e-Portfolio von Michael Lausberg
Besucherzäler

= Geschichte und Politik Teil 2 =

NA Verlag, Mainz 2017, ISBN: 978-3-423-28126-3

Geschichte und Politik Teil 2

Im Folgenden werden spannende Neuerscheinungen aus den Bereichen Politik, Geschichte und Gesellschaft aus verschiedenen Verlagen rezensiert.

Michael Wolffsohn: Deutschjüdische Glückskinder. Eine Weltgeschichte meiner Familie, dtv, München 2017, ISBN: 978-3-423-28126-3

Michael Wolffsohn ist einer der führenden Experten für die Analyse internationaler Politik und nicht zuletzt die Beziehungen zwischen Deutschen und Juden auf staatlicher, politischer, wirtschaftlicher und religiöser Ebene. Der Historiker und Publizist meldet sich regelmäßig zu wichtigen politischen, militärpolitischen, historischen und religiösen Fragestellungen zu Wort.

Im Judentum hat die Genealogie eine besondere Rolle. In der Thora wird Genealogie übersetzt mit toledot („Generationen“). Das Judentum ist eine Religionsgemeinschaft, bei der ebenso ein gemeinsamer ethnischer Hintergrund behauptet wird. Das Interesse an Genealogie rührt aus der schriftlichen Überlieferung der biblischen Stammlinien, wie es vor dem Hintergrund einer langen Verfolgungs- und Vertreibungsgeschichte zu sehen ist. Im 20. Jahrhundert führte der Holocaust zu einer verstärkten Rolle der jüdischen Genealogie, weil Überlebende versuchten, vermisste Familien¬mitglieder zu finden oder das Andenken der Verlorenen zu bewahren.

In seinem neuen Buch stellt Michael Wolffsohn die Genealogie seiner Familie vor, weil „die Wolffsohnsche Familiengeschichte tatsächlich auch Weltgeschichte“ ist (S. 7) In diesem Buch versucht er „das Wechselspiel von großer Welt, kleiner Welt, Außenwelt und Innenwelt nachvollziehbar zu machen. Diese Geschichte hätte auch ihre Geschichte sein können.“ (S. 7)

Das Besondere an dem Buch ist die zeitgeschichtliche Relevanz der Angehörigen der Familie Wolffsohn. Von den einzelnen Personen wird die Brücke zur jüngeren Historie gezogen, so dass es nicht nur um biographische Werdegänge geht. Eine kurzweilige Lektüre, die Einblicke in persönliche Schicksale gibt.

Ulrich Bongertmann u.a.: Leitfaden Referendariat im Fach Geschichte, Wochenschau Verlag, Schwalbach/Taunus 2017, ISBN: 978-3-734-40445-0

Nach erfolgreichem Abschluss des Studiums im Lehramtsfach Geschichte wartet auf die Referendare ein neuer Lebensabschnitt, eine neue Situation und ein neues Umfeld. Nach dem Erwerb des theoretischen Wissens folgt nun oft der Praxisschock, auch deshalb weil es während des Studiums keine Praxissemester gibt. Um Referendaren den Einstieg in diese neue Situation zu erleichtern, wurde dieses Buch von Gymnasiallehrer, Fachleitern und Dozenten zusammen entworfen und geschrieben.

Zunächst werden Praxistipps für einen erfolgreichen Start gegeben wie Informationen über die Schule, Anfängerfehler und den Rollenwechsel vom Lernenden zum Lehrenden. Im ersten Kapitel geht es um die Merkmale der Phase zwischen Studium, Referendariat und Schule, bevor dann eine kurze Planung einer Geschichtsstunde in verschiedenen Zeitintervallen beschrieben wird. Dann geht es um die theoretischen Ziele und Prinzipien des Geschichtsunterrichts wie Wissenschaftsorientierung, Problemorientierung, Kompetenzorientierung, Multiperspektivität und Alters- und Schulformanpassung. Anschließend geht es um Lehr- und Lernkonzepte wie erarbeitender, aufgabenzentrierter, projektförmiger oder erkundender Geschichtsunterricht sowie um das Thema Geschichte als Konstruktion. Dann geht es in die Praxis: Die konkrete Planung von Geschichtsunterricht, methodische Überlegungen und die Durchführung und Reflexion von Unterricht. Darauf aufbauend wird die Arbeit mit verschiedenen Materialien und Medien wie Texte, Bilder, Filme, Zeitzeugen und digitale Medien beleuchtet. Die Kriterien der Leistungsmessung und Leistungsbewertung werden dann präsentiert. Dann geht es schon einen Schritt weiter, nämlich um die Kriterien für eine gelungene oder misslungene Examensstunde. Danach werden anhand von Beispielen schriftliche Lernkontrollen und Klausuren in der Sekundarstufe 1 und 2 vorgestellt. Der Anhang bietet interessante Erweiterungen: Als Kopiervorlage gibt es unter anderem Hospitationsbögen und Planungsschemata für den Unterricht, Checklisten zur Einzel-und Partnerarbeit und das Führen von Unterrichtsgesprächen, Texte und Quellen sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis zum Geschichtsunterricht.

Die Verfasser dieses Leitfadens für den Geschichtsunterricht sind allesamt erfahrene Experten, was man bei der Zusammenstellung der einzelnen Punkte merkt. Es fehlt allerdings ein Kapitel im Umgang mit „Problemschülern“ wie zum Beispiel Neonazis mit einem revisionistischen Geschichtsbild. Die digitalen Medien und die Nutzung des Internets sind auch nicht ausreichend abgehandelt, da in Zukunft die Digitalisierung des Unterrichts immer weiter zunehmen wird. Sonst ist das Buch, das aus der Berufspraxis für Einsteiger geschrieben wurde, konzeptionell und inhaltlich zu empfehlen.

Norbert Bicher: Mut und Melancholie. Heinrich Böll, Willy Brandt und die SPD. Eine Beziehung in Briefen, Texten, Dokumenten, Verlag J.W.H. Dietz Nachfolger, Bonn 2017, ISBN: 978-3-8012-0512-6

In dem Buch geht es um die Beziehung zwischen Heinrich Böll und Willy Brandt, die nach der Kulturrevolution der 68er den Versuch unternahmen, den reaktionären Mief der Adenauer-Ära zu überwinden und eine fortschrittliche und demokratische Gesellschaft zu schaffen. Dabei geht es hauptsächlich um die 1970er Jahre in der BRD und in der internationalen Politik und Kulturlandschaft: „Böll und Brandt. Zwei Menschen, die von ihrer Herkunft einander so fremd waren und die dennoch gemeinsam, jeder auf seine Art, die junge Bundesrepublik aus der Adenauer’schen Erstarrung erlöst und ihr zu einem Ruf als ‚Land der guten Nachbarn‘ verholfen haben.“ (S. 11)

Heinrich Böll ist einer der bedeutendsten und meistgelesenen Schriftsteller der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik. Böll bezieht immer wieder zu tagespolitischen Ereignissen Stellung und ist bekannt für sein Engagement in der Friedensbewegung. Von 1970 bis 1972 war er Vorsitzender des deutschen, von 1971 bis 1974 auch Präsident des internationalen PEN-Clubs. Der 1971 erschienene Roman „Gruppenbild mit Dame“ ist nicht nur Bölls umfangreichster, sondern nach Meinung vieler Kritiker auch sein bedeutendster Roman. Er ergreift in diesem Werk Partei für die „Abfälligen“ (den „Abfall“) der Gesellschaft, für Außenseiter und Leistungsverweigerer. Der Roman wurde zum Bestseller und trug maßgeblich zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Böll im Dezember 1972 bei.

