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Humboldt und der Neuhumanismus

Abstract: Für Humboldt war Bildung eine eigengesetzliche und selbstzweckliche Form des Geistes. Sie besteht in der harmonischen Entfaltung der menschlichen Kräfte zu einem Ganzen, zu der universale, totalen und individuellen Einheit. In Übereinstimmung mit dieser Bildungsidee hat er das preußische Bildungswesen auf reine Menschenbildung ausgerichtet, unter weitesgehender Ablehnung der Standes- und Berufsbildung. Nach der Auffassung Sprangers hatte der moderne Mensch durch das Auseinanderfallen von Sinnlichkeit und Vernunft eine ursprünglich vorhandene Einheit und Harmonie verloren, die zu den Zeiten Humboldts noch vorherrschte.

Das humboldtsche Bildungsideal entwickelte sich um die beiden Zentralbegriffe der bürgerlichen Aufklärung: den Begriff des autonomen Individuums und den Begriff des Weltbürgertums. Die Universität sollte ein Ort sein, an dem autonome Individuen und Weltbürger hervorgebracht werden bzw. sich selbst hervorbringen. Ein autonomes Individuum soll ein Individuum sein, das Selbstbestimmung und Mündigkeit durch seinen Vernunftgebrauch erlangt. Die Universität soll deshalb ein Ort des permanenten öffentlichen Austausches zwischen allen am Wissenschaftsprozess Beteiligten sein.

Die Integration ihres Wissens soll mit Hilfe der Philosophie zustande kommen. Dabei stützt er sich auf Kant: Die Einzelnen sind es nämlich, die sich zur Idee der Freiheit erheben und in dieser Erhebung Freiheit verwirklichen, die damit die höchste Bestimmung erreichen, die Menschen erreichen können. Die Theorie der Erziehung wird von Kant nicht auf einzelne Menschen, sondern auf die ganze Menschengattung bezogen.

1 Grundzüge des humanistischen Denkens

Ein prägendes Merkmal der humanistischen Bewegung war das Bewusstsein, einer neuen Epoche anzugehören, und das Bedürfnis, sich von der Vergangenheit der vorhergehenden Jahrhunderte abzugrenzen.[1] Diese Vergangenheit, die man „Mittelalter“ zu nennen begann, wurde von den maßgeblichen Vertretern der neuen Denkrichtung verächtlich abgelehnt. Dem Mittelalter stellten die Humanisten die Antike als schlechthin maßgebliche Norm für alle Lebensbereiche entgegen. Eines ihrer Hauptanliegen war die Gewinnung eines direkten Zugangs zu dieser Norm in ihrer ursprünglichen, unverfälschten Gestalt. Daraus ergab sich die Forderung nach Rückbesinnung auf die authentischen antiken Quellen, knapp ausgedrückt in dem lateinischen Schlagwort ad fontes.

Der Begriff „Humanismus“ wurde von dem Philosophen und Bildungspolitiker Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848) eingeführt. Niethammers 1808 veröffentlichte pädagogische Kampfschrift „Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit“ erregte Aufsehen. Als Humanismus bezeichnete er die pädagogische Grundhaltung derjenigen, die den Unterrichtsstoff nicht unter dem Gesichtspunkt seiner praktischen (materiellen) Verwertbarkeit beurteilen, sondern Bildung als Selbstzweck unabhängig von Nützlichkeitserwägungen anstreben. Dabei kommt der Erlangung sprachlicher und literarischer Kenntnisse und Fähigkeiten eine zentrale Rolle zu. Als entscheidender Faktor im Lernprozess gilt die Anregung durch das intensive Studium „klassischer“ Vorbilder, die man nachahmt. Dieses Bildungsideal war das traditionelle, seit der Renaissance allgemein herrschende. Daher begann man um die Mitte des 19. Jahrhunderts, die Geistesbewegung in der Epoche der Renaissance, die das Programm einer so konzipierten Bildung formuliert und umgesetzt hatte, als Humanismus zu bezeichnen.

Als kulturhistorischer Epochenbegriff für eine lange Zeit des Übergangs vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit wurde „Humanismus“ erstmals von Karl Hagen 1841 verwendet und dann von Georg Voigt in seinem 1859 erschienenen Werk Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus etabliert. Einen Anstoß dazu gab die Idee Johann Gustav Droysens, den Begriff „Hellenismus“ für die mit Alexander dem Großen beginnende Epoche zu verwenden.

Das Wort „Humanist“ ist erstmals gegen Ende des 15. Jahrhunderts bezeugt, und zwar zunächst als Berufsbezeichnung für Inhaber einschlägiger Lehrstühle, analog zu „Jurist“ oder „Kanonist“ (Kirchenrechtler). Erst im frühen 16. Jahrhundert wurde es auch für außeruniversitäre Gebildete verwendet, die sich als humanistae verstanden.

Ausgangspunkt der Bewegung war das Konzept der Humanität (lateinisch humanitas „Menschennatur“, „das Menschengemäße, den Menschen Auszeichnende“), das in der Antike von Cicero formuliert worden war. Auf die Ausformung der humanitas zielten die von Cicero als studia humanitatis bezeichneten Bildungsbestrebungen.[2] In antiken Philosophenkreisen – besonders bei Cicero – wurde betont, dass der Mensch sich vom Tier durch die Sprache unterscheidet. Das bedeutet, dass er in der Erlernung und Pflege sprachlicher Kommunikation seine Menschlichkeit lebt und das spezifisch Menschliche hervortreten lässt. Daher war der Gedanke naheliegend, dass die Kultivierung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit den Menschen erst richtig zum Menschen macht, wobei sie ihn auch moralisch emporhebt und zum Philosophieren befähigt. Daraus konnte man folgern, dass Sprachgebrauch auf dem höchsten erreichbaren Niveau die grundlegendste und vornehmste Tätigkeit des Menschen ist.

Von solchen Gedankengängen ausgehend sind die Humanisten zur Annahme gelangt, dass zwischen der Qualität der sprachlichen Form und der Qualität des durch sie mitgeteilten Inhalts ein notwendiger Zusammenhang bestehe, insbesondere dass ein in schlechtem Stil geschriebener Text auch inhaltlich nicht ernst zu nehmen und sein Autor ein Barbar sei. Daher wurde am Mittelalter und am mittelalterlichen Latein heftige Kritik geübt, indem man nur die klassischen Vorbilder (vor allem Cicero) gelten ließ. Besonders die Scholastik mit ihrer eigenen, von klassischem Latein besonders weit entfernten Fachsprache wurde von den Humanisten verachtet und verspottet. Eines ihrer Hauptanliegen war die Reinigung der lateinischen Sprache von „barbarischen“ Verfälschungen und die Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Schönheit.

