Die Frage, ob ein vereintes Deutschland mit dem europäischen Gleichgewicht in Einklang zu bringen ist, stellt sich in der genannten Form erst seit der Gründung des Deutschen Reiches unter Otto von Bismarck im Jahr 1871.Deutschlands neue Gestalt warf die Frage nach künftigen Gefährdungen für das europäische Gleichgewicht auf. Seine geographische Lage in der Mitte Europas und seine Bevölkerungszahl, vor allem aber seine Wirtschaftskraft und politisch-militärische Macht wurden von den Nachbarn als Bedrohung empfunden. Bismarck selbst erkannte dieses Problem frühzeitig und suchte es nach der Reichsgründung durch eine entschlossene Kehrtwendung seiner Politik zu entschärfen: So wenig er sich vor 1871 gescheut hatte, militärische Gewalt anzuwenden, um seine außenpolitischen Ziele durchzusetzen, so sehr bemühte er sich nach 1871 um einen Kurs der Mäßigung und "Saturiertheit". Das Deutsche Reich, so Bismarck, solle den gegenwärtigen Zustand Europas und die überkommenen Grenzen (Status quo) garantieren, anstatt sie in Frage zu stellen. Tatsächlich trug die Bismarcksche Außenpolitik in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts erheblich dazu bei, die europäische Ordnung zu stabilisieren. Nach der Entlassung des Kanzlers durch Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1890 drängten jedoch neue Kräfte an die Macht, die schon seit 1871 unter der Oberfläche gewirkt hatten und nun im Ausland bald ein völlig neues Deutschland-Bild prägten. Besonders die Elemente des Nationalismus und des Militarismus, die für die Reichsgründung mobilisiert worden waren und danach nicht wieder gezügelt werden konnten, erwiesen sich in Verbindung mit der dynamisch fortschreitenden Industrialisierung als schwere Bürde. An die Stelle der vorsichtigen und behutsamen Strategie Bismarcks trat nun ein neuer Stil: dynamisch, großspurig und arrogant, vor allem jedoch ohne Gespür für die Erfordernisse des europäischen Gleichgewichts und die Empfindlichkeiten der Nachbarn.Der junge Kaiser war ein typischer Repräsentant dieses neuen Deutschlands: "Mit Volldampf voraus" wollte Wilhelm II. das Reich nun steuern - nicht länger gehindert vom vormals übermächtigen Bismarck - und Deutschland neuen großen Zielen entgegenführen. Dabei galt es, die bisherigen Begrenzungen deutscher Politik zu durchbrechen. Weltpolitik war das Ziel. Was andere Staaten Europas wie England, Frankreich, Spanien, Portugal und sogar die Niederlande seit langem betrieben hatten, sollte Deutschland - als "verspätete Nation", wie Historiker es formulierten - endlich nachholen.Das Ergebnis war vorhersehbar. Auch wenn der deutsche Imperialismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts keineswegs das Produkt einer abnormen politischen Kultur oder gar die Folge einer spezifisch deutschen Mentalität des Militarismus und der Aggressivität war, trugen seine Auswirkungen dazu bei, Deutschland zu isolieren und die anderen europäischen Mächte zur Bildung einer Koalition gegen das Reich zu veranlassen. Ein Ausgleich mit England wurde dadurch ebenso verhindert wie die Fortsetzung des Bündnisses mit Russland, das für Deutschland lebensnotwendig war, solange eine Aussöhnung mit Frankreich nicht gelang. Der deutsche Versuch, auf dem Umweg über die Weltpolitik in Europa die Vorherrschaft zu erringen, scheiterte schließlich im Ersten Weltkrieg. Die deutsche Revolution vom November 1918 und die Errichtung der Weimarer Republik boten danach die Chance zu einem Neubeginn, die jedoch schon bald wieder vertan wurde. Verantwortlich dafür waren nicht nur die Deutschen selbst, die es nicht verstanden, aus den obrigkeitsstaatlichen Traditionen des Kaiserreiches auszubrechen und eine von der breiten Masse der Bevölkerung innerlich akzeptierte demokratische Ordnung zu errichten. Auch die Westmächte trugen dazu bei, indem sie auf der Versailler Konferenz von 1919 das Versprechen des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson brachen, einen fairen und gerechten Frieden herbeizuführen.So war es vor allem der Kriegsschuldartikel 231 des Versailler Vertrages - die offizielle Feststellung der deutschen Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges -, der zusammen mit der Verpflichtung zu hohen Reparationsleistungen in Deutschland Zorn und Erbitterung auslöste. Die innenpolitischen Feinde der Weimarer Republik hatten deshalb leichtes Spiel, gegen das "System von Versailles" zu polemisieren und damit zugleich die neu gewählte demokratische Regierung in Berlin zu treffen, der nichts anderes übrig geblieben war, als den Versailler Vertrag zu unterzeichnen und ihn vom Reichstag ratifizieren zu lassen.Überdies trugen die Reparationszahlungen dazu bei, eine rasche wirtschaftliche Erholung zu verhindern, die vielleicht zu einer breiteren Akzeptanz der demokratischen Ordnung hätte führen können. Die Kriegsschuldthese vergiftete das politische Klima und führte zu weitreichenden Forderungen nach einer Revision des Versailler Vertrages. Die Beruhigung, die für die innere Stabilisierung der Weimarer Republik ebenso notwendig gewesen wäre wie ihre Einbindung in das - mit Ausnahme von Russland - wiedererrichtete europäische Mächtesystem, wurde so unmöglich.Deutschland blieb daher auch nach dem Ersten Weltkrieg - trotz der Bemühungen Außenminister Gustav Stresemanns um deutsch-französische Aussöhnung und eine europäische Integration - letztlich ein Außenseiter der europäischen Politik. Die Erfolge der NSDAP bei den Reichstagswahlen nach Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929, welche die Nationalsozialisten zwischen September 1930 und dem Sommer 1932 zur stärksten politischen Kraft in Deutschland werden ließen, waren nur ein Ausdruck dieser inneren und äußeren Spannungen, von denen die Weimarer Republik ergriffen und schließlich zerrissen wurde. Der Aufstieg Adolf Hitlers und seine Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 bedeuteten nicht nur eine Kapitulation der Deutschen vor den Schwierigkeiten einer demokratischen Erneuerung und die Zuflucht zum gewohnten Modell einer Führerpersönlichkeit, sondern sie dokumentierten auch das Versagen der Westmächte, ihre Politik in Europa so zu gestalten, dass Deutschland darinseinen Platz finden konnte.Allerdings warf Hitlers erneuter Anspruch auf eine deutsche Vormachtstellung sogleich wieder die Frage auf, ob sich Deutschland überhaupt in eine europäische Ordnung integrieren ließe. Die zügellose territoriale Eroberungssucht der Nationalsozialisten zur Schaffung eines "Großdeutschen Reiches" verstieß gegen alle Normen, die sich die Staaten Europas seit dem Wiener Kongress 1815 zur Regelung ihrer Angelegenheiten gesetzt hatten.Hitler forderte nicht nur die Lösung Deutschlands von den Beschränkungen des Versailler Vertrages und die Wiederherstellung der deutschen Ostgrenzen von 1914 sowie den "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich, sondern auch die Eroberung von großen Gebieten im Osten und die Erringung der deutschen Weltherrschaft. Mit diesen Zielen ging er weit über das hinaus, was im Kaiserreich beabsichtigt gewesen war. Dennoch knüpfte er in mancherlei Hinsicht auch an die Pläne der Obersten Heeresleitung unter Wilhelm II. an, in der es noch bis zum August 1918 Fantasien eines Deutschen Reiches vom Rhein bis zur Ukraine und zum Kaukasus gegeben hatte. Jedenfalls stellten die Ansprüche Hitlers aus der Sicht des Auslandes erneut einen Beweis für die fortwährende Neigung der Deutschen dar, die europäische Ordnung zu untergraben, um eine eigene Hegemonie zu begründen. Vor diesem Hintergrund konnte es kaum verwundern, dass die Gegner Deutschlands während des Zweiten Weltkrieges eine territoriale Aufteilung des Deutschen Reiches als sinnvollsten Weg zur dauerhaften Lösung des deutschen Problems erwogen. Bei einem Treffen mit dem britischen Außenminister Anthony Eden ließ der sowjetische Staats- und Parteichef Josef Stalin im Dezember 1941 keinen Zweifel daran, dass er eine Zersplitterung Deutschlands favorisierte.Auch der britische Premierminister Winston Churchill befürwortete lange Zeit eine Teilung Deutschlands - allerdings hauptsächlich mit dem Ziel der Zerschlagung Preußens, dessen militärischen Geist er als das Grundübel der deutschen Politik ansah. Eine Nord-Süd-Teilung entlang der Main-Linie und die Errichtung einer "Donaukonföderation" im Süden schien ihm deshalb besonders zweckmäßig.Roosevelt betrachtete die dauerhafte Niederhaltung und Schwächung Deutschlands ebenfalls als eine entscheidende Voraussetzung für die Gestaltung einer einheitlichen Weltordnung, die er gemeinsam mit Großbritannien, der Sowjetunion und China zu verwirklichen hoffte. Auf der ersten Kriegskonferenz der "Großen Drei" - Stalin, Roosevelt und Churchill - im Dezember 1943 in Teheran unterbreitete der amerikanische Präsident daher einen Vorschlag, der eine Aufteilung Deutschlands in fünf selbstständige Staaten und zwei Regionen unter internationaler Kontrolle vorsah. Er stieß damit bei Churchill und Stalin auf prinzipielle Zustimmung. Einhellig waren die drei Regierungschefs in Teheran der Meinung, dass die Erhaltung bzw. Wiederherstellung eines einheitlichen Deutschlands eine Bedrohung für den Weltfrieden darstelle und dass nur ein geteiltes Deutschland als annehmbarer Partner