e-Portfolio von Michael Lausberg
Besucherzäler

Schöner leben ohne Gott? Klassiker der Religionskritik

Feuerbachs religionskritische Projektionstheorie ist nach wie vor ein Klassiker des Atheismus. Demnach ist Gott nur die Summe aller Wünsche (nach Unsterblichkeit, Vollkommenheit, Glückseligkeit, Gleichberechtigung) jedes Menschen, die dieser aber nicht als Wünsche anerkennt, sondern in einer von sich selbst gebildeten Gottheit projiziert. Der Mensch ist endlich, sündhaft, unvollkommen und ohnmächtig. Der Mensch stellt sich seinen Gott dann mit seinen Wünschen vor, so wie er sein will: unendlich, ewig, vollkommen, mächtig und vor allem heilig. Dieser Gott wird benutzt, um den Mitmenschen eine Macht überzuordnen, mit der Autorität Gesetze zu erlassen, die von allen Mitgliedern der Gesellschaft beachtet werden. Feuerbach kommt zu der Forderung, der Mensch muss für den Menschen das höchste Wesen werden. Der Begriff „Projektion“ ist nämlich eine Interpretation der Nachgeborenen; Feuerbach selbst hat diesen Begriff in seinen religionsanalytischen Schriften ("Wesen des Christentums", "Wesen der Religion") nicht gebraucht.

Der „Linkshegelianer“ Feuerbach (1804–1872) wendet den zu-sich-selbst-kommenden Begriff in seinem Werk „Das Wesen des Christentums 1841“ kritisch gegen die Religion und will sie als Projektion entlarven: „Gott“ sei nur der an den Himmel projizierte Selbstausdruck des endlichen Selbstbewusstseins, das sich Unendlichkeit ersehne. Mit der Vorstellung Gottes stelle der Mensch sich sein eigenes Wesen gegenüber, mache es sich als Objekt seiner Sehnsucht gegenständlich anschaulich: „Denn nicht Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, wie es in der Bibel steht, sondern der Mensch schuf, wie ich im Wesen des Christentums zeigte, Gott nach seinem Bilde.“[1]

Ludwig Feuerbachs These, dass die sterblichen, beschränkten Menschen nach Vollkommenheit streben und deshalb eine Macht kreieren, die diese fehlenden Eigenschaften besitzt, hat in Zeiten der beherrschenden Stellung der christlichen Dogmatik in der BRD nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Feuerbach entfaltete diese Kritik in den weiteren Auflagen des Werks (1843, 1849) vor allem an Zentralgedanken der Theologie Martin Luthers: Die Inkarnation – „Gott wird endlicher Mensch“ – sei eigentlich „nicht anderes als“ der verkehrte Wunsch des Menschen, unendlich und unsterblich – wie Gott – zu werden.[2] Er griff dabei ausdrücklich die Kritik Epikurs am Anthropomorphismus der Religion wie auch das Drei-Stadien-Gesetz von Lessing und Comte auf.

Indem der Mensch in Gott sich selbst wiedererkenne, werde er sich seiner religiösen Sehnsucht als Entfremdung gewahr. Indem er sich als den Produzenten Gottes entdecke, könne seine in der Religion fehlgeleitete Vernunft zur Humanisierung freigesetzt werden: In der zwischenmenschlichen Liebe finde der Mensch seine wahre Erfüllung. Damit lehnt Feuerbach das religiöse Element des menschlichen Selbstbewusstseins nicht per se ab, will es aber „übersetzen“ und einsetzen für die Gestaltung eines humanen Zusammenlebens.

Das religiöse Gefühl ist für ihn das Resultat der Schranken zwischen dem individuellen Menschen und dem Wesen des Menschen (der menschlichen Gattung). Diese Kluft schließt der Mensch mittels der Religion. In der Sehnsucht nach Gott sieht Feuerbach die Sehnsucht nach dem schrankenlosen Mensch- bzw. Gattungsein, die sich im konkreten „Du“ (Mitmensch) stillen lässt. Die Hingabe bzw. Liebe stellt für ihn das Zentrum der Religion und da Gott für ihn lediglich als Platzhalter des menschlichen Wesens fungiert, in letzter Konsequenz das Zentrum des menschlichen Wesens dar. Diese frühe Religionsphilosophie wird später nochmals gezielt aufzugreifen sein. Hier genügt zunächst, dass sich Feuerbach im Anschluss an seine Kritik des Christentums den Vorwurf einer einseitigen Subjektphilosophie gefallen lassen muss, weshalb er anschließend verstärkt über die Natur, d.h das objektiv Gegebene, nachdenkt und eine anthropologische Philosophie begründet, die sich intensiv mit der Sinnlichkeit des Menschen und deren Bezugsgegenstand (die Natur) auseinandersetzt.

Religionskritik ist für Feuerbach also notwendig, um dem religiösen Bewusstsein die Hingabe an ein fremdes Scheinwesen als von ihm produzierten Verblendungszusammenhang aufzudecken. Dann werde Religion durch sinnlich-irdische Liebe zu den Mitmenschen ersetzbar und tendenziell überflüssig. Sie könne und müsse ebenso vergehen wie der an der Unendlichkeit des eigenen Selbst hängende Egoismus, der in der Vorstellung Gottes einsame Selbstbefriedigung suche und finde.

Anders als Hegel zielt Feuerbach also nicht auf die Erkenntnis eines absoluten Geistes, der als an-und-für-sich-seiende oder -werdende Weltvernunft gedacht wird und überindividuell selbsttätig sein und bleiben soll, sondern auf das endgültige Verschwinden der Religion im humanen Fortschritt der Menschheit. Diese, nicht der Einzelne, ist für ihn in Wahrheit unendlich. Nur durch Liebe zur Menschheit kann das Individuum die religiöse Selbstentzweiung aufheben; nur durch Anerkennung seiner Endlichkeit – denn die Sterblichkeit ist das, was alle Menschen zu einer Gattung verbindet – wird er zur Menschlichkeit fähig.

Die Sinnlichkeit wird zum Schlüsselbegriff der anthropologischen Philosophie Feuerbachs. Ins Blickfeld seiner Ontologie und seiner Auffassung der menschlichen Erkenntnis geraten immer deutlicher Anschauung und sinnliche Wahrnehmung. Dies schlägt sich auch auf sein Denken über Religion nieder. Während er die Geburt des Religiösen früher im Spannungsfeld von Individuum und menschlicher Gattung ansiedelte, denkt er Religion jetzt verstärkt im Kontext der Natur. Der Begriff Natur beschreibt für ihn „allgemein den Bezirk einer außermenschlichen Wirklichkeit“.[3] Dieser Physiswelt steht der Mensch aber nicht im Sinne eines Dualismus gegenüber, vielmehr ist er durch das Band des menschlichen Leibes, der natürlichen Ursprungs ist, mit ihr verbunden. Die Natur erhält den Status eines transobjektiven Seins und gilt ihm fortan als Ausgangspunkt seines Philosophierens. Alle Phänomene gründen in letzter Konsequenz in der Natur und mittels genetischen Denkens lässt sich dies anhand der (Welt-)Geschichte zeigen. Die Religion resultiert aus der Abhängigkeit des Menschen von der Natur, die sich in den alltäglichen Erfahrungen von Endlich- und Nichtigkeit widerspiegelt.

Griechen und Römer kannten keinen Glauben an diese Auferstehung des gestorbenen Individuums, ihr Menschenideal war ein diesseitiges. Der Mensch schafft sich als Illusion ein Jenseits, das schöner sein soll als das jetzige Leben (Paradies). Erst die Anerkennung des Todes als eines unumstößlichen Faktums lenkt wieder die ins Jenseits gewandten Menschen zurück auf die irdische Welt. Der christlichen Philosophie wird der Vorwurf gemacht, die menschliche Natur zu knechten zugunsten eines fiktiven Jenseits.

Theologie und Metaphysik erklärt Feuerbach durch die Psychologie, die Metaphysik sei nichts anderes als eine esoterische Psychologie. Freiheit wird gewonnen durch die Selbstbefreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit.

Während seiner Studienzeit in Berlin hatte sich Feuerbach persönlich dem angestammten protestantischen Glauben entfremdet. Bereits in der ersten öffentlich verbreiteten, allerdings anonym herausgegebenen Schrift Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830) verwarf er den Unsterblichkeitsglauben als lebensfeindlich: Ein Leben nach dem Tod zu wünschen, widerspräche dem Funktionieren der Natur, in der alles, also auch der Tod, „wahr, ganz, ungeteilt vollständig“ sei: „Der Tod ist daher die ganze, die vollständige Auflösung deines ganzen und vollständigen Seins.“[4] Vor allem aber gelange man erst durch die ungeteilte Bejahung des Todes zur ungeteilten Bejahung des Lebens. Auch den Glauben an einen persönlichen Gott lehnte er in dieser ersten Schrift bereits entschieden ab. Dieser Glaube sei selbstsüchtig, denn der Personen-Gott sei für den Gläubigen nur „Gewährleistung seiner selbst und seines eigenen Daseins“.[5] Offen bekannte sich Feuerbach zu jenem Pantheismus, dem im Gefolge Spinozas die meisten Denker und Dichter der Spätaufklärung und der Weimarer Klassik insgeheim anhingen. Die deftig-satirischen Xenien im zweiten Teil des Buches dokumentieren die Abkehr von traditioneller und kirchlicher Gläubigkeit.

Beim Thema Religion gab es auch einen Dissens mit seinem Lehrer: Hegel hatte auf einer grundsätzlichen Übereinstimmung von Philosophie und christlichem Glauben beharrt. Feuerbach war gegensätzlicher Meinung, doch er kritisierte Hegels Auffassung im Frühwerk nur implizit, so etwa in der Einleitung der Geschichte der neuern Philosophie, wo er die historische Entwicklung nicht, wie Hegel, als „Stufengang des Geistes“ sah, sondern auf einen scharfen Gegensatz zwischen dem Christentum und dem „denkenden Geist“ hinauslaufen ließ: Der Geist habe sich (wie übrigens auch die Kunst) aus der „drückenden Herrschaft“ der Religion zu befreien gehabt

Schon in der 1830 anonym in Nürnberg erscheinenden Schrift „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“, worin er behauptet, es gibt kein Leben nach dem Tod, entwickelt Feuerbach Gedankengänge, die in seinem Hauptwerk „Das Wesen des Christentums“ zur Entfaltung kommen. Er lehnte den christlichen Unsterblichkeitsglauben ab mit der Aufforderung im Hier und Jetzt das Unendliche zu entdecken. Vor allem aber gelange man erst durch die ungeteilte Bejahung des Todes zur ungeteilten Bejahung des Lebens. Griechen und Römer kannten keinen Glauben an diese Auferstehung des gestorbenen Individuums, ihr Menschenideal war ein diesseitiges. Der Mensch schafft sich als Illusion ein Jenseits, das schöner sein soll als das jetzige Leben (Paradies). Erst die Anerkennung des Todes als eines unumstößlichen Faktums lenkt wieder die ins Jenseits gewandten Menschen zurück auf die irdische Welt. Der christlichen Philosophie wird der Vorwurf gemacht, die menschliche Natur zu knechten zugunsten eines fiktiven Jenseits.

Diese Argumentation hatte eine historisch-gesellschaftliche Stoßrichtung, sie richtete sich gegen restaurativ-religiöse Tendenzen der Zeit. Wenn konservative Philosophen und Politiker forderten, die Philosophie habe sich an der Christlichkeit auszurichten, so entgegnete er mit vehementer Ablehnung jeglicher Vermittlung zwischen Religion und Philosophie.Theologie und Metaphysik erklärt Feuerbach durch die Psychologie, die Metaphysik sei nichts anderes als eine esoterische Psychologie. Freiheit wird gewonnen durch die Selbstbefreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit.

Am politischen Geschehen in diesen unruhigen Jahren nahm Ludwig Feuerbach interessiert teil, ohne sich bestimmten Gruppierungen anzuschließen Der junge Karl Marx bemühte sich bereits 1843 Feuerbach zur Mitarbeit für die "Deutsch-Französischen Jahrbücher" zu gewinnen. Ludwig Feuerbach lehnte dies ab. In den weiteren Jahren kristallisierten sich dann auch die unterschiedlichen Auffassungen beider Philosophen heraus. Karl Marx und Friedrich Engels stellten vor allem die ökonomischen und gesellschaftlichen Prioritäten in den Vordergrund, im Gegensatz zu Feuerbach, der weiter sein anthropologisches, auf das Individuum ausgerichtetes materialistisches Weltbild vertrat. 1843 erschien seine Schrift: "Grundsätze der Philo­sophie". Darin unterstreicht er seine Thesen eines anthropologischen Sensualismus und Materialismus und sieht die Bedeutung des Menschen sowohl als Individuum wie aber auch als Gemeinschaftswesen.

In der im Jahre 1841 erscheinenden Schrift „ Das Wesen des Christentums“ vertritt er die These, dass die christliche Religion Menschenwerk sei und Ergebnis von Projektionen. Der Titel stammte eigentlich von seinem Verleger. Feuerbach wollte eigentlich das Buch als Gegenstück zu Kants Werk „Kritik der reinen Vernunft“ „Kritik der reinen Unvernunft“ nennen. In der Einleitung entfaltet Feuerbach die These von der kopernikanischen Wende des Denkens. Diese kopernikanische Wende bestand laut Feuerbach in der Aufhebung der transzendenten Vorstellung, die einen neuen Philosophiebegriff und einen damit verbundenen neuen erkenntnistheoretischen und anthropologischen Ansatz schuf: „Die Religion ist das Bewußtsein des Unendlichen; sie ist also und kann nichts anderes sein, als das Bewußtsein des Menschen von seinem, und zwar nicht endlichen beschränkten, sondern unendlichen Wesen.“[6]Die Religion steht im Widerspruch zum eigentlichen Wesen des Menschen, die dogmatische christliche Philosophie wird als religiöse Projektion entlarvt: „Die Religion zieht die Kräfte, Eigenschaften, Wesensbestimmungen des Menschen vom Menschen ab und vergöttert sie als selbständige Wesen – gleichgültig ob sie nun, wie im Polytheismus, jedes einzeln für sich zu einem Wesen macht oder, wie im Monotheismus, alle in ein Wesen zusammenfasst.“[7]Laut Feuerbach ist Gott nur die Summe aller Wünsche (nach Unsterblichkeit, Vollkommenheit, Glückseligkeit, Gleichberechtigung) jedes Menschen, die dieser aber nicht als Wünsche anerkennt, sondern in einer von sich selbst gebildeten Gottheit projiziert. Der Mensch ist endlich, sündhaft, unvollkommen und ohnmächtig. Der Mensch stellt sich seinen Gott dann mit seinen Wünschen vor, so wie er sein will: unendlich, ewig, vollkommen, mächtig und vor allem heilig: „Wie der Mensch denkt, wie er gesinnt ist, so ist sein Gott. So viel Wert der Mensch hat, so viel Wert und nicht mehr hat sein Gott. Das Bewußtsein Gottes ist das Selbstbewusstsein des Menschen. Die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen; die Religion ist die feierliche Enthüllung der verborgenen Schätze des Menschen, das Eingeständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse.“[8]Feuerbach kommt zu der Forderung, der Mensch muss für den Menschen das höchste Wesen werden. Der Mensch sollte das Christentum aufgeben, erst dann wird er Mensch. Dieser anthropologische Materialismus Feuerbachs stellte heraus, dass die Religion im Widerspruch zum eigentlichen Wesen des Menschen steht.

