e-Portfolio von Michael Lausberg
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Martin Luthers theologische Theorie

Im Oktober 1512 wurde Martin Luther zum „Doctor Theologiae“ promoviert.[1] Er übernahm als Nachfolger von Staupitz den Lehrstuhl der „Lectura in Biblia“ (Bibelauslegung) an der Wittenberger Universität und behielt ihn bis zu seinem Lebensende.

In den folgenden Jahren hielt Luther Vorlesungen über die Psalmen und Paulusbriefe. Davon sind einige Originalmanuskripte und wörtliche Nachschriften erhalten. Sie erlauben es, Luthers Entwicklung bis zum Bruch mit den römisch-katholischen Lehren im Detail nachzuvollziehen. Er folgte anfangs noch dem Schema des „vierfachen Schriftsinns“ und deutete das Alte Testament allegorisch auf Christus.[2] Dabei hielt er sich an die überlieferte Bibeldeutung des Ockhamismus, Neuplatonismus, der Mystik oder der „Devotio moderna“, formte sie jedoch bereits ganz auf den Glauben des Einzelnen hin um. Dessen auswegloser Verlorenheit stellte er schon die unmittelbare Gnade Gottes gegenüber, noch ohne über deren Vermittlung durch Kirche und Sakramente, das Papsttum und kirchliche Dogmen nachzudenken.

1514 wurde Martin Luther zum Provinzialvikar ernannt und übernahm damit bereits in jungen Jahren zusätzlich zu seiner Lehrtätigkeit in Wittenberg Leitungsaufgaben in seinem Orden, die mit einer erheblichen Visitations- und Reisetätigkeit verbunden waren. Als Vikar unterstanden ihm elf Konvente, darunter sein ehemaliger Heimatkonvent in Erfurt, in dem er 1516 Johannes Lang zum Prior einsetzte.

In der Lutherforschung ist umstritten, wann Luther das Prinzip der Gerechtigkeit Gottes sola gratia (allein aus Gnade) zuerst entdeckte und formulierte. In einer späteren Eigenaussage beschrieb Luther diesen Wendepunkt als unerwartete Erleuchtung, die ihm in seinem Arbeitszimmer im Südturm des Wittenberger Augustinerklosters widerfahren sei. Manche datieren dieses Turmerlebnis auf die Jahre 1511 bis 1513, andere um 1515 oder um 1518, wieder andere nehmen eine allmähliche Entwicklung der reformatorischen Wende an. Datierung und nähere inhaltliche Bestimmung dieser Entdeckung hängen wechselseitig voneinander ab.[3]

Dieser Bibelvers führte schließlich zu seinem neuen Schriftverständnis: Gottes ewige Gerechtigkeit sei ein reines Gnadengeschenk, das dem Menschen nur durch den Glauben an Jesus Christus gegeben werde. Keinerlei Eigenleistung könne dieses Geschenk erzwingen. Auch der Glaube, das Annehmen der zugeeigneten Gnade, sei kein menschenmögliches Werk. Damit war für Luther die gesamte mittelalterliche Theologie mit ihrer kunstvollen Balance zwischen menschlichen Fähigkeiten und göttlicher Offenbarung (Synergismus) zerbrochen. Von nun an nahm er die Kirche, die sich in all ihren Formen und Inhalten als Vermittlungsanstalt der Gnade Gottes an den Menschen sah, zunehmend kritisch in den Blick.[4]

In der Römerbrief-Vorlesung von 1515 lag Luthers neues Verständnis der Rechtfertigung allein aus Gnade Gottes bereits ausformuliert vor, wenngleich noch vermischt mit Denkschemata Augustins und der Mystik von Johannes Tauler. 1516 veröffentlichte er zudem die Theologia deutsch, das Werk eines unbekannten Mystikers (genannt der „Frankfurter“), das ihn in seiner wachsenden Ablehnung äußerlicher kirchlicher Riten bestärkte.[5]

Ablassbriefe sollten den Gläubigen einen dem Geldbetrag entsprechenden Erlass zeitlicher Sündenstrafen im Fegefeuer für sie oder für bereits gestorbene Angehörige bescheinigen. Genau ein Jahr vor dem Thesenanschlag in Wittenberg predigte Luther erstmals öffentlich gegen die Ablasspraxis. Im Sommer 1517 las er die vom Mainzer Erzbischof Albrecht verfasste Instructio Summarium, eine Anweisung für die im Land umherreisenden Ablassprediger. Mit einem Teil dieser Einnahmen wollte der Erzbischof seine Schulden bei den Fuggern bezahlen. Diese hatten ihm sein Kurfürstenamt finanziert. Dazu sandte er den Ablassprediger Johann Tetzel nach Sachsen.[6]

Am 4. September 1517 stellte Luther zunächst 97 Thesen vor, um einen Disput über die scholastische Theologie unter seinen Mitdozenten anzuregen. Im Oktober verfasste er weitere 95 Thesen, die direkt auf den Ablass Bezug nahmen, schickte sie in einem Brief an Albrecht und verbreitete sie unter Anhängern. Philipp Melanchthon zufolge soll er diese Thesen am 31. Oktober am Hauptportal der Schlosskirche in Wittenberg angeschlagen haben. Der Thesenanschlag wurde lange Zeit als Legende ohne historisches Fundament betrachtet, gilt jedoch nach der Entdeckung einer handschriftlichen Notiz von Georg Rörer, Luthers langjährigem Sekretär, im Jahr 2006 wieder als wahrscheinlicher. Fest steht allerdings, dass die Ablassthesen schon vor ihrem möglichen Anschlag an der Kirchentür bekannt waren und kursierten und von den Gelehrten diskutiert wurden, sodass der Aushang nicht erst als Anlass der ablasstheologischen Diskussion angesehen werden kann, sondern allenfalls bereits auf deren Höhepunkt stattfand.

Die Thesen fanden großen öffentlichen Widerhall, der die Reformation auslöste.[7] Luther protestierte darin weniger gegen die Finanzpraktiken der römischen Kirche, die auch vielen Fürsten und Bürgern missfielen, als gegen die im Ablasslösen zum Ausdruck kommende verkehrte Bußgesinnung. Der Ablasshandel war für ihn nur der Anlass, um der allgemeinen Forderung einer grundlegenden Reform der ganzen Kirche „an Haupt und Gliedern“ Ausdruck zu verleihen. Dabei griff er den Papst noch nicht direkt an, sondern wähnte ihn – zumindest rhethorisch – noch auf seiner Seite. Allerdings sah er die Funktion des Petrusnachfolgers beim Nachlass der Sündenstrafen nur in der Fürbitte für die Gläubigen und sprach ihm damit die verbindliche Schlüsselgewalt ab, die den Gläubigen nach der schultheologischen Ablasslehre letzte Gewissheit über die Aufhebung jenseitiger Sündenstrafen verschaffen sollte. Verständlich waren die Ablassthesen nur dem gelehrten Fachpublikum, das die Feinheiten der theologischen Debatten um die Wirkweise des Ablasses kannte. Für die breitere Bevölkerung verfasste Luther 1518 den in einfacher und verständlicher Weise abgefassten Sermon von dem Ablass und Gnade.[8]

