der Alt Rechten gilt. Bannon prägte auch als Wahlkampfmanager die rassistischen Botschaften Trumps mit Parolen gegen Muslime und Einwanderer aus Mittelamerika, die von Rechtsradikalen begeistert aufgenommen wurden. Auch Präsidentenberater Sebastian Gorka gehört zur rechten Fraktion der Regierung. Auch er arbeitete bis zum vorigen Jahr bei „Breitbart“.

David Duke, der frühere Anführer des Ku-Klux-Klans, sprach in Charlottesville von einem „Wendepunkt für die Menschen dieses Landes“. Er betonte die Unterstützung der extremen Rechtenfür Trump: „Wir sind entschlossen, uns unser Land zurückzunehmen.“ Das Ziel einer rassisch und religiös homogenen Gesellschaft deckt sich in Teilen mit der dezidiert antimuslimischen, immigrationsfeindlichen und wirtschaftspolitisch nationalistischen Haltung der Trump-Regierung. Trump pflegt bewusst den Kontakt zu rechten und vermeidet Kritik wie nach den Morden in Charlottesville.

Die Autorin beklagt die politische Spaltung in den USA, die sich seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten zwischen Anhängern der Demokraten und Republikanern noch vergrößert hat: „Und hoffentlich überwinden Millionen Amerikaner unterdessen die Empathiemauer in beide Richtungen.“ (S. 352) Darum geht es aber nicht vordergründig, sondern um die Verteidigung des Gleichheitsprinzip eines jeden Menschen in der Verfassung der USA. Die Unabhängigkeitserklärung ist seit jeher der geistige und moralische Kitt der Einwanderungsgesellschaft der USA: Bis heute wirkmächtig ist die naturrechtliche Begründung in der Präambel, die auf eine kurze Einleitung folgt: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. (…)“ Nicht mehr und nicht weniger!

Das Buch bietet nur in Ansätzen Erklärungsversuche für den Aufstieg der Rechten in den USA. Ihre Herangehensweise ist methodisch fragwürdig, man kann nicht in Gesprächen mit verschiedenen Wählern der rechten Republikaner nicht auf die Allgemeinheit schließen. Da müssen Meinungsumfragen und intensivere Forschung betrieben werden, um herauszufinden, wie viele Menschen in den USA ein rechtes Weltbild haben und warum. Auch die Verelendungsthese oder der Angst vor dem sozialen Absturz kann nicht erklären, warum diese Menschen ausgerechnet nach rechts tendieren. Apathie, Drogenkonsum, Kommunismus oder Nihilismus wären auch eine Möglichkeit. Die Tatsache, dass auch Latinos und Frauen Trump trotz sexistischer und rassistischer Ausfälle im Wahlkampf, gewählt haben, wird gar nicht erst thematisiert.

Auch die Herangehensweise der Autorin, Empathie und Verständnis zu entwickeln, hat enge Grenzen. Wenn die Diskussion gegen den Gleichheitsgrundsatz der Person laut der amerikanischen Verfassung verstößt, muss die Diskussion unterbrochen oder beendet werden, sonst gibt man den Leuten nur ein Forum für ihre rechte Hetze und macht sie normal und salonfähiger als zuvor.

Aus diesen Gründen bleibt das Buch an der Oberfläche und liefert nur bedingt einen Einblick in das Weltbild der Rechten in den USA. Ihre Forschungsmethode lässt sich in der Politik nicht anwenden, es bleiben einzelne Aussagen beliebig ausgewählter Personen. Bessere Überblicksdarstellungen über die extreme Rechte in den USA sind die folgenden:

• Elaine F. Parsons: Ku-Klux: The Birth of the Klan during Reconstruction. Chapel Hill, NC 2016.