Ihren Höhepunkt erreichte die Kultivierung der Sprache aus der Sicht der Humanisten in der Dichtkunst, die daher bei ihnen die höchste Wertschätzung genoss.[3] Wie für die Prosa Cicero war für die Poesie Vergil das maßgebliche Vorbild. Sehr geschätzt wurden auch die Kunst des literarisch anspruchsvollen Briefwechsels, die Rhetorik und der literarische Dialog. Der Dialog galt als vorzügliches Mittel zur Übung des Scharfsinns und der Argumentationskunst. Die Rhetorik wurde zur Zentraldisziplin aufgewertet. Weil viele Wortführer der humanistischen Bewegung Rhetoriklehrer waren oder als Redner auftraten, nannte man die Humanisten oft auch einfach „Redner“ (oratores).

Wer so dachte und empfand und in der Lage war, sich mündlich und schriftlich in klassischem Latein elegant und fehlerfrei auszudrücken, wurde von den Humanisten als einer der ihren betrachtet. Erwartet wurde von einem Humanisten, dass er die lateinische Grammatik und die Rhetorik beherrschte und sich in antiker Geschichte und Moralphilosophie und in der altrömischen Literatur gut auskannte und lateinisch dichten konnte. Vom Ausmaß solcher Kenntnisse und vor allem von der Eleganz ihrer Präsentation hing der Rang des Humanisten unter seinesgleichen ab. Griechischkenntnisse waren sehr erwünscht, aber nicht notwendig; viele Humanisten lasen griechische Werke nur in lateinischer Übersetzung.

Das intensive humanistische Interesse an Sprache und Literatur erstreckte sich auch auf die orientalischen Sprachen, besonders auf das Hebräische. Dies bildete einen Ansatzpunkt für die Beteiligung jüdischer Intellektueller an der humanistischen Bewegung.

Da die Humanisten der Ansicht waren, dass möglichst alle Menschen gebildet sein sollten, stand den Frauen die aktive Teilnahme an der humanistischen Kultur offen. Frauen traten vor allem als Mäzeninnen, Dichterinnen und Autorinnen literarischer Briefe hervor. Einerseits fanden ihre Leistungen überschwängliche Anerkennung, andererseits hatten sich manche von ihnen auch mit Kritikern auseinanderzusetzen, die ihre Aktivitäten als unweiblich und daher unziemlich rügten.

In der Philosophie dominierte die Ethik; Logik und Metaphysik traten in den Hintergrund. Die weitaus meisten Humanisten waren eher Philologen und Historiker als kreative Philosophen. Dies hing mit ihrer Überzeugung zusammen, dass Erkenntnis und Tugend aus unmittelbarem Kontakt des Lesers mit den klassischen Texten entstehen, sofern diese in unverfälschter Form zugänglich sind. Es herrschte die Überzeugung, dass die Orientierung an Vorbildern für den Erwerb der Tugend erforderlich sei. Die angestrebten Tugenden wurzelten in der (nichtchristlichen) Antike, sie verdrängten christlich-mittelalterliche Tugenden wie die Demut. Das humanistische Persönlichkeitsideal bestand in der Verbindung von Bildung und Tugend.[4]

Ihren Höhepunkt erreichte die Kultivierung der Sprache aus der Sicht der Humanisten in der Dichtkunst, die daher bei ihnen die höchste Wertschätzung genoss. Wie für die Prosa Cicero war für die Poesie Vergil das maßgebliche Vorbild. Sehr geschätzt wurden auch die Kunst des literarisch anspruchsvollen Briefwechsels, die Rhetorik und der literarische Dialog. Der Dialog galt als vorzügliches Mittel zur Übung des Scharfsinns und der Argumentationskunst. Die Rhetorik wurde zur Zentraldisziplin aufgewertet. Weil viele Wortführer der humanistischen Bewegung Rhetoriklehrer waren oder als Redner auftraten, nannte man die Humanisten oft auch einfach „Redner“ (oratores).

Wer so dachte und empfand und in der Lage war, sich mündlich und schriftlich in klassischem Latein elegant und fehlerfrei auszudrücken, wurde von den Humanisten als einer der ihren betrachtet. Erwartet wurde von einem Humanisten, dass er die lateinische Grammatik und die Rhetorik beherrschte und sich in antiker Geschichte und Moralphilosophie und in der altrömischen Literatur gut auskannte und lateinisch dichten konnte. Vom Ausmaß solcher Kenntnisse und vor allem von der Eleganz ihrer Präsentation hing der Rang des Humanisten unter seinesgleichen ab. Griechischkenntnisse waren sehr erwünscht, aber nicht notwendig; viele Humanisten lasen griechische Werke nur in lateinischer Übersetzung.

Das intensive humanistische Interesse an Sprache und Literatur erstreckte sich auch auf die orientalischen Sprachen, besonders auf das Hebräische. Dies bildete einen Ansatzpunkt für die Beteiligung jüdischer Intellektueller an der humanistischen Bewegung.

Da die Humanisten der Ansicht waren, dass möglichst alle Menschen gebildet sein sollten, stand den Frauen die aktive Teilnahme an der humanistischen Kultur offen. Frauen traten vor allem als Mäzeninnen, Dichterinnen und Autorinnen literarischer Briefe hervor. Einerseits fanden ihre Leistungen überschwängliche Anerkennung, andererseits hatten sich manche von ihnen auch mit Kritikern auseinanderzusetzen, die ihre Aktivitäten als unweiblich und daher unziemlich rügten.

In der Philosophie dominierte die Ethik; Logik und Metaphysik traten in den Hintergrund.[5] Die weitaus meisten Humanisten waren eher Philologen und Historiker als kreative Philosophen. Dies hing mit ihrer Überzeugung zusammen, dass Erkenntnis und Tugend aus unmittelbarem Kontakt des Lesers mit den klassischen Texten entstehen, sofern diese in unverfälschter Form zugänglich sind. Es herrschte die Überzeugung, dass die Orientierung an Vorbildern für den Erwerb der Tugend erforderlich sei. Die angestrebten Tugenden wurzelten in der (nichtchristlichen) Antike, sie verdrängten christlich-mittelalterliche Tugenden wie die Demut. Das humanistische Persönlichkeitsideal bestand in der Verbindung von Bildung und Tugend.