in die internationale Staatengemeinschaft zurückkehren könne. Die Teilung Deutschlands als Weg zur Beseitigung des von Deutschland ausgehenden Hegemonialstrebens war damit jedoch noch keine beschlossene Sache. Vielmehr wurde gegen Ende des Krieges immer deutlicher, dass die Gesetze der Machtpolitik durch den gemeinsamen Kampf der Alliierten gegen Hitler-Deutschland nicht außer Kraft gesetzt worden waren. So bereitete das unaufhaltsame Vordringen der sowjetischen Armee nach Mitteleuropa, das durch Hitlers Expansion nach Osten ausgelöst worden war, vor allem den Briten große Sorgen.Auf der zweiten Kriegskonferenz der "Großen Drei" im Februar 1945 in Jalta zögerte Churchill daher, bei der Frage der Teilung Deutschlands die gleiche Entschiedenheit an den Tag zu legen wie in Teheran. Die drei Regierungschefs verwiesen das Thema zur weiteren Beratung an eine Expertenkommission und demonstrierten damit, dass sie in dieser Frage nicht mehr einig waren. Der Kalte Krieg warf seine Schatten voraus.Auch Stalin rückte schließlich von seinen Teilungsplänen ab und erklärte bei der Siegesparade in Moskau am 9. Mai 1945, die Sowjetunion feiere den Sieg, sei aber nicht im Begriff, "Deutschland zu zerstückeln oder zu zerstören". Doch während Churchill und das britische Außenministerium bei ihren Überlegungen zur Erhaltung der deutschen Einheit von den Erfordernissen des europäischen Gleichgewichts ausgingen, das nach der Niederlage Deutschlands nun durch die übermächtige Sowjetunion bedroht war, ließ sich Stalin offenbar von der Hoffnung leiten, das Instrument einer gemeinsamen Besatzungspolitik nutzen zu können. Er verfolgte den Zweck, Einfluss auf ganz Deutschland zu erlangen und damit seinen Anspruch auf Reparationen aus dem Ruhrgebiet durchzusetzen.So war die Teilung Deutschlands nach 1945 trotz des entschlossenen Willens der Siegermächte, die politische, wirtschaftliche und militärische Macht des Deutschen Reiches dauerhaft zu zerschlagen, nicht das unmittelbare Ergebnis des Zweiten Weltkrieges. Vielmehr folgte sie aus dem Ost-West-Konflikt, in dem die Gemeinsamkeit der alliierten Deutschlandpolitik nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Von den ersten Spannungen 1945 wegen des amerikanischen Reparationsstopps über den Marshall-Plan 1947, die Währungsreform 1948 und die Berliner Blockade 1948/49 bis hin zur Gründung der beiden deutschen Staaten waren alle Etappen der Teilung unmittelbar mit der Entwicklung des Ost-West-Gegensatzes verbunden. Die "Teilung der Welt" (Wilfried Loth) zog die deutsche Spaltung nach sich. Und der territorial-politische Status quo in Europa, der auf dieser Teilung basierte, konnte von Deutschland aus nicht mehr einseitig verändert werden, solange Europa im gegeneinander wirkenden Sog der neuen "Weltführungsmächte" USA und Sowjetunion verblieb. Die Weichenstellungen, die zwischen 1945 und 1949 im beginnenden Ost-West-Konflikt erfolgten, bestimmten auch die Handlungsspielräume der Regierungen in den beiden deutschen Teilstaaten ab 1949. So war die Teilung Deutschlands für Konrad Adenauer - damals noch Vorsitzender der CDU in der britischen Zone - bereits 1948 nicht länger eine drohende Gefahr, sondern schon eine vollzogene Tatsache.Sie sei vom Osten her geschaffen und müsse nun durch den Wiederaufbau der deutschen Einheit vom Westen her beseitigt werden, erklärte er dazu in der "Kölnischen Rundschau" vom 3. April 1948. Dazu war es nach Ansicht von Adenauer notwendig, den westlichen Teil Deutschlands fest in die westliche Gemeinschaft einzugliedern, um die Bundesrepublik zu einem politisch stabilen und wirtschaftlich erfolgreichen politischen System mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung aufzubauen, das durch seine Attraktivität auf die DDR wie ein Magnet wirken würde. Aus einer solchen Position der Stärke heraus sollte dann auch die Wiedervereinigung Deutschlands angestrebt werden, die ohne gesicherte Westbindung nur um den Preis der Sowjetisierung ganz Deutschlands zu erreichen wäre.Nach seiner Wahl zum Bundeskanzler verfolgte Adenauer deshalb eine Politik der Westintegration, die von vornherein nicht national, sondern europäisch bestimmt war. Wie Winston Churchill, der in einer Rede in Zürich bereits am 19. September 1946 für eine Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich plädiert hatte, um damit einen ersten Schritt zu tun, "so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa" zu errichten, trat auch Adenauer für einen Zusammenschluss Westeuropas ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es für ihn noch viel dringender geworden, eine klare Entscheidung für den Westen zu treffen und damit die alte deutsche "Schaukelpolitik" zwischen Ost und West zu beenden, weil nun zusätzlich die Gefahr einer weiteren Ausdehnung des sowjetischen Machtbereiches bestand, der inzwischen ja schon bis zur Elbe reichte.Die Weichenstellungen, die zwischen 1945 und 1949 im beginnenden Ost-West-Konflikt erfolgten, bestimmten auch die Handlungsspielräume der Regierungen in den beiden deutschen Teilstaaten ab 1949. So war die Teilung Deutschlands für Konrad Adenauer - damals noch Vorsitzender der CDU in der britischen Zone - bereits 1948 nicht länger eine drohende Gefahr, sondern schon eine vollzogene Tatsache.Sie sei vom Osten her geschaffen und müsse nun durch den Wiederaufbau der deutschen Einheit vom Westen her beseitigt werden, erklärte er dazu in der "Kölnischen Rundschau" vom 3. April 1948. Dazu war es nach Ansicht von Adenauer notwendig, den westlichen Teil Deutschlands fest in die westliche Gemeinschaft einzugliedern, um die Bundesrepublik zu einem politisch stabilen und wirtschaftlich erfolgreichen politischen System mit freiheitlich-demokratischer Grundordnung aufzubauen, das durch seine Attraktivität auf die DDR wie ein Magnet wirken würde. Aus einer solchen Position der Stärke heraus sollte dann auch die Wiedervereinigung Deutschlands angestrebt werden, die ohne gesicherte Westbindung nur um den Preis der Sowjetisierung ganz Deutschlands zu erreichen wäre.Nach seiner Wahl zum Bundeskanzler verfolgte Adenauer deshalb eine Politik der Westintegration, die von vornherein nicht national, sondern europäisch bestimmt war. Wie Winston Churchill, der in einer Rede in Zürich bereits am 19. September 1946 für eine Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich plädiert hatte, um damit einen ersten Schritt zu tun, "so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa" zu errichten, trat auch Adenauer für einen Zusammenschluss Westeuropas ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es für ihn noch viel dringender geworden, eine klare Entscheidung für den Westen zu treffen und damit die alte deutsche "Schaukelpolitik" zwischen Ost und West zu beenden, weil nun zusätzlich die Gefahr einer weiteren Ausdehnung des sowjetischen Machtbereiches bestand, der inzwischen ja schon bis zur Elbe reichte.Diese Integrationspolitik Adenauers, durch die die Bundesrepublik von vornherein an den neu entstehenden europäischen Institutionen beteiligt wurde, erhielt zusätzliche Förderung durch die Entwicklung des Ost-West-Konflikts. Dieser führte nach Ausbruch des Korea-Krieges im Juni 1950 zu einer intensiven Debatte über einen deutschen Wehrbeitrag zur Verteidigung Westeuropas und die Errichtung einer Europa-Armee mit deutscher Beteiligung im Rahmen einer "Europäischen Verteidigungsgemeinschaft" (EVG). Bei dieser Diskussion ging es für die Bundesrepublik allerdings nicht nur um militärische Fragen, sondern auch um die Wiedererlangung der Souveränität und um Gleichberechtigung gegenüber den anderen Nationen, nachdem die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Niederlage von 1945 eine eigenständige deutsche Politik vorübergehend unmöglich gemacht hatten.Nach dem Scheitern der EVG in der französischen Nationalversammlung im August 1954 wurde schließlich mit den Pariser Verträgen vom Oktober 1954 und dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik im Mai 1955 eine Ersatzlösung gefunden, durch welche die von Adenauer angestrebte Westintegration der Bundesrepublik praktisch verwirklicht wurde. Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) auf der Grundlage der Römischen Verträge vom 25. März 1957 sowie die Beteiligung der Bundesrepublik an weiteren europäischen Zusammenschlüssen - zum Beispiel an der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) - führten diese Integrationspolitik erfolgreich weiter.Die These Adenauers, durch Anbindung an den Westen nicht nur Sicherheit und Beistand für die Bundesrepublik gegenüber dem Kommunismus, sondern auch Anerkennung und Akzeptanz unter den neuen Verbündeten zu erhalten, fand volle Bestätigung. Das loyale Verhalten der Bundesrepublik innerhalb des westlichen Bündnisses und die Verlässlichkeit der Adenauerschen Politik sorgten schrittweise für eine positive Veränderung des Deutschland-Bildes, das so lange von negativen Akzenten beherrscht worden war. Die Bundesrepublik wurde von einer Gegnerin zu einer soliden Partnerin der Westmächte im Ost-West-Konflikt und beim Neuaufbau Europas. Der Preis dafür war die Teilung Deutschlands, die auf diese Weise unter den Bedingungen des Kalten Krieges nicht zu überwinden war und damit auf Dauer zementiert schien.