• Thomas R. Pegram: One Hundred Percent American: The Rebirth and Decline of the Ku Klux Klan in the 1920s. Chicago, Lanham, MD 2011

• Chip Berlet: Reframing Populist Resentments in the Tea Party Movement. In: Lawrence Rosenthal, Christine Trost (Hrsg.): Steep. The Precipitous Rise of the Tea Party. Univ. of California Press, Berkeley 2012, S. 47–66.

• American Führer: George Rockwell and the American Nazi Party“ von Frederick J. Simonelli University of Illinois Press, 1999

Stephen A. Smith: Revolution in Russland Das Zarenreich in der Krise 1890-1928, Philipp von Zabern Verlag, Darmstadt 2017, ISBN 9783805350686, Gebunden, 496 Seiten, 39,95 EUR

Zum 100jährigen Jubiläum der russischen Revolution bringt der renommierte britische Historiker ein bislang nicht genutzte Quellen basierendes Werk über die zentralen Ursachen, Entwicklungen und Auswirkungen der russischen Revolution heraus. Er beschreibt detailliert die Krise des Zarentums und seines politischen Apparates, das nicht in der Lage war, auf die schweren sozialen Probleme der Periode eine Antwort zu finden und somit ihren Herrschaftsanspruch mit und mit verlor. Zur Zielsetzung schreibt er: Das Buch bietet eine umfassende Darstellung der hauptsächlichen Ereignisse, Entwicklungen und Persönlichkeiten im ehemaligen russischen Imperium vom späten 19. Jahrhundert bis zum Beginn des ersten Fünfjahresplans und der Zwangskollektivierung von 1928/29, als Stalin die sowjetische Bevölkerung einer „Revolution von oben“ aussetzte.“ (S. 9)

Das Neue des Buches ist die Berücksichtigung des nach 1991 erschlossenen Quellenmaterials, das eine neue Sichtweise der wichtigen Periode in der russischen Geschichte erlaubt: „Im Laufe der letzten 25 Jahre haben russische und westliche Historiker dieses Material genutzt, um alte Fragen einer Prüfung zu unterziehen, neue Fragen zu stellen und festgefügte Kategorien zu überdenken. Diese auf Archivmaterial beruhende Forschung will das Buch reflektieren und dem Leser einen Eindruck davon vermitteln, wie die geschichtswissenschaftlichen Interpretationen sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat.“ (S. 9f).

Er schreibt den Bolschewiki eine idealistische Haltung, die mangelhaft umgesetzt wurde und in einen neue staatliche Tyrannei mündete: „Und wir verstehen das Jahr 1917 nicht, wenn wir nicht die Phantasie aufbringen, uns noch einmal vor Augen zu führen, wovon die Bolschewiki damals beseelt wurden: Von Hoffnung, Idealismus, Heldentum, Zorn, Furcht und Verzweiflung, woraus das brennende Verlangen nach Frieden, die tiefe Verachtung einer von der Kluft zwischen Arm und Reich zerrissenen Gesellschaftsordnung und der Zorn über die Herrschaft der Ungerechtigkeit in der russischen Gesellschaft entsprangen. Aus diesen Gründen haben Millionen von Menschen weltweit, die von den kommenden Schrecknissen nichts wissen konnten, die Revolution von 1917 als eine Chance begrüßt, eine neue Welt zu schaffen, in der es Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit gibt.“ (S. 447)

Die große Schwäche des Buches ist der chronologische Ansatz: Wenn Smith die Wurzeln der russischen Revolution mit einer längeren Vorgeschichte betrachten will, muss er aber nicht in den 1880er Jahren anfangen. Schon Jahrzehnte vorher regte sich der Widerstand gegen die zaristische Herrschaft. Sozialistische gesinnte Gruppen bildeten sich, das Wirken Michail Alexandrowitsch Bakunins, des Vaters des russischen Anarchismus. Aufgrund seiner Vorreiterrolle im libertären Sozialismus beeinflussten seine Werke und Ideen überall auf der Welt entstehende anarchistische Bewegungen. Zu einer ausgeprägten Rezeption kam es vor allem wieder mit dem Erstarken der anarchosyndikalistischen Bewegung im russischen Zarenreich.