Albrecht von Mainz, inzwischen zum Kardinal kreiert, zeigte Luther daraufhin in Rom an. Tetzel reagierte mit Gegenthesen auf die Disputationsreihe vom September, bei der ihn der Ingolstädter Theologe Johannes Eck unterstützte. Im April 1518 durfte Luther im Auftrag von Staupitz vor der Augustinerkongregation in der Heidelberger Disputation seine Theologie erläutern. Hier grenzte er die exklusive Relation von Gnade zum Glauben scharf gegen Aristoteles und die menschliche Willensfreiheit ab. Er gewann eine Reihe von Anhängern, die später zu Reformatoren wurden, darunter Martin Bucer, Erhard Schnepf, Johannes Brenz, Sebastian Franck. Im August berief die Universität Wittenberg außerdem Philipp Melanchthon, der bald Luthers engster Freund und Schüler wurde.

Im Juni 1518 hatte die Kurie Luther nach Rom vorgeladen, um die Gefahr der Häresie in einem Verfahren zu untersuchen.[9] Noch vor dem Termin wurde die Anklage auf notorische Häresie geändert: Spitzel in Luthers Wittenberger Vorlesungen hatten ihn mit gefälschten Thesen denunziert. Er ersuchte aus gesundheitlichen Gründen um eine Anhörung auf deutschem Gebiet, wobei er sich auf die Gravamina deutscher Nation berief. Der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise, der ihn ausliefern sollte, unterstützte ihn dabei.

Damit wurde Luthers Prozess in politische Interessen verwickelt: Papst Leo X. brauchte den Kurfürsten für die anstehende Kaiserwahl und gab seinem Einwand im August 1518 daher statt. Kardinal Thomas Cajetan sollte Luther beim Reichstag zu Augsburg verhören. Vom 12. bis 14. Oktober 1518 sprach Luther dort vor. Er weigerte sich zu widerrufen, wenn er nicht aus der Bibel heraus widerlegt würde. Für Cajetan war er damit als Häretiker überführt und hätte ausgeliefert werden müssen. Doch Friedrich lehnte dies weiterhin ab. Luther entzog sich der drohenden Verhaftung in der Nacht vom 20. zum 21. Oktober 1518 durch Flucht aus Augsburg.

Im Januar 1519 starb Kaiser Maximilian I. er hatte seinen Enkel, den spanischen König Karl I., als Nachfolger vorgesehen.[10] Der Papst wollte dies verhindern, da er wegen Karls Besitztümern in Italien eine Umklammerung des Kirchenstaates fürchtete. Deshalb ließ er Luthers Prozess zunächst ruhen und beauftragte Karl von Miltitz, den Kurfürsten für eine friedliche Lösung zu gewinnen. Der römische Gesandte erreichte, dass Luther sich zum Schweigen verpflichtete.

Während der Verfahrenspause stellte Eck Thesen für ein Streitgespräch mit Luthers Wittenberger Dozentenkollegen Andreas Bodenstein (genannt Karlstadt) auf. Sie richteten sich so klar gegen Luther, dass dieser sein Schweigen brach und vom 4. bis 14. Juli 1519 persönlich an der Leipziger Disputation teilnahm. Dort spitzte Eck den Konflikt auf die Frage der Papstautorität zu; Luther wagte die These, der Papst sei erst seit 400 Jahren – dem Decretum Gratiani, das päpstliches mit kanonischem Recht gleichstellte – Führer der Christenheit.[11]

Eck versuchte Luther als Anhänger des 100 Jahre zuvor als Häretiker verbrannten Jan Hus zu überführen; Luther warf Rom im Gegenzug die Abspaltung der Ostkirche vor.[12] Er ordnete das Konzil von Konstanz der Autorität der Heiligen Schrift unter. Dieses hatte das Nebeneinander von drei Päpsten zwar beendet, dabei jedoch die Autoritätsfrage – Konzil oder Papst – nicht geklärt. In diesem Kontext fiel Luthers Satz: „Auch Konzile können irren.“ Damit stellte er die individuelle Gewissensfreiheit im Hören auf die Bibel über autoritative Konsensentscheidungen der Bischöfe. Dies war faktisch der Bruch mit der katholischen Kirche.

Nachdem Karl am 28. Juni 1519 zum Kaiser gewählt worden war, nahm die Kurie Luthers Prozess wieder auf. Nach einem weiteren ergebnislosen Verhör vor Cajetan erließ der Papst am 15. Juni 1520 die Bannbulle Exsurge Domine. Sie verdammte 41 aus dem Zusammenhang gerissene und teilweise verdrehte Sätze Luthers ohne Begründung und Widerlegung, setzte ihm eine Frist von 60 Tagen zur Unterwerfung und drohte ihm den Kirchenbann (Ausschluss) an.

Dennoch widmete Luther im Oktober 1520 Papst Leo seine Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen und appellierte an ein neues Konzil.[13] Am 10. Dezember aber vollzog er den endgültigen Bruch, indem er auf Verbrennungen seiner Bücher mit der Verbrennung der Bulle sowie einiger Schriften der Scholastik und des kanonischen Rechts vor dem Wittenberger Elstertor antwortete. Daraufhin wurde er am 3. Januar 1521 mit der Bannbulle Decet Romanum Pontificem exkommuniziert.[14]

Dies und seine reformatorischen Hauptschriften machten Luther im ganzen Reich bekannt.[15] Der Buchdruck, die allgemeine soziale Unzufriedenheit und politische Reformbereitschaft verhalfen ihm zu einem außergewöhnlichen publizistischen Erfolg: Bis zum Jahresende waren bereits 81 Einzelschriften und Schriftsammlungen von ihm erschienen, vielfach in andere Sprachen übersetzt, in insgesamt 653 Auflagen. In vielen Ländern regten sich ähnliche Reformbestrebungen, die sehr stark von den politischen Spannungen zwischen Fürstentümern und Zentralmächten bestimmt wurden.