Daneben gibt es noch andere Merkmale, die zur Unterscheidung des humanistischen Welt- und Menschenbildes vom mittelalterlichen angeführt werden. Diese Erscheinungen, die man schlagwortartig mit Begriffen wie „Individualismus“ oder „Autonomie des Subjekts“ zu erfassen versucht, beziehen sich aber auf die Renaissance allgemein und nicht nur speziell auf den Humanismus.

Oft wird behauptet, ein Merkmal der Humanisten sei ihr distanziertes Verhältnis zum Christentum und zur Kirche gewesen. Das trifft aber so nicht generell zu. Die Humanisten gingen von dem allgemeinen Grundsatz der universalen Vorbildlichkeit der Antike aus und bezogen dabei auch die „heidnische“ Religion ein. Daher hatten sie zum antiken „Heidentum“ in der Regel ein unbefangenes, meist positives Verhältnis. Es war bei ihnen üblich, auch christliche Inhalte in klassisch-antikem Gewand zu präsentieren samt einschlägigen Begriffen aus der altgriechischen und altrömischen Religion und Mythologie. Die meisten von ihnen konnten dies mit ihrem Christentum gut vereinbaren. Manche waren wohl nur noch dem Namen nach Christen, andere nach kirchlichen Maßstäben fromm.

Ihre religiösen und philosophischen Positionen waren sehr unterschiedlich und in manchen Fällen – auch aus Gründen der Opportunität – vage, unklar oder schwankend. Häufig suchten sie nach einem Ausgleich zwischen gegensätzlichen philosophischen und religiösen Auffassungen und neigten zum Synkretismus. Es gab unter ihnen Platoniker und Aristoteliker, Stoiker und Epikureer, Geistliche und Antiklerikale und sogar Mönche. Im Allgemeinen war allerdings das Mönchtum (besonders die Bettelorden) der Hauptgegner des Humanismus, denn die Mönchsorden waren stark in einer mittelalterlichen Geisteshaltung verwurzelt. Mit ihrer Betonung der Würde des Menschen distanzierten sich die Humanisten von dem im Mittelalter dominierenden Menschenbild, in dem die sündhafte Verworfenheit des Menschen eine zentrale Rolle spielte. In diesem Punkt bestand auch ein Gegensatz zwischen Humanismus und Reformation.

Die Betonung der Ethik, der Frage nach dem richtigen (tugendhaften) Verhalten, machte sich auch in der humanistischen Geschichtsschreibung geltend. Die Geschichte galt (wie schon bei Cicero und anderen antiken Autoren) als Lehrmeisterin. Das in Geschichtswerken geschilderte vorbildliche Verhalten von Helden und Staatsmännern sollte zur Nachahmung anspornen, die Weisheit der Vorbilder bei der Lösung von Gegenwartsproblemen helfen.

Im Schulwesen führte die Konzentration auf ethische Themen allerdings zu einem begrenzten Geschichtsverständnis; die Aufmerksamkeit richtete sich nicht primär auf die Geschichte als solche, sondern auf ihre literarische Verarbeitung. Im Vordergrund standen das Wirken einzelner Persönlichkeiten sowie militärische Ereignisse, während wirtschaftliche, soziale und rechtliche Faktoren meist oberflächlich behandelt wurden. Im Rahmen des altertumskundlichen Unterrichts wurden zwar Geschichtskenntnisse vermittelt, doch als eigenständiges Schulfach wurde Geschichte nur sehr langsam, später als die übrigen humanistischen Fächer, etabliert. Zunächst war die historia in humanistischen Lehrsystematiken eine Hilfswissenschaft der Rhetorik, später wurde sie oft der Ethik zugeordnet. Andererseits brachte der Renaissance-Humanismus erstmals bedeutende geschichtstheoretische Werke hervor; im Mittelalter hatte noch keine systematische Auseinandersetzung mit geschichtstheoretischen Fragen stattgefunden.[6]

Wichtige berufliche Betätigungsfelder für Humanisten waren Bibliothekswesen, Buchproduktion und Buchhandel. Einige gründeten und leiteten Privatschulen, andere organisierten bestehende Schulen neu oder arbeiteten als Hauslehrer. Neben dem Bildungsbereich bot vor allem der Staatsdienst und insbesondere der diplomatische Dienst berufliche Möglichkeiten und Aufstiegschancen. An Fürstenhöfen oder in Stadtregierungen fanden Humanisten Beschäftigung als Räte und Sekretäre, sie waren als Publizisten, Festredner, Hofdichter, Geschichtsschreiber und Prinzenerzieher für ihre Dienstherren tätig. Ein wichtiger Arbeitgeber war die Kirche; viele Humanisten waren Kleriker und bezogen ein Einkommen aus Pfründen oder fanden eine Anstellung im kirchlichen Dienst.

Anfänglich stand der Humanismus dem Universitätsbetrieb fern, doch wurden in Italien im 15. Jahrhundert zunehmend Humanisten auf Lehrstühle für Grammatik und Rhetorik berufen oder es wurden besondere Lehrstühle für humanistische Studien geschaffen. Es gab eigene Professuren für Poetik (Dichtungstheorie). Um die Mitte des 15. Jahrhunderts waren die humanistischen Studien an den italienischen Universitäten fest etabliert. Außerhalb Italiens konnte sich der Humanismus vielerorts erst im 16. Jahrhundert dauerhaft an den Universitäten durchsetzen.

Gleichzeitig befand sich ganz Europa mitten in einem geistigen Umbruch, der als eine um 1450 begonnene „Renaissance der Naturwissenschaften“ bezeichnet und mit einem tiefgreifenden Wandel der Perspektive verbunden wird, die das Entstehen moderner wissenschaftlicher Denkweisen ermöglichte.[7] Hatten sich die Gelehrten um 1450 noch darauf konzentriert, die Entdeckungen der Antike zu sichten und zu begreifen, lagen bis 1630 die grundlegenden wissenschaftlichen Schriften in verschiedenen volkssprachlichen Übersetzungen vor, ebenso die Werke zeitgenössischer Wissenschaftler, die sich mit jenen Inhalten auseinandergesetzt und sie weiterentwickelt hatten. Der Buchdruck erleichterte diese Verbreitung des Wissens: Antikes Gedankengut und seine Weiterentwicklungen wurden – gedruckt und jedermann verständlich – nicht nur Gelehrten, sondern auch weniger Gebildeten zugänglich.