Ob eine Wiedervereinigung nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt möglich gewesen wäre - und wenn ja, zu welchen Konditionen -, ist in der historischen Forschung bis heute umstritten. Sicher ist nur, dass die Sowjetunion durch ihr Verhalten in Osteuropa nach der Besetzung dieses Territoriums durch die Rote Armee frühzeitig ihren Willen dokumentierte, die eroberten Gebiete nicht ohne Bedingungen wieder zu räumen. Das sowjetische Sicherheitsbedürfnis verlangte nach einem territorialen Einflussgürtel. Deutschland spielte dabei eine besondere Rolle, weil es nicht nur die Schuld am Zweiten Weltkrieg trug, sondern auch den Schlüssel zur Beherrschung Mittel- und Osteuropas darstellte.Welche Bedeutung Stalin der Kontrolle der deutschen Entwicklung beimaß, wird nicht zuletzt durch das umfangreiche Engagement der Sowjetunion bei der Ausbildung deutscher Exil-Kommunisten während des Krieges in Moskau unterstrichen, bei der kommunistische Kader systematisch auf ihren Einsatz im Nachkriegsdeutschland vorbereitet wurden. Die Machtübernahme der KPD/SED 1945/46 in der Sowjetischen Besatzungszone, mit der die Gründung eines kommunistischen deutschen Staates eingeleitet wurde, wäre ohne diese langfristige Kaderpolitik viel schwieriger, wenn nicht unmöglich gewesen.Die "Gruppe Ulbricht", die bereits am 30. April 1945 an Bord einer sowjetischen Militärmaschine in Berlin eintraf und deren Angehörige hier von einem sowjetischen Offizier freundlich als "Mitglieder der neuen deutschen Regierung" empfangen wurden, war nur ein Beispiel für den Einsatz in Moskau geschulter Funktionäre beim Aufbau des neuen Deutschlands. Eine vergleichbare Vorbereitung demokratischer Kräfte im Westen gab es nicht.Die Integration, die im Westen Deutschlands von Adenauer in langen politischen Kämpfen mühsam durchgesetzt werden musste, gelang daher im Osten problemlos: Die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) und später die DDR wurden praktisch vom ersten Tag an nahtlos in den sowjetischen Machtbereich eingefügt. Zwar gab es in Ostdeutschland anfangs durchaus auch politische Kräfte, insbesondere in der neu gegründeten Ost-CDU, für die Jakob Kaiser sprach, sowie in der Liberal-Demokratischen Partei und in geringerem Maße auch bei der SPD, die für einen "Brückenbau" plädierten und einem wiedervereinigten Deutschland eine Sonderrolle zwischen Ost und West zuweisen wollten.Aber Teile der einflussreichen Sozialdemokratie, die allerdings nur bis zur Zwangsvereinigung mit der KPD 1946 bestand, und vor allem die KPD votierten für eine Ostorientierung und eine revolutionäre Umgestaltung, um den Kapitalismus zu überwinden, der ihrer Auffassung nach direkt in den Nationalsozialismus gemündet hatte. Die grundlegenden Strukturreformen (Verstaatlichung, Planwirtschaft, Einparteiherrschaft), die nach 1945 in Ostdeutschland durchgeführt wurden, waren ein unübersehbares Signal für die Entschlossenheit der Sowjetunion und ihrer deutschen Verbündeten, zumindest in diesem Teil Deutschlands ihre Vorstellungen durchzusetzen.In dem Maße, in dem sich ab 1946 der Kalte Krieg ausprägte, wurde damit die Teilung vorangetrieben, obwohl die Einheitsforderung verbal aufrechterhalten wurde. Faktisch war die Einbeziehung Ostdeutschlands in das sowjetische Imperium allerdings schon 1945 eine Tatsache, die auch nach Gründung der DDR 1949 nicht mehr in Zweifel gezogen wurde. Anders als in der Bundesrepublik, wo sich die Westintegration mit großer Zustimmung der Bevölkerung vollzog, wurde diese Entwicklung im Osten jedoch von vielen Menschen als politische Katastrophe empfunden.Die Sowjetunion beherrschte mittels ihrer Besatzungsbehörden die Situation und ließ den ostdeutschen Politikern - einschließlich der Kommunisten - keinerlei Spielraum. Eine freie Wahl gab es für die Bevölkerung in Ostdeutschland im Innern ebensowenig wie nach außen. Damit war - von Anfang an - ein Legitimitätsdefizit des politischen Regimes vorprogrammiert, das bis 1989 nie kompensiert werden konnte. Da die DDR ihre Existenz einzig der sowjetischen Besatzungsmacht verdankte, blieb die Anwesenheit sowjetischer Streitkräfte auch später eine zentrale Bestandsgarantie für das Regime. Und als diese Bestandsgarantie Mitte der achtziger Jahre unter dem sowjetischen Partei- und Staatschef Michail Gorbatschow erstmals in Frage gestellt wurde, war das Ende der DDR nicht mehr fern. Vorerst beherrschte indessen der Ost-West-Konflikt die Entwicklung in Deutschland und Europa und machte jeden Gedanken an eine Überwindung des Status quo von 1945 illusorisch. Immerhin trug diese Situation durch die enge Einbeziehung der beiden deutschen Staaten in die jeweiligen Machtblöcke dazu bei, das deutsche Negativ-Image zu relativieren und die Furcht vor Deutschland und den Deutschen abzubauen: Indem die Siegermächte ihren jeweiligen Teil Deutschlands in ihr Bündnissystem einfügten, hielten sie ihn zugleich unter Kontrolle. Im Westen war dieser Prozess sogar wechselseitig: Hier galt das Prinzip der Integration, bei dem neue überstaatliche Strukturen entstanden. Sie führten zunehmend zu einer Wiederaufwertung der deutschen Position mit der Tendenz, die Deutschen vollberechtigt in die internationale Staatengemeinschaft wiederaufzunehmen.In den fünfziger und sechziger Jahren, als der Kalte Krieg die Ost-West-Beziehungen bestimmte, bedeutete diese Entwicklung jedoch auch Entfremdung der beiden deutschen Staaten voneinander sowie ein hohes Maß an Konflikten und gegenseitiger Abgrenzung zwischen Ost und West. Das Bild vom "militaristischen Deutschen" der Vergangenheit wurde auf beiden Seiten durch neue Feindbilder ersetzt, die sich nun an der ideologischen Auseinandersetzung zwischen den Blöcken orientierten: hier der "imperialistische Klassenfeind" in der Bundesrepublik, dort das "kommunistische Satelliten-Regime" in der DDR.Erst mit Beginn der Lockerung der Ost-West-Konfrontation nach der Doppelkrise um Berlin und Kuba 1961/62, die den Wendepunkt im Kalten Krieg hin zur Entspannungs- und Kooperationspolitik markierte, gelang es, die positiven Auswirkungen, welche die Politik der Führungsmächte bereits innerhalb der jeweiligen Blöcke auf das deutsche Image gehabt hatte, auf das Ost-West-Verhältnis zu übertragen.Einen großen Anteil an dieser Entwicklung hatte die neue Ostpolitik der Bundesrepublik unter Bundeskanzler Willy Brandt, der mit seiner sozialliberalen Koalition nach den Bundestagswahlen vom 20. September 1969 die Regierung übernahm. Brandt hatte als Regierender Bürgermeister von Berlin den Mauerbau am 13. August 1961 miterlebt und danach rasch die Erkenntnis gewonnen, dass entgegen den Hoffnungen der fünfziger Jahre eine Überwindung der deutschen Teilung noch für lange Zeit unmöglich sein werde, weil die mit Unterstützung der Sowjetunion erfolgte äußere Abriegelung der DDR dem SED-Regime vorerst zu einer Stabilisierung verhalf.Brandt schloss daraus, dass man in der Deutschlandpolitik nunmehr vom Status quo ausgehen müsse. Sogar direkte Vereinbarungen mit der DDR sollte es nun geben,um den Kontakt zwischen den Menschen in beiden Staaten nicht abreißen zu lassen. Außerdem ging es darum, kurzfristig "menschliche Erleichterungen" im geteilten Deutschland zu erreichen und langfristig durch gegenseitigen Kontakt und Beeinflussung vielleicht einen "Wandel durch Annäherung" herbeizuführen, wie Brandts Pressesprecher Egon Bahr im Juli 1963 in Tutzing erklärt hatte.
Diese neue Ostpolitik, die in den sechziger Jahren vorbereitet und nach 1969 im Rahmen einer allgemeinen Ost-West-Entspannung in die Tat umgesetzt wurde, führte innerhalb kurzer Zeit, zwischen 1970 und 1973, zu den Ostverträgen der Bundesrepublik mit Moskau, Warschau und Prag sowie zum Vier-Mächte-Abkommen über Berlin und zum Grundlagenvertrag mit der DDR, in denen die bestehenden Grenzen anerkannt, der Status Westberlins gesichert und Maßnahmen zur Zusammenarbeit vereinbart wurden. Die neue Ostpolitik leistete auf diese Weise einen wichtigen Beitrag zur Entschärfung des Ost-West-Konflikts. Außerdem schuf sie die Voraussetzungen für die Einberufung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, heute OSZE - Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) sowie für Gespräche über beiderseitige, ausgewogene Truppenbegrenzungen und trug so dazu bei, der gesamteuropäischen Entspannung den Weg zu ebnen.Alle diese Entwicklungen ließen die "deutsche Gefahr", die vor allem die Nachbarn Deutschlands mit Sorge erfüllte, in einem neuen Licht erscheinen: Die Deutschen waren nicht länger "Störenfriede", sondern fügten sich, wie schon seit 1945 innerhalb der Blöcke, nunmehr auch in die Neugestaltung der Ost-West-Beziehungen ein. Dabei stellte die Sicherung des Status quo ein zentrales Element dar, weil ohne die Anerkennung der bestehenden Grenzen und Einflusssphären keine Kooperation über die machtpolitischen und ideologischen Gräben des Kalten Krieges hinweg möglich gewesen wäre.