Der Sozialrevolutionär Pjotr Lawrowitsch Lawrow schuf die Narodnikibewegung. Die Narodniki waren eine sozialrevolutionäre Bewegung im Russischen Kaiserreich, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung trat. Im Vordergrund dieser Bewegung standen revolutionäre Intellektuelle, die ihre gewohnte Umgebung verließen und als einfache Arbeiter lebten. Sie klärten das einfache Volk über soziale Missstände auf. Propagiert wurde die Erneuerung Russlands durch eine Bauernbewegung zu einem Sozialismus, in dessen theoretischem Mittelpunkt die Dorfgemeinde (Obschtschina) stand, Nach Enttäuschungen über die ergebnislose friedliche Agitation und nach zahlreichen Verhaftungswellen der 1870er Jahre bildete ein Teil der Narodniki 1879 die Geheimgesellschaft Narodnaja Wolja (Volkswille), welche die 1881 erfolgte Ermordung Alexanders II. organisierte. Die Ziele der Organisation waren der Sturz des Zaren, freie und allgemeine Wahlen, Volksvertreter und Meinungs-, Presse- und Gewissensfreiheit und eine Verfassung. Diese sozialistischen und libertären Bewegungen waren die Vorboten der allmählichen Niedergangs der zaristischen Regimes und des Widerstandes gegen sein autoritäres Regieren, was dann letztlich in den Ereignissen 1917 kulminierte.

Außerdem hätte Smith die sozialen Unruhen, die Klassengegensätze in der russischen Gesellschaft während der zaristischen Herrschaft noch deutlicher gemacht können. Seine intensive Auseinandersetzung mit dem Elend der Landbevölkerung, die unter dem Diktat der zaristischen Regierung sehr zu leiden hatte, ist ein wichtiger Ansatz zum Verständnis der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse und zeigt, dass Sozialgeschichte oder Geschichte von unten hervorragende Erkenntnisse liefert.

Durch die Einbeziehung zahlreicher neuer, vor allem russischer Quellen liefert Smith eine umfassende Synthese der wichtigsten Ursachen, Entwicklungen und Auswirkungen der Russischen Revolution auf aktuellstem Stand der Forschung.

Es ist sehr schwierig, die vielfältigen Entwicklungen vor während und nach 1917 wissenschaftlich sauber und doch für eine breitere Leserschaft verständlich in ein Buch zusammenzufassen, das keine 1000 Seiten umfasst. Ihm gelingt dieser Spagat insgesamt gesehen ganz gut. Die sozialen, ideologischen und wirtschaftlichen Grundlagen der russischen Revolution und seine weltgeschichtliche Bedeutung bringt er fachlich sauber rüber und erschließt somit neue Leserkreise für die historische Bedeutung des Jahres 1917. Trotz ein paar fragwürdiger Methoden ist das Buch als Einführung in die komplexen Geschehnisse um das Jahr 1917 zu empfehlen.

J. Daniel Hays/J. Scott Duvall (Hrsg.): Das illustrierte Handbuch zur Bibel, SCM Verlag, Witten 2014, ISBN: 978-3-417-26566-8

Die beiden Herausgeber J. Daniel Hays und Scott Duvall bringen mit anderen renommierten Theologen ein Handbuch zur Welt der Bibel heraus, die sich an alle Gläubigen, egal ob Bibelkenner oder Laie, richtet. Dieses Handbuch versteht sich als Orientierungshilfe bei der Lektüre der Bibel; Verständnisschwierigkeiten sollen ausgeräumt und Hintergründe sowie Interpretationsmöglichkeiten der Heiligen Schrift der Christen reflektiert werden. Mehr als 1100 Farbseiten und Abbildungen sollen das Buch anspruchsvoll, nachvollziehbar und benutzerfreundlich machen. Es soll weiterhin den Menschen in anschaulicher Weise helfen, die Bibel besser zu verstehen und so auch ein Medium sein, Gott den Menschen zu vermitteln.