Kurfürst Friedrich der Weise erreichte durch zähes Verhandeln, dass Luther seine Position vor dem nächsten Reichstag nochmals erläutern und verteidigen durfte. Das zeigt den Niedergang der mittelalterlichen Macht von Papst und Kaiser: Karl V. war der letzte Kaiser, den ein Papst krönte. [16]

Der Reichstag zu Worms war eine von Karl V. 1521 als Reichstag einberufene Zusammenkunft des Kurfürstenrats, des Reichsfürstenrats und des Städterats.[17]

Hauptthemen waren die Einsetzung eines Reichsregiments zur Verwaltung des Reichs und die für die Verteidigung wichtige Reichsmatrikelordnung, insbesondere angesichts der Türkischen Bedrohung. Gleichzeitig vereinbarten Karl V. und sein Bruder Ferdinand eine Abgrenzung ihrer jeweiligen Besitzungen und legten damit den Grundstein zur Teilung des Hauses Habsburg in eine spanische und eine österreichische Linie. Im Rahmen des Reichstags - wenn auch nicht vor diesem selbst - erschien auch Martin Luther, der anschließend geächtet wurde.[18]

Der Reichstag wurde am 27. Januar eröffnet. Er endete mit dem Reichsabschied vom 26. Mai 1521. Kaiser Karl V. hielt sich seit dem 28. November 1520 in der Stadt auf. Die Einquartierungen der Teilnehmer am Reichstag und ihres Gefolges waren mit Belastungen der Bürger verbunden. In der Stadt war „alles wüst und wild“, oft hätten drei oder vier Menschen am Tag ihr Leben eingebüßt, berichtet der Zeitzeuge Dietrich Butzbach am 7. März.[19] Die Fastenzeit wurde ignoriert, Prostitution gab es, es wurden Stechen gepflegt und manche tranken sich am starken Wein zu Tode. Der päpstliche Nuntius, Hieronymus Aleander, war am Tage seines Lebens nicht mehr sicher, nachdem er am 13. Februar Maßnahmen gegen Martin Luther gefordert hatte. Ein gewaltsames Eingreifen des Reichsritters Franz von Sickingen schien möglich. Die Stimmung in der Wormser Bevölkerung war pro-lutherisch. Eine von Lutheranern errichtete Druckerei brachte kirchenfeindliche Werke, Schriften Ulrich von Huttens und Pamphlete unter das Volk.

Ein Reichsregiment unter Vorsitz Ferdinands (1503–1564), des Bruders Karls V., das den Kaiser während seiner Abwesenheit vertreten sollte, wurde eingesetzt. Dieses wurde auf Grund der Forderung deutscher Fürsten einerseits eingesetzt als Bedingung für seine Wahl zum Römischen König, und so musste er die erneute Einberufung des Gremiums in seiner Wahlkapitulation zugestehen. Andererseits musste der Kaiser ein solches einsetzen, weil er auch spanischer König war und zudem über ein Reich gebot, in dem die „Sonne nie unterging“. Daher war abzusehen, dass er häufig abwesend sein würde.

Gleichzeitig wurde zwischen Karl und Ferdinand zum ersten Mal eine Teilung der beiden Länder Spanien für Karl und Österreich für Ferdinand beschlossen (Wormser Vertrag vom 28. April 1521).[20] Der Hausvertrag umfasste die Erbfolge in Niederösterreich und Innerösterreich zugunsten Ferdinands, in einer (vorerst geheimgehaltenen) Abmachung im Jahr darauf (Brüssel 1522) wurde das auch auf Tirol, Württemberg und die Vorlande erweitert, womit sich die habsburgische Herrschaft Österreich in seiner weiteren Gestalt konsolidierte. Diese Abmachung gilt auch als mögliches Datum für die Trennung der österreichischen Habsburgerlinie von den spanischen Habsburgern. Die spätere Übernahme der Kaiserwürde durch die Österreicher, die (mit einer kurzen Unterbrechung) bis zum Ende des Reichs 1806 anhielt, war die Folge dieser Regelung.[21]

Am 17. April 1521 stand Luther vor dem Reichstag zu Worms, wurde vor den versammelten Fürsten und Reichsständen verhört und letztmals zum Widerruf aufgefordert. Nach einem Tag Bedenkzeit und im Wissen, dass dies seinen Tod bedeuten könne, lehnte er ab.[22]

Darauf verhängte der Reichstag am 26. Mai 1521 das auf den 8. Mai rückdatierte, vom Kaiser gezeichnete Wormser Edikt über ihn: Es verbot unter Berufung auf die Bannbulle des Papstes im gesamten Reich, Luther zu unterstützen oder zu beherbergen, seine Schriften zu lesen oder zu drucken, und gebot, ihn festzusetzen und dem Kaiser zu überstellen.[23] Die Reichsacht wurde den Ständen jedoch erst nach dem offiziellen Reichstag mitgeteilt, so dass ihre Rechtsgültigkeit vielfach bestritten wurde. Auch so hätte jeder Luther töten können, ohne dafür belangt zu werden: Er war nunmehr „vogelfrei“. Gemäß der Zusage an seinen Kurfürsten erhielt er freies Geleit. Später bereute Karl V. diese Zusage, weil die folgende Reformation die Einheit seines Reiches zerstörte.[24]

Der Geächtete wurde am Abend des 4. Mai 1521 auf dem Heimweg nahe Schloss Altenstein in Bad Liebenstein von Friedrichs Soldaten heimlich entführt und auf der Eisenacher Wartburg festgesetzt, um ihn der Gefahr zu entziehen.[25]

Auf der Wartburg blieb Luther bis zum 1. März 1522 inkognito als „Junker Jörg“. Auf Anraten Melanchthons übersetzte er im Herbst 1521 das Neue Testament in nur elf Wochen ins Deutsche. Als Vorlage diente ihm ein Exemplar der griechischen Bibel des Erasmus von Rotterdam, zusammen mit dessen eigener lateinischen Übersetzung sowie der Vulgata. Eine erste Auflage des Neuen Testamentes erschien im September 1522 („Septembertestament“).[26] 1523 erschien Luthers erste Teilübersetzung des Alten Testaments; beide zusammen erlebten bis 1525 bereits 22 autorisierte Auflagen und 110 Nachdrucke, so dass rund ein Drittel aller lesekundigen Deutschen dieses Buch besaß. 1534 übersetzte Luther das übrige Alte Testament aus damals wiederentdeckten Handschriften der Masoreten; beide Testamente zusammen – einschließlich der Apokryphen – bilden die berühmte Lutherbibel.[27]

Damit machte Luther biblische Inhalte dem einfachen Volk zugänglich.[28] Zwar gab es vorher schon 14 hochdeutsche und vier niederdeutsche gedruckte Bibelausgaben, jedoch waren diese Übersetzungen durch ihr „gestelztes“ Deutsch für das einfache Volk schwer verständlich. Vor allem fußten sie auf der Vulgata, der die griechische Septuaginta zugrunde lag: Sie hatten also zuvor mindestens zwei Übersetzungsschritte hinter sich. Luther dagegen bemühte sich wie die Humanisten um eine möglichst direkte Übersetzung der hebräischen und griechischen Urtexte.