Die Wahl in der DDR vom 18. März 1990 wurde nicht nur durch die Diskussion über die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion zwischen den beiden deutschen Staaten bestimmt, sondern stand insgesamt bereits stark unter dem Einfluss westdeutscher Parteien und Politiker. Dieses bestimmende westliche Engagement war weniger das Ergebnis eines gezielten Handelns der westdeutschen Vertreter, als vielmehr die Folge des rapiden Zerfalls der Autorität des ostdeutschen Staates, der zu Jahresbeginn 1990 ein bemerkenswertes Ausmaß erreichte. So ergab eine Anfang Februar vom Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung und dem westdeutschen Nationalen Marktforschungsinstitut gemeinsam durchgeführte Meinungsumfrage, dass 75 Prozent der Ostdeutschen sich nunmehr für die Wiedervereinigung aussprachen - 27 Prozent mehr als im November 1989.Der Wahlkampf für die ersten freien Parlamentswahlen der DDR am 18. März wurde von diesem Stimmungswandel bestimmt. Die Wahl war ursprünglich für den 6. Mai geplant gewesen, aber die Modrow-Regierung und die Oppositionsvertreter am Runden Tisch hatten am 28. Januar entschieden, den Termin vorzuverlegen, da sich die politische und wirtschaftliche Situation derart schnell verschlechterte, dass es fraglich war, ob die DDR im Mai überhaupt noch existieren würde. Nun bewarben sich neben der SED, die jetzt unter dem Namen "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) antrat und als lange eingespielte Organisation mit großem Mitarbeiterstab kaum Probleme hatte, den Wahlkampf aufzunehmen, mehr als 50 neue politische Gruppierungen und Parteien um die Gunst der Wählerinnen und Wähler. Die Mitgliederzahl der SED/PDS war zwar innerhalb weniger Monate von 2,4 Millionen auf 890.000 Ende Januar 1990 gesunken, aber dennoch war die alte DDR-Staatspartei den politischen Amateuren der neu gebildeten Gruppierungen hinsichtlich Organisation, Parteidisziplin und politischer Erfahrung weit überlegen. Das Neue Forum kann als ein Beispiel für die organisatorische und konzeptionelle Schwäche idealistischer Kräfte im politischen Alltag gelten. Gegründet im September 1989 von einer Initiativgruppe unter Führung von Bärbel Bohley und Jens Reich, sollte es dazu verhelfen, aus dem Volk heraus ein neues, humanes und sozialistisches Ostdeutschland zu schaffen. Ziel des Neuen Forums war es, dem Willen der Menschen Ausdruck zu verleihen, ohne ihnen bereits vorgegebene Strukturen oder Konzeptionen überzustülpen. Unter der kommunistischen Herrschaft war dieser Ansatz kühn und herausfordernd gewesen. Inzwischen wurde er jedoch von vielen angesichts der Verlockungen der westlichen Wohlstandsgesellschaft für überholt gehalten. Andere Bürgerbewegungen, wie Demokratie Jetzt und die Initiative für Frieden und Menschenrechte, litten unter ähnlichen Motivationsproblemen und konzeptionellen Schwächen. Die Ursprünge von Demokratie Jetzt, die ihre Wurzeln in der evangelischen Kirche der DDR hatte, reichten bis 1986 zurück. Die eigentliche Gründung erfolgte jedoch erst Mitte September 1989 mit einem "Aufruf zur Einmischung", der unter anderem von Wolfgang Ullmann und Konrad Weiß unterzeichnet worden war. In einem "Bündnis aller reformwilligen Menschen, auch von Christen und kritischen Marxisten", wurde zur "demokratischen Umgestaltung der DDR" aufgefordert, in der ein eigener Sozialismus verwirklicht werden sollte. Die Forderungen schlossen jedoch auch die Bundesrepublik ein: Beide deutschen Staaten sollten sich "um der Einheit willen aufeinander zu reformieren".Die Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM) war aus der internationalen Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre hervorgegangen und hatte sich 1986 als erste unabhängige Oppositionsgruppe in der DDR etabliert, um die Abrüstung zu fördern und politische Dissidenten zu unterstützen. Die IFM ließ sich durchaus mit ähnlichen Gruppierungen im Westen vergleichen und unterhielt Arbeitsbeziehungen zur Alternativen Liste in West-Berlin und zu den Grünen in Westdeutschland. Im Hinblick auf die Volkskammerwahlen am 18. März schloss sich die IFM mit dem Neuen Forum und Demokratie Jetzt zu einem Wahlbündnis unter der Bezeichnung "Bündnis 90" zusammen.Die gemeinsame Schwäche aller drei Gruppierungen war jedoch das Fehlen starker westlicher Partner und einer funktionierenden Parteiorganisation. Sie waren als Bürgerbewegungen gegründet worden und stützten sich auf ein Netzwerk von "Basisgruppen", die mehr oder weniger unabhängig voneinander operierten, ohne festes Programm und strenge Disziplin. Hintergrund dieses Bemühens um maximalen Bewegungsspielraum und größtmögliche Pluralität war die Erfahrung von nahezu sechs Jahrzehnten nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur. "Basisdemokratie" erschien deshalb als magische Formel für ein alternatives Regierungskonzept, das die meisten Anhänger der Initiativgruppen - viele von ihnen Intellektuelle, Künstler, aktive Kirchenmitglieder und frühere Dissidenten - für ideal hielten, um das SED-Regime zu ersetzen. Die Frage war nur, ob auch eine Mehrheit der DDR-Bürger nach 40 Jahren Kommunismus bereit war, ein weiteres Experiment zu wagen, oder ob sie eher den bewährten Konzepten nach westlichem Vorbild zuneigten, die die etablierten Parteien anboten. Die Sozialdemokratische Partei, die Anfang Oktober 1989 von 43 Dissidenten - unter ihnen der Dramaturg Ibrahim Böhme und Pastor Markus Meckel - in Schwante nahe Oranienburg gegründet worden war, verfügte über ein derartiges bewährtes Programm. Die ostdeutschen Sozialdemokraten konnten sich nicht nur auf die lange Tradition der deutschen Arbeiterbewegung berufen, sondern erhielten auch frühzeitig Unterstützung von ihrer Schwesterpartei, der mächtigen westdeutschen SPD. Ein gemeinsamer "Verbindungsausschuss" wurde eingerichtet, und eine ganze Reihe von SPD-Politikern und politischen Experten reiste in die DDR, um ihren ostdeutschen Kollegen beim Aufbau einer effektiven Parteiorganisation zu helfen. Willy Brandt wurde Ehrenvorsitzender der ostdeutschen Sozialdemokraten; Wahlkampfposter porträtierten ihn über seinem oft zitierten Slogan "Was zusammengehört, wächst zusammen". Die Ost-SPD konnte der Wahl damit zuversichtlich entgegensehen. Die meisten politischen Beobachter gingen davon aus, dass sie überlegen gewinnen und die neue Regierung stellen würde.Auf der anderen Seite zögerte die westdeutsche CDU sehr viel länger, ihr ostdeutsches Pendant zu unterstützen. Ihr Problem bestand darin, dass die Ost-CDU keine Neugründung war, sondern vierzig Jahre lang als "Blockpartei" in der Nationalen Front mit der SED kollaboriert und die Kommunisten unterstützt hatte. Auch nachdem ihr Vorsitzender Gerald Götting am 10. November 1989 durch Lothar de Maizière ersetzt worden war und bis Mitte Dezember ergänzende personelle und programmatische Veränderungen vorgenommen worden waren, ließen sich die Belastungen der Vergangenheit nicht so leicht abstreifen. Kooperationsangebote der westdeutschen Christdemokraten blieben daher zunächst aus. Dazu trugen auch Äußerungen de Maizières bei, der am 19. November in einem Interview erklärte, er halte den "Sozialismus für eine der schönsten Visionen menschlichen Denkens" und teile nicht die Auffassung, "dass die Forderung nach Demokratie zugleich die Forderung nach Abschaffung des Sozialismus beinhaltet". Auch sei die Einigung Deutschlands nicht "das Thema der Stunde". Es handele sich dabei vielmehr um Überlegungen, "die vielleicht unsere Kinder oder unsere Enkelanstellen können".Kopfzerbrechen bereitete der West-CDU ferner, dass ihre ostdeutsche Schwesterpartei aktiv in der Modrow-Regierung mitarbeitete und noch am 19. Januar für eine Fortsetzung dieser Tätigkeit votierte, um "die Situation im Lande nicht weiter zu destabilisieren". Bundeskanzler Kohl wartete daher bis Anfang Februar, ehe er zum ersten Mal mit Lothar de Maizière zusammentraf, um seine Hilfe anzubieten.Inzwischen waren mit dem Demokratischen Aufbruch (DA) und der Deutschen Sozialen Union (DSU) zwei weitere, eher konservative Gruppierungen entstanden, die als Bündnispartner in Frage kamen. Der DA war teils christlich-ökologisch, teils christlich-konservativ orientiert und wurde personell vor allem von Pastor Friedrich Schorlemmer aus Wittenberg, Rechtsanwalt Wolfgang Schnur aus Rostock und dem Ostberliner Pastor Rainer Eppelmann getragen. Insbesondere Eppelmann favorisierte eine Parteistruktur nach dem Muster der westdeutschen CDU. Die DSU war eine Partei liberaler, konservativer und christlichsozialer Kräfte vornehmlich aus dem Süden der DDR. Sie wurde - unter dem Vorsitz von Pfarrer Hans-Wilhelm Ebeling - stark von der bayerischen CSU unterstützt und forderte "Freiheit statt Sozialismus". Die Stärke des DA, der DSU und der Ost-CDU war schwer zu beurteilen. Da die konservativen Kräfte gespalten waren, befürchtete die West-CDU bei der bevorstehenden Volkskammerwahl einen Erdrutschsieg der SPD. Nicht zuletzt aus diesem Grunde ließ sich Kohl trotz erheblicher Bedenken zur persönlichen Begegnung mit de Maizière bewegen, um Möglichkeiten für ein konservatives Wahlbündnis zu erörtern. Kohl, Seiters und der Generalsekretär der West-CDU, Volker Rühe, trafen danach am 5. Februar de Maizière, Schnur und Ebeling, um die so genannte Allianz für Deutschland zwischen CDU, DA und DSU zu gründen, die im folgenden Wahlkampf geeint antrat.Die westdeutschen Liberalen warteten ebenfalls sehr lange, bis zum 12. Februar, ehe sie sich entschlossen, eine ostdeutsche Koalition - die Allianz der Freien Demokraten - zu unterstützen, während die Grünen einer ganzen Reihe von Umweltgruppen und Linksparteien zu Hilfe kamen, darunter der Grünen Liga, der Grünen Partei in der DDR und der Vereinigten Linken. Die extreme Rechte der Bundesrepublik wurde indessen durch einen Beschluss der Volkskammer von einem Engagement in der DDR abgehalten: Die Republikaner wurden verboten, ihr Gründer, Franz