In den Anfang 1842 geschriebenen, wegen des Verbots durch die Zensur allerdings erst im Herbst 1843 erschienenen „Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie“ sah Feuerbach in seiner Religionsphilosophie nicht das Ergebnis eines kontinuierlichen Diskussionsprozesses, sondern einen Bruch mit der Geschichte der neueren Philosophie. Feuerbach entwickelte eine Philosophie, die auf den Menschen ausgerichtet ist: „Die menschgewordene Philosophie ist allein die positive, wahre Philosophie.“[9] Dies soll als neuer erkenntnistheoretischer und anthropologischer Ansatz verstanden werden. Dies kam besonders in seinem 1843 in der Schweiz veröffentlichten Werk „Grundsätze der Philosophie der Zukunft“ zum Ausdruck. Die „alte“ Philosophie sagt: nur das Vernünftige ist das Wahre und Wirkliche. Die „neue“ Philosophie sagt: Nur das Menschliche ist das Wahre und Wirkliche“, der Mensch das Maß der Vernunft.[10]

Die „Philosophie der Zukunft“ war ein neues theoretisches Fundament, das insgesamt die traditionelle Philosophie (Idealismus, Empirismus) überwindet in einer neuen humanistischen Philosophie, deren Grundprinzipien die der Sensualität und Individualität sind.[11] Mit seinem anthropologischen Materialismus war Feuerbach ein wichtiger Wegbereiter für die Entwicklung der Philosophie von Karl Marx. In seinem Werk „Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844“kam Marx nach der Beschäftigung mit den religionsphilosophischen Thesen Feuerbachs zu der Erkenntnis, dass der Idealismus seine Strahlkraft verloren hatte und stattdessen dem Materialismus die Zukunft gehöre. Marx will die Feuerbachschen Gedanken auf die Politik anwenden und entwickelte daraus seine Theorie der Religion als „Opium des Volkes.“ Marx entwickelt aus dem anthropologischen Materialismus Feuerbach einen historischen Materialismus, der einen Umsturz der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse propagierte. Fast 50 Jahre nach dem Erscheinen des Werkes hat Friedrich Engels die befreiende Wirkung des Buches in der akademischen und intellektuellen Welt festgestellt. Außer der Natur und den Menschen existiert nichts und die höheren Wesen erschuf die religiöse Phantasie des Menschen. Feuerbach galt für Engels als eine unmittelbarer Vorläufer der marxistisch-leninistischen Philosophie und einer der bedeutendsten Vertreter des bürgerlichen Materialismus. Er schrieb: Die Hegelsche Schule war aufgelöst, aber das Hegelsche System war nicht kritisch überwunden. Strauß und Bauer nahmen jeder eine ihrer Seiten heraus und kehrten sie polemisch gegen die andere. Feuerbach durchbrach das System und warf es einfach beiseite. (…) Man muß die befreiende Wirkung dieses Bruchs selbst erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon zu machen. Die Begeisterung war allgemein: Wir waren alle momentan Feuerbachianer.“[12]

Marx übernahm von ihm nicht nur die Religionskritik (die er politisch radikalisierte), sondern auch und vor allem den anthropologischen Materialismus. Dieser war für ihn die theoretische Grundlage, hinter die nicht zurückgeschritten werden durfte. Explizit bezeugen dies die Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, wo es in der Vorrede heißt: „Von Feuerbach datiert erst die positive humanistische und naturalistische Kritik. Je geräuschloser, desto sicherer, tiefer, umfangsreicher und nachhaltiger ist die Wirkung der Feuerbachischen Schriften, die einzigen Schriften seit Hegels Phänomenologie und Logik, worin eine wirkliche theoretische Revolution enthalten ist“.[13] Auf dem Boden dieser „theoretischen Revolution“, die die materielle Wirklichkeit als die primäre erklärt und damit die idealistische Philosophie „vom Kopf auf die Füße stellt“.[14]

Nach dem Ausbruch der März-Revolution 1848 wurde Feuerbach von mehreren Seiten dazu aufgefordert, für das Frankfurter Paulskirchenparlament zu kandidieren. Er unterlag zwar bei der Kandidatenaufstellung knapp einem örtlichen Advokaten, ging aber dennoch als Beobachter nach Frankfurt, auch weil er glaubte, sich eine neue Existenz aufbauen zu müssen: Da die Bruckberger Porzellanfabrik zeitweilig zahlungsunfähig war, verlor seine Frau ihr Einkommen und dem Ehepaar drohte völlige Mittellosigkeit. In Frankfurt stand Feuerbach in engem Kontakt mit der Fraktion der radikaldemokratischen Linken. Feuerbach erkannte sehr früh die Aussichtslosigkeit der parlamentarischen Bemühungen; auch auf außerparlamentarische Vereinigungen wie den Demokratenkongress, dessen eingeschriebenes Mitglied er war, setzte er kaum Hoffnungen. Im Herbst 1848 lud ihn eine studentische Delegation zu Vorlesungen in Heidelberg ein. Da die Universität die Aula verweigerte, las Feuerbach im Rathaussaal.[15]

Feuerbachs Thesen waren auch für die Theorie Nietzsches von Bedeutung. Den christlichen Glauben sieht Nietzsche in Europa im Niedergang („Gott ist tot“). Er analysierte seine Zeit, vor allem die seiner Auffassung nach inzwischen marode gewordene (christliche) Zivilisation. Nietzsche war zudem nicht der erste, der die Frage nach dem „Tod Gottes“ stellte. Hegel äußerte diesen Gedanken bereits 1802 und sprach von dem „unendlichen Schmerz“ als einem Gefühl, „worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot“.[16]

Die bedeutendste und meistbeachtete Stelle zu diesem Thema ist aus der Fröhlichen Wissenschaft. Dieser Text lässt den Tod Gottes als bedrohliches Ereignis erscheinen. Dem Sprecher darin graut vor der Schreckensvision, dass die zivilisierte Welt ihr bisheriges geistiges Fundament weitgehend zerstört hat:

Das Wort vom Tod Gottes findet sich auch in den Aphorismen 108 und 343 der Fröhlichen Wissenschaft; das Motiv taucht auch mehrmals in Also sprach Zarathustra auf. Danach verwendete Nietzsche es nicht mehr, befasste sich aber weiter intensiv mit dem Thema. Beachtenswert ist hier etwa das nachgelassene Fragment „Der europäische Nihilismus“ (datiert 10. Juni 1887), in dem es nun heißt: „,Gott‘ ist eine viel zu extreme Hypothese.“

Nietzsche kam zu dem Schluss, dass mehrere mächtige Strömungen, vor allem das Aufkommen der Naturwissenschaften und der Geschichtswissenschaft, daran mitgewirkt haben, die christliche Weltanschauung unglaubwürdig zu machen und damit die christliche Zivilisation zu Fall zu bringen. Es besteht heute weitgehende Übereinstimmung, dass Nietzsche sich nicht als Befürworter des Nihilismus sah, sondern ihn als Möglichkeit in der (nach-)christlichen Moral, vielleicht auch als eine geschichtliche Notwendigkeit sah. Auf diesen nun bevorstehenden „europäischen Nihilismus“, in dem er eine „Selbstverkleinerung des Menschen“ fürchtet, sucht Nietzsche eine Antwort. Seine vor allem in Also sprach Zarathustra gegebenen Hinweise auf neue Wertsetzungen („Wille zur Macht“, „Übermensch“) Gegen metaphysische und religiöse Konzepte ist Nietzsche grundsätzlich skeptisch.

Da Ludwig Feuerbach sich schon früh von der universitären Philosophie distanzierte, hat es nie eine „Feuerbach-Schule“ gegeben. Im 19. Jahrhundert orientierten sich allerdings Eduard Zeller und Kuno Fischer, obwohl Hegelianer bzw. Kantianer, an Feuerbachs Philosophiegeschichtsschreibung und entwickelten sie weiter; Zeller näherte sich auch in der Religionsphilosophie den Auffassungen Feuerbachs. Rudolf Haym begrüßte Feuerbachs kritische Leistung, schreckte jedoch vor den religionskritischen Konsequenzen zurück. Er widmete Feuerbach eine seiner ersten Schriften.

Mit ca. 2,26 Milliarden Gläubigen ist das Christentum vor dem Islam (ca. 1,57 Milliarden) und dem Hinduismus (ca. 900 Millionen) die am meisten verbreitete Religion auf der Welt. Das Christentum wächst heute in den meisten Erdteilen der Welt sehr stark, wobei sich sein Schwerpunkt vom „alten“ Kontinent Europa hin zu den Kontinenten Asien und Afrika verschiebt.Die religiösen Texte des Christentums sind voller Verhaltens-, Essens- und Lebensregeln, die die Menschen in ihrer Autonomie einengen und eine Sklavenmoral erzeugen. Eine Sexualität, die nicht der Fortpflanzung dient, wird nicht geduldet; Homo- oder Transsexualität wird weiterhin bekämpft. Die mittelalterliche Scholastik prägt auch heute noch das Christentum. Die griechischen und römischen Kirchenväter entwarfen eine Moral des asketischen Ideals mit folgenden Zwangsvorstellungen: Hass auf alles Körperliche, auf sämtliche Wünsche und Begierden und predigten stattdessen die Verherrlichung des Zölibats, der Selbstbeherrschung und der Keuschheit. Zu Recht konstatierte der französische Philosoph Michel Onfray:[17] „Wo sich nun ein letzter (…) Kampf abzeichnet, um die Werte der Aufklärung gegen die Darstellungen der Magie zu verteidigen, gilt es, einen postchristlichen, also militant atheistischen Laizismus voranzubringen (…).“

Gott gehört zur mythologischen Fabelwelt. Die Neurose, die zur Erschaffung von Göttern führt, erwächst aus der normalen Reaktion der Psyche und des Unbewussten. Die Erzeugung des Göttlichen geht nämlich mit einem ängstlichen Gefühl der Leere eines Lebens einher. Bestimmte Leute (religiöse Würdenträger) geben vor, von Gott eingesetzt worden zu sein, um in seinem Namen alles Mögliche zu befehlen. Die irdischen Machthaber behaupten, dass die Götter ihnen die Macht übertragen hätten und ihnen dies immer wieder durch sichtbare Zeichen bestätigen würden. Die sterblichen, beschränkten Menschen streben nach Vollkommenheit und kreieren deshalb eine Macht, die diese fehlenden Eigenschaften besitzt.

Gott ist abzuschaffen, aber es muss auch etwas dagegengesetzt werden, eine neue Moral oder neue Ethik. Abkehr von allem Transzendenten. Ein postmoderner Atheismus muss geschaffen werden bestehend aus der Philosophie, der Vernunft, den Nutzen, den Pragmatismus und den individuellen und sozialen Hedonismus. Postchristliche Moral für die die Erde kein Jammertal, das Vergnügen keine Sünde, die Frauen kein Fluch und Hedonismus kein Fremdwort.

Der Glaube an einen gewalttätigen, eifersüchtigen, intoleranten und streitlustigen einzigen Gott hat deutlich mehr Haß, Leid und Tod hervorgebracht als Frieden. Bezogen auf das Christentum: die Kreuzzüge, die Inquisition, die Religionskriege, die Bartholomäusnacht, die Hinrichtungen auf dem Scheiterhaufen, die weltweite Kolonialisierung, die Völkermorde in Nordamerika, die Unterstützung der faschistischen Systeme des 20. Jahrhunderts und die Allmacht des Vatikans.

Gerade deshalb hat Feuerbachs „Wesen des Christentums“ nichts von seiner Aktualität verloren.

Bakunins Idee der Freiheit

Angeregt durch seinen Mentor Stankjewitsch setzte sich Bakunin mit der Philosophie Fichtes auseinander, besonders mit den „Anweisungen zum seligen Leben“. In den Werken Bakunins hat sich der Einfluss von Fichtes Freiheitsidee niemals vollständig verloren.

Im Jahre 1835 quittierte Bakunin seinen Dienst als Leutnant in der russischen Armee und wechselte an die Universität Moskau.[18] Hier lernte er den jungen Dichter Nikolay W. Stankjewitsch kennen, von dem er seinen ersten wichtigen intellektuellen Einfluss erfuhr.[19] Bis in seine letzten Jahre hinein hat Bakunin Stankjewitsch seinen geistigen Vater genannt.

Stankjewitsch war der erste erwähnenswerte russische Romantiker; sein Verdienst bestand darin, dass er das russische Denken mit deutscher Philosophie vertraut machte. Die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts bargen vielfältige kulturelle Reize in Russland. Die junge Generation beschäftigte sich vor allem mit der deutschen idealistischen Philosophie, die Neugier für die völlig neue Art des Denkens breitete sich im ganzen Land aus.[20]

Ebenfalls unter diesem Einfluss stehend begann Bakunin, sich mit E.T.A Hoffmann, Jean Paul, Bettina von Arnim und Goethe zu beschäftigen.[21]

Die Aneignung der Hegelschen Philosophie Anfang 1837 vollzog sich für Bakunin gleich der Aufnahme einer neuen Offenbarung. Im Jahre 1838 veröffentlichte er seine Übersetzungen von Hegels Gymnasialreden im „Moskauer Beobachter“. Im Herbst 1841 machte Bakunin, der inzwischen an der Universität in Berlin studierte, die Bekanntschaft mit dem Linkshegelianer Arnold Ruge, was ihm neue philosophische Horizonte eröffnete. Ein Jahr später publizierte er in Ruges „Deutschen Jahrbüchern“ unter einem Pseudonym das Werk „Die Reaktion in Deutschland“, in dem er Hegel als den größten Philosophen der Gegenwart bezeichnete. In der Schrift analysierte Bakunin die damalige gesellschaftlich-politische Konstellation anhand Hegelschen Begriffsschemata. Bakunin analysierte die gesellschaftspolitische Konstellation seiner Zeit mit Hegelschen Begriffsschemata. In der These, dass die moderne Bildung, d.h was Inhalt und Form des Geistes jetzt ausmacht, einen Selbstauflösungsprozess unterliege, formulierte Bakunin das Selbstverständnis der Nachhegelianer klarer und unverzerrter als es bis dahin geschehen war. Das Ziel dieses Prozesses wäre, wie Bakunin meinte, „die Selbstauflösung in eine ursprüngliche und neue praktische Welt – in die wirkliche Gegenwart der Freiheit.“[22]

Das Pamphlet war nach übereinstimmender Auffassung die bedeutendste Darlegung des geistesgeschichtlichen Selbstverständnisses der Junghegelianer.[23]

Die alleinige Methode, den zukünftigen Zustand herbeizuführen, war für Bakunin die Revolution.[24] Ausgangspunkt der Revolution waren in Russland und Südeuropa die Bauern, in Westeuropa die Fabrikarbeiter. Sie bildeten das eigentliche Volk, das sich nach Bakunins Auffassung immer schon in einem latenten Aufstand gegen den Staat und die herrschenden Klassen befände. Die „bewussten Revolutionäre“, vor allem die politisch gebildete Jugend, bräuchte deshalb das Volk nur aufzuwiegeln.[25] Um diese Propaganda durchführen zu können, sollten sich die Revolutionäre in geheimen „Cercles“ organisieren, die von Bakunins „Revolutionärer Gesellschaft“ zusammengefasst werden sollten. Diese „Cercles“ sollten nicht aus eigener Kraft eine Revolution beginnen, sondern nur spontan entstehende Unruhen in eine zielgerichtete soziale Revolution verwandeln.

Auf den drei Elementen – der Hoffnung von der Vereinigung mit dem Volk ein wahrhaftiges, besseres Leben zu erlangen, dem Bewusstsein für die erhoffte bessere Welt eigentlich schon verdorben zu sein, und der Erwartung des paradiesischen, herrschaftslosen Zustands – beruhte das besondere Pathos der Bakuninschen Revolutionäre. Er schrieb an Ogarjow: „Nicht bereuen und nicht bedauern sollen wir, sondern alles sammeln, was in uns an Kraft, Geist, Verstand, Gesundheit, Leidenschaft und Willen von unseren Fehlern und Drangsalen noch verschont geblieben ist, das alles müssen wir konzentrieren, um dem einzig ersehnten und letztem Ziele zu dienen, der Revolution. Warum frägst Du, ob wir sie erleben werden oder nicht? Das vermag niemand zu erraten.“[26]

Die Revolution sollte nicht nur den Einzelnen befreien und bessern, auch das Volk sollte moralisch gebessert werden.