Er übersetzte weniger wörtlich, sondern versuchte, biblische Aussagen nach ihrem Wortsinn (sensus literalis) ins Deutsche zu übertragen. Dabei legte er die Bibel gemäß seiner Auffassung von dem, „was Christum treibet“ – Gottes Gnade in Christus als Ziel und Mitte der ganzen Schrift – aus. Er wollte „dem Volk aufs Maul schauen“ und verwendete daher eine kräftige, bilderreiche, volkstümliche und allgemein verständliche Ausdrucksweise. Sie wirkte stil- und sprachbildend für Jahrhunderte. So ersann er Ausdrücke wie Feuertaufe, Bluthund, Selbstverleugnung, Machtwort, Schandfleck, Lückenbüßer, Gewissensbisse, Lästermaul und Lockvogel. Metaphorische Redewendungen wie „Perlen vor die Säue werfen“, „ein Buch mit sieben Siegeln“, „die Zähne zusammenbeißen“, „etwas ausposaunen“, „im Dunkeln tappen“, „ein Herz und eine Seele“, „auf Sand bauen“, „Wolf im Schafspelz“ und „der große Unbekannte“ gehen auf ihn zurück.[29]

Seine Sprachform war das Ostmitteldeutsche seiner Heimat, in dem nord- und süddeutsche Dialekte schon verschmolzen waren. Aber erst durch Luthers Bibelübersetzung entwickelte sich dieser Dialekt zum gemeinsamen Hochdeutsch. Sie gilt daneben dichterisch als große Leistung, da sie bis in den Silbenrhythmus hinein durchdacht war.[30]

Protestanten verwenden die Lutherbibel nach mehreren revidierten Neuauflagen bis heute; die bislang letzte Revision stammt von 1984. Sie ist eine wichtige Basis der Kirchenmusik: Viele Kompositionen verwenden Luthers Textfassung für Choräle, Kantaten, Motetten und so weiter.

In Wittenberg predigte Karlstadt inzwischen für weitreichende Gottesdienstreformen: gegen die Klöster, Opfergebete, Bilder in Kirchen und für das Abendmahl mit dem Laienkelch.[31] Ab 1522 setzte der Stadtrat die Neuerungen um und beschloss Maßnahmen gegen Armut und Unzucht, wie sie Luther in seinen Schriften von 1520 vorgeschlagen hatte. Doch die Tumulte ebbten nicht ab: Viele Nonnen und Mönche verließen in Sachsen die Klöster. Die Zwickauer Propheten, die unter dem Visionär Nikolaus Storch und dem Lutherschüler Thomas Müntzer gegen die Kindertaufe vorgingen und deshalb aus Zwickau ausgewiesen worden waren, verschärften die Unruhe.

Daraufhin folgte Luther dem Hilferuf der Stadtväter und kehrte im März nach Wittenberg zurück. Mit den acht Invokavitpredigten überzeugte er die Bürger binnen einer Woche von maßvolleren Reformen.[32] Die Liebe, nicht äußere Dinge seien entscheidend; Bilderbeseitigung sei unnötig, da Bilder nicht schadeten. Bis auf die Opfergebete ließ er die römische Messordnung unverändert, führte daneben jedoch das evangelische Abendmahl ein. Sogar die im Vorjahr vom Rat verbotene Fronleichnamsprozession ließ er 1522 zunächst wieder wie früher stattfinden. Nachdem der alte Stadtpfarrer Simon Heins Anfang September 1523 gestorben war, wurde Johannes Bugenhagen auf Luthers Empfehlung um den 25. Oktober 1523 vom Rat der Stadt und den Vertretern der Gemeinde Wittenberg als Stadtpfarrer an der Stadtkirche gewählt. Damit kehrte Ruhe ein, und Karlstadt verließ die Stadt. Am 9. Oktober 1524 gab Luther seine Lebensform als Mönch auf.[33]

Mit Luthers Abgrenzung von den „Schwärmern“ fiel eine Vorentscheidung für den Verlauf der Reformation: Der radikale Bruch mit katholischen Gottesdienstformen blieb ebenso aus wie gleichzeitige tiefgreifende Sozialreformen. Dafür erfuhr Luther nun Unterstützung der Böhmischen Brüder und der Utraquisten (gemäßigten Hussiten). Diese bewahrten unter seinem Einfluss ihre hussitische Tradition. Am 29. Oktober 1525 hielt er die erste deutsche Messe ab. Ab Weihnachten wurde sie in Wittenberg üblich. Im folgenden Jahr veröffentlichte Luther eine Gottesdienstordnung.[34]

Nach dem Massaker an etwa 5000 aufständischen Bauern bei Frankenhausen (1525) verlor die Reformation ihren Charakter als Volksbewegung und wurde zur Angelegenheit der Landesfürsten, die aus der Niederlage der Bauern gestärkt hervorgingen. Konsequenz der Zwei-Reiche-Lehre wäre ein völliger Neuaufbau der Kirche auf alleiniger Basis der reformatorischen Theologie gewesen. Luther hielt jedoch wie die meisten Zeitgenossen eine konfessionelle Vielfalt innerhalb eines Territoriums für undurchführbar und empfahl Andersgläubigen auszuwandern.[35] Da sich in deutschsprachigen Gebieten zunächst kein katholischer Bischof der Reformation anschloss und eine willkürliche Ausgrenzung Andersgläubiger für Luther von Gott verbotene Amtsanmaßung war, bat er 1525 den sächsischen Kurfürsten darum, als herausragendes Mitglied der Kirche deren Visitation, also die Überprüfung des Klerus auf Glaubenstreue und Amtsführung im Sinne des Evangeliums, anzuordnen. Dieses pragmatische und situationsbedingte Notkonzept wurde in evangelischen Gebieten bald zur Regel und begünstigte dort die Entwicklung zu konfessionellen Landeskirchen, die von den Landesfürsten geschützt, aber auch gelenkt und abhängig waren.[36]

Als die katholischen Reichsstände 1529 auf dem zweiten Reichstag zu Speyer die Aufhebung der bisherigen partiellen Duldung der Evangelischen durchsetzten, legten die evangelischen Stände (fünf Fürstentümer und 14 Städte aus Oberdeutschland) die Protestation zu Speyer ein. Seitdem nennt man die evangelischen Christen auch Protestanten.[37] Beim folgenden Reichstag zu Augsburg 1530 wollten Luthers Anhänger den protestantischen Glauben reichsrechtlich anerkennen lassen. Dazu verfasste Melanchthon das protestantische Glaubensbekenntnis, die „Confessio Augustana“, die Kaiser Karl auf dem Augsburger Reichstag überreicht und schließlich von ihm geduldet wurde. Luther konnte als Geächteter nicht daran teilnehmen und unterstützte seine Anhänger von der Veste Coburg aus, kritisierte aber auch einige der Kompromissformeln Melanchthons als zu entgegenkommend.