Bürgerlichkeit, Individualismus und Freiheiten auf gesellschaftlicher Ebene hoben sich ab von den alten Werten, die sich auch in der Art der Kunst niederschlugen.

Seit dem 14. Jahrhundert hatte sich ein kultursoziologischer Wandel vollzogen: Weltliche Mäzene lösten die Kirche als wichtigsten Auftraggeber für Kunstwerke ab. Die höfische Kunstproduktion der Spätgotik, deren Zentrum Frankreich gewesen war, wurde bereits teilweise von Niederländern dominiert.

Die Niederlande waren durch das Haus Burgund auch herrschaftlich mit Frankreich verbunden, so dass es für flämische, wallonische und holländische Künstler leicht war, an den dortigen Höfen von Anjou, Orléans, Berry oder dem des französischen Königs Fuß zu fassen.[8] Herausragende Meister dieser oft auch internationale Gotik genannten und über Burgund, Böhmen, Frankreich und Norditalien verbreiteten Kunst waren z. B. die Brüder von Limburg aus Geldern. In der niederländischen Ursprungsheimat blieben meist nur zweitrangige Kräfte zurück, wenn man von Ausnahmen wie Melchior Broederlam absieht.[9]

Nach der Schlacht von Azincourt (1415) und dem Tod des Herzogs von Berry zog sich der burgundische Herzog Philipp der Gute nach Flandern zurück. Die Übersiedlung des burgundischen Hofes nach Flandern ermöglichte den einheimischen Meistern beste Arbeitsbedingungen in ihrer eigenen Heimat. Die Abwanderung an die französischen Kulturzentren erübrigte sich nun. Es konnten sich regionale Malerschulen herausbilden. Vorher war die Meisterschaft von Ausnahmebegabungen wie etwa Jan Bondol, Johan Maelwael oder den Brüdern von Limburg vom „Internationalen Stil“ aufgesogen worden. Nun wurden aus franko-flämischen Künstlern Niederländer. Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky hat gar von der „Repatriierung des flämischen Genies“ gesprochen.[10] Die neue niederländische Künstlergeneration bediente sich aber nicht mehr der universellen, gotischen Formsprache. Sie ist daher als spezifisch niederländische Schule zu bezeichnen.

2 Humboldts Bildungsideal

Wilhelm von Humboldt (1767-1835), der mit Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe befreundet war, übte seit 1801 den Posten des preußischen Gesandten in Rom aus. 1809-1810 wurde Humboldt Leiter des preußischen Bildungswesens im Innenministerium und Gründer der Universität in Berlin. Danach bekleidete er das Amt des preußischen Gesandten in Wien, Frankfurt/Main und London aus. Nach einem Erlass des preußischen Königs wurde er 1819 Innenminister Preußens. Seitdem lebte er hauptsächlich für seine Forschungen, insbesondere ausgedehnte Sprachstudien. Humboldt beeinflusste maßgeblich die Umgestaltung des preußischen höheren Schulwesens einschließlich der Gymnasiallehrerausbildung im Sinne des Neuhumanismus.

Der Neuhumanismus ist eine Bildungs- und Geistesbewegung, die um 1750 zuerst an der Universität Göttingen entstand.[11] Sie betonte in neuer Hinwendung zum klassischen Altertum und im Kampf gegen die Formalisierung des altsprachlichen Unterrichts den menschlichen Gehalt der antiken Kulturgüter. Gegen den (Gemein-)Nutzen der Aufklärungspädagogik setzte der Neuhumanismus den Wert der Individualität jedes Einzelnen, die in der Schulerziehung ohne Rücksicht auf gesellschaftliche und aktuelle Bedürfnisse ausgebildet werden müsse. Die Sprache gilt dabei als Zentrum des Menschseins, über eine formale sprachliche Bildung gelangt der Mensch also zu sich selbst. Das Erlernen der alten Sprachen, vor allem des Griechischen, diene diesem Zweck vorzüglich, weil sie die Strukturen von Sprache reiner repräsentieren könnten. Daraus folgt für Humboldt, dass sie zu lernen auch dem künftigen Tischler gut tue, was in der weiteren Schulgeschichte allerdings weitgehend ein theoretisches Postulat blieb. Zusätzlich erhält jeder Lernende gerade über die griechische Sprache einen materiellen Zugang zu einer als ideal gedeuteten Kultur, die als Quelle geistiger Inspiration im Gegensatz zur zerrissenen, gefährdeten, antihumanen Gegenwart stehe. Der Weg zur Freiheit und zur Fähigkeit, dem bloß Aktuellen geistig widerstehen zu können, führe über humanistische Bildung. Jegliche berufliche Ausbildung sollte für Humboldt erst später erfolgen, der richtig gebildete Mensch werde aber mit seinen Energien im Berufsleben für die Gesellschaft umso mehr leisten können. Im humanistischen Gymnasium stehen daher die alten Sprachen völlig im Vordergrund, wenn auch gegen Humboldts Intentionen aus schulpraktischen Bedürfnissen bald das Lateinische dem Griechischen wieder vorangestellt wurde

Dem ersten mehr vorbereitenden Entwicklungsabschnitt gehörten folgende Personen an:[12]

  1. der Gründer des ersten philosophischen Seminars in Göttingen, M.Gester (1691-1761)
  2. J.A. Ernesti (1707-1781) in Leipzig
  3. G.Heyne (1729-1812),der Nachfolger Gesners in Göttingen

Die Forderungen dieser Gelehrten berührten sich noch mit dem Gedanken der Aufklärung und des Philanthropismus. Sie wollten durch zweckmäßigen neuzeitlichen Sprachunterricht zu sinnvollem Eindringen in den Geist des Altertums führen, gaben Imitation und formalistischem Denken zugunsten eines eigenständigen sprachlichen Studiums auf und wiesen vor allem auf die griechische Sprache und Kultur hin.