Bakunin bekannte sich stets zum Anarchismus.[27] Er wandte sich gegen den Staat, die Kirche und das Eigentum. Die Forderung nach Abschaffung des Staates kehrte in seinen Werken immer wieder.[28] So hieß es im Programm der polnischen Sektion der Internationalen Arbeitergesellschaft: „Wir wollen weder herrschen, noch der Herrschaft irgendwelcher Herren und Behörden gehorchen, unter welchem Vorwand es auch immer sei. Feinde jeder Art der Beherrschung von Menschen durch Menschen sind wir eben deshalb Feinde jeder Art von Herrschaft (Staat), da wir überzeugt sind, dass jede Form von Herrschaft, in was für ein demokratisches Gewand sie auch gehüllt sein möge, für die herrschende Minderheit immer ein vorteilhaftes Privilegium, für die Volksmehrheit aber ein Gefängnis sein werde.“[29]

Die Entwicklung von Bakunins Denken lässt sich in vier Phasen einteilen. Die protoidealistische Phase dauerte von 1833 bis 1836, in der Bakunin von der Lektüre Kants und Fichte beeinflusst wurde. Danach folgte die hegelianische Phase von 1837 bis 1840, wo Bakunin zum konservativen Hegelianer wurde. In der posthegelianischen Phase von 1840-1849 wandelte sich Bakunins Konservatismus zum Anarchismus. In der radikalistisch-antimetaphysischen Phase (1849-1872) bekannte sich Bakunin zum Materialismus und Atheismus.

In der Schrift „Die Reaktion in Deutschland“ wurde nicht nur die Vorbereitung des späteren Bakuninschen Denken gesehen, sondern ein selbständiges anarchistisches System. Bakunins Frühsystem war ein Glaube, der mit Leidenschaft zur Tat, zur Revolution drängte. Es unterschied sich von Bakunins Spätsystem durch die besondere Ausprägung des idealistischen Denkens.

Bakunins Spätsystem strebte politisch die Beseitigung aller Formen von Herrschaft an. Seine politischen Ziele und Methoden waren eng verknüpft mit seinen philosophischen Gedankengängen. In seiner Philosophie ließen sich vier Richtungen der Spekulation feststellen: eine antiautoritäre, eine materialistische, eine revolutionär-metaphysische und eine aktivistische.

Diese bildeten ein philosophisches System, das in sich nicht widerspruchsfrei war, aber dennoch einen gewissen Zusammenhang erkennen ließ.

An vielen Stellen von Bakunins Schriften findet mensch eine Verherrlichung der Tat, zugleich eine Abwertung der Theorie.[30] Ihren Höhepunkt findet diese Einstellung im Immoralismus, der in seiner Schrift „Prinzipien der Revolution“ deutlich wird. Erst in seiner letzten Entwicklungsphase wird er dieser Theorie untreu, er verliert den Glauben an das Diktum, die Revolution heilige alle Mittel, sondern sieht in der wahrhaftigen, sittlichen Persönlichkeit die Grundlage für eine erfolgreiche Revolution.[31]

Der Kern der Philosophie der Tat war folgender: „Wir glauben nur denjenigen, die ihre Ergebenheit für die Revolutionssache durch die Tat äußern, ohne Folter und Kerker zu fürchten, daher verwerfen wir alle Worte, denen nicht die Tat auf dem Fuße folgt. (…) Wir wollen, dass jetzt nur die Tat das Wort führe, wir wollen nicht, dass sich der Geist in eitlem Geschwätz verwickle, dass der Ton der Polemik, der Eifer in der Presse die Charakter schände, neue Schwätzer hervorbringe und die Aufmerksamkeit auf leeres Zeug ablenke, die sich jetzt auf wichtigere Dinge konzentrieren muß. Alle die Schwätzer, die das nicht begreifen, werden wir mit Gewalt zum Schweigen bringen.“[32]

Hintergrund dieser Worte war Bakunins Geschichtsbild. Für ihn waren nur die revolutionären Bewegungen in einem Volk bedeutsam, alles andere war tot und wertlos. [33] Erst der totale Umsturz kann eine „lebendige Organisation der Gesellschaft“ erwirken, was ein „neues Leben und eine neue Welt“[34] bringt.

Andererseits hatte es laut Bakunin das „wahre Leben“ noch nie gegeben, da es noch nie eine wirkliche Revolution im Sinne eines totalen Umsturzes gab.[35] Wenn also der/die Einzelne/n zu seinem „wahren Leben“ gelangen will, so konnte er/sie dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur durch die revolutionäre Tat.[36] In ihr und nur in ihr konnte er/sie sich zum „wahren Leben“ in Beziehung setzen. Hierin konnte er/sie bis zu einem gewissen Grad den zukünftigen Zustand vorwegnehmen. Nur in dieser Vorgehensweise sah Bakunin in dem aktivistischen Teil seiner späteren Lehre eine sinnvolle Existenz. Mit der Entwertung von Gegenwart und Vergangenheit gegenüber der Zukunft verlor auch das Denken gegenüber dem Handeln seinen Wert.

Nun noch einige wichtige Textstellen von atheistischen Denkern:

Es ist dieses noch unbekannte Zukünftige in den Menschen, nicht das bereits Zuhandene, Vorhandene in ihnen, das durch die wechselnden Himmelshypotasen hindurch wesentlich gemeint war. So haben die Religionsstifter wachsend Humanum in Gott eingesetzt, d.h hier, wachsend das meschliche Inkognito durch immer nähere Jenseitsgestalten umkreist. Derart sind alle Benennungen und Erkennungen Gottes riesige Figurierierungen und Deutungsversuche des menschlichen Geheimnisses gewesen: durch religiöse Ideologien hindurch und trotz dieser Ideologien die verborgene Menschengestalt intendierend. Mit dem vorhandenen Menschenbild deckten sich die Wunsch-, gar die utopischen Gesichtshypostasen ersichtlich nicht: sie waren ebenso unheimlicher wie rätselhaft vertrauter als das jeweils vorhandene Menschenbild, jeweils regierende menschliche Leitbild. Das zugleich Vertraute wie ganz Andere, als Zeichen der religiösen Schicht, von Tiergöttern bis zu einem Machtgott, bis zu einem Heilandsgott, wird als solche Deutungsprojektion des homo absconditus und seiner Welt verständlich. Der Tiergott mischte Wildes, Grauenhaftes, Dumpfes, wie kein Mensch es hat, ins Gesicht. Der Machtgott mit dem charakteristischen Superlativ seines Wesens (nemo potest contra Deum nise Deus ipse)[37] trug die Unheimlichkeit des Unendlichen herbei, den Donnerhimmel ohne Grenzen, ein Tyrannisches, wie wiederum kein Mensch es hat und wie es doch zur vollendeten Übertriebenheit der religiösen Projektion gehört, zu diesem Superlativ, diesem Überbietendem.

Der Heilandsgott letzthin, in Gestalt des Sohns, ist lauter Heimlichkeit, doch so, daß sie erst recht das Überbietende mitführt, nämlich als Furchtvertreibung für alle Getauften, die die Projektion Christi ihrem alten Adam zugefügt haben. Das Überbietende in dieser letzten Gestalt gibt sich der Hoffnung unmittelbar als das Wunderbare, dergestalt, als schmeckte der wirkliche Kern des Inkognitos süß. Daher: „Hoffnung läßt nicht zuschanden werden“ (Röm. 5,5); gar: „Ich halte dafür, daß dieser Zeit Leiden der Herrlichkeit nicht wert sei, die an uns soll offenbart werden.“ (Röm. 8,18); gar: „Das kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört und in keines Menschen Herz gekommen, das hat Gott bereitet denen, die ihn lieben.“ (1 Kor. 2,9). All das sind Anthropologisierungen der Religion, die in wachsender Tiefe ebenso Religionen des unbekannten und aus der Unbekanntheit aufsteigenden Anthropos sind: „Bis daß wir alle hinan kommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohn Gottes und ein vollkommener Mann werden, der sei in den Maßen des vollkommenen Alters Christi“ (Eph. 4,13): Item: Die christliche Hoffnung war, daß alles erlöster Mensch sei, auch einschließlich der verklärten Natur; in der nicht Sonne noch Mond mehr scheint, sondern ihre Leuchte ist das Lamm. Un keine anthropologische Kritik der Religion raubt die Hoffnung, auf die das Christentum aufgetragen ist; sie entzieht dieser Hoffnung einzig das, was sie als Hoffnung aufhöbe und zur abergläubischen Zuversicht machte: die ausgemalte, ausgemachte, die unsinnig irreale, aber als real hypotasierte Mythologie ihrer Erfüllung. Die Kritik bringt die Religionsinhalte auf den menschlichen Wunsch zurück, allerdings auf den größten, gründlichsten, auf den, der auf die Dauer nie unwesentlich wird, indem er nichts anderes ist als die Intention auf das Wesen. Dies Wesen kann vereitelt werden, mythologisch ist die Vereitlung unter der Hölle gedacht, aber seine Nichtvereitlung war mythologisch als Gottwerdung gedacht. Gott erscheint so als hypotasiertes Ideal in seiner Wirklichkeit noch ungewordenen Menschenwesens, er erscheint als utopische Entelechie der Seele.

(…)

Die Gottvorstellung, mit deren transzendenter Irrealität in Vergangenheit und Zukunft Ernst gemacht wird, wird als Ideal lediglich durch seine anthropologische Auflösung erfüllt, allerdings durch eine andere, völlig andere Auflösung als in die bisher, während der menschlichen Vorgeschichte, herausgearbeitete menschliche Existenz. Barth[38] oder die theistische Heteronomie nennt die großen religiösen Bekundungen „Einschlagstrichter“, welche zeigen, daß eine Offenbarung stattgefunden hat. Feuerbach oder die atheistische Autonomie faßt diese Bekundungen, vorab die biblischen, umgekehrt und einzig richtig als Protuberanzen, welche zeigen, daß eine totale Wunschextension des Humanum stattgefunden hat und eine ebensolche Sinnversuchung der Welt. Ja, statt der vielen einzelnen Hoffnungen wurde in den großen Religionen die Hoffnung selbst versucht, welche die vielen einzelnen umfassen und zentrieren sollte. Ganz und gar aber nichts als Ens realissimum[39], und das mit dem Untertanreflex von Proskynesis[40] und Thron. Die Wahrheit des Gottesideals ist einzig die Utopie des Reichs, zu dieser ist gerade Voraussetzung, daß kein Gott in der Höhe bleibt, indem ohnehin keiner dort ist oder jemals war.

(…)

Aber kein Furcht befreiender Atheismus befreite ja von den Wunschinhalten und Hoffnungsschätzen der Religion, außer in seinen kärglichsten und total negativen Gestalt, im Vulgärmaterialismus des 19. Jahrhunderts, der sich durch sein Bildungsphilisterium von dem vollkommenen Verlust dieser Hoffnungsinhalte, also vom Nihilismus, abhielt. Atheismus brachte die transzendenten Schätze vielmehr in die Immanenz (…) Der Atheismus hat nichts weniger geerbt als den gesamten Selbsteinsatz der Stifter ins religiöse Geheimnis, mithin das kräftigste religiöse Positivum (…) Der Atheist, der das unter Gott Gedachte als eine Anweisung zum unerschienenen Menschenbild begriffen hat, ist kein Antichrist.

Zitiert aus Bloch, E.: Das Prinzip Hoffnung, 2. Band, Frankfurt/Main 1959, S. 1522-1524, 1526/1527

Sigmund Freud

Was für die Menschheit im ganzen, so ist für den einzelnen das Leben schwer zu ertragen. Ein Stück Entbehrung legt im die Kultur auf, an der er teilhat, ein Maß Leiden bereiten ihm die anderen Menschen, entweder trotz der Kulturvorschriften oder infolge der Unvollkommenheit dieser Kultur. Dazu kommt, was ihm ständig die unbezwungene Natur – er nennt es Schicksal – an Schädigung zufügt. Ein ständiger ängstlicher Erwartungszustand und eine schwere Kränkung des natürlichen Narzißmus sollte die Folge dieses Zustandes sein. Wie der einzelne gegen die Schädigungen durch die Kultur und des anderen reagiert, wissen wir bereits, er entwickelt ein entsprechendes Maß von Widerstand gegen die Einrichtungen dieser Kultur, von Kulturfeindschaft. Aber wie setzt er sich gegen die Übermächte der Natur, des Schicksals zur Wehr, die ihm wie allen anderen drohen?

Die Kultur nimmt ihm diese Leistung ab, sie besorgt sie für alle in gleicher Weise, es ist auch bemerkenswert, daß so alle Kulturen hierin das gleiche tun. Sie macht nicht etwa halt in der Erledigung ihrer Aufgabe, den Menschen gegen die Natur zu verteidigen, sie setzt sie nur mit anderen Mitteln fort. Die Aufgabe ist hier eine mehrfache, das schwer bedrohte Selbstgefühl des Menschen verlangt nach Trost, der Welt und dem Leben sollen ihre Schrecken genommen werden, nebenbei will auch die Wißbegierde des Menschen, die freilich vom dem stärksten praktischen Interesse angetrieben wird, eine Antwort haben.

Mit dem ersten Schritt ist bereits viel gewonnen. Und dieser ist, die Natur zu vermenschlichen. An die unpersönlichen Kräfte und Schicksale kann man nicht heran, sie bleiben ewig fremd. Aber wenn in den Elementen Leidenschaften toben wie in der eigenen Seele, wenn selbst der Tod nichts Spontanes ist, sondern die Gewalttat eines bösen Willens, wenn man überall in der Natur Wesen um sich hat, wie man sie aus der eigenen Gesellschaft kennt, dann atmet man auf, fühlt sich heimisch im Unheimlichen, kann seine sinnlose Angst psychisch bearbeiten. Man ist vielleicht noch wehrlos, aber nicht mehr hilflos gelähmt, man kann zum mindesten reagieren, ja vielleicht ist man nicht einmal wehrlos, man kann gegen diese gewalttätigen Übermenschen draußen dieselben Mittel in Anwendung bringen, denen man sich in seiner Gesellschaft bedient, kann versuchen, sie zu beschwören, beschwichtigen, bestechen, raubt ihnen durch solche Beeinflussung einen Teil ihrer Macht. Solch ein Ersatz einer Naturwissenschaft durch Psychologie schafft nicht sofortige Erleichterung, er zeigt auch den Weg zu einer weiteren Bewältigung der Situation.

Denn diese Situation ist nichts Neues, sie ist ein infantiles Vorbild, ist eigentlich nur die Fortsetzung des früheren, denn in solcher Hilflosigkeit hatte man sich schon einmal befunden, als kleines Kind dem Elternpaar gegenüber, das man Grund hatte zu fürchten, zumal den Vater, dessen Schutzes man aber auch sicher war gegen die Gefahren, die man damals kannte. So lag es nahe, die beiden Situationen einander anzugleichen. Auch kam wie im Traumleben der Wunsch dabei auf seine Rechnung. Eine Todesahnung befällt den Schlafenden, will ihn in sein Grab versetzen, aber die Traumarbeit weiß die Bedingung auszuwählen, unter der auch dies gefürchtete Ereignis zur Traumerfüllung wird; der Träumer sieht sich selbst in einem alten Etruskergrab, in das er selig über die Befriedigung seiner archäologischen Interessen hinabgestiegen war. Ähnlich macht der Mensch die Naturkräfte nicht einfach zu Menschen, mit denen er wie mit seinesgleichen verkehren kann, das würde auch dem überwältigenden Eindruck nicht gerecht werden, den er von ihnen hat, sondern er gibt ihnen einen Vatercharakter, macht sie zu Göttern, folgt dabei nicht nur einem infantilen, sondern auch wie ich versucht habe zu zeigen, einem phylogenetischen Vorbild.