In diesem Jahr 1972 sorgte Böll für einen innenpolitischen Skandal, als er sich in einem Essay für den Spiegel unter dem Titel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit“ mit der Person und dem Werdegang der RAF-Aktivistin Ulrike Meinhof beschäftigte und die Berichterstattung der Springer-Presse scharf angriff. In konservativen Kreisen galt er seitdem als „geistiger Sympathisant“ des Terrorismus, worunter Heinrich Böll litt. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Friedrich Vogel sprach damals von den „Bölls und Brückners“ als intellektuellen Helfershelfern des Terrors. Da die Behörden es nicht für ausgeschlossen hielten, dass gesuchte RAF-Mitglieder bei ihm Unterschlupf finden könnten, wurde bei ihm am 1. Juni 1972 in Langenbroich eine Hausdurchsuchung vorgenommen, Nachdem Böll dem Springer-Konzern Stimmungsmache und Verleumdung vorgeworfen hatte, eskalierte wiederum der Ton und die Maßnahmen des Springer-Verlags. Es wurde eine Hetzkampagne gegen den Schriftsteller organisiert, die in Forderungen nach seiner Ausreise gipfelte. Im selben Jahr erhielt er im Herbst den Literaturnobelpreis. 1974 erschien Bölls das Werk, „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, das einen Beitrag zur Gewaltdebatte der 1970er-Jahre darstellt und sich besonders kritisch mit der Springer-Presse auseinandersetzt.

Willy Brandts Charisma verzauberte viele Menschen in der Nachkriegszeit nach dem spießigen Mief der Adenauer-Ära. Der erste sozialdemokratische Kanzler Deutschlands kämpfte gegen die NS-Diktatur, trug als Bundeskanzler zu einer Entspannung der Ostpolitik bei und erhielt den Friedensnobelpreis. Unter dem Motto Wandel durch Annäherung gab Brandt spätestens als Bundeskanzler die bis Ende der 1960er Jahre an der militaristischen Hallstein-Doktrin ausgerichtete Außenpolitik der BRD auf und leitete mit seiner neuen Ostpolitik eine Zäsur im politisch konfrontativen Klima des Kalten Krieges ein. Mit den Ostverträgen begann er einen Kurs der Entspannung und des Ausgleichs mit der Sowjetunion, der DDR, Polen und den übrigen Ostblockstaaten. Für diese Politik erhielt Brandt 1971 den Friedensnobelpreis. Mit dieser „Neuen Ostpolitik“, die Willy Brandt gemeinsam mit Walter Scheel gegen den entschiedenen Widerstand der Mehrheit der CDU/CSU-Opposition durchsetzte, bemühte er sich um eine „Entspannung in Europa“.

Vom 7. bis 11. Juni 1973 besuchte Willy Brandt als erster deutscher Bundeskanzler Israel, nachdem 1965 diplomatische Beziehungen aufgenommen worden waren. 1970 hatte mit Abba Eban erstmals ein israelischer Außenminister die Bundesrepublik besucht. Gleichzeitig ging es ihm um innenpolitische Reformen in der Sozial-, Bildungs- und Rechtspolitik. „Mehr Demokratie wagen“ war das Motto, mit dem Brandt die innenpolitische Stagnation der Nachkriegszeit überwinden wollte.

Der erste Teil des Buches besteht aus einem Traktat, wo die Gemeinsamkeiten auf verschiedenen Ebenen zwischen beiden herausgefiltert werden. Böll wurde von rechter Seite immer wieder als „literarischer Nestbeschmutzer“ angefeindet, Brandt wegen seiner Rolle im „Dritten Reich“ als „ewiger Emigrant“. Dies führte bei beiden immer wieder zu Phasen der Melancholie. Beide waren auch Hoffnungsträger für viele Menschen in den Warschauer-Pakt-Staaten und auch in der BRD, die sich nach Abrüstung und Verständigung sehnten, vor allem innerhalb der Jugend.

Im zweiten Teil belegen Primärzeugnisse wie Briefe, Texte oder Dokumente, die „von einer Zugewandtheit, die über Jahrzehnte getragen war von gegenseitiger Hochachtung, gar Bewunderung“ zeugt. (S.22) Dies belegt vor allem der Nachruf Brandts auf Böll oder der Wahlaufruf Bölls für Brandt bei den Bundestagswahlen 1972.

In dem Buch wird anhand von Primärquellen die Verbindung und geistige Nähe zwischen zwei entscheidenden Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte herausgearbeitet, die das starre politische System der BRD reformierten und demokratisierten, für Frieden und internationale Verständigung standen und auch menschlich auf einer Wellenlänge waren. Eine gelungene und interessante zeithistorische Darstellung, die zur Lektüre empfohlen werden kann.

Ein Beitrag zur deutschen Revolution 1918/1919

Zum 100jährigen Jubiläum der deutschen Revolution 1918 legt der Historiker und Journalist Joachim Käppner eine neue Darstellung, da die bisherige Forschungslandschaft dieses wichtige Ereignis der deutschen Geschichte weitgehend ignorierte: „Sehr lange war die deutsche Revolution ein ungeliebtes Stiefkind der Geschichtsschreibung, teilweise ist sie das bis heute.“ (S. 15) Käppner wertet die Revolution als Anfang vom Ende der Weimarer Republik und des kapitalistisch-demokratischen Systems: „Der Anfang der deutschen Republik liegt im Schatten ihres Untergangs. Inkonsequenz, Zögern und Schwäche scheinen für viele das Kennzeichen der Revolution wie der aus ihr hervorgegangenen Demokratie zu sein; und so hat diese Revolution vergleichsweise wenig Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen, (…)“ (S. 12)

In der Einleitung wird ein bisheriger grober Forschungsüberblick der deutschen Revolution 1918/1919 gegeben. Danach folgt eine detaillierte Schilderung der Hintergründe und den Verlauf der Revolution.