Nach dem Augsburger Reichstag trat Luther nur noch als Seelsorger und Publizist hervor.[38] Er hielt bis 1545 Vorlesungen in Wittenberg, ab 1535 fast ausschließlich über die Schöpfungsgeschichte. Mit verschiedenen Stellungnahmen zu theologischen und politischen Einzelfragen versuchte er zudem weiterhin, den Fortgang der Reformation zu beeinflussen, jedoch mit weit weniger direkter Wirkung.[39]

In den Türkenkriegen (1521–1543) benutzte Luther die Gefahr der osmanischen Expansion zunächst für seine kirchenpolitischen Zwecke. Er erklärte, dass es zunächst gelte, den „inneren Türken“, also den Papst zu besiegen, bevor man sich daran machen könne, gegen den Großtürken von Istanbul loszuschlagen, die er beide für Inkarnationen des Antichristen hielt. Als die Gefahr mit der Belagerung Wiens durch die Truppen Sultan Süleymans 1529 auch Mitteleuropa betraf, differenzierte er seine Haltung.[40]

In seiner Schrift Vom Kriege wider die Türken erläuterte er, dass der Papst den Türkenkrieg bisher nur als Vorwand zum Kassieren von Ablassgeldern benutzt habe.[41] Die Misserfolge in der Abwehr der osmanischen Expansion erklärte er mit seiner Zwei-Reiche-Lehre: Es sei nun einmal nicht Aufgabe der Kirche, zu Kriegen aufzurufen oder sie selbst zu leiten – dies eine deutliche Anspielung auf den ungarischen Bischof Pál Tomori, der als einer der Kommandanten für die verheerende Niederlage von Mohacs verantwortlich war. Für die Verteidigung gegen die Türken sei allein die weltliche Obrigkeit zuständig, der jeder Mensch Gehorsam schulde, die mit dem Glauben jedoch nichts zu tun habe. Mit dieser Argumentation war jede Vorstellung von einem Kreuzzug gegen die Osmanen unvereinbar. Den Krieg gegen die Türken selbst rechtfertigte Luther als Verteidigungskrieg und mahnte zu gemeinsamem Handeln.[42]

Diese rigide Trennung von geistlichen und weltlichen Zuständigkeiten hob Luther wenige Monate später wieder auf, als er im Herbst 1529 in seiner Heerpredigt wider die Türken als Feinde Christi und eschatologische Vorzeichen des bevorstehenden Jüngsten Gerichts hinstellt und es zur Aufgabe gerade der Christen erklärt, „getrost dreinzuschlagen“. Mit diesen entschiedenen Tönen wollte er Vorwürfen den Boden entziehen, er habe sich durch Untergraben der Einheit des Christentums zum Handlanger der Türken gemacht.

So befürwortete er gegen seinen Grundsatz „Ketzer verbrennen ist wider den Willen des Heiligen Geistes“ (1519) die Verfolgung der Täuferbewegung. 1535 beendeten katholische und evangelische Fürsten gemeinsam das Täuferreich von Münster. 1543 erschien Von den Jüden und jren Lügen, 1545 Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet.

Trotz eines schon länger währenden Herzleidens reiste Luther im Januar 1546 über Halle nach Eisleben, um einen Streit der Grafen von Mansfeld zu schlichten. Er starb am Zielort am 18. Februar 1546. Das heutige Haus Andreaskirchplatz 7 wird als sein Sterbehaus bezeichnet, gilt aber nach letzten Forschungen nicht mehr als der historische Ort, an dem Luther verstarb – das wirkliche Sterbehaus war vermutlich das Stadtschloss (Markt 56), in dem sich heute das Hotel „Graf von Mansfeld“ befindet.[43] Sein Leichnam wurde nach Wittenberg überführt und am 22. Februar in der Schlosskirche beigesetzt. Vormund seiner Kinder wurde sein treuer Anhänger und Freund, der Arzt Matthäus Ratzenberger[44].

Luthers komplexe Theologie wird systematisch oft mit dem vierfachen Sola/Solus zusammengefasst:[45]* solus Christus: „Allein Jesus Christus“, der wahre Mensch und wahre Gott, schaffe durch seine stellvertretende Hingabe am Kreuz ein für alle Mal des Glaubenden Rechtfertigung und Heiligung, die ihm im mündlichen Evangelium und im Sakrament des Abendmahls zugeeignet werde. Dies ist der tragende Grund der übrigen drei Prinzipien:

Schon in seinen Randbemerkungen zu Augustin und Petrus Lombardus (1509/10) betont Luther gegen die Scholastik, aber noch mit dem Ockhamismus den Gegensatz zwischen Glauben und Wissen und die Autorität der Bibel gegenüber der kirchlichen Tradition. Er grenzt Glauben von einem menschlichen habitus ab und betont seine Identität mit Hoffnung und Liebe, so dass er nicht neben unrechtem Handeln (Sünde) bestehen könne.

Indem Luther die menschliche Antwort auf Gottes Wort radikalisiert, wird ihm Gottes Gerechtigkeit selbst zum Problem.[46] Obwohl er alle damaligen theologischen Denkschulen genau kennt, legt er die Bibel in seiner ersten Psalmenvorlesung (1512/13) fast ohne scholastische Begriffe aus und grenzt ihren Wortlaut gegen die überkommenen, besonders die aristotelischen Deutungsmuster ab. Dabei fasst er den Wortsinn des Bibeltextes unmittelbar als Hinweis auf Christus auf: Christus selbst ist für ihn der Ausleger der Psalmen, der Geist in allen Buchstaben, der Grundtext, der sich selbst mitteilt und Glauben an ihn schafft.[47]

Der Mensch könne sein Dasein nur entweder aus dem Gesetz oder dem Glauben, dem Sichtbaren oder dem Unsichtbaren, der sinnlichen Wahrnehmung oder dem Von-Gott-erkannt-Sein heraus verstehen.[48] Das, was Menschen aus dieser wahrnehmbaren Welt heraus für das höchste, göttliche Wesen halten, könne im Angesicht Jesu Christi nur der Gipfel ihrer Selbstgerechtigkeit und Heuchelei sein. Eine Vermittlung ist undenkbar.[49] Die theologia crucis (Gottes aktuelles Urteil im Gekreuzigten) und die theologia gloriae (der zum Eigenruhm menschlichen Erkenntnisvermögens geschaffenen Gottesbegriff der aristotelischen Metaphysik) schließen einander unbedingt aus (Römerbriefvorlesung 1515; Heidelberger Disputation 1518).