Mit der Zeit werden die ersten Beobachtungen von Regel- und Gesetzesmäßigkeit an den Naturerscheinungen gemacht, die Naturkräfte verlieren damit ihre menschlichen Züge. Auf die Hilflosigkeit der Menschen bleibt und damit ihre Vatersehnsucht und die Götter. Die Götter behalten ihre dreifache Aufgabe, die Schrecken der Natur zu bannen, mit der Grausamkeit des Schicksals, besonders wie es sich im Tode zeigt, zu versöhnen und für die Leiden und Entbehrungen zu entschädigen, die dem Menschen durch das kulturelle Zusammenleben auferlegt wird.

Aber allmählich verschiebt sich innerhalb dieser Leistungen der Akzent. Man merkt, daß die Naturerscheinungen sich nach inneren Notwendigkeiten von selbst entwickeln; gewiß sind die Götter die Herren der Natur, sie haben sie so eingerichtet und können sie nun sich selbst überlassen. Nur gelegentlich greifen sie in den sogenannten Wundern in ihren Lauf ein, wie um zu versichern, daß sie von ihrer ursprünglichen Machtsphäre nichts aufgegeben haben. Was die Austeilung der Schicksale betrifft, so bleibt eine unbehagliche Ahnung bestehen, daß der Rat- und Hilflosigkeit des Menschengeschlechts nicht abgeholfen werden kann. Hier versagen die Götter am ehesten; wenn sie selbst das Schicksal machen, so muß man ihren Ratschluß unerforschlich heißen; dem begabtesten Volk des Altertums dämmert die Einsicht, daß die Moira über den Göttern steht und daß die Götter selbst ihre Schicksale haben. Und je mehr die Natur selbständig wird, die Götter sich von ihr zurückziehen, desto ernsthafter drängen alle Erwartungen auf die dritte Leistung, die ihnen zugewiesen ist, desto mehr wird das Moralische ihre eigentliche Domäne. Göttliche Aufgabe wird es nun, die Mängel und Schäden der Kultur auszugleichen, die Leiden in acht zu nehmen, die die Menschen im Zusammenleben einander zufügen, über die Ausführung der Kulturvorschriften zu wachen, die die Menschen so schlecht befolgen. Den Kulturvorschriften selbst wird göttlicher Umgang zugesprochen, sie werden über die menschliche Gesellschaft hinausgehoben, auf Natur und Weltgeschehen ausgedehnt.

So wird ein Schatz von Vorstellungen geschaffen, geboren aus dem Bedürfnis, die menschliche Hilflosigkeit erträglich zu machen, erbaut aus dem Material der Erinnerung an die Hilflosigkeit der eigenen und der Kindheit des Menschengeschlechts. Es ist deutlich erkennbar, daß dieser Besitz den Menschen nach zwei Richtungen beschützt, gegen die Gefahren der Natur und des Schicksals und gegen die Schädigungen aus der menschlichen Gesellschaft selbst. Im Zusammenhang lautet es: Das Leben in dieser Welt dient einem höheren Zweck, der zwar nicht leicht zu erraten ist, aber gewiß eine Vervollkommnung des menschlichen Wesens bedeutet. Wahrscheinlich soll das Geistige des Menschen, die Seele, die sich im Lauf der Zeiten so langsam und widerstrebend vom Körper getrennt hat, das Objekt dieser Erhebung und Erhöhung sein. Alles, was in dieser Welt vor sich geht, ist Ausführung der Absichten einer uns überlegenen Intelligenz, die, wenn auch auf schwer zu verfolgenden Wegen und Umwegen, schließlich alles zum Guten, d.h. für uns Erfreulichen lenkt. Über jedem wacht eine gütige, nur scheinbar gestrenge Vorsehung, die nicht zuläßt, daß wir zum Spielball der überstarken und schonungslosen Naturkräfte werden; der Tod selbst ist keine Vernichtung, keine Rückkehr zum anorganischen Leblosen, sondern der Anfang einer neuen Art von Existenz, die auf dem Wege der Höherentwicklung liegt. Und nach der anderen Seite gewendet, dieselben Sittengesetze, die unsere Kulturen aufgestellt haben, beherrschen auch alles Weltgeschehen, nur werden sie von einer höchsten richterlichen Instanz mit ungleich mehr Macht und Konsequenz behütet. Alles Gute findet seinen Lohn, alles Böse seine Strafe, wenn nicht schon in dieser Form des Lebens, so in den späteren Existenzen, die nach dem Tod beginnen. Somit sind alle Schrecken, Leiden und Härten des Lebens zur Austilgung bestimmt; das Leben nach dem Tode, das unser irdisches Leben fortsetzt, wie das unsichtbare Stück des Spektrums dem sichtbaren angefügt ist, bringt all die Vollendung, die wir hier vielleicht vermißt haben. Und die überlegende Weisheit, die diesen Ablauf lenkt, die Allgüte, die sich in ihm äußert, die Gerechtigkeit, die sich in ihm durchsetzt, das sind die Eigenschaften der göttlichen Wesen, die auch uns und die Welt im ganzen geschaffen haben. Oder vielmehr des einen göttlichen Wesens, zu dem sich unserer Kultur alle Götter der Vorzeiten verdichtet haben.

(…)

Die religiösen Vorstellungen, die vorhin zusammengefaßt wurden, haben natürlich eine lange Entwicklung durchgemacht, sind von verschiedenen Kulturen in verschiedenen Phasen festgehalten worden. Ich habe eine einzelne solche Entwicklungsphase herausgegriffen, die etwa der Endgestaltung in unserer heutigen weißen, christlichen Kultur entspricht. Es ist leicht zu bemerken, daß nicht alle Stücke dieses Ganzen gleich gut zueinanderstimmen, daß nicht alle dringenden Fragen beantwortet werden, daß der Widerspruch der täglichen Erfahrung nur mit Mühe abgewiesen werden kann. Aber so wie sie sind, werden diese Vorstellungen – die im weitesten Sinne religiösen – als der kostbarste Besitz der Kultur eingeschätzt, als das Wertvollste, was sie ihren Teilnehmern zu bieten hat, weit höher geschätzt als alle Künste, der Erde ihre Schätze zu entlocken, die Menschheit mit Nahrung zu versorgen oder ihren Krankheiten vorzubeugen.

(…)

In vergangenen Zeiten haben die religiösen Vorstellungen trotz ihres unbestreitbaren Mangels an Beglaubigung den allerstärksten Einfluß auf die Menschheit geübt. Das ist ein neues psychologisches Problem. Man muß fragen, worin besteht die innere Kraft dieser Lehren, welchem Umstand verdanken sie ihre von der vernünftigen Anerkennung unabhängige Wirksamkeit?

Ich meine, wir haben die Antwort auf beide Fragen genügend vorbereitet. Sie ergibt sich, wenn wir die psychische Genese der religiösen Vorstellung ins Auge fassen. Diese, die sich als Lehrsätze ausgeben, sind nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens, es sind Illusionen, Erfüllung der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche. Wir wissen schon, der schreckende Eindruck der kindlichen Hilflosigkeit hat das Bedürfnis nach Schutz – Schutz durch Liebe – erweckt, dem der Vater abgeholfen hat, die Erkenntnis von der Fortdauer dieser Hilflosigkeit durchs ganze Leben hat das Festhalten an die Existenz eines – aber nun mächtigeren Vaters verursacht. Durch das gütige Walten der göttlichen Vorsehung wird die Angst vor den Gefahren des Lebens beschwichtigt, die Einsetzung einer sittlichen Weltordnung versichert die Erfüllung der Gerechtigkeitsforderung, die innerhalb der menschlichen Natur so oft unerfüllt geblieben ist, die Verlängerung der irdischen Existenz durch ein zukünftiges Leben stellt den örtlichen und zeitlichen Rahmen bei, in dem sich diese Wunscherfüllungen vollziehen sollen. Antworten auf Rätselfragen der menschlichen Wißbegierde, wie nach der Entstehung der Welt und der Beziehung zwischen Körperlichem und Seelischem, wurden unter den Voraussetzungen dieses Systems entwickelt; es bedeutet eine großartige Erleichterung für die Einzelpsyche, wenn die nicht ganz überwundenen Konflikte der Kinderzeit aus dem Vaterkomplex ihr abgenommen und einer von allen angenommenen Lösung zugeführt werden.

Wenn ich sage, das alles sind Illusionen, muss ich die Bedeutung des Wortes abgrenzen. Eine Illusion ist nicht dasselbe wie ein Irrtum, sie ist auch nicht notwendig ein Irrtum. Die Meinung des Aristoteles, daß sich Ungeziefer aus Unrat entwickle, an der das unwissende Volk noch heute festhält, war ein Irrtum, ebenso die einer früheren ärztlichen Generation, daß die Tabes dorsalis[41] eine Folge von sexuellen Ausschweifungen sei. Es wäre mißbräuchlich, diese Irrtümer Illusionen zu heißen. Dagegen war es eine Illusion des Kolumbus, daß er einen neuen Seeweg nach Indien entdeckt habe. Der Anteil seines Wunsches an diesem Irrtum ist sehr deutlich. (…) Wir heißen also einen Glauben eine Illusion, wenn sich in seiner Motivierung die Wunscherfüllung vordrängt, und sehen dabei von dem Verhältnis zur Wirklichkeit ab, ebenso wie die Illusion selbst auf ihre Beglaubigungen verzichtet.

Wenden wir uns nach dieser Orientierung wieder zu den religiösen Lehren, so dürfen wir wiederholend sagen: Sie sind sämtlich Illusionen, unbeweisbar, niemand darf dazu gezwungen werden, sie für wahr zu halten, sie zu glauben. Einige von ihnen sind so unwahrscheinlich, so sehr im Widerspruch zu allem, was wir mühselig über die Realität der Welt erfahren haben, daß man sie – mit entsprechender Berücksichtigung der psychologischen Unterschiede – den Wahnideen vergleichen kann. Über den Realitätswert der meisten von ihnen kann man nicht urteilen. So wie sie unbeweisbar sind, sind sie aber auch unwiderlegbar. Man weiß noch zu wenig, um ihnen kritisch näher zu rücken. Die Rätsel der Welt entschleiern sich unserer Forschung nur langsam, die Wissenschaft kann auf viele Fragen heute noch keine Antwort geben. Die wissenschaftliche Arbeit ist aber für uns der einzige Weg, der zur Kenntnis der Realität außer uns führen kann. Es ist wiederum nur Illusion, wenn man von der Intuition und Selbstversenkung etwas erwartet; sie kann uns nichts geben als – schwer deutbare – Aufschlüsse über unser eigenes Seelenleben, niemals Auskunft über die Fragen, deren Beantwortung der religiösen Lehre so leicht wird. Die eigene Willkür in die Lücke eintreten zu lassen und nach persönlichem Ermessen dies oder jenes Stück des religiösen Systems für mehr oder weniger annehmbar zu erklären, wäre frevelhaft. Dafür sind die Fragen zu bedeutungsvoll, man möchte sagen, zu heilig.

Freud, S.: Die Zukunft einer Illusion, 14. Band, 3. Auflage, Frankfurt/Main 1963

Fassen wir das bisher Gesagte kurz zusammen: Der Mensch strebt nach einem Maximum an Lustgewinn, die gesellschaftliche Realität zwingt ihn zu vielen Triebverzichten, und die Gesellschaft versucht, den einzelnen für diese Triebverzichte durch andere, für die Gesellschaft bzw. die herrschende Klasse unschädlicher Befriedigungen zu entschädigen. Diese Befriedigungen sind solche, die sich im wesentlichen in Phantasien vollziehen, und zwar in kollektiven, allen gemeinsamen; wir können sie als gemeinsame Phantasiebefriedigungen bezeichnen. Sie erfüllen eine wichtige Funktion in der gesellschaftlichen Realität. Insoweit diese Realbefriedigungen nicht gestattet, treten die Phantasiebefriedigungen als Ersatz ein und werden zu einer mächtigen Stütze der gesellschaftlichen Stabilität. Je größer die Versagungen sind, die die Menschen in der Realität erleiden, desto stärker muss dafür Sorge getragen werden, daß sie sich durch Phantasiebefriedigungen für die realen Versagungen entschädigen können. Die Phantasiebefriedigungen haben die doppelte Funktion jedes Narkotikums, sie sind schmezlindernd, aber gleichzeitig auch ein Hindernis der aktiven Einwirkung auf die Realität. Die gemeinsamen Phantasiebefriedigungen haben gegenüber den individuellen Tagträumen einen wesentlichen Vorzug darin, daß sie infolge ihrer Gemeinsamkeit für das Bewußtsein wirken wie eine Einsicht von realen Tatsachen. Eine Illusion, die von allen phantasiert wird, wird zur Realität. Die älteste dieser kollektiven Phantasiebefriedigungen ist die Religion. Mit der fortschreitenden Entwicklung der Gesellschaft werden die Phantasien komplizierter und in höherem Maß rational bearbeitet. Die Religion selbst wird differenzierter, neben sie tritt Dichtung, bildende Kunst, Philosophie und Moral als Inhalt der kollektiven Phantasien.

Inhalt und Umfang der Phantasiebefriedigungen werden bestimmt einerseits von der psychischen Konstitution, andererseits von der sozialen Realität. Die soziale Realität ist dadurch charakterisiert, daß sie in der bisherigen Geschichte der Menschheit immer eine Klassenrealität war, d.h., daß sich immer eine herrschende, psychisch die Vaterrolle einnehmende, und eine beherrschte, die Kinderrolle einnehmende Klasse gegenüberstanden.

Albert Camus: Der Mythos von Sisyphus

Der ewige Rebell

Die Götter hatten Sisyphus dafür verurteilt, unablässig einen Felsblock einen Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel der Stein von selbst wieder hinunterrollte. Sie hatten mit einiger Berechnung bedacht, daß es keine fürchterlichere Strafe gibt als eine unnütze und aussichtslose Arbeit.

Wenn man Homer Glauben schenken will, war Sisyphus der weiseste und klügste unter den Sterblichen. Nach einer anderen Überlieferung jedoch betrieb er das Gewerbe eines Straßenräubers. Ich sehe darin keinen Widerspruch. Über die Gründe, weshalb ihm in der Unterwelt das Dasein eines unnützen Arbeiters beschert wurde, gehen die Meinungen auseinander. Vor allem wirft man ihm eine gewisse Leichtfertigkeit im Umgang mit den Göttern vor. Er gab ihre Geheimnisse preis. Egina, die Tochter des Asopos, wurde von Jupiter entführt. Der Vater wunderte sich über ihr Verschwinden und beklagte sich darüber bei Sisyphus. Der wußte von der Entführung und wollte sie Asopos unter der Bedingung verraten, daß er der Burg von Korinth Wasser verschaffte. Den himmlischen Blitzen zog er den Segen des Wassers vor. Homer erzählt uns auch, Sisyphus habe den Tod in Ketten gelegt. Pluto konnte den Anblick seines stillen, verödeten Reiches nicht ertragen. Er verständigte den Kriegsgott, der den Tod aus den Händen seines Überwinders befreite.

Außerdem heißt es, Sisyphus wollte, als er vom Sterben kam, törichterweise die Liebe seiner Frau erproben. Er befahl ihr, seinen Leichnam unbestattet auf den Markt zu werfen. Sisyphus kam in die Unterwelt. Dort wurde er von ihrem Gehorsam, der aller Menschenliebe widersprach, derart aufgebracht, daß er von Pluto die Erlaubnis erwirkte, auf die Erde zurückzukehren und seine Frau zu züchtigen. Als er aber diese Welt noch einmal geschaut, das Wasser und die Sonne, die warmen Steine und das Meer wieder geschmeckt hatte, wollte er nicht mehr ins Schattenreich zurück. Alle Aufforderungen, Zornausbrüche und Warnungen fruchteten nichts. Er lebte noch viele Jahre am Golf, am leuchtenden Meer, auf der lächelnden Erde und mußte erst von den Göttern festgenommen werden. Merkur packte den Vermessenen beim Kragen, entriß ihn seinen Freunden und brachte ihn gewaltsam in die Unterwelt zurück, in der sein Felsblock schon bereitlag.