Die deutschen Soldaten und Arbeiter waren 1918 kriegsmüde und revoltierten gegen die kaiserliche Obrigkeit. Der Befehl vom 24. Oktober zum Auslaufen der Flotte gegen England wurde mit einer Matrosenmeuterei in Wilhelmshaven (30. Oktober) beantwortet. Der Aufstand der Matrosen griff wie ein Lauffeuer über und ergriff auch die anderen Küstenstädte. Gleichzeitig bildeten sich Soldaten- und Arbeiterräte, die "Novemberrevolution" griff damit auf das gesamte Reich über, am 7. und 8. November wurden in München und Braunschweig Republiken ausgerufen, der bayerische König Ludwig III. verzichtete auf den Thron. Auch in den übrigen deutschen Staaten dankten in den nächsten Tagen alle Monarchen ab.

Am 9. November 1918 spitzte sich die Lage dramatisch zu: Die Sozialdemokraten Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann hatten erfahren, dass der linksradikale Karl Liebknecht an diesem Tag die "freie sozialistische Republik Deutschland" ausrufen wollte. Aus Furcht vor sowjetischen Verhältnissen, entschlossen sich die Machthaber zu spontanem Handeln. Reichskanzler Prinz Max von Baden verkündete in Berlin die Abdankung des Kaisers, seinen eigenen Rücktritt und die Übergabe der Geschäfte an Friedrich Ebert, noch ehe das Telegramm mit der entsprechenden Nachricht den Kaiser in Spa eingetroffen war.

Friedrich Ebert, seit 1913 Vorsitzender der SPD, der stärksten Partei im Reichstag, wurde mit der Übernahme der Regierungsgeschäfte beauftragt. Ebert begreift sich als Treuhänder der Macht bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung. Sein Ziel ist zunächst die Bildung einer Regierung aus Vertretern der Parteien des Interfraktionellen Ausschusses und der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD).

Am 9. November 1918 verkündet Philipp Scheidemann, Vorstandsmitglied der SPD, aus einem Fenster des Reichstags in Berlin das Ende des Kaiserreichs. Kurz nach Scheidemann rief Karl Liebknecht vom Berliner Stadtschloss aus die "Freie Sozialistische Republik Deutschland" aus und schwor die Menschen zugleich auf die internationale Revolution ein.

Der Rat der Volksbeauftragten und der Vollzugsrat hatten die alte Regierung ersetzt. Doch der bisherige Verwaltungsapparat bestand fast unverändert fort. Vertreter von SPD und USPD wurden den bis dahin kaiserlichen Beamten nur beigeordnet. Diese behielten ebenso allesamt ihre Funktionen und setzten ihre Arbeit zum großen Teil unverändert fort.

Am 12. November veröffentlichte der Rat der Volksbeauftragten sein demokratisches und soziales Regierungsprogramm. Er hob den Belagerungszustand und die Zensur auf, führte das allgemeine Wahlrecht ab 20 Jahren ein, erstmals auch für Frauen. Alle politisch Inhaftierten erhielten Amnestie. Bestimmungen zur Vereins-, Versammlungs-, Pressefreiheit wurden erlassen.

Die Weihnachtskämpfe waren militärische Auseinandersetzungen zwischen der Volksmarinedivision und regulären Truppen, die am 24. Dezember 1918 ihren Höhepunkt erreichten. Die Auseinandersetzungen entzündeten sich an nicht ausgezahlter Löhnung und an Diebstählen der im Berliner Stadtschloss und im Neuen Marstall einquartierten Matrosen. Sie bildeten den äußeren Anlass zum Zerbrechen der Koalition der beiden sozialdemokratischen Parteien MSPD und USPD im Rat der Volksbeauftragten.

Weiterführende, von sozialistischen Ideen geleitete Ziele der Revolutionäre scheiterten im Januar 1919 am Widerstand der SPD-Führung unter Friedrich Ebert. Aus Furcht vor einem Bürgerkrieg wollte sie – wie auch die bürgerlichen Parteien – die alten kaiserlichen Eliten nicht vollständig entmachten, sondern sie mit den neuen demokratischen Verhältnissen versöhnen. Dazu ging sie ein Bündnis mit der Obersten Heeresleitung (OHL) ein und ließ den sogenannten Spartakusaufstand mit Hilfe rechtsgerichteter Freikorpstruppen gewaltsam niederschlagen.

Käppner sieht die Hinwendung des Rates der Volksbeauftragten mit den Repräsentanten des alten Systems und den konterrevolutionären Generälen des Militärs vorgeblich aus Angst vor Sozialisten aller Spielarten als Kardinalfehler: „Dominiert von der SPD, die damals MSPD hieß, verbündete sich diese von Friedrich Ebert geführte Regierung ausgerechnet mit dem alten Militär. Die Radikalisierung der Revolution bis hin zu den ‚Weihnachtskämpfen‘ um das Berliner Stadtschloss 1918 ist vor allem eine Folge des Bündnisse der MSPD mit den Generälen, ihren Erzfeinden von gestern, das aus Angst vor den Linksradikalen geschmiedet wurde, doch war diese Angst größer als die tatsächliche Bedrohung.“ (S. 15)

Er möchte die „verratenen“ Soldaten- und Arbeiterräte in der Mittelpunkt seiner Erläuterungen stellen: „Das Buch versteht sich in aller Bescheidenheit als Beitrag zur Ehrenrettung der Revolutionäre und will diese daher genauer in Augenschein nehmen…“ (S. 15)

Dabei hat der Autor Recht. Das „kommunistische Feindbild“ hat eine Tradition und wird immer wieder bei passender Gelegenheit hervorgeholt. Natürlich hat das Scheitern der Weimarer Republik noch andere wichtige Ursachen, aber der Zusammenschluss Eberts mit antidemokratischen rechten Kräften bedeutete einen Stillstand in der fortschrittlichen Entwicklung. Er bezeichnete die Weimarer Republik als „Scheinriesen der Demokratie“. Allein das Scheitern der Münchener Räterepublik war ein Desaster für die soziale und demokratische Entwicklung des Landes.

Inhaltlich hat das Buch eine tiefgreifende Analyse und Bewertung der deutschen Revolution anzubieten. Es bereichert die historische und politische Forschungslandschaft und lehrt, wie eine Revolution in ihrer Entwicklung stehenbleibt und keine Zielstrebigkeit beweist. Die „verratenen“ Revolutionäre haben keine Namen in der Geschichtsschreibung, eine wirkliche Verbesserung der Bevölkerung hat der Rat der Volksbeauftragten nicht gebracht hat, weil reaktionäre Kräfte zur angeblichen Stabilisierung des Landes eine eklige Anbiederung erfahren haben.