Die zweite Periode stand im Zeichen Winckelmanns, Herders, Lessing und vor allem Rousseaus. Der neuhumanistische Gelehrte Friedrich August Wolf (1759-1824), der die klassische Philologie im modernen Sinne begründete, wurde 1810 Professor in Berlin. Er schrieb dem Unterricht die Aufgabe zu, zum „gebildeten und aufklärungsfähigen Manne“[13]zu erziehen. Die Beschäftigung mit den klassischen Studien, besonders mit der griechischen Sprache, sollte zur höchsten Geistesbildung und zu „einer schönen Harmonie“[14] des inneren und äußeren Menschen führen. Wolf entfaltete eine ausgedehnte Lehr-und Forschungstätigkeit und darüber hinaus zum Verkünder der Gläubigkeit an die griechischen Ideale sowie der menschlichen Wertigkeit der Antike.

Herder wollte das griechische Ideal harmonischer Seelen- und Leibesbildung in der Idee der Humanität vereinigen. Niethammer und Thiesch prägten das bayrische höhere Schulwesen nach dieser Idee um. Damit begann die dritte Periode: der Neuhumanismus der Universitäten (Hegel, Trendelenburg) und der Gymnasien (Allgemein-, Formalbildung, Johann Schulze) und die unangefochtene Monopolstellung der neuhumanistischen Ideen im deutschen Bildungswesen.

Friedrich Paulsen sah die hervorstechenden Merkmale des Neuhumanismus gegenüber dem alten Humanismus in folgenden Punkten:[15]

  1. in der Rückwendung auf die athenische Kultur
  2. in der geistigen Verwandtschaft seiner Träger mit dem Hellenentum
  3. in der Inspiration zu echter kultureller Neuschöpfung

Der Neuhumanismus war indessen keine Angelegenheit der Bevölkerung, sondern einer kleinen Bildungselite. Er befruchtete die Sprachforschung und brachte die klassische Philologie im heutigen Sinne hervor. Für die Gymnasien wurden die Kulturinhalte des klassischen Römer- und Griechentums bestimmender Unterrichtsinhalt.[16] Das Griechentum selbst erhielt den Charakter einer die Bildungsschicht der Völker zusammenfassenden Wertordnung von allgemeiner Gültigkeit.

Für Humboldt war Bildung eine eigengesetzliche und selbstzweckliche Form des Geistes. Sie besteht in der harmonischen Entfaltung der menschlichen Kräfte zu einem Ganzen, zu der universale, totalen und individuellen Einheit.[17]

In Übereinstimmung mit dieser Bildungsidee hat er das preußische Bildungswesen auf reine Menschenbildung ausgerichtet, unter weitesgehender Ablehnung der Standes- und Berufsbildung. In der Einleitung zu seinem Werk über die altjavanische Sprache (Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues) entwickelte er seine Auffassung vom organischen Charakter der Sprache, die in der Feststellung gipfelt, dass Sprache nicht zuerst Werk, sondern Tätigkeit ist. Damit gab er eine der Grundlagen der neueren Sprachwissenschaft und zugleich des Sprachunterrichts.[18]

Er galt als liberaler Verfechter des Humanitätsideals. So hatte er in seiner 1792 verfassten Abhandlung „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ geschrieben: „Der wahre Zweck des Menschen, nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welche die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt, ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung. (…) Gerade die aus der Vereinigung Mehrerer entstehende Mannigfaltigkeit ist das höchste Gut, welches die Gesellschaft gibt, und diese Mannigfaltigkeit geht gewiß immer in dem Grade der Einmischung des Staates verloren. Es sind nicht mehr eigentlich die Mitglieder einer Nation, die mit sich in Gemeinschaft leben, sondern einzelne Untertanen, welche mit dem Staat, d. h. dem Geiste, welcher in seiner Regierung herrscht, in Verhältnis kommen, und zwar in ein Verhältnis, in welchem schon die überlegene Macht des Staats das freie Spiel der Kräfte hemmt. Gleichförmige Ursachen haben gleichförmige Wirkungen. Je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte. (…) Wer aber für andere so räsoniert, den hat man, und nicht mit Unrecht, in Verdacht, daß er die Menschheit mißkennt und aus Menschen Maschinen machen will.“[19]

Die universitäre Bildung soll keine berufsbezogene, sondern eine von wirtschaftlichen Interessen unabhängige Ausbildung sein.

Akademische Freiheit heißt zunächst äußere Unabhängigkeit der Universität. Die Universität soll sich staatlichen Einflüssen entziehen. Humboldt fordert, dass sich die wissenschaftliche Hochschule „von allen Formen im Staate losmachen“ sollte. Daher sah seine Universitätskonzeption vor, dass beispielsweise die Berliner Universität eigene Güter haben sollte, um sich selbst zu finanzieren und dadurch ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit zu sichern. Akademische Freiheit verlangt neben der äußeren Unabhängigkeit der Universität von staatlichen und wirtschaftlichen Zwängen auch die innere Autonomie, d. h. die freie Studienwahl, die freie Studienorganisation und das freie Vertreten von Lehrmeinungen und Lehrmethoden. Die Universität soll deshalb ein Ort des permanenten öffentlichen Austausches zwischen allen am Wissenschaftsprozess Beteiligten sein. Die Integration ihres Wissens soll mit Hilfe der Philosophie zustande kommen. Diese soll eine Art Grundwissenschaft darstellen, die es den Angehörigen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen erlaubt, einen Austausch ihrer Erkenntnisse zustande zu bringen und sie miteinander zu verknüpfen. Das humboldtsche Bildungsideal bestimmte lange Zeit die deutsche Universitätsgeschichte entscheidend mit, auch wenn es niemals praktisch zur Gänze realisiert wurde oder realisierbar ist. Große intellektuelle Leistungen der deutschen Wissenschaft sind damit verbunden.

Humboldt ließ dieses Ideal als Leiter der Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts im preußischen Innenministerium in die Bildungsreformen einfließen. In der konkreten Politik erstreckte es sich nicht auf die preußischen Volksschulen, die neben den Universitäten ebenfalls der Sektion unterstanden.

Das humboldtsche Bildungsideal entwickelte sich um die beiden Zentralbegriffe der bürgerlichen Aufklärung: den Begriff des autonomen Individuums und den Begriff des Weltbürgertums. Die Universität sollte ein Ort sein, an dem autonome Individuen und Weltbürger hervorgebracht werden bzw. sich selbst hervorbringen. Ein autonomes Individuum soll ein Individuum sein, das Selbstbestimmung und Mündigkeit durch seinen Vernunftgebrauch erlangt.