Kurz und gut: Sisyphus ist der Held des Absurden. Dank seiner Leidenschaften und dank seiner Qual. Seine Verachtung der Götter, sein Haß gegen den Tod und seine Liebe zum Leben haben ihm die unsagbare Marter aufgewogen, bei der sein ganzes Sein sich abmüht und nichts zustande bringt. Damit werden die Leidenschaften dieser Erde bezahlt. Über Sisyphus in der Unterwelt wird uns nichts weiter berichtet. Mythen sind dazu da, von der Phantasie belebt zu werden. So sehen wir nur, wie sein angespannter Körper sich anstrengt, den gewaltigen Stein fortzubewegen, ihn hinaufzuwälzen und mit ihm wieder und wieder einen Abhang zu erklimmen; wir sehen das verzerrte Gesicht, die Wange, die sich an den Stein schmiegt, sehen, wie eine Schulter sich gegen den erdbedeckten Koloß legt, wie sein Fuß ihn stemmt und der Arm die Bewegung aufnimmt, wir erleben die ganze menschliche Selbstsicherheit zweier erdgeschmutzter Hände. Schließlich ist nach dieser langen Anstrengung (gemessen an einem Raum, der keinen Himmel, und an einer Zeit, die keine Tiefe kennt) das Ziel erreicht. Und nun sieht Sisyphus, wie der Stein im Nu in jene Tiefe rollt, aus der er ihn wieder auf den Gipfel wälzen muß. Er geht in die Ebene hinunter.

Auf diesem Rückweg, während dieser Pause, interessierte mich Sisyphus. Ein Gesicht, das sich so nahe am Stein abwürgt, ist bereits selber Stein. Ich sehe, wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schrittes zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewußtseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verläßt und allmählich in die Höhle der Götter entschwindet, ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels.

Dieser Mythos ist tragisch, weil sein Held bewußt ist. Worin bestünde tatsächlich seine Strafe, wenn ihm bei jedem Schritt die Hoffnung auf Erfolg neue Kraft gäbe? Heutzutage arbeitet der Werktätige sein Leben lang unter gleichen Bedingungen, und sein Schicksal ist genauso absurd. Tragisch ist es aber nur in den wenigen Augenblicken, in denen der Arbeiter bewußt wird. Sisyphus, der ohnmächtige und rebellische Prolet der Götter, kennt das ganze Ausmaß seiner unseligen Lage: über sie denkt er bereits während des Abstiegs nach. Das Wissen, das seine eigentliche Qual bewirken sollte, vollendet gleichzeitig seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann.

Fluch und Seligkeit

Wenn sein Abstieg so manchen Tag in den Schmerz führt, so kann er doch auch in der Freude enden. Damit wird nicht zuviel behauptet. Ich sehe wieder Sisyphus vor mir, wie er zu seinem Stein zurückkehrt und der Schmerz von neuem beginnt. Wenn die Bilder der Erde zu sehr im Gedächtnis haften, wenn das Glück zu dringend mahnt, dann steht im Herzen der Menschen die Trauer auf: Das ist ein Sieg des Steins, ist der Stein selber. Die gewaltige Not wird schier unerträglich. Unsere Nächte von Gethsemane sind das. Aber die niederschmetternden Wahrheiten verlieren an Gewicht, sobald sie erkannt werden. So gehorcht Ödipus zunächst unwissentlich dem Schicksal. Erst mit Beginn seines Wissens hebt die Tragödie an. Gleichzeitig aber erkennt er in seiner Blindheit und Verzweiflung, daß ihn nur noch die kühle Hand eines jungen Mädchens mit der Welt verbindet. Und nun fällt ein maßloses Wort: „Allen Prüfungen zum Trotz – mein vorgerücktes Alter und die Größe meiner Seele sagen mir, daß alles gut ist.“ So formuliert der Ödipus des Sophokles den Sieg des Absurden. Antike Weisheit verbindet sich mit modernem Heroismus.

Man entdeckt das Absurde nicht, ohne in die Versuchung zu geraten, irgendein Handbuch des Glücks zu schreiben. „Was! Auf so schmalen Wegen…?“ Es gibt aber nur eine Welt. Glück und Absurdität entstammen ein und derselben Erde. Sie sind untrennbar miteinander verbunden. Irrtum wäre es, wolle man behaupten, daß das Glück zwangsläufig der Entdeckung des Absurden entspringe. Wohl kommt es vor, daß das Gefühl des Absurden dem Glück entspringt. „Ich finde, daß alles gut ist“, sagt Ödipus, und dieses Wort ist heilig. Es wird in dem grausamen und begrenztem Universum des Menschen laut. Es lehrt, daß noch nicht alles erschöpft ist, daß noch nicht alles ausgeschöpft wurde. Es vertreibt aus dieser Welt einen Gott, der mit dem Unbehagenn und mit der Vorliebe für nutzlose Schmerzen in sie eingedrungen war. Es macht aus einem Schicksal eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muß.

Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphus. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. Ebenso läßt der absurde Mensch, wenn er seine Qual bedenkt, alle Götzenbilder schweigen. Im Universum, das plötzlich wieder seinem Schweigen anheimgegeben ist, werden die tausend kleinen, höchst verwunderten Stimmen der Erde laut. Unbewußte, heimliche Rufe, Aufforderungen aller Gesichter bilden die unerläßliche Kehrseite und den Preis des Sieges. Ohne Schatten gibt es kein Licht, man muß auch die Nacht kennenlernen. Der absurde Mensch sagt ja, und seine Mühsal hat kein Ende mehr. Wenn es ein persönliches Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal oder zumindest nur eines, das er unheilvoll und verächtlich findet. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Zeit. Gerade in diesem Augenblick, in dem der Mensch sich wieder seinem Leiden zuwendet (ein Sisyphus, der zu seinem Stein zurückkehrt), bei dieser leichten Drehung betrachtet er die Reihe unzusammenhängender Taten, die sein Schicksal werden, seine ureigene Schöpfung, die in seiner Erinnerung geeint ist und durch den Tod alsbald gesiegelt wird. Überzeugt von dem rein menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ist er also immer unterwegs – ein Blinder, der sehen möchte und weiß, daß die Nacht kein Ende hat. Der Stein rollt wieder.

Ich verlasse Sisyphus am Fuße des Berges! Seine Last findet man immer wieder. Nur lehrt Sisyphus uns die größere Treue, die die Götter leugnet und die Steine wälzt. Auch er findet, daß alles gut ist. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm wieder unfruchtbar noch wertlos vor. Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigen Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Jean-Paul Sartre

Atheismus als Voraussetzung für Freiheit und Humanismus

Verwickelt werden die Dinge dadurch, daß es zwei Arten von Existentialisten gibt: die ersten, welche Christen sind, unter die ich Jaspers und Gabriel Marcel einreihen würde; und auf der anderen Seite die atheistischen Existentialisten, zu denen Heidegger und auch die französischen Existentialisten und ich selber zu stellen sind. Gemeinsam haben sie die Überzeugung, daß die Existenz der Essenz vorangehe oder, wenn sie wollen, daß man von der Ichheit ausgehen muß. Was soll man genauer darunter verstehen? Betrachten wir ein Artefakt, z.B. ein Buch oder ein Papiermesser, so ist dieser Gegenstand von einem Handwerker angefertigt worden, der sich von einem Begriff hat anregen lassen; er hat sich auf den Begriff Papiermesser bezogen und zugleich auf eine vorher bestehende Technik der Erzeugung, welche zu dem Begriff gehört und im Grunde ein Rezept ist. Somit ist das Papiermesser zugleich ein Gegenstand, der auf eine bestimmte Art hergestellt wird und andererseits eine bestimmte Verwendung hat; und man kann sich nicht einen Menschen vorstellen, der ein Papiermesser anfertigte, ohne es zu wissen, wozu dieser Gegenstand dienen soll. Wir werden also sagen, daß in Bezug auf das Papiermesser die Essenz – d.h.die Summe der Rezepte und Eigenschaften, die erlauben, es anzufertigen und es zu bestimmen – die Existenz vorangeht, und so ist die Anwesenheit mir gegenüber solch eines Papiermessers oder solch eines Buches determiniert. Wir haben also hier ein technisches Bild der Welt, in der, kann man sagen, die Erzeugung der Existenz vorangeht.

Wenn wir einen Schöpfer-Gott annehmen, so wird dieser Gott meistens einem höherstehenden Handwerker angeglichen; und was eine theologische Lehre wir auch betrachten, ob es sich um eine Lehre wie die von Descartes oder von Leibniz handelt, wir räumen immer ein, daß der Wille mehr oder weniger dem Verstand folgt oder ihn wenigstens begleitet und daß Gott, wenn er schafft, genau weiß, was er schafft.

Demnach ist der Begriff Mensch im Geiste Gottes dem Begriff Papiermesser im Geiste des Handwerkers anzugleichen, und Gott erzeugt den Menschen nach Techniken und einem Begriff, genau wie der Handwerker ein Papiermesser nach einer Definition und einer Technik anfertigt. So verwirklicht der individuelle Mensch einen bestimmten Begriff, der im göttlichen Verstande ist. Im 18. Jahrhundert wird in den atheistischen Lehren der Philosophen der Begriff Gottes abgeschafft, aber nicht ebensosehr die Idee, daß die Essenz der Existenz vorangehe.

Diese Idee finden wir sozusagen überall wieder: wir finden sie bei Diderot, bei Voltaire und selbst bei Kant wieder. Der Mensch ist Eigentümer einer menschlichen Natur, welche den Begriff des Menschen ist, findet sich bei allen Menschen wieder. Dies bedeutet, daß jeder Mensch ein besonderes Beispiel eines allgemeinen Begriffs „Der Mensch“ ist. Bei Kant geht aus dieser Allgemeinheit hervor, daß sowohl der Urwaldmensch, der Naturmensch wie der Bürger derselben Begriffsbestimmung unterworfen ist und dieselben Grundeigenschaften besitzt. Somit geht auch hier die Essenz des Menschen der geschichtlichen Existenz voraus, der wir in der Natur begegnen.

Der atheistische Existentialismus, für den ich stehe, ist zusammenhängender. Er erklärt, daß, wenn Gott nicht existiert, es mindestens ein Wesen gibt, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und daß dieses Wesen der Mensch oder, wie Heidegger sagt, die menschliche Wirklichkeit ist. Was bedeutet hier, daß die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, daß der Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und sich danach definiert.

Wenn der Mensch so, wie ihn der Existentialist begreift, nicht definierbar ist, so darum, weil er anfangs überhaupt nichts ist. Er wird erst in der weiteren Folge sein, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird. Also gibt es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, um sie zu entwerfen. Der Mensch ist lediglich so, wie er sich konzipiert – ja nicht allein so, sondern wie er sich will und wie er sich nach der Existenz konzipiert, wie er sich will nach diesem Sichschwingen auf die Existenz hin; der Mensch ist nichts anderes, als wozu er sich macht. Das ist der erste Grundsatz des Existentialismus.

(…)

Aber wenn wirklich die Existenz der Essenz vorausgeht, so ist der Mensch verantwortlich für das, was er ist. Somit ist der erste Schritt des Existentialismus, jeden Menschen in Besitz dessen, was er ist, zu bringen und auf ihm die gänzliche Verantwortung für seine Existenz ruhen zu lassen. Und wenn wir sagen, daß der Mensch für sich selber verantwortlich ist, so wollen wir nicht sagen, daß der Mensch gerade eben nur für seine Individualität verantwortlich ist, sondern daß er verantwortlich ist für alle Menschen (…). Aber damit wollen wir ebenfalls sagen, daß, indem er sich selbst wählt, er alle Menschen wählt. Tatsächlich gibt es nicht eine unserer Handlungen, die, indem sie den Menschen schafft, der wir sein wollen, nicht gleichzeitig ein Bild des Menschen schafft, so wie wir meinen, daß er sein soll. Wählen, dies oder jenes zu sein, heißt gleichzeitig, den Wert dessen, was wir wählen, bejahen, denn wir können nie das Schlechte wählen. Was wir wählen, ist immer das Gute, und nichts kann für uns gut sein, wenn es nicht gut für alle ist.

(…)

Der Mensch, der sich bindet und der sich Rechenschaft gibt, daß er nicht nur der ist, den er wählt, sondern außerdem ein Gesetzgeber, der gleichzeitig mit sich die ganze Menschheit wählt, kann dem Gefühl seiner vollen und tiefen Verantwortung schwerlich entrinnen.

(…)

Alles geschieht so, wie wenn die ganze Menschheit in Bezug auf jeden Menschen die Augen darauf gerichtet hätte, was er tut, und sich, was er tut, zur Regel nehmen würde. Und jeder Mensch muß sich sagen: Bin ich wirklich der, welcher das Recht hat, auf solche Weise zu handeln, daß die Menschheit sich meine Taten zur Regel nimmt?

(…)

Als gegen 1880 französische Professoren eine weltliche Moral aufzustellen versuchten, sagten sie ungefähr folgendes: Gott ist eine unnütze und kostspielige Hypothese; wir unterdrücken sie; jedoch ist trotzdem notwendig – damit es eine Sittlichkeit, eine Gesellschaft und eine bürgerlich geordnete Welt überhaupt gebe -, daß einige Werte ernst genommen und als a priori bestehend angesehen werden. Es muß a priori pflichtmäßig sein, daß man ehrenhaft ist, daß man nicht lügt, daß man seine Frau nicht schlägt, daß man Kinder in die Welt setzt usw. (…), wir werden also eine kleine Arbeit unternehmen, die erlauben wird zu zeigen, daß diese Werte trotz allem bestehen, daß sie in einem intelligiblen Himmel verzeichnet sind, wenn andererseits es auch keinen Gott gibt. Mit anderen Worten (und dies, glaube ich, ist die Gedankenrichtung von allem, was man in Frankreich Radikalismus nennt) nichts wird geändert sein, wenn Gott nicht existiert; wir werden dieselben Richtsätze von Ehrenhaftigkeit, von Fortschritt, von Menschlichkeit wiederfinden, und wir werden aus Gott eine verjährte Hypothese gemacht haben, die ruhig und von selber sterben wird.

Der Existentialist denkt im Gegenteil, es sei sehr störend, daß Gott nicht existiert, denn mit ihm verschwindet alle Möglichkeit, Werte in einem intelligiblen Himmel zu finden; es kann nichts a priori Gutes mehr geben, da es kein unendliches und vollkommenes Bewußtsein mehr gibt, um es zu denken. Nirgends steht geschrieben, daß das Gute existiert, daß man ehrenhaft sein soll, daß man nicht lügen soll; genau aus dem Grunde, weil wir auf einer Ebene uns befinden, wo es nur Menschen gibt. Dostojewski hatte geschrieben: „Wenn Gott nicht existiert, so wäre alles erlaubt.“ Das ist der Ausgangspunkt des Existentialismus. In der Tat, alles ist erlaubt, wenn Gott nicht existiert, und demzufolge ist der Mensch verlassen, da er weder in sich noch außerhalb seiner eine Möglichkeit findet, sich anzuklammern. Vor allem findet er keine Entschuldigungen. Geht tatsächlich die Existenz der Essenz voraus, so kann man nie durch Bezugnahme auf eine gegebene und feststehende menschliche Natur Erklärungen geben; anders gesagt, es gibt keine Vorausbestimmung mehr, der Mensch ist frei, der Mensch ist Freiheit.