Joachim Käppner: 1918. Aufstand für die Freiheit. Die Revolution der Besonnenen, Piper Verlag, München 2017, ISBN: 978-3-492-05733-2

Hanns Jürgen Küsters (Hrsg.): Konrad Adenauer – Der Vater, die Macht und das Erbe. Das Tagebuch des Monsignore Paul Adenauer 1961-1966, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2017, ISBN: 978-3-506-78673-9

2015 ist durch Zufall eine neue Quelle mit persönlichen Informationen in die Person Konrad Adenauers in seinen letzten Amtsjahren als Bundeskanzler aufgetaucht. Das Tagebuch seines Sohnes Paul über die Zeit zwischen 1961-1966 im Haus Adenauer wurde gefunden und nun nach wissenschaftlicher Auswertung von Hanns Jürgen Küsters, Mitglied des Beirats der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus und Professor für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Bonn, herausgegeben. Es gibt einen intimen Einblick über die späte Zeit der Kanzlerschaft Konrad Adenauers, die von Fehlschlägen, gesundheitlicher Überanstrengung und seine Sorge um sein politisches Erbe geprägt war. Adenauer, der erst mit 73 Jahren Kanzler wurde, blieb 14 Jahre im Amt und hatte damit nach Helmut Kohl die zweitlängste Amtszeit aller deutschen Bundeskanzler.

In einer Einführung wird auf die näheren Umstände des Fundes und den weiteren Weg bis hin zur Veröffentlichung eingegangen. Dann beschreibt Küsters die Verbindung von Paul und Konrad Adenauer in einem langen Essay, bevor dann das Tagebuch mit Querverweisen abgedruckt wird. Im Anhang findet sich neben einem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis ein Sach- und Personenregister.

Paul Adenauer beschreibt darin „die bitterste Phase der Kanzlerschaft seines Vaters“ geprägt vom Kampf um seine Nachfolge und sein politisches Erbe. (S. 10)

Adenauer bemühte sich nach Kräften, Erhard als seinen Nachfolger zu verhindern. Seiner Meinung nach hatte Erhard nicht genug Führungsqualitäten, außerdem hatte er keine Hausmacht in der CDU. Später als Kanzler versuchte Erhard mit Appellen direkt an das Volk zu regieren, ohne auf vermittelnde und interessengeleitete Akteure wie Parteien oder Verbände Rücksicht nehmen zu wollen. Sein Führungsstil war an den Idealen der Aufklärung orientiert, setzte auf die rationale Einsichtskraft des Bürgers zu vernünftigen Entscheidungen und hatte wenig Sinn für das politische Tagesgeschäft und den dauernden Zwang zu Kompromissen. In der pluralistischen Demokratie rieb er sich innerhalb weniger Jahre auf, ohne als Kanzler sonderliche Erfolge zu erzielen. Adenauer unternahm aber nichts, einen besseren Kandidaten aufzubauen. Die zwischenzeitlichen Favoriten Adenauers, die Bundesminister Franz Etzel, Heinrich Krone und Gerhard Schröder, bekamen nie genug Unterstützung von ihm, als dass sie wirklich ernsthafte Herausforderer des populären Erhard hätten werden können.

Nach der darauf folgenden Wahl im September 1961, als die Unionsparteien die absolute Mehrheit verloren, gelang es ihm, gegen den Willen der FDP sowie Teilen der CDU/CSU nochmals zum Kanzler gewählt zu werden. Dafür versprach er, rechtzeitig vor der nächsten Wahl zurückzutreten, um einem Nachfolger Platz zu machen – einen verbindlichen Termin zu nennen weigerte er sich. Die Spiegel-Affäre brachte ihn schließlich dazu, sich auf den Herbst 1963 festzulegen. Adenauers Verabschiedung durch die Bundeswehr fand am 12. Oktober 1963 auf dem Fliegerhorst Wunstorf statt.

Seine letzten Jahre als Kanzler wurden durch seinen hartnäckigen Kampf, so lange wie möglich im Amt zu bleiben, und durch den – vergeblichen – Versuch, die Wahl Ludwig Erhards als Nachfolger zu verhindern, überschattet. In dieser Zeit passierten Fehlschläge, die beim größten Teil der Deutschen auf Unverständnis und Kritik stießen. Sein Versuch, ein vom Bund kontrolliertes Deutschland-Fernsehen als Konkurrenz zu der von den Ländern kontrollierten ARD aufzubauen, scheiterte am 1. Rundfunk-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das ZDF hatte nur wenig mit Adenauers ursprünglichen Plänen zu tun. Als er nach dem Bau der Berliner Mauer zwei Wochen abwartete, bevor er nach Berlin reiste, erntete er Unverständnis, ebenso mit seiner deutlichen Kritik am damaligen Berliner Bürgermeister Willy Brandt. Die Spiegel-Affäre am Ende seiner Kanzlerschaft erregte öffentliches Aufsehen.

Wie Adenauer mit diesen schweren letzten Jahren im Amt umging und die Zeit danach erlebte, wie er fühlte und dachte, wird anhand von diesem Tagebuch seines Sohnes deutlich. Es ist eine wichtige Chronik der frühen Bundesrepublik, mag man über Adenauer und seine Politik denken, was man will. An diesem intimen Dokument kann kein Forscher über die frühe Bundesrepublik vorbei, ist aber auch für politisch Interessierte interessant, die sich über die Person Konrad Adenauer informieren wollen.

Alfred Pfoser/Andreas Weigl: Die erste Stunde Null. Gründungsjahre der österreichischen Republik 1918-1922, Residenz Verlag, Salzburg/Wien 2017, ISBN: 978-3-7017-3422-1

Dieses Geschichtswerk erscheint zur Gründung der österreichischen Republik vor 100 Jahren, die Schwierigkeiten und die Aufbruchsstimmung einer neuen demokratischen Ordnung.

Nach dem Auseinanderbrechen der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie am Ende des Ersten Weltkriegs entstand Österreich 1918–1921 in seinen heutigen Grenzen. Die Provisorische Nationalversammlung rief am 12. November 1918 die Republik und den Anschluss an Deutschland aus. Im März 1919 verließ Ex-Kaiser Karl I. Deutschösterreich, im April 1919 wurden das Habsburgergesetz und das Adelsaufhebungsgesetz beschlossen.

Das Buch wird in drei große Teilabschnitte unterteilt. Es gab zwei unterschiedliche Versionen über diese Zeit der Gründung, die der „Niederlage“ und die des „Aufbruchs“, die gleichzeitig die ersten beiden Teilabschnitte sind. Begonnen wird mit der Lesart der „Niederlage“ als „Zeit der Konfusion, der Extremsituationen und der alltäglichen Überlebenskämpfe“. (S.7) Danach wird die Lesart des „Aufbruchs“ beschrieben, die „neue Fundamente des Zusammenlebens“ gesetzt hat. (S. 9) Im letzten großen Teilabschnitt geht es um die Kulturkämpfe in der jungen Republik, die sich zu einem „mentalen Bürgerkrieg steigerten“. (S. 10)

Die Provisorische Nationalversammlung beschloss am 12. November 1918 für den vorerst „Deutschösterreich“ genannten Staat die Form der demokratischen Republik Zugleich wurde in Artikel 2 des Gesetzes festgehalten, dass das Land Teil der drei Tage zuvor ausgerufenen deutschen Republik sei. Erster Staatskanzler wurde Karl Renner (SDAP) der einer Großen Koalition vorstand. Beansprucht, aber für den neuen Staat nicht gewonnen, wurden Teile der neu bzw. wieder entstandenen Staaten Tschechoslowakei (Provinz Deutschböhmen, Provinz Sudetenland, Teile Mährens und Polen (Schlesien)) sowie das von Italien annektierte Südtirol. Weite Teile der Bevölkerung und die meisten Vertreter der politischen Parteien waren der Auffassung, dieser „Rest-“ bzw. „Runpfstaat“ sei ohne die ungarische Agrarwirtschaft und die böhmische Industrie allein nicht lebensfähig.