Hier wird der Bezug auf Kant ersichtlich. In der Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ sind die Gedanken Kants zur Geschichts- und Erziehungsphilosophie abzulesen:[20] „Denn was hilfts, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen, wenn der Theil des großen Schauplatzes der obersten Wahrheit, der vor allem diesem den Zweck enthält, - die Geschichte des menschlichen Geschlechts- ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nöthigt unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden und indem wir verzweifeln jemals darin eine vollendete vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringt, sie nur in einer anderen Welt zu hoffen?“

Nach der Lehre der drei Kritiken besteht weder Anlass noch Möglichkeit, die Natur als ein Werk des planenden Schöpfers zu preisen. Ordnung und Gesetz bringen wir selbst in sie hinein- zum Zwecke der Lebenserhaltung und Lebenssteigerung; oder zum Zwecke einer in sich sinnleeren Erkenntnis, die nur als Mittel der Naturbeherrschung durch und für den Menschen dienen kann. Im 18. Jahrhundert begann sich für die europäische Menschheit die reale Möglichkeit einer Beherrschung und Gestaltung der Welt zu eröffnen. Wissenschaft, Technik, Industrie, Wirtschaft, Gesellschaft und Staat im modernen Sinne zeichneten sich am Horizont der Zukunft ab.[21]

Die Aufgabe einer Erziehung der Menschen zur Vollkommenheit ist bei Kant ein realisierbares Projekt:[22] „Ein Entwurf zu einer Theorie der Erziehung ist ein herrliches Ideal, und es schadet nichts, wenn wir auch nicht gleich im Stande sind, es zu realisieren. Und die Erziehung einer Erziehung, die alle Naturanlagen im Menschen entwickelt, ist allerdings wahrhaft.“

Kant legte Wert darauf, dass die Lehre von der Erziehung zur Wissenschaft werden müsse: [23] „Der Mechanismus in der Erziehungskunst muß in Wissenschaft verwandelt werden (…)“ Die zur Wissenschaft erhobenen Erziehungskunst soll zugleich eine Idee der Erziehung voranleuchten. Es ist ein charakteristischer Zug des Aufklärungsdenkens, einen Ausblick auf das Ganze der Menschheitsgeschichte, in dem theologische Reminiszenzen anklingen, für nötig zu halten und gleichzeitig die Wissenschaft als Hilfe auf dem Wege zur fortschreitenden Vervollkommnung zu Hilfe zu rufen. Die Menschheit soll durch Erziehung in einen vollkommenen Zustand versetzt werden. Es heißt bei Kant:[24] „Zuvörderst muß man anmerken; dass bei allen übrigen sich selbst überlassenen Thieren jedes Individuum seine ganze Bestimmung erreicht, bei den Menschen aber allenfalls nur die Gattung; so dass sich das menschliche Geschlecht nur durch Fortschreiten in einer Reihe unabsehlich vieler Generationen zu seiner Bestimmung emporarbeiten kann.“

Die geschichtsphilosophisch- erziehungsphilosophische Stellungsnahme Kants zur Bestimmung des Menschen von der Betrachtungsweise seiner praktischen Philosophie ist problematisch. Denn Freiheit und Autonomie des Menschen als eines Vernunftswesens sind nur in der Selbstbestimmung von einzelnen Menschen realisierbar. Die Einzelnen sind es nämlich, die sich zur Idee der Freiheit erheben und in dieser Erhebung Freiheit verwirklichen, die damit die höchste Bestimmung erreichen, die Menschen erreichen können.

Die Theorie der Erziehung wird von Kant nicht auf einzelne Menschen, sondern auf die ganze Menschengattung bezogen. Das ist in einem gewissen Sinne konsequent, denn die Entwicklung zur Vollkommenheit soll nur für die Gattung am Ende eines langen Weges erreicht werden können. Wenn die Vollkommenheit erreicht wäre, würden einige Menschen vollkommen; seien diese auch alle Menschen, die zu jener Zeit leben.

Kant bringt die Vollkommenheit der Gattung vernünftiger Lebewesen mit der Ausbildung einer auch äußerlich-vollkommenen Staatsverfassung und schließlich einem kosmopolitischen Friedenszustand zusammen:[25] (…) wobei dann ihr Wollen im Allgemeinen gut, das Vollbringen aber dadurch erschwert ist, dass die Erreichung des Zwecks nicht von der freien Zusammenstimmung der Einzelnen, sondern nur durch fortschreitende Organisation der Erdbürger in und zu der Gattung als einem System, das kosmopolitisch verbunden ist, erwartet werden kann.“

Für die damalige Zeit war es zukunftweisend, den Begriff einer republikanischen Verfassung und eines Rechtsstaates im modernen Sinne zu denken. In einem solchen politischen Zustand sind die Menschen in wichtigen Dingen einander gleichgestellt. Sie haben gleiche Befugnisse und Pflichten: sie können sich innerhalb gewisser Grenzen frei betätigen. Wie der vollkommene Zustand zur Erziehung stehen soll, ist nicht ohne weiteres klar. Die Erziehung soll wohl auch auf einen vollkommenen politischen Zustand hinwirken.

Kant plädiert für eine Einheit von Erziehung und Staat:[26] „ (…) man kann die Geschichte der Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Planes der Natur ansehen, um eine innerlich- und zu diesem Zwecke auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem die Menschengattung alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann.“

Kant sieht den Zukunftszustand der Menschheit im Lichte eines modifizierten, abgeschwächten älteren teleologischen Begriffes.[27] Von ihm aus gewinnt die Zukunft gelegentlich einen eindeutig positiven Akzent, so dass sich die Qualität der sittlichen Selbstbestimmung vom Einzelmenschen auf einen Zustand der Menschengattung zu übertragen scheint. Kant betont jedoch auch immer wieder, dass sich der positive Menschheitszustand über die Köpfe der Menschen hinweg und trotz ihrer durchaus vorhandenen boshaften Eigenschaften durchsetzen wird.

Eduard Spranger stütze sich in seiner pädagogischen Theorie besonders auf die Vorstellungen Wilhelm von Humboldts, Jahn Friedrich Herbart, Emile Durkheim und Immanuel Kant.

