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Stephen A. Smith: Revolution in Russland. Das Zarenreich in der Krise 1890-1928

Philipp von Zabern Verlag, Darmstadt 2017, ISBN 9783805350686, Gebunden, 496 Seiten, 39,95 EUR

Autor Stephen A. Smith unter: perlentaucher.de 

Zum 100jährigen Jubiläum der russischen Revolution bringt der renommierte britische Historiker ein bislang nicht genutzte Quellen basierendes Werk über die zentralen Ursachen, Entwicklungen und Auswirkungen der russischen Revolution heraus. Er beschreibt detailliert die Krise des Zarentums und seines politischen Apparates, das nicht in der Lage war, auf die schweren sozialen Probleme der Periode eine Antwort zu finden und somit ihren Herrschaftsanspruch mit und mit verlor. Zur Zielsetzung schreibt er: Das Buch bietet eine umfassende Darstellung der hauptsächlichen Ereignisse, Entwicklungen und Persönlichkeiten im ehemaligen russischen Imperium vom späten 19. Jahrhundert bis zum Beginn des ersten Fünfjahresplans und der Zwangskollektivierung von 1928/29, als Stalin die sowjetische Bevölkerung einer „Revolution von oben“ aussetzte.“ (S. 9)

Das Neue des Buches ist die Berücksichtigung des nach 1991 erschlossenen Quellenmaterials, das eine neue Sichtweise der wichtigen Periode in der russischen Geschichte erlaubt: „Im Laufe der letzten 25 Jahre haben russische und westliche Historiker dieses Material genutzt, um alte Fragen einer Prüfung zu unterziehen, neue Fragen zu stellen und festgefügte Kategorien zu überdenken. Diese auf Archivmaterial beruhende Forschung will das Buch reflektieren und dem Leser einen Eindruck davon vermitteln, wie die geschichtswissenschaftlichen Interpretationen sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat.“ (S. 9f).

Er schreibt den Bolschewiki eine idealistische Haltung, die mangelhaft umgesetzt wurde und in einen neue staatliche Tyrannei mündete: „Und wir verstehen das Jahr 1917 nicht, wenn wir nicht die Phantasie aufbringen, uns noch einmal vor Augen zu führen, wovon die Bolschewiki damals beseelt wurden: Von Hoffnung, Idealismus, Heldentum, Zorn, Furcht und Verzweiflung, woraus das brennende Verlangen nach Frieden, die tiefe Verachtung einer von der Kluft zwischen Arm und Reich zerrissenen Gesellschaftsordnung und der Zorn über die Herrschaft der Ungerechtigkeit in der russischen Gesellschaft entsprangen. Aus diesen Gründen haben Millionen von Menschen weltweit, die von den kommenden Schrecknissen nichts wissen konnten, die Revolution von 1917 als eine Chance begrüßt, eine neue Welt zu schaffen, in der es Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit gibt.“ (S. 447)

Die große Schwäche des Buches ist der chronologische Ansatz: Wenn Smith die Wurzeln der russischen Revolution mit einer längeren Vorgeschichte betrachten will, muss er aber nicht in den 1880er Jahren anfangen. Schon Jahrzehnte vorher regte sich der Widerstand gegen die zaristische Herrschaft. Sozialistische gesinnte Gruppen bildeten sich, das Wirken Michail Alexandrowitsch Bakunins, des Vaters des russischen Anarchismus. Aufgrund seiner Vorreiterrolle im libertären Sozialismus beeinflussten seine Werke und Ideen überall auf der Welt entstehende anarchistische Bewegungen. Zu einer ausgeprägten Rezeption kam es vor allem wieder mit dem Erstarken der anarchosyndikalistischen Bewegung im russischen Zarenreich.

Der Sozialrevolutionär Pjotr Lawrowitsch Lawrow schuf die Narodnikibewegung. Die Narodniki waren eine sozialrevolutionäre Bewegung im Russischen Kaiserreich, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung trat. Im Vordergrund dieser Bewegung standen revolutionäre Intellektuelle, die ihre gewohnte Umgebung verließen und als einfache Arbeiter lebten. Sie klärten das einfache Volk über soziale Missstände auf. Propagiert wurde die Erneuerung Russlands durch eine Bauernbewegung zu einem Sozialismus, in dessen theoretischem Mittelpunkt die Dorfgemeinde (Obschtschina) stand, Nach Enttäuschungen über die ergebnislose friedliche Agitation und nach zahlreichen Verhaftungswellen der 1870er Jahre bildete ein Teil der Narodniki 1879 die Geheimgesellschaft Narodnaja Wolja (Volkswille), welche die 1881 erfolgte Ermordung Alexanders II. organisierte. Die Ziele der Organisation waren der Sturz des Zaren, freie und allgemeine Wahlen, Volksvertreter und Meinungs-, Presse- und Gewissensfreiheit und eine Verfassung. Diese sozialistischen und libertären Bewegungen waren die Vorboten der allmählichen Niedergangs der zaristischen Regimes und des Widerstandes gegen sein autoritäres Regieren, was dann letztlich in den Ereignissen 1917 kulminierte.

Außerdem hätte Smith die sozialen Unruhen, die Klassengegensätze in der russischen Gesellschaft während der zaristischen Herrschaft noch deutlicher gemacht können. Seine intensive Auseinandersetzung mit dem Elend der Landbevölkerung, die unter dem Diktat der zaristischen Regierung sehr zu leiden hatte, ist ein wichtiger Ansatz zum Verständnis der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse und zeigt, dass Sozialgeschichte oder Geschichte von unten hervorragende Erkenntnisse liefert.

Durch die Einbeziehung zahlreicher neuer, vor allem russischer Quellen liefert Smith eine umfassende Synthese der wichtigsten Ursachen, Entwicklungen und Auswirkungen der Russischen Revolution auf aktuellstem Stand der Forschung.

Es ist sehr schwierig, die vielfältigen Entwicklungen vor während und nach 1917 wissenschaftlich sauber und doch für eine breitere Leserschaft verständlich in ein Buch zusammenzufassen, das keine 1000 Seiten umfasst. Ihm gelingt dieser Spagat insgesamt gesehen ganz gut. Die sozialen, ideologischen und wirtschaftlichen Grundlagen der russischen Revolution und seine weltgeschichtliche Bedeutung bringt er fachlich sauber rüber und erschließt somit neue Leserkreise für die historische Bedeutung des Jahres 1917. Trotz ein paar fragwürdiger Methoden ist das Buch als Einführung in die komplexen Geschehnisse um das Jahr 1917 zu empfehlen.

 

Eintrag im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek:

ISBN: 9783805350686 .