Der Zusammenschluss mit dem Deutschen Reich wurde von den alliierten Siegermächten 1919 im Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye ausgeschlossen, indem in Art. 88 ein förmliches Unabhängigkeitsgebot für Österreich bestimmt wurde. In Österreich und Deutschland wurde der Artikel als „Anschlussverbot“ bezeichnet. Gemäß dem Vertrag wurde auch der Staatsname „Republik Österreich“ festgelegt. Am 21. Oktober 1919, mit der Ratifizierung des Staatsvertrages wurde dieser Name verbindlich. Als Bundeskanzler Iganz Seipel mit dem Völkerbund später die sogenannte „Genfer Sanierung“ zur Stützung des inflationsgeschüttelten Staatshaushaltes vereinbarte, wurde das Unabhängigkeitsgebot bekräftigt.

In Salzburg gab es Bestrebungen, sich unabhängig von anderen Teilen Österreichs Deutschland anzuschließen, dies wurde aber von Deutschland abgelehnt. In Tirol befürwortete ein kleiner Teil der Bürger einen Anschluss an Italien, um die Einheit Tirols zu wahren. Eine andere politische Linie strebte den Anschluss an Deutschland an. In der Volksabstimmung in Vorarlberg 1919 traten 81 % der Abstimmenden dafür ein, Anschlussverhandlungen mit der Schweiz zu führen. In der Schweiz gab es ebenfalls eine diesbezügliche Initiative; die Schweizer Landesregierung wollte aber den austarierten Modus vivendi zwischen protestantischen und katholischen sowie zwischen deutschsprachigen und anderssprachigen Kantonen nicht in Gefahr bringen und nahm daher von dieser Idee Abstand.

Die 1920 beschlossene Verfassung ist inhaltlich vor allem von Hans Kelsen (1881–1973), einem angesehenen Staatsrechtsexperten, geprägt. Er musste darin aufgrund der politischen Wünsche (Sozialdemokraten: Zentralismus; Konservative: Föderalismus) bundesstaatliche Grundsätze mit einer starken Position von Nationalrat und Bundesregierung verbinden. Die Funktion des Bundespräsidenten war vorerst schwach ausgeprägt; auf Wunsch der Sozialdemokraten war das Parlament das zentrale Organ der Republik (eine Reaktion auf die vorangegangene Monarchie).

Volker Reinhardt: Pontifex. Die Geschichte der Päpste, C.H. Beck, München 2017

Seit 1992 lehrt Reinhardt als ordentlicher Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Freiburg in der Schweiz.

Reinhardt ist führender Experte der italienischen Renaissance. Er verfasste Darstellungen über die Familie Medici, die Borgia und den Papst Alexander VI. Als Anerkennung für seine Arbeit in der italienischen Renaissance wurde er am 3. März 2012 in die Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste aufgenommen.

Volker Reinhardt legt nach dreißigjähriger Forschung zur Geschichte Roms und des Papsttums mit diesem Buch die seit Langem erste Gesamtgeschichte der Päpste aus der Feder eines Historikers vor. Er schildert, wie die Bischöfe von Rom in der Antike den Primat über alle anderen Bischöfe durchsetzten, im Mittelalter die Hoheit über Könige und Kaiser gewannen, als weltliche Herrscher den Kirchenstaat vergrößerten und dabei jahrhundertelang die Erhöhung der eigenen Familie im Blick hatten. Unzählige Kunstwerke zeugen bis heute von diesem vielfältigen Machtanspruch, und die meisten entstanden in Renaissance und Barock, als die Machtfülle schon bröckelte. Bis weit ins 20. Jahrhundert stemmten sich die Päpste gegen die Moderne und handelten dem Papsttum das Stigma des Ewiggestrigen ein. Aber der Ruf nach Reformern ist, wie die fulminante Darstellung zeigt, so alt wie das Papsttum.

Als wissenschaftliche Darstellung der Papstgeschichte behandelt das vorliegende Buch alle Fragen des Glaubens als reine Ideen und Vorstellungen, nicht als Tatsachen.

Die vorliegende Geschichte will ein ganzheitliches Profil der Päpste und ihrer Pontifkate bieten. Dazu gehört eine Bestandsaufnahme ihrer Tätigkeiten in den Hauptfeldern der Kirchenherrschaft, der moralisch-politischen Aufsicht über die christlichen Herrscher, die Machtausübung und dem übrigen Kirchenstaat, des Nepotismus sowie der Mediennutzung und Propaganda im weitesten Sinne.

Insgesamt ist zu sagen, dass vor allem im Mittelalter die Macht der Kirche und der Päpste gut herausgearbeitet wird. Das Buch ist schon sehr umfangreich, da müssen natürlich einige Fragen wie die Frage nach den Umständen der Wahl der Päpste, die Frauenfeindlichkeit und die Kirche als Wirtschaftsunternehmen außen vor bleiben. Nicht jeder einzelne Papst kann umfangreich portraitiert werden, daher ist das Buch ein wichtiger Beitrag für die Kirchengeschichte und die weltliche Herrschaft der Päpste.

Andreas Fahrmeir: Die Deutschen und ihre Nation. Geschichte einer Idee, Reclam Verlag, Ditzingen 2017, ISBN: 978-3-15-011136-9

In diesem Buch geht es um eine ideengeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Entstehung der deutschen Nation und ihrer Geschichte durch die Jahrhunderte. Fahrmeir unterscheidet dabei zwischen einem inklusiven und exklusiven Nationalismus. Inklusiver Nationalismen zielen auf eine Integration aller Teilgruppen einer Gesellschaft, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung und ihrer kulturellen Identität ab. Sie setzen sich für die Werte und Symbole der eigenen Nation ein und billigen dies auch anderen Nationen zu. Als exklusiver Nationalismus oder Chauvinismus wird ein übersteigertes Wertgefühl bezeichnet, das auf die teilweise aggressive Abgrenzung von anderen Nationen zielt. Die Überhöhung der eigenen Nation mit dem Ziel einer möglichst weitgehenden Einheit von „Volk und Raum“ geht oft einher mit der Ausgrenzung und Diskriminierung, im Extrem bis zu Vertreibung oder Vernichtung ethnischer und anderer Minderheiten, die als dem imaginierten „Volkskörper fremd oder schädlich“ angesehen werden. Dabei ist die Geschichte des deutschen Nationalismus „eine Geschichte der Ambivalenzen, die mit dem Nationalismus als historischem Phänomen und seiner Instrumentalisierung in verschiedenen politischen Zusammenhängen einhergehen.“ (S. 11)