Er beszog sich in den Schriften „Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee“ aus dem Jahre 1928 und „Wilhelm von Humboldt und die Reform des deutsche Bildungswesens“ aus dem Jahre 1910 deutlich auf dem preußischen Denker bezog. 1909 legte Eduard Spranger an der Philosophischen Fakultät sein Buch „Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee“ als Habilitationsschrift. Die geistige Krise seiner Gegenwart, ein starker Strom nihilistischen Denkens, hatte ihn bewegt, sich der Zeit der preußischen Erhebung und Reformen zuzuwenden, um im ästhetischen Humanitätsideal Humboldts den Glauben an eine innere Idealität des Menschen zu suchen. Ein Jahr später legte Spranger nach intensiven Archivstudien sein zweites großes Humboldt-Werk „Wilhelm von Humboldt und die Reformen des Bildungssystem vor, das er Käthe Hadlich widmete: im gleichen Jahr folgte die Schrift „Philosophie und Pädagogik der preußischen Reformzeit“.

Nach der Auffassung Sprangers hatte der moderne Mensch durch das Auseinanderfallen von Sinnlichkeit und Vernunft eine ursprünglich vorhandene Einheit und Harmonie verloren. Dieser Verlust verletzt und verstümmelt die Mannigfaltigkeit der menschlichen Natur.

In den Schriften Humboldts fand Spranger in der Ästhetik den Weg, auf dem der Mensch zur Bildung und Vollendung seiner Individualität gelangen konnte:[28] „Der vollendete Charakter ist dem Kunstwerk zu vergleichen, er bedeutet nicht nur Einheit in der Mannigfaltigkeit, sondern ein Universum in den Grenzen des Endlichen.

Selbst wenn es allgegenwärtige Differenzen zwischen dem schönen und dem realen Leben gibt, kann dies die Bedeutung des Ästhetischen nicht schmälern:[29] „Aber ebenso sicher ist doch auch, dass allein in den großen Kunstwerken die tiefen Widersprüche des Lebens sich überbrücken und dass daher unsre Bildung nur an der Kunst vollendet werden kann.“

In der Antrittsrede an der Preußischen Akademie der Wissenschaften sagte er:[30] „Wenn es üblich ist, sich beim Eintritt in die ehrwürdige Körperschaft dieser Akademie zu den Männern zu bekennen, denen man im geistigen Sinne Entscheidendes verdankt, so habe ich an erster Stelle Wilhelm v. Humboldt zu nennen. Kritiker haben Spranger vorgeworfen, in seinen Humboldtschriften eine Verabsolutierung des ästhetischen Aspektes vorgenommen zu haben. Er selbst differenzierte später diese Auffassung, behielt jedoch den Grundtenor bei. Seine Humboldtschriften avancierten in kürzester Zeit zu Standardschriften über die preußische Reformzeit. Geisteswissenschaftliches und historisches Verstehen vereinten sich in ihnen zu einem anschaulichen Gemälde zu den Reformideen einer reichen geistigen Zeit.

In diesem Motivkreis, der während seiner Studienzeit aufgeschlossen wurde und erst mit seinem Tod endete, zog ihn die Idee der Humanität als Erziehungsziel an. Er sah sie in der Verbindung von Individualität und Totalität oder Universalität, wie Humboldt sich ausdrückte. Die „innere Idealität“ hielt Spranger für bildbar im Gesamtzusammenhang und in steter Wechselwirkung mit dem kulturellen Leben in seiner aktuellen Ausprägung.

Lediglich in einem Grundzug distanzierte sich Spranger vom Humanitätsdenken der deutschen Klassik. Bei der ganzen auf Selbstbildung der „inneren Idealität“ ausgelegten Theorie vermisste er die soziale Einbindung, letztlich die ethische Verantwortung, die so zu allem kulturellen Leben als auch zum letzten Grund des Erziehertums gehört.

Die Hinwendung zur deutschen Klassik verband Spranger mit einem historischen Interesse. Zu einem großen Teil gehörte dieses Denken in die preußische Reformzeit. Es war eine Krisenzeit, nach der Niederlage Preußens durch Napoleon und daran anschließend der Geist der Erneuerung, eine Stimmung des Aufbruchs und der Reformen auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens.

Spranger verglich gerne diese Epoche der deutschen Geschichte mit seiner Zeit, der Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg und den Versuchen des Neuanfangs in einer Republik. Dabei vermisste er den Schwung, die Begeisterung und den Ideenreichtum, die er in der preußischen Reformzeit zu erkennen glaubte. Für Spranger lag in diesem schwungvollen geistigen Aufbruch zugleich eine Verbindung von Weimar und Berlin. Weimar stand als Repräsentant für die Humanitätsidee, Berlin als Repräsentant für den preußischen Geist, in dem er nüchterne Klarheit, strenge Zucht und die Hingabe an das Pflichtgebot erblickte. Goethe- das war Weimar, Humboldt- das war Berlin. Aus der Verbindung beider war die Rettung für Deutschland gekommen. Aus der Wiederbelebung des Geistes von Weimar und Berlin erhoffte er sich erneut eine Rettung Deutschlands.

Spranger bezog den gesamten Bildungsauftrag des Gymnasiums und der höheren Schulen in die Form der grundlegenden Bildung mit ein. Selbst die Wissenschaftspropädeutik, die man mit größter Selbstverständlichkeit den Gymnasien zuschreibt, gelänge laut Spranger „nur bei denjenigen Köpfen, die ausgesprochen wissenschaftlich veranlagt sind. (…) der Spielraum des allgemeinen Bildungsdranges ist nicht bei allen Jugendlichen so wiet, wie es die höhere Schule vorauszusetzen beliebt.“[31] Der weit verbreitete Unglaube, die höhere Schule vermittele eine nach allen Seiten abgerundete Allgemeinbildung, habe unendlich viel Leid gestiftet. Spranger erinnerte dabei an die Tragik so manches Sekundaner und Primanerschicksal, das damals besonders in der deutschen Literatur (Professor Unrat von Heinrich Mann) ein weit verbreitetes Motiv war Die Schüler des Gymnasiums befinden sich ebenfalls in der Pubertät, unterliegen den gleichen Krisensymptomen wie allen anderen jungen Menschen und suchen als Gegengewicht nach einer Stütze ihres werdenden Selbstgefühls.

Erst mit der selbständigen Berufswahl und der sich anschließenden Berufsausbildung beginne die persönliche Bildungsbahn, erst dann werde der innerste essentielle Kern des Menschen gefordert und damit beginne eine ethische Verbesserung. Freilich legte Spranger eine Auffassung von Berufsbildung zugrunde, die nicht geläufig war, und er hatte zunächst den Begriff von Vorurteilen und Fehleinschätzungen zu befreien.