Schönhuber, wurde an der Einreise gehindert.Die Spitzen der westdeutschen Politik, die kurz zuvor noch jegliche Einflussnahme in der DDR von sich gewiesen hatten, übernahmen nun de facto die Verantwortung für die Entwicklung in Ostdeutschland. Insgesamt 7,5 Millionen DM wurden von den Westparteien für den Wahlkampf in der DDR aufgewandt. Davon entfielen nicht weniger als 4,5 Millionen DM auf CDU und CSU, während SPD und FDP sich mit jeweils etwa 1,5 Millionen DM begnügten.Bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 konnten sich 12,2 Millionen Wahlberechtigte in der DDR zwischen 19 Parteien und fünf Listenverbindungen, die weitere 14 Parteien repräsentierten, entscheiden. Meinungsumfragen zufolge lag die SPD in der Wählergunst Anfang Februar noch mit 54 Prozent der Stimmen weit in Führung, gefolgt von der PDS mit zwölf Prozent und der CDU mit elf Prozent.Doch nachdem Bundeskanzler Kohl am 6. Februar - einen Tag nach Gründung der "Allianz für Deutschland" - die baldige Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion angekündigt hatte, während der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel am 15. Februar im Deutschen Bundestag gegen einen solchen Schritt aufgetreten war, wandelte sich die Stimmung grundlegend: Als der Kanzler wenig später zu seinem ersten Wahlkampfauftritt in der DDR erschien, erwarteten ihn auf dem Platz vor der gotischen Kathedrale in Erfurt mehr als 100.000 Menschen - in einer Stadt von immerhin nicht mehr als 220.000 Einwohnern. Bei folgenden Auftritten in Cottbus und Leipzig, wo er den 1:1 Währungsumtausch versprach, war es nicht anders. In Leipzig gingen sogar 300.000 auf die Straße, um Kohl zu begrüßen.Der Erfolg gab dem Bundeskanzler recht: Am 18. März stimmten 48,0 Prozent für die Parteien der Allianz für Deutschland, nur 21,9 Prozent für die SPD, 16,4 Prozent für die PDS und 5,3 Prozent für die Allianz Freier Demokraten. Das Bündnis 90 - die Vereinigung von Neuem Forum, Demokratie Jetzt und der Initiative für Frieden und Menschenrechte - musste sich mit nur 2,9 Prozent der Stimmen begnügen. Das Ergebnis war ein unüberhörbarer Ruf nach rascher Wiedervereinigung und Marktwirtschaft sowie eine klare Zurückweisung jeglicher Form des Sozialismus. Davon wurden auch die Sozialdemokraten negativ betroffen, die die drängenden Wiedervereinigungserwartungen vieler Ostdeutscher enttäuscht hatten.
Dieser Wahlausgang bedeutete zugleich das Ende der DDR. In den ersten freien Wahlen, die hier überhaupt jemals stattgefunden hatten, votierten die Bürgerinnen und Bürger mehrheitlich gegen den Staat, der ihnen von einer kommunistischen Minderheit mit sowjetischer Rückendeckung aufgezwungen worden war und zu dessen Abwahl ihnen zuvor niemals Gelegenheit gegeben worden war.Das Selbstbestimmungsrecht der Völker hatten die Menschen in der DDR nun erstmals mit dem Stimmzettel ausüben können. Zuvor hatten sie nur die Chance gehabt, einen Ausreiseantrag zu stellen und damit eine "Abstimmung mit den Füßen" zu praktizieren. Die ersten freien Wahlen beschleunigten entscheidend den Wiedervereinigungsprozess. Ihm vermochten sich nun weder die Regierungen in Ostberlin und Bonn noch die Vier Mächte, die seit 1945 Verantwortung für Deutschland als Ganzes trugen, länger zu widersetzen.
Die "friedliche Revolution" in der DDR war nicht allein ein Aufbegehren gegen das bestehende politische System. Dass sich die zunächst auf einzelne Gruppen von Bürgerrechtlern beschränkten Proteste gegen die gefälschten Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 binnen eines halben Jahres zu einer wahren Massenbewegung verwandelten, hatte ganz entscheidend auch mit der verbreiteten Unzufriedenheit über die wirtschaftlichen Verhältnissen zu tun: Versorgungsmängel nicht nur bei Wohnungen oder Kraftfahrzeugen, sondern selbst bei eher alltäglichen Waren wie zum Beispiel Kaffee oder modischer Kleidung waren allgegenwärtig. Der desolate Zustand von Infrastruktur, Wohnungswesen und Umwelt war für jeden sichtbar und auch der Verschleiß der Produktionskapazitäten nicht mehr zu übersehen. Auch der Staatsführung war dies durchaus bekannt. Die Staatliche Plankommission stellte in einem internen Papier im Oktober 1989 fest, dass die DDR seit langem über ihre Verhältnisse gelebt habe und kurz vor der Zahlungsunfähigkeit stehe: "Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25-30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar machen", so die drastische Schlussfolgerung. Durchaus folgerichtig wurden die Mängel der zentralen Planwirtschaft als Hauptursache hierfür benannt und grundlegende Reformen angemahnt, insbesondere eine stärkere Dezentralisierung wirtschaftlicher Entscheidungen und die Nutzung von Gewinnanreizen auf betrieblicher Ebene. "Insgesamt geht es um die Entwicklung einer an den Marktbedingungen orientierten sozialistischen Planwirtschaft bei optimaler Ausgestaltung des demokratischen Zentralismus, wo jede Frage dort entschieden wird, wo die dafür nötige, größere Kompetenz vorhanden ist", so die entscheidende Passage in dem zitierten Papier der Plankommission. Zu einer solchen grundlegenden Reform kam es dann jedoch nicht mehr: Innerhalb nur weniger Monate lösten sich nicht nur die Regierung, sondern auch das politische System, die bestehende Wirtschaftsordnung und schließlich der Staat selbst auf. Nur ein knappes Jahr nach den Massenprotesten des Jahres 1989 war Deutschland wiedervereinigt. Die DDR war zu diesem Zeitpunkt wirtschaftlich gesehen am Ende. Nach der Öffnung der Grenzen sahen sich die bislang geschützten DDR-Betriebe zudem dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt. Nicht die Einführung der Marktwirtschaft und die Umstände der Vereinigung waren also der Grund dafür, dass es nach dem Mauerfall binnen kurzer Zeit zu einem weitgehenden Zusammenbruch der bestehenden Unternehmen kam. Sicherlich sind angesichts fehlender Erfahrungen mit dem Umbau einer Zentralverwaltungswirtschaft in eine Marktwirtschaft in Teilbereichen Fehler gemacht worden, etwa bei der politisch motivierten Bestimmung des Umtauschkurses zwischen Ost-Mark und D-Mark, der weitgehenden Übertragung westlicher Rechtsvorschriften auf den Osten oder der Festlegung auf das Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" bei der Reprivatisierung enteigneten Eigentums. Der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft wäre aber auch nicht zu vermeiden gewesen, hätte man alles richtig gemacht. Angesichts einer insbesondere bei der älteren Bevölkerung in Ostdeutschland verbreiteten Verklärung der Verhältnisse in der DDR kann dies nicht deutlich genug betont werden. Auch wenn es noch viele Probleme in Ostdeutschland gibt, kann die wirtschaftliche Entwicklung seit der Vereinigung im großen und ganzen als Erfolgsgeschichte betrachtet werden. Dies wird trotz aller Kritik von der großen Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung auch so anerkannt; eine Rückkehr zu sozialistischen Verhältnissen jedenfalls wird nur von wenigen gefordert. Dennoch: Der Einbruch der Wirtschaft unmittelbar nach der "Wende" war schmerzhaft. Schätzungen zufolge lag die Wirtschaftsleistung in Ostdeutschland im Frühjahr 1991 um rund 35 Prozent niedriger als ein Jahr zuvor. Aber schon im Verlauf des Jahres 1991 begann ein rasanter Aufholprozess. Mit der Gründung neuer Unternehmen, dem Aufbau moderner Produktionsstätten durch auswärtige Investoren und der Sanierung und Privatisierung ehemaliger DDR-Betriebe, erhöhte sich das (preisbereinigte) Bruttoinlandsprodukt in den Jahren 1991 bis 1995 um insgesamt 50 Prozent (vgl. Abbildung 1). Getragen wurde das Wachstum insbesondere vom Baugewerbe, das vom hohen Nachholbedarf bei der Verkehrsinfrastruktur und im Wohnungswesen profitieren konnte. In der Industrie kam der Aufschwung hingegen erst zeitverzögert in Gang, da der Aufbau neuer Produktionskapazitäten mehr Zeit benötigte. Gegenläufig war hingegen die Entwicklung am Arbeitsmarkt: Da in den neuen, moderneren Produktionsanlagen deutlich weniger Personal benötigt wurde als zuvor, nahm die Zahl der Erwerbstätigen stark ab, während die Arbeitslosigkeit massiv anstieg. Hinzu kam eine nicht an der Leistungsfähigkeit der Betriebe orientierte Lohnpolitik einerseits und der notwendige Personalabbau in systemnahen Bereichen wie Polizei, Militär und Staatssicherheit. Bereits 1992 lag die Arbeitslosenquote trotz aller arbeitsmarktpolitischen Gegenmaßnahmen in den neuen Ländern bei rund 15 Prozent.; Rechnet man die so genannte verdeckte Arbeitslosigkeit zum Beispiel durch öffentliche Arbeitsbeschaffungs- und Fortbildungsmaßnahmen hinzu, war sogar ein Drittel aller Erwerbspersonen ohne reguläre Beschäftigung. Trotz leichter Erfolge beim Abbau der Arbeitslosigkeit hat sich hieran auch bis 1995 nichts Grundlegendes geändert. Nach 1995 hat sich der sogenannte "Aufbau Ost" nur noch mit abgeschwächtem Tempo fortgesetzt. Das jahresdurchschnittliche Wachstum des (preisbereinigten) Bruttoinlandsprodukts betrug zwischen 1995 und 2008 nur noch 1,6 Prozent. Die gesamtwirtschaftliche Produktion war zuletzt um 23 Prozent höher als Mitte der 1990er Jahre. Grund für das abgeschwächte Wachstum war zum einen die einsetzende Strukturbereinigung im Baugewerbe: Anfänglich aufgebaute Produktionskapazitäten waren aufgrund der nachlassenden Nachfrage nicht länger ausgelastet. Eine Rolle spielte aber auch, dass mit dem Ende der Privatisierungstätigkeit der Treuhandanstalt die Investitionstätigkeit auswärtiger Unternehmen in den neuen Ländern nachließ. Auch die Beschäftigungssituation hat sich aus diesen Gründen nicht grundlegend gebessert. Bei rückläufigem Arbeitsangebot ist die Unterbeschäftigungsquote, die das tatsächlich vorhandene Arbeitsplatzdefizit auf dem ersten Arbeitsmarkt ausweist, zwar auf 16 Prozent im Jahr 2008 zurückgegangen, die offiziell ausgewiesene Arbeitslosenquote ist mit 13 Prozent aber immer noch doppelt so hoch wie in Westdeutschland.