Mit der Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (deutsch) rief Luther die Fürsten auf, die Reformation praktisch durchzuführen, weil die Bischöfe darin versagt hätten.[50] Denn die „Romanisten“ stellten die kirchliche Obrigkeit über die weltliche und behaupteten, nur der Papst dürfe die Bibel auslegen und ein Konzil einberufen. Bildung solle allen zugänglich sein, nicht nur dem Klerus. Zölibat und Kirchenstaat sollten abgeschafft, das Zinsnehmen eingeschränkt und das Betteln zugunsten einer geregelten Armenfürsorge verboten werden.[51]

Er verwarf das Papsttum, das katholische Bischofsamt und das Sakrament der Priesterweihe, weil das NT das „allgemeine Priestertum“ der Gläubigen lehre. Die Geistlichen sollen nur die Gemeinde leiten, besonders im Gottesdienst, mit Unterricht und Seelsorge. Jede Kirchengemeinde dürfe ihre Lehrer (Pfarrer) wählen und gegebenenfalls abwählen (Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, 1523). Dieser Grundsatz wurde nach dem Klevischen Krieg 1543 und dem Schmalkaldischen Krieg 1546/47, den Luther nicht mehr erlebte, nicht weiterverfolgt. Das als Provisorium gedachte „landesherrliche Kirchenregiment“, das auch das Ein- und Absetzen von „Notbischöfen“ (Luther) umfasste, blieb bis 1918 bestehen.[52]

Die Schrift Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche (lateinisch) reduziert die sieben katholischen Sakramente auf jene drei, die Jesus im NT selbst eingesetzt habe: Taufe, Abendmahl und Buße (Beichte).[53] Bahnbrechend war vor allem die theologische Begründung: Jesu eigenes, gepredigtes Wort vermittelt das Heil. Die Sakramente veranschaulichen seine Zusage und dienen ihrer Vergewisserung, fügen ihr aber nichts hinzu.

Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) fasst die „evangelische Freiheit“ eines Christen in Anlehnung an Paulus von Tarsus in zwei Sätzen dialektisch zusammen: „Ein Christ ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan – durch den Glauben. – Ein Christ ist ein dienstbarer Knecht aller und jedermann untertan – durch die Liebe.“[54]

Das Werk Luthers gehört zu seinen bedeutendsten Schriften zur Reformationszeit. Die Denkschrift widmete Luther seinem Freund Hieronymus Mehlpfordt (Hermann Mühlpfordt), dem Bürgermeister der Stadt Zwickau in Sachsen.

Anlass für die Schrift war die gegen Martin Luther gerichtete päpstliche Bannbulle. Der Kammerherr Karl von Miltitz aus Sachsen versuchte im Streit zwischen Luther und dem Papsttum zu vermitteln, indem er einen Sendbrief an Papst Leo X. schrieb und ihm die ins Lateinische übersetzte Denkschrift hinzufügte.

Im Mittelalter galt das Christentum als heilige Ordnung, welche jedem Menschen einen festen, von Gott vorbestimmten Platz zuordnete.[55] Die Kirche als Ganzes hatte zwar laut dem Evangelium die Freiheit, diese Ordnung im Wesentlichen nach eigenem Gutdünken festzulegen (im Gegensatz zur Bindung an ein detailliertes göttliches Gesetz, wie es das Judentum kannte). Der einzelne Mensch aber hatte sich in diese Ordnung einzufügen. Nur durch die Einfügung in die Ordnung und die Erfüllung vielfältiger, von der Kirche definierter formaler Pflichten hatte der Christ gemäß der bis dahin verbindlichen Rechtfertigungslehre Teil am Heil Christi – für Luther allerdings eine Sinnverfehlung der Religion: „Wenn du nun aus lauter guten Werken beständest bis auf die Fersen, so wärst du trotzdem nicht rechtschaffen und gäbest Gott darum noch keine Ehre und erfülltest also das allererste Gebot nicht“.[56] Damit wirke Religion der individuellen irdischen Freiheit direkt entgegen und verweise lediglich auf ein jenseitig besseres, gerechtfertigtes Leben bei Gott.

Martin Luther setzte dieser Sichtweise radikal die den Schriften des Paulus entnommene Auffassung entgegen, dass der Christenmensch gerade im Hier und Jetzt frei sein müsse.[57] Luther begründet dies damit, dass der Mensch nicht durch Taten, sondern allein durch den Glauben gerechtfertigt sei. Allerdings hatte auch Paulus christlichen Sklaven dazu geraten, sich nicht gegen (christliche) Herren zur Wehr zu setzen (I Kor. 7, 21-24), da wahre Freiheit nur im Glauben an Jesus Christus zu finden sei. (vgl. Joh 8, 32, 8,34 und 8,36).

Von der Freyheith eines Christenmenschen markiert eine geistesgeschichtliche Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit.[58] In den Thesen postulierte er die Summe der christlichen Freiheiten. Diese stehen nicht unabhängig nebeneinander, sondern stellen nach heutigem Verständnis eher eine Argumentationsreihenfolge dar. Der zentrale Gedanke besteht in einer Umkehrung der bis dahin geltenden Grundauffassung der Beziehung zwischen Religion und Freiheit.

Luthers Schrift De servo arbitrio (lateinisch 1525) handelt von der heute so genannten Prädestinationslehre.[59] Dabei geht es in der Auseinandersetzung mit dem großen humanistischen Gelehrten Erasmus von Rotterdam um die Lehre von der Vorherbestimmung zum Heil und um den Willen zum Guten. Die häufig gebrauchte Übersetzung des Titels, "Vom verknechteten Willen" lässt die Schrift seit Jahrhunderten wenig attraktiv erscheinen.[60] So missverständlich der Titel sein mag, Luther selbst misst der Schrift höchste Bedeutung zu. Mit dem Thema habe Erasmus von Rotterdam die "cardo rerum", den Dreh- und Angelpunkt der Theologie getroffen.[61] Wie der ausgewiesene Lutheraner Klaus Schwarzwäller hervorhebt, können die Rechtfertigung solus Christus und sola gratia, s. oben Grundlinien der Theologie, nicht gedacht werden, ohne den unfreien Willen des Menschen zur Seligkeit.[62].

Die katholische Kirche versteht die Eucharistie als Opfer, in dem das Opfer Christi vergegenwärtigt und Gnade für die Sünden der Menschen erwirkt wird. Luther sah im Messopfer jedoch ein erneutes Opfer, welches neben den einmaligen Kreuzestod Christi träte.[63] Seit dem Hochmittelalter war es üblich geworden, den Gläubigen nur die Hostie, nicht aber den Kelch zu reichen. Weil schon das Sehen der Konsekration als segensvoll galt, nahmen die mittelalterlichen Messbesucher teilweise nicht an der Eucharistie teil.