Spranger sah es im Begriff des Klassischen, den er eine „einheimische Kategorie der Bildungstheorie“ nannte. Die Kategorie ist konstruiert und enthält mehrere Bestimmungen: Da das Klassische nicht rational zu beweisen ist, kann auch demzufolge kein ethischer Standpunkt bewiesen werden. Die Gehalte der Erziehung müssen besser beglaubigt, sie müssen „bewiesene Mächte“ sein. Ausdrucksformen und Formen der Erziehungsgemeinschaft mögen wechseln- die Gehalte dürfen nicht von gestern sein und morgen nicht veraltern: sie müssen von klassischem Gepräge sein:[32] „ Klassisch im weitesten Sinne nenne ich Darstellungen geistigen Menschentums, die kraft ihrer einfachen, typischen Struktur, kraft ihrer anschaulichen-plastischen Form geeigneter sind, als dauernde Vorbilder in dem geistig-geschichtlichen Lebensstrom, der von ihnen ausgeht zu wirken. Die einzelnen Bestimmungen, die in dieser Definition enthalten sind, führt Spranger in drei Punkten weiter aus.[33]

Klassische Ideale repräsentieren sich nicht in einer Gestalt, in einem Dichter, Künstler oder Gelehrten. Der Geisteskomplex des Klassischen tritt in den geistigen Produktionen einer ganzen Epoche auf. Durch einen Blick auf die deutsche Geistesgeschichte sah Spranger drei Kulturbereiche, in denen klassisches Menschentum dargestellt wurde: den religiösen Klassizismus der humanen Bewegung und den politischen Klassizismus: Der religiöse Klassizismus erreicht einen unendlichen Reichtum, der in der Fülle seiner Deutungen bis heute noch nicht ausgeschöpft ist. Der klassische Humanismus reichte von seiner Entstehung in der Antike bis zur deutschen Humanitätsbewegung und zum Idealismus und gebar ein ebenso breites Feld an humanen Möglichkeiten und Verwirklichung. Der politische klassische Humanismus fand im altpreußischen Standpunkt mit dem Pflichtethos eine entscheidende Ausprägung: [34] „Christliche Reinheit der Seele, preußische Einheit zwischen Pflicht und Freiheit, Goethesche Fülle und Form. ‚Wir haben nichts, womit wir das vergleichen.“

Diese drei „Götter“ des Klassischen hat Hegel laut Spranger in seiner Philosophie zu einer Synthese zusammengesetzt. Auch wenn man heute dieser Argumentation Sprangers nicht mehr zustimmt, ist allein die Ablehnung, wenn sie begründet wird, ein Indiz für die Breite des klassischen Ethos:[35] „Aber es ist doch auch hier wie bei jeder Offenbarung: sie spricht nur zu dem, in dessen Seele auf diese Kundgebung ein innerlich Präformiertes antwortet.“

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Fußnoten

  1.  ↑ George, M.: Humanismus, Berlin 1986, S. 76
  2.  ↑ Frank, K.: Der Mensch im Humanismus, Köln 1977, S. 27
  3.  ↑ George, M.: Humanismus, Berlin 1986, S. 82
  4.  ↑ Frank, K.: Der Mensch im Humanismus, Köln 1977, S. 33
  5.  ↑ George, M.: Humanismus, Berlin 1986, S. 90ff
  6.  ↑ George, M.: Humanismus, Berlin 1986, S. 26
  7.  ↑ Pächt, O.: Altniederländische Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Gerard David. München 1994, S. 15
  8.  ↑ Pächt, O.: Van Eyck, die Begründer der altniederländischen Malerei. München 1989, S. 67
  9.  ↑ Pächt, O.: Altniederländische Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Gerard David. München 1994, S. 36
  10.  ↑ Panofsky, E.: Die altniederländische Malerei. Ihr Ursprung und Wesen. Übersetzt und hrsg. von Jochen Sander und Stephan Kemperdick. Köln 2001, S. 83
  11.  ↑ Henning, K. : Der Neuhumanismus und die griechischen Denker, München 1967, S. 76
  12.  ↑ Ebd.
  13.  ↑ Wolf, F.A.: Prolegomena ad Homerum, Berlin 1795, S. 36
  14.  ↑ Ebd. S. 145
  15.  ↑ Paulsen, F.: Geschichte des gelehrten Unterrichts, 1. Band, 4. Auflage, München 1960, S. 172
  16.  ↑ Feldmann, E.: Der preußische Neuhumanismus, Weinheim 1980, S. 74
  17.  ↑ Howaldt, E:: Wilhelm von Humboldt, Berlin 1976, S. 81
  18.  ↑ Ebd., S. 145
  19.  ↑ Zitiert aus Ebd., S. 77
  20.  ↑ Kant, I.: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Berlin 1936, S. 30
  21.  ↑ Paton, H.J.: Der kategorische Imperativ, Berlin 1962, S. 22
  22.  ↑ Groothoff, H.H./Reimers, E.(Hrsg.): Ausgewählte Schriften zur Pädagogik Immanuel Kants und ihrer Begründung, Paderborn 1963, S. 444
  23.  ↑ Kant, Pädagogik, S. 450
  24.  ↑ Ebd., S. 445
  25.  ↑ Kant, Anthropologie, a.a.O., S. 333
  26.  ↑ Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, a.a.O., S. 27
  27.  ↑ Pleines, J.-E. (Hrsg.): Kant und die Pädagogik: Pädagogik und praktische Philosophie, Würzburg 1985, S. 38
  28.  ↑ Spranger, E.: Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens, Berlin 1910, S. 47
  29.  ↑ Spranger, E.: Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee, Berlin 1909, S. 496 f
  30.  ↑ Spranger, E.: Antritsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, in: Bähr/Wenke, Eduard Spranger, a.a.O. S. 22
  31.  ↑ Spranger, Grundlegende Bildung, Berufsbildung, Allgemeinbildung, in: a.a.O., S. 26
  32.  ↑ Ebd.
  33.  ↑ Der erste, bewusst durchgeführte Versuch einer Wesensbestimmung des Klassischen und seiner Funktion in einer Theorie der Bildung liegt lediglich in Wilhelm von Humboldts Jugendschrift aus dem Jahre 1793 „Über das Studium des Altertums und des griechischen insbesondere“ vor. Von Humboldt, W.: Gesammelte Schriften. Akademieausgabe, Bd.I., Berlin 1903, S. 255 ff
  34.  ↑ Ebd., S. 99
  35.  ↑ Ebd.; S. 94