Die Industrie hat sich indes auch in den letzten Jahren weiterhin positiv entwickelt. Das Produktionsniveau in diesem Wirtschaftsbereich lag im Jahr 2008 rund zweieinhalb Mal so hoch wie im Jahr 1995. Hier wurden in den letzten Jahren sogar wieder neue Arbeitsplätze geschaffen. Vor allem in "neuen" Branchen wie der Photovoltaik oder der optoelektronischen Industrie haben sich wettbewerbsfähige ökonomische Entwicklungskerne herausgebildet, die zunehmend auch der regionalen Wirtschaftsentwicklung Impulse verleihen. So können Städte wie Dresden und Jena – bedeutende Standorte dieser Branchen – entgegen dem ostdeutschen Trend Wanderungsgewinne erzielen, was wiederum auch zu günstigen Wachstumsperspektiven für die lokale Wirtschaft führt. Eine bedeutsame Rolle beim Aufbau Ost spielte von Anfang an die Politik. Neben der Erneuerung und Erweiterung der Infrastruktur (insbesondere im Verkehrsbereich) wurden mit hohem finanziellem Einsatz private Investitionen gefördert: Für Existenzgründer wurde Kapital bereitgestellt und die Modernisierung der Produktpalette in bestehenden Unternehmen wurde insbesondere mit Hilfen für Forschung und Entwicklung unterstützt. Darüber hinaus waren die neuen Länder von Anfang an gleichberechtigt in die sozialen Sicherungssysteme einbezogen. Dies hatte insbesondere in der Arbeitslosen- und Rentenversicherung hohe Ausgaben zur Folge. Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und den dadurch nur geringen Beitragseinnahmen konnten die Leistungen der Sozialsysteme jedoch nur durch Ausgleichszahlungen aus den westdeutschen Zweigen dieser Versicherungen bzw. dem Bundeshaushalt aufgebracht werden. Hinzu kamen Zahlungen im Rahmen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs zur Kompensation geringer Steuereinnahmen. Diese sogenannten "Transferleistungen" für die neuen Länder (ohne Berlin) beliefen sich Schätzungen zufolge im Zeitraum 1991 bis 2005 auf knapp 900 Milliarden Euro (netto), wobei der größte Teil auf Sozialausgaben entfällt. Derzeit wird noch immer rund ein Fünftel der inländischen Nachfrage in Ostdeutschland (Öffentlicher und Privater Verbrauch sowie Investitionen) durch Mittel finanziert, die den neuen Ländern aus Westdeutschland zufließen. Dies zeigt, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland noch längst nicht als "selbsttragend" angesehen werden kann. Über die wirtschaftliche Situation herrscht in Ostdeutschland vielfach Unzufriedenheit. Gründe dafür sind auch der nach wie vor bestehende Einkommensrückstand gegenüber dem Westen und die als schlecht empfundenen Beschäftigungschancen. Viele Menschen in Ostdeutschland fühlen sich daher ungerecht und wie "Bürger zweiter Klasse" behandelt. Teilweise erscheint dies verständlich, denn nach wie vor liegt das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in den neuen Ländern nur bei 68 Prozent und die Arbeitsproduktivität nur bei 77 Prozent des westdeutschen Durchschnittswertes (Ost- und Westdeutschland jeweils ohne Berlin). Dies ist freilich vor allem auf unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen in Ost- und Westdeutschland zurückzuführen: Großunternehmen wie im Westen gibt es in den neuen Ländern kaum, die meisten Firmen weisen nur eine sehr geringe Größe auf und sind deswegen kaum in der Lage, höhere Löhne zu zahlen. Zudem fehlt es an Firmenzentralen mit einer hohen Präsenz einkommensstarker Tätigkeiten, beispielsweise in Forschung und Entwicklung. Schließlich ist die Industrie und der unternehmensnahe Dienstleistungssektor – Branchen, die typischerweise günstige Einkommensperspektiven für die Menschen bieten – in Ostdeutschland schwächer vertreten als in Westdeutschland; deutlich stärker sind hingegen die haushaltsnahen Dienstleistungen, bei denen im Regelfall nur geringe Löhne gezahlt werden. Und schließlich ist auch die hohe Arbeitslosigkeit nicht nur auf einen Mangel an Arbeitsplätzen, also eine unzureichende Arbeitsnachfrage zurückzuführen, sondern zum Teil auch auf die traditionell hohe Erwerbsbeteiligung in den neuen Ländern, also ein höheres Arbeitsangebot. Um einen Ausgleich zu schaffen, wären also in Ostdeutschland institutionelle Rahmenbedingungen erforderlich, die eine höhere Arbeitsintensität in der Produktion ermöglichen, was aber eben nicht der Fall ist. Insoweit ist die vermeintliche Benachteiligung des Ostens zu einem guten Teil die Folge struktureller Defizite als Spätwirkung der Teilung Deutschlands. Und schließlich: Auch wenn die verfügbaren Einkommen je Einwohner nur bei rund 78 Prozent des westdeutschen Niveaus liegen, ist zu beachten, dass auch das allgemeine Preisniveau in den neuen Ländern noch immer etwas niedriger liegt (insbesondere infolge der niedrigeren Mieten), so dass sich die Einkommen in realer Betrachtung durchaus schon weit angeglichen haben. Gleichwohl: Nicht zu verkennen ist, dass der "Aufbau Ost" in den vergangenen Jahren nur noch schleppend vorangekommen ist und dass auch für die Zukunft nicht mit einer deutlichen Verbesserung der Situation gerechnet werden kann. Grund hierfür sind vor allem die Herausforderungen, die aus der demographischen Entwicklung resultieren: Von 1989 bis heute hat sich die Bevölkerung in den ostdeutschen Flächenländern um rund 14 Prozent reduziert. Alle Prognosen deuten darauf hin, dass sich dieser Prozess auch in Zukunft fortsetzen wird – für das Jahr 2020 wird nochmals mit einer um rund 10 Prozent niedrigeren Bevölkerungszahl gerechnet. Grund hierfür ist nicht nur die Abwanderung insbesondere jüngerer und zumeist gut qualifizierter Menschen, sondern in noch stärkerem Maße der starke Geburtenrückgang nach der Vereinigung. Dies ist freilich vor allem auf unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen in Ost- und Westdeutschland zurückzuführen: Großunternehmen wie im Westen gibt es in den neuen Ländern kaum, die meisten Firmen weisen nur eine sehr geringe Größe auf und sind deswegen kaum in der Lage, höhere Löhne zu zahlen. Zudem fehlt es an Firmenzentralen mit einer hohen Präsenz einkommensstarker Tätigkeiten, beispielsweise in Forschung und Entwicklung. Schließlich ist die Industrie und der unternehmensnahe Dienstleistungssektor – Branchen, die typischerweise günstige Einkommensperspektiven für die Menschen bieten – in Ostdeutschland schwächer vertreten als in Westdeutschland; deutlich stärker sind hingegen die haushaltsnahen Dienstleistungen, bei denen im Regelfall nur geringe Löhne gezahlt werden. Und schließlich ist auch die hohe Arbeitslosigkeit nicht nur auf einen Mangel an Arbeitsplätzen, also eine unzureichende Arbeitsnachfrage zurückzuführen, sondern zum Teil auch auf die traditionell hohe Erwerbsbeteiligung in den neuen Ländern, also ein höheres Arbeitsangebot. Um einen Ausgleich zu schaffen, wären also in Ostdeutschland institutionelle Rahmenbedingungen erforderlich, die eine höhere Arbeitsintensität in der Produktion ermöglichen, was aber eben nicht der Fall ist. Insoweit ist die vermeintliche Benachteiligung des Ostens zu einem guten Teil die Folge struktureller Defizite als Spätwirkung der Teilung Deutschlands. Und schließlich: Auch wenn die verfügbaren Einkommen je Einwohner nur bei rund 78 Prozent des westdeutschen Niveaus liegen, ist zu beachten, dass auch das allgemeine Preisniveau in den neuen Ländern noch immer etwas niedriger liegt (insbesondere infolge der niedrigeren Mieten), so dass sich die Einkommen in realer Betrachtung durchaus schon weit angeglichen haben. Gleichwohl: Nicht zu verkennen ist, dass der "Aufbau Ost" in den vergangenen Jahren nur noch schleppend vorangekommen ist und dass auch für die Zukunft nicht mit einer deutlichen Verbesserung der Situation gerechnet werden kann. Grund hierfür sind vor allem die Herausforderungen, die aus der demographischen Entwicklung resultieren: Von 1989 bis heute hat sich die Bevölkerung in den ostdeutschen Flächenländern um rund 14 Prozent reduziert. Alle Prognosen deuten darauf hin, dass sich dieser Prozess auch in Zukunft fortsetzen wird – für das Jahr 2020 wird nochmals mit einer um rund 10 Prozent niedrigeren Bevölkerungszahl gerechnet. Grund hierfür ist nicht nur die Abwanderung insbesondere jüngerer und zumeist gut qualifizierter Menschen, sondern in noch stärkerem Maße der starke Geburtenrückgang nach der Vereinigung. Die schrumpfende und zugleich stark alternde Bevölkerung macht es zunehmend schwieriger, ein hohes Wirtschaftswachstum zu erreichen, weil damit ein zusätzlicher Mangel an Fachkräften verbunden sein wird. Insbesondere wirtschaftlich wenig attraktive, peripher gelegene Regionen in den neuen Ländern dürften hiervon betroffen sein. Ostdeutsche Ballungszentren wie zum Beispiel das Umland von Berlin, Dresden oder auch Jena weisen hingegen zum Teil durchaus günstige Zukunftsperspektiven auf. Man muss sich daher wohl an den Gedanken gewöhnen, dass Ostdeutschland nicht nur dauerhaft eine strukturschwache Region in Deutschland bleiben wird, sondern auch daran, dass die regionalen Differenzierungen in den neuen Ländern künftig stark zunehmen werden. Dies stellt die Politik vor die Aufgabe, mit besonderen Konzepten den Aufbau Ost weiter zu unterstützen.