Luther galt die römische Messe als „das größte und schrecklichste Greuel“ von allen „päpstlichen Abgöttereien“.[64] Für ihn war Christi Opfer am Kreuz ein für alle Mal gültig, so dass der Pfarrer den Gläubigen im Abendmahl die durch Christus erwirkte Gnade nur austeilt. Luther führte den „Laienkelch“ ein. Er wies in seinen Katechismen die Auffassung zurück, dass das Sakrament auch ohne den Glauben der Empfänger Heil bewirke (ex opere operato). Entscheidend war für ihn der Glaube an die Realpräsenz (wirkliche Gegenwart) von Christi Leib und Blut in den Elementen von Brot und Wein aufgrund der Zusage Christi („Das ist mein Leib – Das ist mein Blut“). Wer als Teilnehmer am Abendmahl daran nicht glaube, empfange mit Brot und Wein nicht die Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit, sondern das ewige Gericht. So setze das Abendmahl den Glauben voraus, wecke ihn aber auch.[65]

Weil es Luther auf den individuellen Empfang des Heils ankam, machte er das Abendmahl neben Predigt und Lesung des Evangeliums in deutscher Sprache zum festen Bestandteil jedes Gottesdienstes (Deutsche Messe).[66] Er verwarf die römische Transsubstantiationslehre nicht, betrachtete sie aber nicht als verbindliches Dogma, sondern kritisierte ihre Dogmatisierung beim VI. Laterankonzil (1215) als unbiblische und für den Glauben unnötige „Sophisterei“.[67] Für ihn war das Sakrament eine besondere, sichtbare Gestalt des Wortes Gottes (verbum visibile).

Luther führte sein Verständnis der Realpräsenz Christi in Brot und Wein seit 1523 auch gegenüber anderen evangelischen Christen aus: Wer das IST in Jesu Zusage „Das ist mein Leib/mein Blut“ nicht wörtlich verstehe, der entferne sich vom rechtfertigenden Glauben selbst.[68] Dagegen vertraten Andreas Karlstadt und Ulrich Zwingli ab 1523 eine signitative Auffassung: Brot und Wein seien nur Zeichen der leibhaften Anwesenheit Christi im Abendmahl. Dieses sei ein reines Erinnerungsmahl an den einmaligen Opfertod Christi am Kreuz und nur deshalb geistlich wirksam. Von da an entfaltete sich der innerevangelische Abendmahlsstreit bis zur direkten Begegnung Luthers und Zwinglis im Marburger Religionsgespräch (1. bis 4. Oktober 1529). Dabei konnten sich beide über 14 von 15 Punkten einigen. Zentrale Differenz blieb die Auslegung von Joh 6,53-63 und damit die Ubiquitätslehre.

Luther verfasste 1523 eine erste lateinische Messordnung, die Formula Missae et Communionis pro ecclesia Wittenbergensi, eine gereinigte Form der Messe.[69] Erst 1526 erschien auf Drängen von Nikolaus Hausmann die Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts. Das in dieser Schrift enthaltene Gottesdienstformular war vor allem als Sonntagsgottesdienst für die Laien gedacht, die kein Latein verstanden. Am 29. Oktober 1525 hielt Luther in Wittenberg die erste Messe in deutscher Sprache. Daneben war aber auch die lateinische Messe, vor allem an Festtagen, weiterhin vorgesehen, damit die Jugend auch diese erlerne.[70]

Daneben nennt Luther eine dritte Form für eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen, „die ienigen, so mit ernst Christen wollen seyn und das Euangelion mit hand und munde bekennen“.[71] Dabei hat Luther wohl eine Art „Kerngemeinde“ vor Augen, die sich in privaten Häusern trifft und Gottesdienst hält und wo die Mitglieder sich gegenseitig ermahnen, wenn sie untereinander Sünden begehen, ganz nach dem Befehl Christi.[72] Luthers Vorhaben mit dieser dritten Weise des Gottesdienstes ging in die Richtung einer Integration derjenigen, die ernsthaft nach neutestamentlichen Vorgaben leben mochten. Auch sie sollten neben den anderen einen Platz in der Gemeinde haben, indem ihre Bedürfnisse befriedigt wurden.

Luther war wichtig, dass seine Messordnungen nicht als allgemein verbindlich angesehen werden sollten. Vielmehr sah er sie als Beispiele eines evangeliumsgemäßen Gottesdienstes.[73]