Im ersten Teil geht es um den Aufbau der Bibel und deren Entstehungsgeschichte. Das Alte und Neue Testament sowie die Zeit dazwischen wird den Leser nicht nur in historischer und theologischer Hinsicht näher gebracht. Im zweiten Teil geht es um die Entstehung, Form und Überlieferung des Alten und Neuen Testamentes und die Bibelübersetzungen. Im dritten Teil werden tiefergehende Einsichten in die Bibel vermittelt, vor allem die Frage, wie sie im Alltag des 21. Jahrhunderts noch angewendet werden kann, steht im Mittelpunkt. Weiterhin werden Hilfestellungen beim Verstehen der Gleichnisse, der bildhaften und literarischen Formen in der Bibel angeboten.

Dieses durchaus umfangreiche Werk will sowohl Verständnis für die Entstehung der Heiligen Schrift der Christen und deren Inhalt fördern als auch zugleich die Bibel als Zugang zu aktuellen Fragen darzustellen. Dieser Spagat gelingt zumeist, was aber auch daran liegt, dass das Handbuch verständlich geschrieben ist und somit für weite Leserschichten geeignet ist. Die farbigen Fotos und Illustrationen schaffen eine lebendige Atmosphäre und lassen das Buch benutzerfreundlich erscheinen. Textverständnis, lebendige Theologie und hilfreiche Hintergrundinformationen sorgen dafür, dass sich auf diese Weise Menschen mehr mit der Bibel und deren Auslegung befassen können, als es derzeit sind.

Robert Neil MacGregor: Deutschland. Erinnerungen einer Nation 2. Auflage 2017. 640 S.: mit 335 farbigen Abbildungen und 8 Karten. ISBN 978-3-406-67920-9 , 39,95 €

Robert Neil MacGregor war 2002 bis 2015 Direktor des British Museums. Er wurde im Mai 2015 zum Intendanten des Berliner Humboldtforums berufen. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er bekannt, als er a die Serie A History of the World in 100 Objects vorstellte, die auf Deutsch als Buch mit dem Titel Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten erschien. Dieses Buch wurde als Wissensbuch des Jahres 2012 ausgezeichnet. Ende des Jahres 2014 organisierte er die Ausstellung Germany – memories of a nation im British Museum in London, die ein großer Erfolg wurde. Die Deutsche Nationalstiftung verlieh ihm am 16. Juni 2015 in Berlin den Deutschen Nationalpreis für sein Wirken um ein besseres Verständnis Deutschlands in Großbritannien. Ebenfalls 2015 wurde MacGregor mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet.

Nun legt Mac Gregor eine Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte vor, die aus dem Blickwinkel eines Briten geschrieben wurde. Darin beschreibt er, Erinnerungen die angeblich allen Deutschen gemeinsam sind. Das Buch, vor allem mit vielen eindrucksvollen Bildern, liefert einen profunden Querschnitt durch die wechselvolle deutsche Geschichte.

Es ist aber kein Wunder, dass in Zeiten, wo Nationalismus wieder en vogue ist, ein solcher Ansatz wieder gewählt wird. Dieses Ansinnen macht es nicht besser, dass der Autor Brite ist und nicht deutscher Staatsbürger ist.

Seit der Entwicklung von Territorialstaaten und Nationen seit dem 18.Jahrhundert existierte ein Zwang zur Homogenisierung, da neben anderen nationalen Identifikationsobjekten die uniformierte Nationalsprache den Zusammenhalt der Nationalstaaten nach innen gewährleisten sollte. Diese räumliche Homogenisierung beinhaltete ein identitätsstiftendes Einschluss- und ein ausgrenzendes Ausschlussdenken. Die Rechte und die Kultur von Minderheiten wurden systematisch unterdrückt, Differenz und Vielfalt als Bedrohung wahrgenommen.