In der Einleitung geht es hauptsächlich um eine Definition, was unter einer Nation zu verstehen ist. Dann beleuchtet er die Anfänge der deutschen Nationalismus, die Bedeutung der Französischen Revolution und den Kriegen gegen die französische Herrschaft, wo ein gemeinschaftliches „Nationalgefühl“ entstand. Über die Geschichte des Deutschen Bundes und der 1848er Revolution beschreibt er dann ab der Gründung des deutschen Kaiserreiches 1871 die allmähliche imperialistische, chauvinistische und rassistische Variante der Nation, die im 1. Weltkrieg und dem Kriegsnationalismus gipfelte. Die destruktive Kraft des Nationalismus, die sich schon in der Weimarer Republik zeigte, hätte sich dann im NS-Regime, dem 2. Weltkrieg und in den Vernichtungslagern gezeigt. Nach 1945 sieht er einen Bruch mit diesen Traditionen vor allem nach der 1968er Revolte und den Abschied vom ethnischen Nationalismus. Dabei werden jedoch die Kontinuitäten von 1945 bis heute nicht ausreichend berücksichtigt sowie die Zeit nach 1989 nach der „Wiedervereinigung“, wo ein deutlicher Ruck nach rechts stattfand und in zahllosen Morden an Migranten, Obdachlosen usw. gipfelte.

Der Autor bezweifelt die These eines „postnationalen Zeitalters“ in der Globalisierung, vor allem nach dem parteipolitischen Aufstieg der AfD in den letzten Jahren: „Die Zukunft ist mithin (…) völlig offen, aber es scheint derzeit so, als sei der (deutsche) Nationalismus lebendiger, als man lange Zeit geglaubt hat, und seine Geschichte noch keineswegs vorbei.“ (S. 182)

Das Werk vernachlässigt, dass der Begriff „Nation“ in Teilen der wissenschaftlichen Forschung als Konstrukt gilt. Ernest Gellner kam zu dem Schluss: „Nationalismus ist keineswegs das Erwachen von Nationen zu Selbstbewußtsein: man erfindet Nationen, wo es sie vorher nicht gab.“ Balibar und Wallerstein diagnostizierten: „Sicher ist indessen, dass es uns beiden gleichermaßen wichtig erscheint, die Nation und das Volk als historische Konstruktionen zu denken, dank derer die heutigen Institutionen und Antagonismen in die Vergangenheit projiziert werden können, um den ‚Gemeinschaften‘ eine relative Stabilität zu verleihen, von denen das Gefühl der individuellen ‚Identität‘ abhängt.“ Benedict Anderson definiert „Nation“ als „eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän. Vorgestellt ist die deswegen, weil ihre Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert.“

Daher ist dieses Werk nur mit einer kritischen Herangehensweise zu lesen.

Dominique Bourel: Martin Buber. Was es heißt, ein Mensch zu sein, Aus dem Französischen von Horst Brühmann, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2017, 956 Seiten, ISBN: 978-3-579-08537-1, 49,99 Euro

Das Buch erschien unter dem Originaltitel Sentinelle de l’humanité in Frankreich von Dominique Bourel. Der Autor hat einen Lehrstuhl an der Sobonne in Paris und forscht unter anderem über die deutsche Ideengeschichte der Moderne. Er schrieb unter anderem die umfangreiche Monographie „Moses Mendelssohn: Die Geburt des modernen Judentums“. Bourel sprach im Vorfeld seines Werkes mit Mitgliedern seiner Familie und den noch Lebenden aus seinem engsten Kreis.

In dieser sehr ausführlichen Biographie zeichnet Bourel den Lebensweg und die geistige Entwicklung Bubers nach. Bourel zeichnet Buber als einen „Hüter der Menschlichkeit in einem unmenschlichen Jahrhundert.“

Zunächst beginnt er mit einer kurzen Rezeption der Gedanken Martin Bubers, bevor im 1 Kapitel seine Kindheit, Jugend und seine Ausbildung bis zum Jahre 1904 dargestellt wird. Dort steht seine Auseinandersetzung mit dem Zionismus in seinen Jugendjahren im Mittelpunkt wie auch seine Jahre an der Universität. Im zweiten Kapitel geht es um seine geistige Weiterentwicklung zwischen kosmopolitischer Kultur und Zionismus. Seine „Reden über das Judentum“ und die Gründung der Zeitschrift „Der Jude“ machte ihn zum „Leitstern des deutschen Judentums“. (S. 21) Im dritten Abschnitt geht Bourel auf die Entwicklung Bubers in der Zeit der Weimarer Republik ein, wobei natürlich auch die Entwicklung in Palästina eine große Rolle spielt. In diese Zeit fiel auch die Veröffentlichung seines Hauptwerkes „Ich und Du“, das ein Musterbeispiel der dialogischen Philosophie anzusehen ist. Weiterhin geht es um seine berufliche Entwicklung und die Übersetzung der Bibel zusammen mit Franz Rosenzweig.

Im vierten Kapitel geht es zunächst um das Aufkommen des Nationalsozialismus und des damit verbundenen Antisemitismus, was ihn letztlich zur Zwangsemigration nach Palästina treibt. Dort beginnt er ein neues Leben unter der britischen Mandatsverwaltung, wo er sich für einen Zionismus ohne Ausgrenzung der arabischen Bevölkerung einsetzt. Aus der Ferne verfolgt er die Massenvernichtung der europäischen Juden, sein Umgang mit diesem singulären Menschheitsverbrechen wird auch ausführlich behandelt. Das letzte Kapitel behandelt seinen Umgang mit der Gründung des Staates Israel, seine umfangreichen Ämter, seine Auslandsreisen, seine Auseinandersetzung mit Gelehrten wie Heidegger, Jung oder Levinas. In dieser Zeit entwickelt er sich zum Botschafter des Universalismus und der Versöhnung, auch mit Deutschland. Bis zu seinem Tod 1965 verkörperte er das „nationale Gewissen“ Israels.