Im Erinnerungsbild vieler Ostdeutscher ist die Blitzprivatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhand-Anstalt, kurz Treuhand, von 1990 bis 1994 eher als "Abbau Ost" präsent. Damals verkaufte die zeitweise größte Staatsholding der Welt in weniger als fünf Jahren fast 14.000 Ostunternehmen an private Investoren und schloss zahlreiche weitere Betriebe für immer. Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft kostete nicht nur 80 Prozent der Erwerbstätigen vorübergehend oder auf Dauer den Arbeitsplatz. Sie war auch ein gigantisches Verlustgeschäft für den deutschen Staat. Noch im Oktober 1990 hatte Treuhand- Chef Detlev Karsten Rohwedder den Wert der Treuhand-Betriebe recht hoch geschätzt: "Der ganze Salat ist 600 Milliarden wert". Am Ende verdiente die Treuhand am Verkauf von Betrieben und Grundstücken gerade einmal 66,6 Milliarden Mark. Die Ausgaben überstiegen die Einnahmen jedoch bei Weitem. Die Kosten für den massiven Arbeitsplatzabbau in den Betrieben und die Beseitigung ökologischer und sonstiger Altlasten, Kreditbürgschaften, Verlustausgleichszahlungen an die Investoren, Beraterhonorare und die Altschulden der Betriebe, all das schlug bei der Treuhand zu Buche. Bei ihrer Selbstauflösung Ende 1994 hinterließ sie einen Schuldenberg von rund 250 Milliarden Mark. War die DDR-Wirtschaft nach 40 Jahren "real existierendem Sozialismus" tatsächlich keinen Pfifferling mehr wert, wie die Treuhändler behaupteten, oder ist das ostdeutsche Produktivvermögen im Schlussverkauf DDR auf verantwortungslose Weise verramscht worden, wie Treuhand-Kritiker meinen? Die Frage, wie man eine zentralistische Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft transformiert, war bis zum Zusammenbruch des Ostblocks niemals ernsthaft erörtert worden. Es gab weder Lehrbücher noch Präzedenzfälle. Dieses Argument führen die Treuhänder gern ins Feld, wenn man ihnen den Ausverkauf der DDR-Wirtschaft und das Plattmachen ganzer Industrien vorwirft. Zudem sei die Mehrzahl der Treuhandunternehmen mit etwa vier Millionen Beschäftigten, die sich 1990 im Besitz der Treuhand befanden, unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht überlebensfähig gewesen. Umso verwunderlicher ist es, dass man sich angesichts dieser Diagnose dennoch dazu entschloss, den Markt zum Richter über Tod und Leben der ehemaligen VEBs zu machen. Privatisierung nach Treuhand-Rezept, das bedeutete die Betriebe schleunigst an private Investoren zu verkaufen. Birgit Breuel, Nachfolgerin des 1991 von der Rote Armee Fraktion (RAF) erschossenen Treuhandpräsidenten Rohwedder, stellte die einfache Formel auf: "Schnelle Privatisierung bedeutet schnelle Sanierung." Die Treuhand erbte nicht nur eine nach westlichen Maßstäben vielfach veraltete und unproduktive Ökonomie, sondern auch eine Volkswirtschaft, die durch die deutsch-deutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 1. Juli 1990 mit einem Schlag ihrer Märkte beraubt worden war. Die Übernahme der D-Mark durch die DDR machte ostdeutsche Produkte in den Ostblockstaaten, wohin zwei Drittel der Exporte gingen, über Nacht unbezahlbar. Im Westen hatte die DDR ihre Produkte oft nur aufgrund des für den Außenhandel geltenden, inoffiziellen Umrechnungskurses von 4,40 DDR-Mark zu einer D-Mark verkaufen können. Auch dieser war nach der Währungsunion hinfällig. Zugleich wurde der ostdeutsche Binnenmarkt über Nacht mit Westprodukten überschwemmt. Es entbehrt nicht einer gewissen bitteren Ironie, dass die DDR-Bürger, deren Sparguthaben bis zu einer bestimmten Höhe (je nach Alter 2.000, 4.000 oder 6.000 Mark) im Kurs 1:1 in D-Mark umgetauscht worden waren, den Niedergang der DDR-Industrie nach Kräften beschleunigten, indem sie mit dem neuen, "echten" Geld all die Dinge kauften, die es in der DDR gar nicht oder nur in minderer Qualität gegeben hatte. Die politischen Visionäre, die im Osten die Wende gemanagt hatten, Bürgerrechtler, Künstler und Intellektuelle, konnten angesichts dieser Blitzmetamorphose des befreiten Volkes zu Bilderbuchkonsumenten nur die Köpfe schütteln.Die Währungsunion, die Bundeskanzler Helmut Kohl trotz der Bedenken der Bundesbank und anderer Kritiker hinsichtlich des Zeitpunktes und des Umtauschkurses durchsetzte, war zweifellos eine Katastrophe für die ostdeutsche Industrie. Für den Machterhalt des Kanzlers erwies sie sich jedoch als wesentlich. Das Versprechen, die D-Mark einzuführen und auf eine baldige Wiedervereinigung hinzuarbeiten, sicherte den DDR-Christdemokraten den Sieg in den ersten und letzten freien Wahlen in der Geschichte der DDR im März 1990 und bereitete Kohls eigene Wiederwahl bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen im Dezember 1990 vor. Nebenbei stoppte die Währungsunion vorerst auch die Massenflucht von DDR-Bürgern in den Westen. Sicher ist, dass die Währungsunion vor allem eine gigantische Staatssubvention für die westdeutsche Wirtschaft war, die ungestüm auf den neuen Markt drängte. Von Mitte 1990 bis 1997 wurden Waren und Dienstleistungen im Wert von 1,4 Billionen DM von West nach Ost transferiert. Das westdeutsche Bruttoinlandsprodukt stieg vor allem aufgrund der Nachfrage im Osten bis 1991 um fünf bis sechs Prozent, während es in der Noch- bzw. Ex-DDR im selben Zeitraum um fünfzehn bis zwanzig Prozent schrumpfte. Eine nach außen abgeschottete, technologisch veraltete und über weite Strecken unproduktive sozialistische Planwirtschaft war von einem Moment zum nächsten dem freien Markt und einem Zusammenprall mit der leistungsfähigsten Volkswirtschaft Europas ausgesetzt worden. Als die Treuhand sich anschickte, die ostdeutsche Wirtschaft zu "privatisieren" blieb ihr in vielen Bereichen oft wenig mehr, als die Trümmer der Kollision aufzusammeln, die postsozialistische Konkursmasse schnellstmöglich abzustoßen.