Wenn wiederum Gott nicht existiert, so finden wir uns keinen Werten, keinen Geboten gegenüber, die unser Betragen rechtfertigen. So haben wir weder hinter uns noch vor uns, im Lichtreich der Werte, Rechtfertigungen oder Entschuldigungen. Wir sind allein, ohne Entschuldigungen. Das ist es, was ich durch die Worte ausdrücken will: Der Mensch ist verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, anderweit aber dennoch frei, da er, einmal in die Welt geworfen, für alles verantwortlich ist, was er tut. Der Existentialist glaubt nicht an die Macht der Leidenschaft. Er wird nie denken, daß eine schöne Leidenschaft ein verwüstender Wildbach ist, der den Menschen unvermeidlich zu gewissen Taten führt und der deshalb eine Entschuldigung ist. Er denkt, der Mensch sei für seine Leidenschaft verantwortlich (…). Er denkt also, daß der Mensch ohne irgendeine Stütze und ohne irgendeine Hilfe in jenem Augenblick verurteilt ist, den Menschen zu erfinden.

(…)

Der Existentialismus ist nichts anderes als eine Bemühung, alle Folgerungen aus einer zusammenhängenden atheistischen Erziehung zu ziehen. Er versucht keineswegs, den Menschen in Verzweiflung zu stürzen. Aber wenn man, wie die Christen, jede Handlung des Unglaubens Verzweiflung nennt, so geht der Existentialismus von der Urverzweiflung aus. Der Existentialismus ist mithin nicht ein Atheismus im Sinne, daß er sich erschöpfen würde im Beweis, Gott existiere nicht. Eher erklärt er: Selbst wenn es einen Gott gäbe, würde das nichts ändern; das ist unser Standpunkt. Nicht, ob wir glaubten, daß Gott existiert, aber wir denken, daß die Frage nicht die seiner Existenz ist. Der Mensch muß sich selber wieder finden und sich überzeugen, daß ihn nichts vor ihm selber retten kann, wäre es auch ein gültiger Beweis der Existenz Gottes. In diesem Sinne ist der Existentialismus ein Optimismus, eine Lehre der Tat, und nur aus Böswilligkeit können die Christen, ihre eigene Verzweiflung mit der unseren verwechselnd, uns zu Verzweifelten stempeln.

J.P. Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus? Zürich 1947, S. 10-19, 21, 23-26, 66f

Bertrand Russell: Angst als Grundlage der Religion

Die Religion stützt sich vor allem und hauptsächlich auf die Angst. Teils ist es die Angst vor dem Unbekannten und teils, wie ich schon sagte, der Wunsch zu fühlen, daß man eine Art großen Bruder hat, der einem in allen Schwierigkeiten und Kämpfen beisteht. Angst ist die Grundlage des Ganzen – Angst vor dem Geheimnisvollen, Angst vor Niederlagen, Angst vor dem Tod. Die Angst ist die Mutter der Grausamkeit, und es ist deshalb kein Wunder, daß Grausamkeit und Religion Hand in Hand gehen, weil beide aus der Angst entspringen. Wir beginnen nun langsam, die Welt zu verstehen und sie zu meistern mit Hilfe einer Wissenschaft, die sich gewaltsam Schritt für Schritt ihren Weg gegen die christliche Religion, gegen die Kirchen und im Widerspruch zu den überlieferten Geboten erkämpft hat. Die Wissenschaft kann uns helfen, die feige Furcht zu überwinden, in der die Menschheit schon seit so vielen Generationen lebt. Die Wissenschaft, und ich glaube auch unser eigenes Herz, kann uns lehren, nicht mehr nach einer eingebildeten Hilfe zu suchen und Verbündete im Himmel zu ersinnen, sondern vielmehr hier unten unsere eigenen Anstrengungen darauf zu richten, die Welt zu einem Ort zu machen, der es wert ist, darin zu leben, was die Kirchen in all den Jahrhunderten daraus gemacht haben.

B. Russell, Warum ich kein Christ bin, München 1963, S. 35

Max Bense

Warum man Atheist sein muß/Szczesny, G. (Hrsg.): Club Voltaire I. Jahrbuch für geistige Aufklärung, 2. Auflage, München 1964, S. 67-71

Max Bense wurde am 7.2.1910 in Straßburg geboren. Nachdem französische Truppen im November 1918 die Stadt besetzten, floh die Familie Bense nach Nordgermersleben bei Magdeburg, wo sein Vater ursprünglich herstammte. Nach dem Abitur studierte Bense in Köln und Bonn Mathematik, Physik, Geologie, Mineralogie und Philosophie. Anschließend promovierte er im Dezember 1937 an der Bonner Universität mit der Arbeit „Quantenmechanik und Daseinsrelativität“. Im 2. Weltkrieg arbeitete Bense zunächst als Meteorologe, dann als Medizintechniker in Berlin und Georgenthal. Nach dem Ende des 1. Weltkrieges wurde er von der sowjetischen Besatzungsmacht zum Kanzler der Universität Jena berufen. 1946 habilitierte er sich mit der Abhandlung „Konturen einer Geistesgeschichte in der Mathematik. Die Mathematik in den Wissenschaften.“ Als er zu Problemen mit der sowjetischen Verwaltung kam, emigrierte er mit seiner Familie im Sommer 1948 in den Westen. Bense lehrte ab dem Sommersemester 1949 an der Technischen Hochschule Stuttgart als Professor. Im Jahre 1978 wurde er emeritiert und lebte bis zu seinem Tod im April 1990 in Stuttgart.

Bense vertrat eine Auffassung von Rationalität, die als existentieller Rationalismus die Trennung zwischen geistes- und naturwissenschaftlichem Denken aufheben wollte. Er ging von einem Zusammenhang eines mathematischen und eines sprachlichen Bewusstseins aus, die gemeinsam entstanden waren und sich im Laufe der Zeit zu einander ergänzen Denkformen entwickelt haben. Bense entwickelte einen synthetischen Bildungsbegriff, in dem sich der klassische Humanismus und die moderne Technologie ergänzen. Aus dieser wissenschaftstheoretischen Auffassung erhoffte er sich fortschrittliche Erkenntnisse, die immer ethisch und moralisch zu hinterfragen sind. Sein Denken war geprägt von einem technisierten Verständnis im Sinne der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Er lehnte deshalb jedes metaphysische Denken über einen wie auch immer definierten Gott ab. Alle Sätze über Gott waren für Bense nichtssagende Scheinsätze, in denen einem unbestimmten Objekt („Gott“) jeweils beliebige unbestimmte Prädikate („ist allmächtig“ oder „ist transzendent“) zugesprochen werden.

Ich verteidige also den Atheismus als die notwendige und selbstverständliche Form menschlicher Intelligenz als menschlichen Sinn der geistigen Arbeit unter der Voraussetzung, daß der Mensch wesentlich Schöpfer seiner erweiterungsfähigen geistigen Welt und Realität ist. (…) Doch sind dabei vorab zwei inhaltliche Modifikationen zu unterscheiden.

Zunächst ist unter Atheismus jede Form einer philosophisch stringenten Beschreibbarkeit und Begreifbarkeit der Welt als Inbegriff alles Seienden zu verstehen, die keinen Bezug nimmt auf ein metaphysisch postuliertes, Denkbarkeit und Erfahrbarkeit übersteigendes höheres Wesen, von dem diese Welt in einer formulierbaren Weise abhängen soll (kosmologischer Atheismus). Alsdann ist Atheismus jede Form des Selbstverständnisses des Menschen als bewußten denkenden und schöpferischen Wesens ebenfalls ohne Bezugnahme auf ein transzendentes produktives anderes Sein (existentieller Atheismus). Wir unterscheiden also damit zwischen atheistischem Weltverständnis und atheistischem Selbstverständnis. Zur Erläuterung und Rechtfertigung können rationale und existentielle Gründe angeführt werden.

Was die rationalen Gründe anbetrifft, so sind im Namen der fundierenden Rolle der Philosophie, in deren Zusammenhang sie gesehen werden müssen, insbesondere von seiten der neuen Wissenschaftstheorie und Logik (Peirce, Russel, Wittgenstein, Schlick, Carnap, Stegmüller u.a.) zahlreiche Argumente beigebracht worden, die jedem vermeintlichen Satz über Gott einen faßbaren, evidenten oder konstruierten Sinn absprechen. Es läßt sich zeigen, daß Aussagen über Gott von der Art „Gott ist das höchste Wesen“ oder „Gott ist transzendent“ nicht das Geringste mehr aussagen als etwa „X ist pektabel“. In einer solchen Aussage wird von einem unbestimmten Etwas (X) ein unbestimmtes Prädikat (ist pektabel) ausgesagt. Diese sprachliche Formulierung ist kein Satz, sondern ein Scheinsatz. Wir kennen weder das Subjekt (X) noch das Prädikat (ist pektabel). Sätze über Gott sind leicht als derartige Scheinsätze zu entlarven. Sie sind dementsprechend auch weder wahr noch falsch. Und weder denkend noch entlarvend ist uns etwas gegeben, was sinngemäß, also als transzendente Etwase, an die Stelle des unbekannten Subjekts oder an die Stelle des unbekannten Prädikats eingesetzt werden kann, damit eine verstehbare, sinnvolle Formulierung entsteht. Selbst wenn man nun diesen Schwierigkeiten dadurch entgehen wollte, daß man die hypostasierten Ausdrücke „Gott“, „Allmächtigkeit“ und dergleichen als bloße „Interpretationen“ gewisser menschlicher Grundgefühle, Situationen oder Erfahrungen erklärt (Todesangst, Weltekel), bleibt doch die merkwürdige Tatsache bestehen, daß wir also offenbar gezwungen sind, unsere Grundgefühle, Situationen und Erfahrungen, um sie zu verstehen oder loszuwerden, in eine Scheinwelt, in eine Leere zu projizieren. Sicherlich können uns emotionale Bewegungen, die ja niemals scharf genug unterscheiden, über diese Verwicklungen und Unstimmigkeiten hinwegtäuschen, doch ebenso sicher ist, daß das denkende Wesen in keinem Augenblick von ihnen absehen kann, ohne seine Wesentlichkeit zu verlieren.

Es ist möglich einzuwenden, daß das Denken grundsätzlich nicht kritische Instanz religiöser Vorstellungen sein kann, daß „Gott“, „Allmächtigkeit“, „ewiges Wesen“ usw. keine Argumente der logischen Konstruktion der Sätze, keine Gegenstände wissenschaftlicher Untersuchungen sein dürfen. Man zieht sich jedoch mit diesem Einwand aus den Möglichkeiten des Denkens auf die Möglichkeiten des Glaubens zurück. Denken und Glauben geraten dabei in ein gegensätzliches Verhältnis, daß man so wiedergeben könnte, daß man sagt: Denken ist (im Prinzip) Wissen, wovon die Rede ist, und Glauben ist (im Prinzip) Nichtwissen, wovon die Rede ist. Das würde zur Folge haben, daß man nicht im gleichen Sinne sagen kann „ich glaube an (…)“, wie man „ich denke an (…)“ formuliert. Während Denken in jenem Falle nur Denken ist, wenn es Denken „an etwas“ ist, könnte Glauben nur dann Glauben sein, daß es kein Objekt des Glaubens gibt, daß Glauben kein Objekt hat und daß die Objektlosigkeit des Glaubens eine Folge der Aufhebung des Denkens durch den Glauben ist. Dem Objektbezug des Denkens entspricht ein Objektentzug im Glauben, der durch das Denken nur bestätigt werden kann. Allerdings, und das ist hervorzuheben, weil gewisse Versuche Kiekegaards oder Kardinal Newmans, Gott aus der gläubigen Subjektivität zu konstituieren, aus diesem Argument Nutzen ziehen, verweist andererseits jeder Glauben, wenn auch nicht auf ein Objekt, stärker als Denken auf ein Subjekt. Dem Objektbezug des Denkens korrespondiert offenbar ein Subjektbezug des Glaubens, der sicherlich in dem Maße die gläubige Subjektivität hervortreten läßt, als gerade das Objekt in ihm verschwindet.

Fasse ich jetzt die rationalen Gründe des Atheismus zusammen, so darf ich sagen, daß es sich in ihm keineswegs darum handelt, die Nichtexistenz eines höchsten Gottes zu behaupten und Sätze über Gott als falsch zu erweisen; logisch sind vielmehr verneinende Aussagen über Gott genauso sinnlos wie bejahende, und die Formulierung seiner Nichtexistenz ist genauso leer wie die Formulierung seiner Existenz. Das denkende Wesen ist in seiner konsequenten Rationalität nur dann im vollen Umfange atheistisch, wenn es die Idee Gottes und alle Sätze über sie suspendiert. Vom Standpunkt menschlicher Rationalität, sagte ich, und die Anwendung dieser Rationalität auf den Glauben als Gegenprinzip des Denkens wirft, wie wir sahen, auf die denkende und glaubende Subjektivität zurück, setzt also menschliche Existenz.

Damit treten die existentiellen Argumente des Atheismus hervor. Ich wiederhole, daß die Objektlosigkeit des Glaubens, die auf die subjektive Existenz des Gläubigen und nur auf sie zurückwirft, eine Folge der Tatsache ist, daß der Glaube sich denkend in Scheinsätzen, in Leerformeln bewegt. Das bedeutet aber ein Außerkraftsetzen der wesentlichen Funktionen des menschlichen Geistes. Das denkende Wesen setzt sich einer Begrenzung, einer Limitation seiner Fähigkeiten aus, deren Gründe unaussprechlich und dunkel bleiben. Das Denken gibt dem Glauben kein Objekt, aber es ist evident das entscheidende Prinzip unseres Geistes, und an keiner Stelle seines Prozesses tritt das Verbot auf, das uns veranlassen könnte, die Fortsetzbarkeit des Denkens aus freien Stücken aufzugeben, die Kriterien der Wahrheit und Unwahrheit plötzlich außer Kraft zu setzen, um eine Scheinwelt, eine Leere in uns eintreten zu lassen. Die rationale Situation unseres Geistes wird zu einer zugespitzten existentiellen: entweder man entschließt sich zur im Prinzip möglichen Fortsetzbarkeit des Denkens, dann verschwindet das religiös hypostasierte Reich der Transzendenz, oder man entschließt sich, das Denken abzubrechen und den Glauben zuzulassen, dann verschwindet das denkende Wesen als ein Prinzip der Welt, wie die gesamte Weltobjektivität hinter die gläubige Spekulation zurücktritt.

Einer solchen zugespitzten Situation geistiger Existenz, die selbstverständlich nur für diejenigen gegeben ist, die sich nur auf zwei Weisen entgehen: entweder man bleibt prinzipiell unterhalb dieser Niveaufläche, oder man entscheidet sich für oder gegen die prinzipielle Fortsetzbarkeit des Denkens. Im ersten Falle streift man die Gedankenlosigkeit, und im zweiten Falle ist man entweder in der „Nachfolge“ oder Atheist.

(…)

Es gibt heute von seiten der anthropologischen Wissenschaften genügend Argumente für die Auffassung, daß die sichtbare biologische Hinfälligkeit der menschlichen Natur nur durch jenen Schritt in die Zivilisation bewältigt werden konnte, die als Zwang zur Technik, zur künstlichen Realität erkennbar wird. Die existentielle Kategorie der Sekurität, die in der naturhinfälligen vitalen Situation des Menschen gründet und die jeden Vorgang der technischen Zivilisation begleitet, findet ihr Korrelat in der rationalen Kategorie der Präzision, ohne die technische Gebilde nicht installiert werden können. Auf der Herausarbeitung der existentiellen Kategorie der Sekurität und der rationalen Kategorie der Präzision beruht offensichtlich der Gesamtprozeß der technischen Entwicklung und die historisch mit ihr verbundene Humanisierung. Es handelt sich um nicht umkehrbare Vorgänge, und jede Beschädigung, jede nachlassende Kraft menschlicher Intelligenz, jener individuell oder gesellschaftlich eingeführte oder wirksame Irrationalismus der Selbstunterbrechung des Denkens kann sich nicht anders als verhängnisvoll auswirken. Im Hinblick auf die Unabgeschlossenheit der menschlichen Zivilisation, der Zerbrechlichkeit und Verschwommenheit unserer Vorstellung von Humanität, die noch immer wieder einmal geschichtlich und politisch in Erscheinung treten, ist das Eindringen methodischer Rationalität in alle provinziellen Irrationalismen des menschlichen Geistes von tiefer Notwendigkeit. Es scheint mir allerdings unverkennbar zu sein, daß im Rahmen der intellektuellen Entwicklung der Menschheit der Glaube und seine Substrate immer weniger wesentlich werden und sich immer deutlicher aus der wirklichen, historischen Welt zurückziehen, so daß es schließlich derer, die sich dazu nicht entschließen können, an intime und transzendente Vorstellungen die analytischen und kritischen Maßstäbe rationaler Intelligenz nicht anzulegen, und die ein Stein des Anstoßes sind, auch nicht mehr bedarf.