Es wird deutlich, dass Buber ein intensives Leben gelebt hat, das viele Wandlungen und Änderungen des Lebensmittelpunktes nach sich zog: „Von Wien nach Jerusalem –Buber hat gleichsam mehrere Leben gelebt, wie es wohl nur den glücklichsten unter den Juden Europas vergönnt war.“ (S. 21) Buber erlebte den Zusammenbruch von vier Monarchien, zwei Weltkriege, Antisemitismus und den Holocaust sowie den israelischen Unabhängigkeitskrieg, trotz all diesen Schrecken ist er ein tiefst humaner Mensch geblieben, der für Versöhnung und Dialog kämpfte: „Als Mann der Begegnung stand er in vorderster Front, um die durch die Barbarei unterbrochenen Dialoge neu zu knüpfen, mit den Christen, den Deutschen und den Europäern wieder eine neue Welt aufzubauen – und um in seinem eigenen Land die Menschen von der Wichtigkeit eines solchen Handelns zu überzeugen.“ (S. 495)

Was hier in diesem Buch jedoch nachrangig behandelt wird, ist sein Verhältnis zu Gustav Landauer, das ihn zeitlebens prägte, und sein Engagement für einen libertären, solidarischen Sozialismus und die Ablehnung des Staates als Herrschaftsinstrument.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es Buber, der in seinem Werk Pfade in Utopia, einem Plädoyer für einen nicht-marxistischen Sozialismus, Landauer ein Kapitel widmet und auch insgesamt dessen Einfluss nicht verleugnen kann.

Buber hoffte darauf, dass in Palästina Menschen ein Gemeinwesen aufbauen konnten, ohne dass sie auf eine schon vorhandene herrschaftliche Struktur stießen. Er erklärte <>>. Er forderte freiwilliges „Gemeineigentum an Boden“ und die <>; dies nannte er den <>.

Als Föderalist und libertärer Sozialist lehnte Buber die Gründung eines israelischen Staates strikt ab. Als sich die Staatsgründung nicht abwenden ließ, kämpfte Buber um einen säkularen Staat, in welchem Juden und Jüdinnen und Araber*innen frei und tolerant miteinander leben könnten. Bubers dahingehende Schriften sind unter dem Titel Ein Land und zwei Völker 1983 herausgegeben worden. Obwohl sich Buber politisch nicht durchsetzen konnte, glaubte er noch Anfang 1950 fest daran, dass Israel das Zentrum eines freien Sozialismus für die ganze Welt werden könne und damit der Gegenpol zum autoritären Sozialismus Moskauer Prägung sei.

Sein föderalistisches Ideal erklärte Buber in Anlehnung an Landauer folgendermaßen:

<>

Landauer und Buber kam es auf das <> zum freiheitlichen Sozialismus und auf das Beginnen an. Die Revolution sollte sofort beginnen:

<<(...) jeweils am gegebenen Orte und unter den gegebenen Bedingungen, also gerade 'hier und jetzt' in dem hier und jetzt möglichen Maße.>> Buber meinte damit, das menschliche Leben sollte nicht auf einen fernen Zeitpunkt verlegt werden, in welchem die ideale Gesellschaft erkämpft worden ist, sondern sofort beginnen: <>

Buber trifft in Anlehnung an Gustav Landauer und Max Weber eine soziologische grundlegende Unterscheidung zwischen <> und <>. Die Gemeinschaften zeichnen sich dadurch aus, dass zwischen den Menschen noch unmittelbare Beziehungen möglich sind. Und aus diesen lebendigen Gemeinschaften soll <> sich bilden. Schließlich soll aus diesen <> sich konstituieren:

<>

In der <> hingegen sieht Buber lediglich eine <> Diese polaren Gegensätze treten auch in anderen Begriffspaaren bei ihm auf: <> und <> bzw. <> und <>. Laut Buber beruht das soziale Prinzip auf <>, während <> wird:

<> Und an anderer Stelle schreibt er: <>

Inhaltlich lässt das Buch fast keine Wünsche offen, sein sehr facettenreiches Leben und Denken wird sehr gut – auch an Originalquellen wie seinen vielen Briefen – dargestellt. Wissenschaftlich gibt es wohl keine bessere Arbeit über die Biographie des Streiters für Menschlichkeit und Versöhnung, was man auch an der Fülle der verwendeten Literatur ablesen kann.

Gill Paul: Die Geschichte der Medizin in 50 Objekten, Haupt Verlag, Bern 2017, ISBN: 978-3-258-08019-2

Gill Paul gibt in diesem Buch einen Überblick über die Geschichte der Medizin anhand von 50 chronologisch geordneten Objekten: „Die Darstellung der gesamten Geschichte der Medizin anhand von 50 Schlüsselobjekten ist zwangsläufig lückenhaft, aber die getroffene Auswahl spannt einen weiten Bogen und gibt einen Einblick in den unglaublichen Einfallsreichtum Tausender Männer und Frauen, die ihr Leben dem Ziel widmeten, die Welt gesünder zu machen.“ (S. 8)

Angefangen von der urgeschichtlichen Trepanation als das älteste chirurgische Verfahren bis hin zur Wirkungsweise der Schutzkleidung gegen Ebola in der heutigen Zeit werden auf jeweils vier Seiten Meilensteine der Geschichte der Medizin vorgestellt und mit Bildern und Schautafeln visuell untermalt. Dabei werden das jeweilige Verfahren und die geistesgeschichtlichen Hintergründe präsentiert, so dass der Leser immer einen Eindruck des Denkens der jeweiligen Zeit bekommen kann.

Besonders spannend sind die Artikel aus der Antike, die zeigen, dass die Menschen damals schon weit fortschrittlicher in medizinischer Hinsicht gedacht haben als weithin angenommen. So zum Beispiel in der griechischen Antike, wo der Arzt Hippokrates das Corpus Hippocraticum verfasste, das lehrbuchhafte Züge ebenso enthielt wie Vorlesungen, Aufsätze oder Notizen und an dem nach neusten Erkenntnisse ca. 20 Wissenschaftler beteiligt gewesen sein sollen. Oder im alten Rom der Bau von Abwassenkanälen, die Cloacica maxima, die Abwässer durch unterirdische Kanäle in den Tiber leitete und damit Seuchen oder Massenkrankheiten vorbeugte. Schon die Minoer aus der Zeit zwischen 2000 und 1500 v. Chr. versorgten sich durch unterirdische Tonrohren mit frischem Wasser und besaßen Spültoiletten.

Insgesamt gesehen gibt der Autor einen kurzweiligen Überblick über Errungenschaften der Medizin in der Menschheitsgeschichte. Dies ist kein Lehrbuch auf wissenschaftlichem Niveau, sondern eher eine populärwissenschaftliche Einführung, wo sich interessierte Laien über Schwerpunkte der historischen Medizin informieren können. Es ist leicht und flüssig zu lesen, dennoch mit viel Sachverstand geschrieben.

Yanis Varoufakis: Die ganze Geschichte. Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment, Antje Kunstmann Verlag, München 2017, ISBN: 978-3-95614-202-4

Yanis Varoufakis, ehemalige Finanzminister Griechenlands unter der Regierung Tsipras, erzählt aus seinen frischen Erinnerungen über seine Amtszeit und den Kontroversen mit dem weltweiten Establishment. Er berichtet über intime Details aus dem Machtapparat der EU und verteidigt viele seiner politischen Handlungen.

