e-Portfolio von Michael Lausberg
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Julian Barnes: Der Lärm der Zeit

Kiwi Verlag, Köln 2017, ISBN: 978-3-462-04888-9

Schostakowitsch ist neben Igor Strawinski, Sergei Prokofjew, Sergei Rachmaninow und Alexander Skrjabin der bedeutendste Komponist Russlands im 20. Jahrhundert und war außerordentlich produktiv und vielseitig. Er schrieb dem Regime von Josef Stalin Hymnen und blieb gleichzeitig auf Distanz zum stalinistischen System, welches ihn zunehmend drangsalierte.

Zu Schostakowitschs Werke und über sein Leben im stalinistischen Staatssozialismus ist schon viel veröffentlich worden. Monographien, Filme und Theaterstücke vor allem nach seinem Tod 2007. Schostakowitsch ist eine spezielle Person der Zeitgeschichte, an dessen Leben sich die Geschichte der UdSSR vor allem unter Stalin widerspiegelt. Julian Barnes konzentriert sich in seinem Buch nicht auf die künstlerischen Leistungen, er interessiert sich mehr für die Persönlichkeit, die Entwicklung und die Haltung des Komponisten im Stalinismus der 1930er Jahre.

Die Geschichte spielt in Leningrad im Mai 1937, wo Schostakowitsch jede Nacht neben dem Fahrstuhl seiner Wohnung darauf wartet, dass Stalins Helfer kommen und ihn verhaftet. Die ständige Ungewissheit, von den Launen Stalins abhängig zu sein und niemals frei in seinen Entscheidungen zu sein, prägte auch seine Persönlichkeit, die Julian Barnes hier trefflich darstellt. Dieses Schicksal teilte er mit unzähligen Künstlern seiner Zeit: Überwachung, Repression und eine Fremdbestimmung waren trauriger Alltag. Schostakowitschs Schicksal war aber noch eines der „besseren“, er war im Gegensatz vieler andere Künstler in der UdSSR noch am Leben, er war nicht von seiner Familie getrennt und nicht im Gefängnis oder auf der Flucht. Die Unterdrückung seiner Kreativität und die künstlerische Ausnutzung seiner Popularität für das System ist traurig, aber kein Grund ihn durchgängig als Opfer des Systems zu sehen. Er war auch jemand, der aus Angst und Opportunismus eng mit dem System Stalin verbunden war. Nach der Uraufführung wurde die 5. Sinfonie offiziell als die Rückkehr des verlorenen Sohnes in die linientreue Kulturpolitik dargestellt. Das Werk wurde ein großer internationaler Erfolg, lange Zeit wurde das Marschfinale als Verherrlichung des Regimes angesehen.

Das Buch von Barnes ist eher ein zeitgeschichtliches Psychogramm eines spannenden Menschen als ein Sachbuch. Neue Erkenntnisse zu Schostakowitschs Biographie sind hier nicht enthalten, es ist spannungsgeladen und gefühlsbetont, fesselnd zu lesen. Dass Barnes in diesem etwas zu knapp gehaltenen Roman, die komponierten Werke Schostakowitschs außer Acht lässt, ist die große Schwäche des Buches. Sein Leben war bestimmt von der Musik, seine Werke untrennbar verbunden mit seiner psychischen Verfassung und seiner Lebensumstände. Insgesamt gesehen ist es eine Melange zwischen Krimi und fesselndem Roman, der (in seinen Verkaufszahlen) davon profitiert, dass in der Türkei und anderswo unliebsame Künstler eingesperrt, unterdrückt oder zum „Dienst“ für das diktatorische System Erdogan missbraucht werden.

 

Eintrag im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek:

ISBN: 978-3-462-04888-9 .