Im Zeitalter der Globalisierung bilden nicht mehr die Nationalstaaten, sondern die kosmopolitische Weltgesellschaft den Referenzrahmen des alltäglichen Denken und Handelns. Die Bedeutung der Nationalstaaten schwindet, da sie ihre ökonomische, soziale und kulturelle Steuerungsfunktion nur noch in begrenztem Maße wahrnehmen können. Die interagierende Weltgesellschaft mit ihrer kulturellen Vielfalt kann nur durch interkulturellen Dialog und Kooperation bestehen.

Der sich immer stärker durchsetzender Globalisierungsprozess ist für die weltweite Vernetzung von Nationen in allen Bereichen (z. B. Politik, Wirtschaft, Kommunikation und Kultur) verantwortlich. Die Globalisierung wurde vor allem durch die Fortschritte in den Kommunikations- und Transporttechniken angetrieben und fördert zugleich die Berührungspunkte zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen. Auf den kulturellen Sektor bezogen kommt es noch stärker als in den bisherigen Epochen der Geschichte zu zunehmenden wechselseitigen Verflechtungen und Beeinflussungen.

Der Begriff „Nation“ ist in der wissenschaftlichen Forschung schon längst als Konstrukt entlarvt worden. Ernest Gellner kam zu dem Schluss: „Nationalismus ist keineswegs das Erwachen von Nationen zu Selbstbewußtsein: man erfindet Nationen, wo es sie vorher nicht gab.“ Balibar und Wallerstein diagnostizierten: „Sicher ist indessen, dass es uns beiden gleichermaßen wichtig erscheint, die Nation und das Volk als historische Konstruktionen zu denken, dank derer die heutigen Institutionen und Antagonismen in die Vergangenheit projiziert werden können, um den ‚Gemeinschaften‘ eine relative Stabilität zu verleihen, von denen das Gefühl der individuellen ‚Identität‘ abhängt.“ Benedict Anderson definiert „Nation“ als „eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist die deswegen, weil ihre Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert.“

Die Geschichte der Ein- und Auswanderung nach bzw. aus Deutschland zeigt eindeutig, dass es immer wieder zu einer Vermischung und Neuschöpfung von Kultur in jeglicher Form gab. Gerhard Paul bemerkt richtigerweise: „‘Autochtone‘ Kulturen gibt es nicht. So gibt es keine reine oder ‚wahrhaft‘ deutsche Kultur.“

Langfristig wird es auch das Ziel sein, der Idee der Nation zu überwinden und die Realität einer kosmopolitanen Einwanderungsgesellschaft anzuerkennen, die eine neue transkulturelle Identität jenseits eines nationalen Identifikationsmusters benötigt.

Kai Diekmann: Helmut Kohl 1930-2017. Sein Leben in BILD, Piper Verlag, München 2017 ISBN: 978-3-492-05806-3, 20,00 Euro

Der Herausgeber Kai Diekmann war jahrzehntelang mit Helmut Kohl eng befreundet. Kohl war Diekmanns Trauzeuge bei seiner Hochzeit 2002. Am 8. Mai 2008 war Diekmann zusammen mit Leo Kirch wiederum Trauzeuge bei der Hochzeit von Helmut Kohl und Maike Richter.

Dies ist ein Buch „aus den Augen der BILD-Reporter. Ein Buch mit Originalseiten und Originaltexten, seit dem 15.Juni 1969 (…). Dieses Buch ist kein Rückblick, sondern eine vier Jahrzehnte dauernde Reportage. Die Texte erscheinen so, so wie unsere Reporter Kohl erlebt und beschrieben haben. Das macht das Buch zu einem wahren Dokument der Erinnerung.“ (S. 7) Kohl war „ein großer Deutsche, dem es gelungen ist, die unerträgliche Teilung unseres Landes zu überwinden und Deutschland in Recht und Freiheit zu vereinen.“ (S. 7)

Viel Mühe hat man sich mit der komplexen Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk Kohls nicht gemacht. Ein paar Gänge in die Archive und dann wurden die prägendsten Schlagzeilen zusammengestellt. Objektivität ist auch nicht Stärke des Buches, es liegt zwischen einer Hommage und einer Hagiographie. Die selbst immer wieder betonte Überparteilichkeit der Bild-Zeitung wird hier ad absurdum geführt.