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Fußnoten

  1.  ↑ Leppin, V.: Martin Luther. Vom Bauernsohn zum Reformator, Darmstadt 2013, S. 39
  2.  ↑ Dömer, C.: Mit Martin Luther unterwegs: Ein biografischer Reiseführer, Holzgerlingen 2008, S. 24
  3.  ↑ Lexutt, A.: Luther, Stuttgart 2008, S. 38
  4.  ↑ Rosemarie Knape (Hrsg.): Martin Luther und Eisleben. Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Leipzig 2007, S. 31
  5.  ↑ Neumann, H.-J.: Luthers Leiden: Die Krankheitsgeschichte des Reformators. Wichern, Berlin 1995, S. 28
  6.  ↑ Dömer, C.: Mit Martin Luther unterwegs: Ein biografischer Reiseführer, Holzgerlingen 2008, S. 37
  7.  ↑ Lexutt, A.: Luther, Stuttgart 2008, S. 49
  8.  ↑ Feldmann, C.: Martin Luther, Reinbek 2009, S. 21
  9.  ↑ Rosemarie Knape (Hrsg.): Martin Luther und Eisleben. Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Leipzig 2007, S. 44
  10.  ↑ Leppin, V.: Martin Luther. Vom Bauernsohn zum Reformator, Darmstadt 2013, S. 112
  11.  ↑ Kaufmann, T.: Martin Luther. 2., durchgesehene Auflage, München 2010, S. 26
  12.  ↑ Schulze, M.: Luther, Martin, in: (BBKL). Band 5, Bautz, Herzberg 1993, Sp. 447–482. (Artikel/Artikelanfang im Internet-Archive  am ), hier Sp. 450
  13.  ↑ Schulze, M.: Luther, Martin, in: (BBKL). Band 5, Bautz, Herzberg 1993, Sp. 447–482. (Artikel/Artikelanfang im Internet-Archive  am ), hier Sp. 451
  14.  ↑ Kaufmann, T.: Martin Luther. 2., durchgesehene Auflage, München 2010, S. 38
  15.  ↑ Schilling, H.: Martin Luther: Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie. München 2012, S. 71
  16.  ↑ Rosemarie Knape (Hrsg.): Martin Luther und Eisleben. Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Leipzig 2007, S. 52
  17.  ↑ Michels, K.: Martin Luther: Die Lektionen der Straße. Wie die Welt das Denken des Reformators veränderte, Hamburg 2010, S. 10
  18.  ↑ Zahrnt, H.: Martin Luther: Reformator wider Willen, Leipzig 2000, S. 22
  19.  ↑ Lexutt, A.: Luther, Stuttgart 2008, S. 84
  20.  ↑ Schulze, M.: Luther, Martin, in: (BBKL). Band 5, Bautz, Herzberg 1993, Sp. 447–482. (Artikel/Artikelanfang im Internet-Archive  am ), hier Sp. 451
  21.  ↑ Rosemarie Knape (Hrsg.): Martin Luther und Eisleben. Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Leipzig 2007, S. 55
  22.  ↑ Feldmann, C.: Martin Luther, Reinbek 2009, S. 34
  23.  ↑ Zahrnt, H.: Martin Luther: Reformator wider Willen, Leipzig 2000, S. 27
  24.  ↑ Leppin, V.: Martin Luther, Darmstadt 2006, S. 23
  25.  ↑ Michels, K.: Martin Luther: Die Lektionen der Straße. Wie die Welt das Denken des Reformators veränderte, Hamburg 2010, S. 24
  26.  ↑ Herrmann, H.: Martin Luther: Ketzer und Reformator, Mönch und Ehemann, München 1999, S. 75
  27.  ↑ Graf von Krockow, C.: Porträts berühmter deutscher Männer: Von Martin Luther bis zur Gegenwart, München 2001, S. 11–56, hier S. 19
  28.  ↑ Schulze, M.: Luther, Martin, in: (BBKL). Band 5, Bautz, Herzberg 1993, Sp. 447–482. (Artikel/Artikelanfang im Internet-Archive  am ), hier Sp. 457
  29.  ↑ Feldmann, C.: Martin Luther, Reinbek 2009, S. 44
  30.  ↑ Zahrnt, H.: Martin Luther: Reformator wider Willen, Leipzig 2000, S. 38
  31.  ↑ Fausel, H.: D. Martin Luther: Leben und Werk. 2 Bände, Neuhausen-Stuttgart 1996, S. 37
  32.  ↑ Leppin, V.: Martin Luther, Darmstadt 2006, S. 33
  33.  ↑ Dömer, C.: Mit Martin Luther unterwegs: Ein biografischer Reiseführer, Holzgerlingen 2008, S. 32
  34.  ↑ Zahrnt, H.: Martin Luther: Reformator wider Willen, Leipzig 2000, S. 30
  35.  ↑ Kaufmann, T.: Martin Luther. 2., durchgesehene Auflage, München 2010, S. 58
  36.  ↑ Michels, K.: Martin Luther: Die Lektionen der Straße. Wie die Welt das Denken des Reformators veränderte, Hamburg 2010, S. 38
  37.  ↑ Schilling, H.: Martin Luther: Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie. München 2012, S. 62
  38.  ↑ Fausel, H.: D. Martin Luther: Leben und Werk. 2 Bände, Neuhausen-Stuttgart 1996, S. 47
  39.  ↑ Herrmann, H.: Martin Luther: Ketzer und Reformator, Mönch und Ehemann, München 1999, S. 38
  40.  ↑ Leppin, V.: Martin Luther, Darmstadt 2006, S. 77
  41.  ↑ Neumann, H.-J.: Luthers Leiden: Die Krankheitsgeschichte des Reformators. Wichern, Berlin 1995, S. 67
  42.  ↑ Feldmann, C.: Martin Luther, Reinbek 2009, S. 97
  43.  ↑ Neumann, H.-J.: Luthers Leiden: Die Krankheitsgeschichte des Reformators. Wichern, Berlin 1995, S. 98
  44.  ↑ Beutel, A. (Hrsg.): Luther Handbuch 2. Auflage, Tübingen 2010, S. 26
  45.  ↑ Manns, P.: Martin Luther: Der unbekannte Reformator, Freiburg 1982, S. 77
  46.  ↑ Schilling, H.: Martin Luther: Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie. München 2012, S. 39
  47.  ↑ Kaufmann, T.: Martin Luther. 2., durchgesehene Auflage, München 2010, S. 83
  48.  ↑ Schneider-Ludorff, G./Leppin, V.(Hrsg.): Das Luther-Lexikon, Regensburg 2014, S. 113
  49.  ↑ Michels, K.: Martin Luther: Die Lektionen der Straße. Wie die Welt das Denken des Reformators veränderte, Hamburg 2010, S. 47
  50.  ↑ Manns, P.: Martin Luther: Der unbekannte Reformator, Freiburg 1982, S. 38
  51.  ↑ Dünnhaupt, G. (Hrsg.): The Martin Luther Quincentennial, Detroit 1985, S. 12
  52.  ↑ Graf von Krockow, C.: Porträts berühmter deutscher Männer: Von Martin Luther bis zur Gegenwart, München 2001, S. 11–56, hier S. 39
  53.  ↑ Leppin, V.: Martin Luther. Vom Bauernsohn zum Reformator, Darmstadt 2013, S. 87
  54.  ↑ Zitelmann, A.: „Widerrufen kann ich nicht“. Die Lebensgeschichte des Martin Luther, Weinheim 1999, S. 19ff
  55.  ↑ Zahrnt, H.: Martin Luther: Reformator wider Willen, Leipzig 2000, S. 39
  56.  ↑ Spehr, C.: Luther und das Konzil. Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit, Tübingen 2010, S. 29
  57.  ↑ Schneider-Ludorff, G./Leppin, V.(Hrsg.): Das Luther-Lexikon, Regensburg 2014, S. 138
  58.  ↑ Herrmann, H.: Martin Luther: Ketzer und Reformator, Mönch und Ehemann, München 1999, S. 38
  59.  ↑ Zitelmann, A.: „Widerrufen kann ich nicht“. Die Lebensgeschichte des Martin Luther, Weinheim 1999, S. 25
  60.  ↑ Dünnhaupt, G. (Hrsg.): The Martin Luther Quincentennial, Detroit 1985, S. 18
  61.  ↑ Ebd., S. 26
  62.  ↑ Spehr, C.: Luther und das Konzil. Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit, Tübingen 2010, S. 58
  63.  ↑ Manns, P.: Martin Luther: Der unbekannte Reformator, Freiburg 1982, S. 89
  64.  ↑ Schneider-Ludorff, G./Leppin, V.(Hrsg.): Das Luther-Lexikon, Regensburg 2014, S. 115f
  65.  ↑ Graf von Krockow, C.: Porträts berühmter deutscher Männer: Von Martin Luther bis zur Gegenwart, München 2001, S. 11–56, hier S. 34
  66.  ↑ Barth, H.-M.: Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung, Gütersloh 2009, S. 39
  67.  ↑ Horst Herrmann: Martin Luther: Eine Biographie. Aufbau-Taschenbuch-Verlag, Berlin 2003, S. 48
  68.  ↑ Spehr, C.: Luther und das Konzil. Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit, Tübingen 2010, S. 100
  69.  ↑ Dünnhaupt, G. (Hrsg.): The Martin Luther Quincentennial, Detroit 1985, S. 29
  70.  ↑ Schilling, H.: Martin Luther: Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie. München 2012, S. 63
  71.  ↑ Manns, P.: Martin Luther: Der unbekannte Reformator, Freiburg 1982, S. 100
  72.  ↑ Zitelmann, A.: „Widerrufen kann ich nicht“. Die Lebensgeschichte des Martin Luther, Weinheim 1999, S. 112
  73.  ↑ Beutel, A. (Hrsg.): Luther Handbuch 2. Auflage, Tübingen 2010, S. 28