Joachim Kahl, der 1941 in Köln geboren wurde, absolvierte ein Studium der evangelischen Theologie. Schon während seiner erfolgreich bestandenen Dissertation über die Philosophie und Christologie im Denken Friedrich Gogartens 1967 entwickelte er sich in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der christlichen Lehre zum Atheisten. Den Wandel seines Denkens begründete er ein Jahr später in seinem Buch „Das Elend des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott“. Daraufhin studierte Kahl an der Universität Frankfurt/Main Philosophie, Soziologie und Politik, wobei er sich besonders mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule auseinandersetzte, was aus ihn einen überzeugten Marxisten machte. Kahl wechselte nach Marburg und promovierte dort über die Weltanschauungskritik Ernst Topitschs. Neben seiner Tätigkeit als Lehrbeauftragter an der Marburger Universität war er jahrelang Sprecher des „Marburger Komitees gegen Berufsverbote“ und des „Hessischen Komitees gegen Berufsverbote“ und engagierte sich gegen den „Radikalenerlass“. Zwischen 1982 und 1990 arbeitete er als Bildungsreferent des Bundes für Geistesfreiheit Nürnberg, der in der Tradition Ludwig Feuerbachs stand.

Kahl gilt als Vertreter eines klassischen Atheismus mit Bezug auf die europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Seiner Ansicht nach kommt die Philosophie ohne einen Schöpfergott aus. Als absolute Konstante in der Welt existiere lediglich die Natur, christliche Glaubensbekenntnisse bezeichnet er als „autosuggestives Wunschdenken“ und „frommen Selbstbetrug“. Kahl plädiert nach seiner Abkehr vom Marxismus für einen weltlichen Humanismus, der den Menschen in den Mittelpunkt des Denkens stellt.

Die Aussagen Kahls stehen stellvertretend für zahllose Abhandlungen, die sich mit dem Theodizeeproblem auseinandersetzen. Theodizee bedeutet die Rechtfertigung Gottes. Es geht um die Frage, wie sich das Leiden in der Welt erklären lässt vor dem Hintergrund, dass Gott sowohl die Allmacht als auch die Güte besitzen müsste, um das Leiden der Menschen zu verhindern. Der Begriff Theodizee geht auf den Philosophen Gottfried Wilhelm Leipniz zurück. Die Fragestellung selbst findet sich schon in antiken Kulturen wie China, Indien, Iran, Sumer, Babylonien, Ägypten und Israel. Die Frage nach der Rechtfertigung Gottes stellte sich besonders nach der Shoa und den Schrecken des 2. Weltkrieges. Aus atheistischer Sicht lautet die Schlussfolgerung, dass die Existenz eines Gottes abgestritten wird.

www.ibka.org/artikel/ag98/atheismus.html 

Joachim Kahl: Die Antwort des Atheismus

Es ist eine unwissende Verkürzung, Religionskritik und Atheismus erst mit der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert beginnen zu lassen. Der kritische Denkimpuls, der – staunend und zweifelnd – zur Philosophie führte, relativierte die Opfer und Orakel der Priester, die Sprüche und Ansprüche der Propheten. Seither ist die geistige Kultur geprägt von einer Rivalität zwischen Wissen und Glauben, Vernunft und Offenbarung, Philosophie und Theologie, Weltweisheit und Gottesfurcht.

(…)

Atheismus ist Gottesleugnung und klar zu unterscheiden von Gotteslästerung, Antitheismus, Neuheidentum und Agnostizismus: Gotteslästerung oder Blasphemie, fast so alt wie der Gottesglaube selbst, ist eine unreflektierte, emotionale Form der Religionskritik. Ein Gotteslästerer bleibt religiös fixiert. Statt Gott zu lieben, verflucht er ihn, weil er sich von seinen Hoffnungen enttäuscht sieht. Der Atheismus hingegen ist – jenseits von Gotteslob und Gotteslästerung – eine entwickeltere Form der Religionskritik.

(…)

Der hier entwickelte undogmatische Atheismus beansprucht, den Gottesglauben von innen heraus aufzulösen, ihn an seinen inneren Widersprüchen und Ungereimtheiten scheitern zu lassen. Damit wird die religionskritische Schlüsselaufgabe bewältigt, weil im Gottesbegriff alle weiteren Glaubensinhalte letztlich verankert sind.

Die beiden Säulen des Atheismus lauten:

  1. Es gibt keinen Gott, der die Welt erschaffen hat. Die Welt ist keine Schöpfung, sondern unerschaffen unerschaffbar, unzerstörbar, kurz: ewig und unendlich. Sie entwickelt sich unaufhörlich gemäß den ihr innewohnenden Gesetzmäßigkeiten, in denen sich Notwendiges und Zufälliges verschränken.
  2. Es gibt keinen göttlichen Erlöser. Die Welt ist unerlösbar, voller Webfehler und struktureller Unstimmigkeiten, die aus der Bewußtlosigkeit ihrer Gesätzmäßigkeiten herrühren.

Für eine atheistische Weltweisheit und Lebenskunst ergibt sich aus diesen Einsichten die Schlußfolgerung: Der Mensch ist nicht das Ebenbild einer überweltlichen und übernatürlichen Gottheit, sondern ein vorbildloses Geschöpf der Natur, all ihren Gesetzen unterworfen. In einer Welt, die nicht für ihn gemacht wurde, muß er sich seinen Weg selbst bahnen und lernen, allem verderblichen Allmachts- und Unsterblichkeitswahn zu entsagen. Atheismus ist der Abschied von jeglicher Heilslehre und Heilshoffnung, freilich auch von jeglicher Unheilslehre und Untergangspropheterie, mögen sich sie sich auf ein illusionäres Jenseits oder auf das Diesseits beziehen. Menschliches Leben heißt: sich für eine kurze Zeitspanne erträglich einrichten auf einem Staubkorn im Weltall – mit Würde und Anstand und Humor. Vielleicht gelingt es doch noch den Erdball bewohnbar zu gestalten!? Die gesellschaftlichen Verhältnisse lassen sich jedenfalls schrittweise verbessern. Universale Gerechtigkeit und die Versöhnung von Mensch und Natur bleiben allerdings unerreichbar. Himmel und Hölle, Paradies und Verdammnis sind religiöse Trugbilder, keine atheistischen Leitideen.

Die beiden Säulen des Atheismus haben den gleichen theoretischen Rang, sie charakterisieren zwei unterschiedliche Argumentationsfiguren, die eine metaphysische und eine empirische Widerlegung des Gottesglaubens liefern.

Der empirische Bereich zielt auf den unerlösten, elenden Zustand der Welt, das herzzereißende, unschuldige Leiden und Sterben von Tier und Mensch, die mit dem Glauben an einen zugleich allgütigen, allwissenden, allwirksamen und allmächtigen Gott nicht vereinbar sind. Der Atheismus findet seine eigentliche Begründung in der Wirklichkeit selbst, in der blut- und tränengeschenkten Geschichte des Tier- und Menschenreiches. Wie kann ein angeblich liebender Gott, bei dem kein Ding unmöglich ist, die Lebewesen, die er doch geschaffen hat, so unsäglich leiden lassen?

Entweder er ist nicht allmächtig und kann die Leiden nicht verhindern, oder er ist nicht allgütig und will die Leiden nicht verhindern. Auf diese Zwickmühle innerhalb des Gottesglaubens hat erstmals der griechische Philosoph Epikur um 300 vor unserer Zeitrechnung in aller begrifflichen Klarheit aufmerksam gemacht. An Epikurs Religionskritik anknüpfend hat viel später der deutsche Dichter Georg Büchner das Leiden eindrucksvoll als den „Fels des Atheismus“ bezeichnet. In dem berühmten „Philosophengesprächs“ seines Dramas „Dantons Tod“ heißt es: „Schafft das Unvollkommene weg, dann allein könnt Ihr Gott demonstrieren (…) Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz (…) Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes, und es regt sich in einem Atom, macht einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten.“

Aber auch angenommen, es gäbe dermaleinst einen seligen Zustand, wie ihn die Offenbarung des Johannes im Neuen Testament (21,4) verheißt, daß Gott abwischen wird alle Tränen und es keinen Tod und kein Leid und keinen Schmerz und kein Geschrei mehr geben wird: Wäre damit der schnöde Atheismus eines besseren belehrt und stünde Gott gerechtfertigt da? Nein, denn die Erlösung im Jenseits kommt immer zu spät, Sie kann nicht im geringsten ungeschehen machen, was zuvor geschehen ist. Die Unumkehrbarkeit der Zeit ist die unüberschreitbare Grenze jeder Allmachtsidee. Kein Erdbeben-, Kriegs-, Folter-, Mord-, Krebs-, oder Verkehrs-Opfer wird verhütet durch religiöse Erlösungsversprechen. In welchem annehmbaren Sinn sollte erfahrenes Leid je wieder gutgemacht werden können? Das liebenswerte Sehnsuchtsbild einer vollendeten Gerechtigkeit, einer universalen Versöhnung bleibt unerfüllbar, weil selbst bei einer jenseitigen Kompensation das zuvor Geschehene nie ungeschehen gemacht werden kann.

Hinzu kommt, daß im Neuen Testament (…) der Erlösung ohnehin nur eine Minderheit der Menschen teilhaftig wird: „Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt“, heißt es im Matthäus-Evangelium (22,14). Unmittelbar nach dem zitierten Wort aus der Offenbarung des Johannes wird den „Ungläubigen“, „Abgöttischen“, und „Hurern“ die ewige Qual in „Feuer und Schwefel“ angedroht (21,8).

Und: Wenn Gott überhaupt einen Zustand ohne Schmerz und Leid schaffen kann, warum dann erst so spät und nicht von Anfang an? Warum zuvor die eigenen Geschöpfe durch ein Meer von Blut und Tränen waten lassen? Die nüchterne Antwort kann nur lauten: Statt die Wirklichkeit zu verrätseln und sich in „Gottes unerforschliche Ratschlüsse“ zu flüchten, ist redlich einzuräumen: Es gibt keinen Gott. Ohne Gottglauben ist die Wirklichkeit bitter, aber mit Gottglauben ist sie bitter und absurd.

Die zweite Säule des Atheismus bestreitet nicht Gott den Erlöser, sondern Gott den Schöpfer. Sie argumentiert nicht empirisch, sondern metaphysisch, das heißt: Sie überschreitet den Bereich des Erfahrbaren und greift in jenen Teil der Wirklichkeit hinüber, der sich allein dem abstrakten Gedanken erschließt. Die hier vorausgesetzte Metaphysik ist eine Metaphysik ohne Goldgrund, eine nicht – religiöse, philosophische Theorie des Weltganzen. Erklärter- und unvermeidlicherweise verläßt sie den Bereich des empirisch Gegebenen, ohne freilich den Boden der Rationalität zu verlassen. Sie entschwindet nicht in eine „höhere Welt“, sondern denkt, was nicht sinnlich faßbar, aber denknotwendig ist: die Welt als Gesamtzusammenhang, als Verschränkung von Teil und Ganzem, von Relativem und Absolutem. Der Glaube, daß ein Gott die Welt erschaffen hat, läßt sich durch Überlegungen der folgenden Art von innen her entkräften.

Als erstes ist zu fragen: Was tat Gott vor der Erschaffung der Welt, wenn die Schöpfertätigkeit zu seinen ewigen und unveräußerlichen Wesensmerkmalen zählen soll? Lag seine Schöpferkraft vorher brach? Weshalb wurde sie auf einmal tätig? Offenbar hat sich Gott gewandelt, obwohl doch die Unwandelbarkeit zu seinen klassischen Attributen gehört. Wenn er sich aber gewandelt hat, ist er der Zeit unterworfen. Es gab also eine Phase, in der Gott noch nicht der Schöpfer war. Der Gedanke eines ewigen Schöpfers, der irgendwann eine zeitlich begrenzte Welt geschaffen haben soll, ist logisch nicht widerspruchsfrei zu denken. Das hat den Philosophen Johann Gottlieb Fichte zu der schroffen Bemerkung veranlaßt, „die Annahme einer Schöpfung“ sei „der absolute Grundirrtum aller falschen Metaphysik“. Durch sie werde „das Denken in ein träumendes Phantasieren verwandelt“ („Die Anweisungen zum seligen Leben“, Sechste Vorlesung). Der zweite Kritikpunkt erwächst aus der Frage: Warum hat Gott überhaupt die Welt geschaffen, obwohl er doch ein in sich selbst vollkommenes Wesen sein soll, das in seiner Majestät keines anderen bedarf? Die biblische Antwort – Gott schuf sich die Welt als sein Gegenüber und den Menschen als sein Ebenbild – provoziert unvermeidlich den Einwand: Da Gott nichts Sinnloses tut, muß ihm vorher irgendwas gefehlt haben. Wenn er aber ein Gegenüber brauchte, weil er einen Mangel litt, war er nicht in sich vollkommen. Schöpfertum und Vollkommenheit schließen sich aus. Das ergibt sich auch aus der religiös-liturgischem Dauerappell, die Geschöpfe sollten ihren Schöpfer lobpreisen, verherrlichen, anbeten, ihm danken und vor ihm auf die Knie fallen.

Diese Ermahnungen, die ihren Ursprung in patriachalisch-despotischen Verhältnissen nicht verleugnen können – hier der absolute Herrscher, dort die demütigen Untertanen – beweisen erneut: Der Schöpfergott verzichtet ungern auf das Halleluja seiner Geschöpfe. Ein Zeichen innerer und äußerer Unabhängigkeit, gar Vollkommenheit ist das kaum. Um sich als Schöpfer zu beweisen, bedarf Gott der Welt; die Welt bedarf Gottes nicht. Sie besteht aus sich selber, ungeworden und unvergänglich, freilich auch völlig gleichgültig gegenüber dem Wohl und Wehe ihrer Geschöpfe. Eine letzte Überlegung betrifft das Verhältnis von Geist und Materie. Der Schöpfungsglaube behauptet, ein reiner Geist habe etwas Nicht-Geistiges, Materielles hervorgebracht. Hier wird uns erneut ein Opfer des Verstandes, der Glaube an ein Wunder zugemutet. In Wahrheit verhält es sich umgekehrt: Geist ist ein reifes Entwicklungsprodukt langwierigster materieller Vorgänge unter günstigsten Bedingungen. Geist ist gebunden an hochkomplexe Gehirnstrukturen. Deren Beschädigung beschädigt auch den Geist, deren Absterben führt auch zum Absterben des Geistes.