Varoufakis stellt die These auf, dass das „liberale Establishment“ eine „effiziente Verleumdungs- und Rufmordkampagne“ gegen die Regierung Tsipras in Griechenland startete. Dieses Buch enthält „reale Einsichten, wie und warum unsere Staatswesen und sozialen Ordnungen zerbrochen sind.“ (S. 8) Ein „tieferer Grund“ für seine Buchpublikation liegt darin, dass sich hinter den Ereignissen in seiner Amtszeit eine „universelle Geschichte“ verbarg, „die Geschichte, was passiert, wenn Menschen sich grausamen Umständen ausgesetzt sehen, die ein inhumanes, überwiegend unsichtbares Netzwerk von Machtbeziehungen hervorgebracht hat.“ (S. 8)

Dabei geht er auch auf handelnde Führungspersonen innerhalb der EU ein, auch deutsche Politikerinnen und Politiker: „Jede Person, die ich getroffen habe und über die ich hier schreibe, glaubte, sie würde sachgerecht handeln, aber gemeinsam brachten sie mit ihrem Tun Unglück über einen ganzen Kontinent. (…) Weil sie fürchteten, Griechenlands unausgesprochener Bankrott könnte zur Folge haben, dass sie die politische Kontrolle über Europa verloren, zwangen sie dem Land Maßnahmen auf, die nach und nach ihre politische Kontrolle nicht nur über Griechenland, sondern über Europa aushöhlten.“ (S. 8f)

Im Mittelpunkt der Schilderung von Varoufakis stehen die wichtigsten Ereignisse in seiner kurzen Amtszeit und viele prominente Figuren aus der EU. Am 27. Januar 2015 berief Alexis Tsipras Varoufakis zum Finanzminister seines Kabinetts, unter anderem zuständig für die Verhandlungen mit den Partnern der Eurozone. Ihm zur Seite gestellt wurde Giannis Dragasakis, der die Aufsicht über die Bereiche Wirtschaft und Finanzen in der Regierung Tsipras führte.

In seiner ersten offiziellen Amtshandlung empfing er am 30. Januar 2015 Euro-Gruppenchef Dijsselbloem , der nach Athen gereist war, um der neuen griechischen Regierung mitzuteilen, dass die Eurozone mit ihrer bisherigen Politik fortfahren werde, und um seinen Kollegen zu erklären, dass die Euro-Gruppe erwarte, dass die mit der vorherigen Regierung vereinbarten Regelungen auch von der neuen Regierung umgesetzt werden müssten und nicht verhandelbar seien. Dem entgegnete Varoufakis, sie seien gewählt worden, um mit den europäischen Partnern die Auflagen neu zu verhandeln; unter der neuen Regierung werde es keine weiteren Gehalts- und Rentenkürzungen geben, welche die Troika von der griechischen Regierung fordere. Als Dijsselbloem auf der anschließenden Pressekonferenz seine Position erneut bekräftigte und äußerte, einseitige Schritte oder das Ignorieren bisheriger Vereinbarungen seien kein Schritt nach vorne, kam es zum Eklat. Varoufakis teilte mit, dass man mit der Troika in der bisherigen Form nicht weiter zusammenarbeiten werde. Zunehmend fand sich Varoufakis von seinen europäischen Kollegen isoliert, da sich die griechische Seite weiterhin weigerte, erneute Gehalts- und Rentenkürzungen zu akzeptieren, um die humanitäre Krise nicht weiter zu verschärfen. Ihren negativen Höhepunkt erlebten die Verhandlungen beim Eurogruppentreffen Ende April 2015 in Riga. Überwiegend deutsche Medien berichteten dennoch, in Athen spiele man mit dem Gedanken, Varoufakis abzusetzen. Dem widersprach die griechische Regierung. Jedoch berief Tsipras an Varoufakis' Stelle Efklidis Tsakolotas als Leiter der Verhandlungsdelegation mit der Begründung, er wolle dadurch den Finanzminister in den weiteren Verhandlungen stärken. Diesen Schritt interpretierten zahlreiche Medien im In- und Ausland als Teilentmachtung des Finanzministers.

Varoufakis plädierte für einen klügeren Umgang mit den Ausgaben und verwahrte sich dagegen, vom deutschen Steuerzahler Geld zu leihen, um damit die EZB auszuzahlen. Nachdem am 27. Juni 2015 Premierminister Tsipras ein Referendum über die Verhandlungen mit den Gläubigerinstitutionen angekündigt hatte, bat Varoufakis beim Eurogruppentreffen desselben Tages um eine Verlängerung des auslaufenden Programms um einige wenige Tage, damit das Referendum umgesetzt werden könne. Nachdem diese Forderung abgelehnt worden war, verließ die griechische Delegation das Eurogruppentreffen, während die Finanzminister der übrigen Staaten das Treffen fortsetzten. Nach Bekanntgabe des Referendums hatte Varoufakis seinen Rücktritt für den Fall angekündigt, dass die Mehrheit der Wähler der Empfehlung der Regierung Tsipras, das Angebot der Eurogruppe abzulehnen, nicht folgen würde. Bei der Abstimmung am 5. Juli votierte mit 61,31 Prozent eine deutliche Mehrheit der Griechen mit Nein. Dennoch kündigte Varoufakis am 6. Juli 2015 in seinem Blog seinen Rücktritt noch für denselben Tag an, da er die zunehmende Unzufriedenheit der europäischen Politiker mit seiner Person spüre und dem nicht im Wege stehen wollte.

In seinem bitteren Abschlussstatement betont er die Überzeugung seiner damaligen Haltung auch heute noch: „Die Europaidee wurde so schwer beschädigt, vor allem durch die Ereignisse des Jahres 2015, dass gutwillige Menschen sich von ihr abwenden. (…) Unsere Bewegung mag utopisch sein, aber ihre Politik des konstruktiven Ungehorsams innerhalb der EU, ihr Ansatz, zugleich in diesem und gegen dieses illiberale und antidemokratische Europa zu sein, ist die einzig praktikable Alternative zu der Depression, wenn Europa zerfällt. Das war meine Haltung als griechischer Finanzminister. Und es ist auch heute meine Haltung.“ (S. 595)

Im Anhang findet man nochmal die drei Schwerpunkte seines damaligen Umschuldungsvorschlags der griechischen Staatsschulden. Dies waren erstens ewige Anleihen im Austausch gegen die SMP-Anleihen der EZB, zweitens die BIP-indexierten Anleihen gegen Schulden aus dem ersten Griechenlandkredit zu tauschen und drittens die Aufspaltung des EFSF-Hilfspakets für Griechenland in zwei Teile. (S. 607ff)

Dieses Buch ist eine Art Generalabrechnung mit den wirtschaftlichen und politischen System der EU und den Interessen der Großkapitals und der Banken. Varoufakis legt schonungslos dar, wie Machtmechanismen funktionieren und die Gründe seines Rücktritts offen. Es ist ein spannend geschriebenes Enthüllungsbuch über Politik und Moral, das zur Lektüre empfohlen werden kann.

 

Eintrag im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek:

ISBN: 978-3-423-28126-3.