Das besonders Perfide ist aber, dass die Bild-Zeitung von Tode der „Lichtgestalt“ Kohl noch profitieren will. Erstens inszeniert man sich als wichtige Quelle der Zeitgeschichte, zweitens macht dadurch die Bild-Zeitung indirekt Werbung für sich selbst, indem sie den Lesern alte Artikel vorsetzt und dies noch als Erinnerung verkauft. Die Bild-Zeitung möchte sich – wie viele andere auch- im Glanze der Leistungen Kohls sonnen und so auch von den Lesern wahrgenommen werden.

Erinnerung enthält auch Objektivität, Sorgfältigkeit und vorsichtiges Abwägen. All das lässt das Buch vermissen. Wer sich also mit dem Menschen Kohl und seinem politischen Vermächtnis eingehender auseinandersetzen will, dem seien andere qualitativ hochwertigere Bücher empfohlen.

Ralf Georg Reuth: Annäherung an Helmut Kohl, Piper Verlag, München 2017, ISBN: 978-3-492-05730-1

Ralf Georg Reuth, konservativer Historiker aus der Schule Andreas Hillgrubers, legt das neueste Buch nach dem Tode Helmut Kohls vor. Dabei stützt er sich nach eigenen Angaben auf persönliche Gespräche mit Kohl.

Folgende Fragen stehen im Mittelpunkt des Buches: Wer ist Helmut Kohl gewesen? Auf welchen Fundamenten stand er? Was waren die Motive seines politischen Handels? Wie konnte an die Spitze seiner Partei und des Staates aufsteigen? Wie funktionierte sein Machtapparat oder das, was seine politischen Gegner das ‚System Kohl‘ nannten? Wie bewerkstelligte er den immer noch unverstandenen deutschen Einigungsprozess? Und was ließ ihn an seine Vision von den Vereinigten Staaten von Europa glauben? (S.9)

Für Reuth ist der Name Kohls untrennbar mit der „Deutschen Einheit“ und mit Europa verbunden. (S. 218) Kohl bliebe eine „Würdigung seiner Dienste um die Einheit der Nation“ zu Lebzeiten in der Öffentlichkeit versagt, erst mit dem Abstand einiger Jahrzehnte würden sein politisches Vermächtnis positiver gesehen werden. In diesem Punkt vergleicht er ihn mit Churchill und de Gaulle. Richtig kritisch geht Reuth nur in der Parteispendenaffäre und Kohls Umgang mit der Macht um. Sonst ist er für ihn einer der wichtigsten Politiker der letzten Jahrhunderten: „Wer auf die großen Linien der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhundert schaut, für den wird der Name Helmut Kohls denjenigen Konrad Adenauers überstrahlen. Denn der Pfälzer wird in eine Reihe mit Bismarck genannt werden müssen.“ (S. 221)

Die Meinungen über Kohl und seine politische Lebensleistung werden immer kontrovers sein, abhängig von seinem eigenen politischen Standpunkt wird jeder Kohls Wirken anders einschätzen. So fehlen bei Reuths Analyse die leeren Versprechungen der „blühenden Landschaften“, die Massenarbeitslosigkeit im Osten seit der Transformation zur kapitalistischen Demokratie sowie die Verharmlosung des aufkommenden Neonazismus besonders nach der Wende. Reuths Buch ist ein Beitrag zur nun aufkommenden Kontroverse um die Einordnung von Kohls Lebensleistung, gewisse hagiographische Huldigungen stören das sonst klar gegliederte und inhaltsreich geschriebene Buch.

 

Eintrag im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek:

ISBN: 978-3-7945-3253-7.