Johann Most: Die Gottespest

Johann Most kam 1846 als Kind eines fast mittellosen Angestellten und einer Gouvernante in Augsburg zur Welt. Schon als Kind wurde er mit gewalttätigen Erziehungsmethoden zu Hause und in der Schule konfrontiert. Als er deshalb mit 13 Jahren einen Schülerstreik organisierte, wurde er von der Schule verwiesen. Nach einer Lehre als Buchbinder zog er als Wandergeselle durch Deutschland, Österreich, Ungarn, Italien und der Schweiz. 1867 schloss er sich in der Schweiz der Ersten Internationalen an, ein Jahr später wurde er Mitglied der sozialistischen Arbeiterbewegung Österreichs. 1871 ging er zurück nach Deutschland und trat dort in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei ein. Er übernahm den Vorsitz der sozialistisch orientierten Zeitung „Chemnitzer Freie Presse“. 1874 wurde er für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei in den Reichstag gewählt, 1877 schaffte er dies zum zweiten Male. Nach der Verhaftung von Karl Liebknecht und August Bebel wurde Most zu einer der führenden Sozialisten im Königreich Sachsen. In seiner Zeit als Abgeordneter propagierte er unter anderem den Massenaustritt aus den Landeskirchen und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Nach der Verabschiedung des Sozialistengesetzes im Oktober 1878 wurde Most aus Berlin ausgewiesen und flüchtete nach London. Kurz nach seiner Ankunft gründete er dort eine neue radikale Zeitung, die er am 3.1.1879 unter dem Namen „Die Freiheit“ herausgab. Nach schwerwiegenden Konflikten mit der Parteiführung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei wurde er aus der Partei ausgeschlossen. Daraufhin wandte sich Most verstärkt dem Anarchismus zu. Als in England die Repressionen gegen seine Zeitung zunahmen und er eine Gefängnisstrafe absitzen musste, emigrierte er in die Vereinigten Staaten. Dort veröffentlichte Most 1883cauch seine atheistische Schrift „Die Gottespest“, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Most war vor allem an der Organisation der amerikanischen Arbeiterbewegung und einer der ersten großen Kirchenaustrittsbewegungen beteiligt. Most hielt in fast allen Landesteilen der USA Vorträge und Reden über den revolutionären Anarchismus. 1906 starb er auf einer Vortragsreise in Cincinnati.

Die Kritik an weltlichen wie überweltlichen Machtmechanismen ist das zentrale Merkmal von Mosts anarchistischer Religionskritik. Im Mittelpunkt seines Denkens steht nicht die Klärung der Frage, ob es einen Gott gibt, sondern die Abschaffung aller weltlichen und transzendentalen Autoritäten zur Entwicklung einer autonomen herrschaftsfreien Gesellschaft.

Unter allen Geisteskrankheiten, welche „der Mensch in seinem dunklen Drange“ sich systematisch in seinen Schädel impfte, ist die Gottespest die allerscheusslichste.

(…)

Und da es für einen Gott eine Kleinigkeit ist, aus dem Nichts Welten hervor zu zaubern, wie ungefähr ein Taschenspieler Hühnereier oder Silberthaler aus den Aermeln schüttelt, so „schuf“ er „Himmel und Erde“. Später drechselte er „Sonne, Mond und Sterne“ zurecht. Gewisse Ketzer, so man Astronomen nennt, haben zwar längst festgestellt, daß die Erde weder Mittelpunkt des Universums ist, noch je gewesen sein kann, noch überhaupt zu existiren vermochte, bevor die Sonne, um welche sie sich dreht, da war.

(…)

Die moderne Naturwissenschaft hat festgestellt, daß sich Thiere und Pflanzen im Laufe von Millionen von Jahren aus einfachen Urschleimgebilden in den mannigfaltigsten Abzweigungen bis zu ihrer jetzigen Form entwickelt haben. Sie hat ferner festgestellt, dass der Mensch nichts weiter ist, als das vollkommenste Produkt dieser Entwicklung, und dass er nicht nur vor so und so vielen Jahrtausenden auch im engeren Sinne des Wortes ein sehr thierisches Aussehen hatte und keine Sprache besaß, sondern auch, dass er – jede andere Annahme schließt sich von selbst aus – aus niedrigen Thierarten hervorgegangen sein muss.

Die Naturwissenschaft läßt mithin Gott mit seiner selbst verkündeten Menschenmacherei als einen ganz albernen Aufschneider erscheinen.

(…)

Gott ist überhaupt, wie er in seiner selbst verfassten Chronik, der Bibel, ganz offensichtlich mittheilt, ungemein launig und rachgierig – geradezu ein Musterdespot.

(…)

Hierher gehört vor Allem die Lehre von der Belohnung und Bestrafung des Menschen im sogenannten „Jenseits“. Längst ist es wissenschaftlich erwiesen worden, dass es ein vom Körper unabhängiges Seelenleben nicht gibt, dass das, was die Religionsschwindler „Seele“ nennen, nichts weiter ist, wie das Denkorgan (Hirn), welches durch die lebendigen Sinnesorgane Eindrücke empfängt und auf Grund derselben sich bethätigt, und dass mithin im Augenblicke des körperlichen Absterbens auch diese Regung aufhören m u s s. Was kümmern sich aber die Todfeinde des menschlichen Verstandes um die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung? Gerade so viel, als nöthig ist, dieselben nicht in’s Volk dringen zu lassen.

(…)

Sein (Gottes, M.L.) Zuchthaus heißt H ö l l e, die wir bereits kennen, sein Henker ist der Teufel, seine Strafen dauern ewig. Er gewährt höchstens für leichte Fälle nach längerer Zeit Begnadigung, vorausgesetzt, dass der betroffene Delinquent als Katholik gestorben ist. Für einen Solchen hat er nämlich unter Umständen das „Fegefeuer“ vorgesehen, welches sich von der „Hölle“ ungefähr so unterscheidet, wie in Preußen das Gefängnis vom Zuchthaus; so ist es nur für verhältnissmässig kurzzeitige Insassen eingerichtet und hat etwas leichtere Disciplin. Immerhin brennt es auch im Fegefeuer ganz „gottsträflich“. Sogenannte „Todsünden“ werden indessen nie mit Fegefeuer, sondern stets nur mit Hölle geahndet. Hierher gehört z.B. „Gotteslästerung“ begangen durch Wort, Schrift und Gedanken. Gott duldet also in dieser Beziehung weder Press- noch Redefreiheit, sondern er trifft auch schon die unausgesprochenen Gedanken. Ueberbietet er somit schon an und für sich an Rüpelhaftigkeit selbst die schuftigsten Despoten aller Länder und Zeiten, so thut er dies weit mehr als noch hinsichtlich der Art und Dauer seiner Strafmittel. Dieser Gott ist also das denkbar entsetzlichste Scheusal.

(…)

Und doch sind es gerade die Reichen und Mächtigen, welche den Gottesblödsinn und die Religionsduselei hegen und pflegen. Es gehört das entschieden zum Geschäft.

Ja, es ist für die herrschenden und ausbeutenden Klassen geradezu eine Lebensfrage, ob das Volk religiös versimpelt wird oder nicht. Mit dem Religionswahnsinn steht und fällt ihre Macht.

Je mehr der Mensch an der Religion hängt, desto mehr glaubt er. Je mehr er glaubt, desto weniger weiss er. Je weniger er weiss, desto dümmer ist er. Je dümmer er ist, desto leichter kann er regiert werden!

(…)

Jahrtausende hindurch haben diese Gehirnverhunzer einfach ein Schreckensregiment geführt, ohne welches die religiöse Tollhäuslerei längst ein Ende genommen hätte. Galgen und Schwert, Kerker und Ketten, Gift und Dolch, Meuchel- und Justizmord – das waren ihre Mittel zur Aufrechterhaltung dieses Wahnsinns, der ein ewiger Schandfleck in der Geschichte der Menschheit bleiben wird. Hunderttausende sind auf Scheiterhaufen langsam „im Namen Gottes“ geröstet worden, weil sie es gewagt, den biblischen Mist stinkend zu finden. Millionen von Menschen wurden gezwungen, sich in langwierigen Kriegen die Köpfe gegenseitig einzuschlagen, ganze Länder zu verwüsten und nach Mord und Brand die Pest zu erzeugen – nur damit die Religion erhalten blieb.

(…)

Man nennt einen Menschen einen Verbrecher, der Anderen Hände und Füße verstümmelt. Wie soll man Jene bezeichnen, welche das Hirn zu Grunde richten, und wenn ihnen das nicht gelingen will, den ganzen Körper mit ausgesuchter Grausamkeit Zoll für Zoll verderben?

(…)

Heraus also mit der Religion aus den Köpfen und nieder mit den Pfaffen! Die Letzteren pflegen zu sagen, der Zweck heilige das Mittel. Wohlan! Wenden wir diesen Grundsatz endlich auch gegen sie an! Unser Zweck ist die Befreiung der Menschheit aus jeglicher Sklaverei, aus dem Joche sozialer Knechtschaft, wie aus den Fesseln politischer Tyrannei, nicht minder, ja vor Allem, aus dem Banne religiöser Finsternis. J e d e s Mittel zur Erreichung diesen hohen Zieles muss von allen wahren Menschenfreunden für recht erkannt und bei jeder sich darbietender Gelegenheit in Anwendung gebracht werden.

Jeder religionslose Mensch begeht eine Pflichtvernachlässigung, wenn er täglich und stündlich nicht Alles aufbietet, was in seinen Kräften steht, die Religion zu untergraben. Jedem vom Gottesglauben Befreite, der es unterlässt, das Pfaffenthum zu bekämpfen, wo und wann und wie er nur immer Gelegenheit dazu hat, ist ein Verräther seiner Sache. Also Krieg dem schwarzen Gesindel – unversöhnlicher Krieg bis auf’s Messer! Aufreizung gegen die Verführer, Aufklärung für die Verführten! Lasset uns jedes Mittel des Kampfes in unsere Dienste nehmen: Die Geissel des Spottes, wie die Fackel der Wissenschaft; wo diese nicht zureichen, - greif- und fühlbarere Argumente.

(…)

Opportunitätspolitik ist da nicht blos von Uebel, sie ist ein Verbrechen. Lassen die Arbeiter irgend welche Pfaffen sich in ihre Angelegenheiten mischen, so sind sie nicht nur belogen und betrogen, sondern auch alsbald verrathen und verkauft.

So selbstverständlich es ist, dass der Hauptkampf des Proletariats sich gegen den Kapitalismus zu richten hat und mithin auch auf die Zerstörung des Gewaltmechanismus desselben, des Staates, abzielen muss, so wenig darf in diesem Kampfe die Kirche außer Acht gelassen werden. Die Religion muss systematisch im Volke untergraben werden, wenn dasselbe zu Verstand kommen soll, ohne welchen es nicht die Freiheit erringen kann.

Für die Dummen, resp. Verdummten, so weit sie noch besserbar erscheinen, werfe man u.A. folgende Fragen auf:

Wenn Gott will, dass man ihn kenne, liebe und fürchte, w a r u m z e i g t e r s i c h n i c h t? Ist er so gut, wie die Pfaffen sagen, welchen Grund hat man, ihn zu fürchten? Ist er allwissend, weshalb belästigt man ihn mit seinen Privatangelegenheiten und Gebeten? Ist er allgegenwärtig, wozu ihm Kirchen bauen? Ist er gerecht, weshalb denkt man denn, er werde die Menschen bestrafen, welche er voller Schwäche erschuf? Thun die Menschen nur aus Gottes Gnade Gutes, welchen Grund hätte er dann, sie zu belohnen? Ist er allmächtig, wie könnte er es zulassen, dass wir ihn lästern? Ist er aber unbegreiflich, weshalb beschäftigen wir uns mit ihm? Ist die Kenntnis von Gott notwendig, weshalb schwebt er dann im Dunkel? U.s.w. Vor allen Fragen steht der gläubige Mensch, wie ein Ochs vor dem Berge.

Jeder Nachdenkende muss aber zugeben, dass n i c h t e i n e i n z i g e r B e w e i s für die Existenz eines Gottes je erbracht worden ist. Ausserdem liegt nicht die geringste Notwendigkeit für die Existenz eines Gottes vor. So wie wir bereits die Eigenschaften und Regeln der Natur kennen, ist ein Gott in oder außerhalb derselben geradezu zwecklos, gänzlich überflüssig und mithin ganz von selbst hinfällig. Sein „moralischer“ Zweck ist noch nichtiger.

(…)

Gott ist nur ein von raffinirten Schwindlern erfundenes Gespenst, vermittelst welchem die Menschen bisher in Angst erhalten und tyrannisirt wurden. Aber das Trugbilde zerfliesst sofort, wenn es unter dem Glase nüchterner Untersuchung betrachtet wird.

----

Fußnoten

  1.  ↑ Feuerbach, L.: Das Wesen des Christentums, 1. Auflage, Leipzig 1841, S. 20
  2.  ↑ Zitiert aus Ettelheim, R.: Wege zum Atheismus, München 1992, S. 145
  3.  ↑ Orban, W.: Beiträge zum Atheismus, Berlin 1988, S. 89
  4.  ↑ Glaser, N.: Feuerbach, Berlin 1976, S. 77
  5.  ↑ Ebd., S. 89
  6.  ↑ Feuerbach, L.: Das Wesen des Christentums, 1. Auflage, Leipzig 1841, S. 23
  7.  ↑ Ebd.
  8.  ↑ Schmidt, A.: Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München 1973, S. 10
  9.  ↑ Sass, H.-M.: Ludwig Feuerbach, 4. Auflage, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 91-100
  10.  ↑ Ebd.
  11.  ↑ Schmidt, A.: Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München 1973, S. 8
  12.  ↑ Marx-Engels-Studienausgabe, Band I, Frankfurt/Main 1966, S. 190f
  13.  ↑ Zitiert aus Neumann, B.: Marxismus, Berlin-Ost 1966, S. 77
  14.  ↑ Ebd., S. 78
  15.  ↑ Schmidt, A.: Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München 1973, S: 67
  16.  ↑ Zitiert aus Geffer, N.: Hegel und der Hegelianismus, Bonn 1990, S. 62
  17.  ↑ Onfray, M.: Wir brauchen keinen Gott. Warum man jetzt Atheist sein muß, München 2006, S. 298
  18.  ↑ Wittkop, Bakunin, a.a.O., S. 13
  19.  ↑ Carr, Michael Bakunin, a.a.O., S. 20
  20.  ↑ Dyziur, The doctrine of anarchism of Michael A. Bakunin, a.a.O., S. 22
  21.  ↑ Wittkop, Bakunin, a.a.O., S. 15
  22.  ↑ A.a.O., S. 25
  23.  ↑ Walter, N.: Conversations about anarchism, in: Anarchy 85, März 1968, S. 68
  24.  ↑ Dahm, H.: Grundzüge russischen Denkens, München 1979, S. 114
  25.  ↑ Rohlfs/Nettlau., Bakunin, a.a.O., B.2, S. 27
  26.  ↑ A.a.O., S. 179f
  27.  ↑ Rohlfs/Nettlau, Bakunin, .a.a.O., Bd.2, S. 8-29
  28.  ↑ A.a.O., S. 113
  29.  ↑ Beer, Philosophie der Tat, a.a.O., S. 259
  30.  ↑ Sobel, L.: Political terrorism, New York 1975, S. 147f
  31.  ↑ Schiemann, Social-politischer Briefwechsel mit A. Herzen und Ogarjow, a.a.O., S. 272
  32.  ↑ A.a.O., S. 362
  33.  ↑ A.a.O., S. 174
  34.  ↑ Rholfs/Nettlau, Bakunin,a.a.O., Bd.2, S. 35
  35.  ↑ Scheimann, Social-politischer Briefwechsel mit A. Herzen und Ogarjow, a.a.O., S. 272
  36.  ↑ Barthier, R.: Bakounine politique, Révolution et Contrerévolution Europe centrale, Paris 1991, S. 51
  37.  ↑ Keiner vermag etwas gegen Gott außer Gott selbst
  38.  ↑ Ein bedeutender evangelischer Theologe
  39.  ↑ Das Seiende, dem die höchste Wirklichkeit zukommt, d.h. Gott
  40.  ↑ Fußfall als Zeichen göttlicher Verehrung
  41.  ↑ Rückenmarkschwindsucht