Die große Schnelligkeit, mit der die Treuhand sich ihrer Aufgabe entledigte und der Zeitdruck, unter den sie sich dabei selbst setzte, ist vielleicht das bemerkenswerteste Merkmal ihres Wirkens. Wo es an Zeit fehlte, stand der Anstalt immerhin eine andere Ressource in ausreichender Menge zur Verfügung: Geld. Womit denn auch nicht gespart wurde. Beträchtliche Summen wurden an im Osten tätige westdeutsche Liquidatoren, Unternehmensberater, Wirtschaftsprüfer und Notare gezahlt. Juristische Berater kassierten Stundensätze von bis zu 600 DM, Unternehmensberatungen wie Roland Berger, BCG, Kienbaum und Price Waterhouse erhielten für jede Außenstelle im "wilden" Osten bis zu 250.000 DM monatlich. Findige "Consultants" stellten für ihre Dienste 2.000 bis 4.000 DM pro Tag in Rechnung, bis die Treuhand nach Protesten des Bundesrechungshofes und interner Prüfung den Höchstsatz auf 2.000 DM begrenzte. Auch Politprominenz engagierte sich im Osten. Klaus von Dohnanyi (SPD), Exbürgermeister von Hamburg, beriet die Treuhand für einen hohen Tagessatz. Für Liquidatoren erwies sich das Betriebssterben im Osten als wahrer Segen, Millionenbeträge als Honorare waren keine Seltenheit. Die mit Abstand größten volkswirtschaftlichen Kosten ergaben sich jedoch aus den sozialen Folgen der marktwirtschaftlichen Rosskur und aus den ökologischen und sonstigen "Altlasten" der DDR-Betriebe, die plötzlich nach westdeutschen Maßstäben gemessen wurden. So wurden potenziell lukrative Privatisierungen zum Verlustgeschäft für die Treuhand. Beim Verkauf der ostdeutschen Braunkohlewirtschaft übernahm die Treuhand die Kosten für 95.000 Entlassungen ebenso wie für die Beseitigung sämtlicher ökologischer Altlasten – Rekultivierung durchwühlter Mondlandschaften, Müll- und Abraumbeseitigung und vieles mehr. Bei der Veräußerung der ostdeutschen Vereinigten Energiewerke (VEAG) (Jahresumsatz 1991: 6 Milliarden Mark) an Preussen- Elektra, RWE, die Bayernwerk AG und die EBH zahlte die Treuhand trotz des Kaufpreises von mehreren Milliarden Mark am Ende noch drauf. Die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS), die 1995 die noch verbliebenen Treuhand-Firmen übernahm, stellte bei 2.700 Verträgen aus der Frühphase der Privatisierung zum Teil grobe Unregelmäßigkeiten fest. Schlagzeilen machten dabei nur die wirklich großen Skandale, wie zum Beispiel der Verkauf der Geräte- und Regler- Werke Teltow an die westdeutschen Investoren Claus Wisser und Roland Ernst für eine Mark. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass allein der Substanzwert des Betriebes um die 170 Millionen Mark wert gewesen war. Ebenfalls eine Mark zahlten indische Investoren für die Textilbetriebe Thüringische Faser und Sächsische Kunstseiden GmbH. Nachdem die versprochenen Investitionen ausblieben, mussten die Firmen 1993 Konkurs anmelden. Bei derartigen "Geschäften" nimmt es nicht Wunder, dass ein Mitglied des Treuhand-Vorstandes bitter bemerkte, man habe oftmals nicht Betriebe ver-, sondern Investoren gekauft. Eine Privatisierung, bei der der Verkäufer den Markt zunächst durch ein riesiges Überangebot verzerrt und sich zudem noch selbst unter immensen Zeitdruck setzt, hat tatsächlich mit Marktwirtschaft nicht viel zu tun. Leitende Treuhand-Mitarbeiter erhielten gar Prämien für schnelle Privatisierungen. Potentielle "Investoren" hätten in keiner besseren Verhandlungsposition sein können. Dies ist freilich vor allem auf unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen in Ost- und Westdeutschland zurückzuführen: Großunternehmen wie im Westen gibt es in den neuen Ländern kaum, die meisten Firmen weisen nur eine sehr geringe Größe auf und sind deswegen kaum in der Lage, höhere Löhne zu zahlen. Zudem fehlt es an Firmenzentralen mit einer hohen Präsenz einkommensstarker Tätigkeiten, beispielsweise in Forschung und Entwicklung. Schließlich ist die Industrie und der unternehmensnahe Dienstleistungssektor – Branchen, die typischerweise günstige Einkommensperspektiven für die Menschen bieten – in Ostdeutschland schwächer vertreten als in Westdeutschland; deutlich stärker sind hingegen die haushaltsnahen Dienstleistungen, bei denen im Regelfall nur geringe Löhne gezahlt werden. Und schließlich ist auch die hohe Arbeitslosigkeit nicht nur auf einen Mangel an Arbeitsplätzen, also eine unzureichende Arbeitsnachfrage zurückzuführen, sondern zum Teil auch auf die traditionell hohe Erwerbsbeteiligung in den neuen Ländern, also ein höheres Arbeitsangebot. Um einen Ausgleich zu schaffen, wären also in Ostdeutschland institutionelle Rahmenbedingungen erforderlich, die eine höhere Arbeitsintensität in der Produktion ermöglichen, was aber eben nicht der Fall ist. Insoweit ist die vermeintliche Benachteiligung des Ostens zu einem guten Teil die Folge struktureller Defizite als Spätwirkung der Teilung Deutschlands. Und schließlich: Auch wenn die verfügbaren Einkommen je Einwohner nur bei rund 78 Prozent des westdeutschen Niveaus liegen, ist zu beachten, dass auch das allgemeine Preisniveau in den neuen Ländern noch immer etwas niedriger liegt (insbesondere infolge der niedrigeren Mieten), so dass sich die Einkommen in realer Betrachtung durchaus schon weit angeglichen haben. Gleichwohl: Nicht zu verkennen ist, dass der "Aufbau Ost" in den vergangenen Jahren nur noch schleppend vorangekommen ist und dass auch für die Zukunft nicht mit einer deutlichen Verbesserung der Situation gerechnet werden kann. Grund hierfür sind vor allem die Herausforderungen, die aus der demographischen Entwicklung resultieren: Von 1989 bis heute hat sich die Bevölkerung in den ostdeutschen Flächenländern um rund 14 Prozent reduziert. Alle Prognosen deuten darauf hin, dass sich dieser Prozess auch in Zukunft fortsetzen wird – für das Jahr 2020 wird nochmals mit einer um rund 10 Prozent niedrigeren Bevölkerungszahl gerechnet. Grund hierfür ist nicht nur die Abwanderung insbesondere jüngerer und zumeist gut qualifizierter Menschen, sondern in noch stärkerem Maße der starke Geburtenrückgang nach der Vereinigung. Dies ist freilich vor allem auf unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen in Ost- und Westdeutschland zurückzuführen: Großunternehmen wie im Westen gibt es in den neuen Ländern kaum, die meisten Firmen weisen nur eine sehr geringe Größe auf und sind deswegen kaum in der Lage, höhere Löhne zu zahlen. Zudem fehlt es an Firmenzentralen mit einer hohen Präsenz einkommensstarker Tätigkeiten, beispielsweise in Forschung und Entwicklung. Schließlich ist die Industrie und der unternehmensnahe Dienstleistungssektor – Branchen, die typischerweise günstige Einkommensperspektiven für die Menschen bieten – in Ostdeutschland schwächer vertreten als in Westdeutschland; deutlich stärker sind hingegen die haushaltsnahen Dienstleistungen, bei denen im Regelfall nur geringe Löhne gezahlt werden. Und schließlich ist auch die hohe Arbeitslosigkeit nicht nur auf einen Mangel an Arbeitsplätzen, also eine unzureichende Arbeitsnachfrage zurückzuführen, sondern zum Teil auch auf die traditionell hohe Erwerbsbeteiligung in den neuen Ländern, also ein höheres Arbeitsangebot. Um einen Ausgleich zu schaffen, wären also in Ostdeutschland institutionelle Rahmenbedingungen erforderlich, die eine höhere Arbeitsintensität in der Produktion ermöglichen, was aber eben nicht der Fall ist. Insoweit ist die vermeintliche Benachteiligung des Ostens zu einem guten Teil die Folge struktureller Defizite als Spätwirkung der Teilung Deutschlands. Und schließlich: Auch wenn die verfügbaren Einkommen je Einwohner nur bei rund 78 Prozent des westdeutschen Niveaus liegen, ist zu beachten, dass auch das allgemeine Preisniveau in den neuen Ländern noch immer etwas niedriger liegt (insbesondere infolge der niedrigeren Mieten), so dass sich die Einkommen in realer Betrachtung durchaus schon weit angeglichen haben. Gleichwohl: Nicht zu verkennen ist, dass der "Aufbau Ost" in den vergangenen Jahren nur noch schleppend vorangekommen ist und dass auch für die Zukunft nicht mit einer deutlichen Verbesserung der Situation gerechnet werden kann. Grund hierfür sind vor allem die Herausforderungen, die aus der demographischen Entwicklung resultieren: Von 1989 bis heute hat sich die Bevölkerung in den ostdeutschen Flächenländern um rund 14 Prozent reduziert. Alle Prognosen deuten darauf hin, dass sich dieser Prozess auch in Zukunft fortsetzen wird – für das Jahr 2020 wird nochmals mit einer um rund 10 Prozent niedrigeren Bevölkerungszahl gerechnet. Grund hierfür ist nicht nur die Abwanderung insbesondere jüngerer und zumeist gut qualifizierter Menschen, sondern in noch stärkerem Maße der starke Geburtenrückgang nach der Vereinigung. Die schrumpfende und zugleich stark alternde Bevölkerung macht es zunehmend schwieriger, ein hohes Wirtschaftswachstum zu erreichen, weil damit ein zusätzlicher Mangel an Fachkräften verbunden sein wird. Insbesondere wirtschaftlich wenig attraktive, peripher gelegene Regionen in den neuen Ländern dürften hiervon betroffen sein. Ostdeutsche Ballungszentren wie zum Beispiel das Umland von Berlin, Dresden oder auch Jena weisen hingegen zum Teil durchaus günstige Zukunftsperspektiven auf. Man muss sich daher wohl an den Gedanken gewöhnen, dass Ostdeutschland nicht nur dauerhaft eine strukturschwache Region in Deutschland bleiben wird, sondern auch daran, dass die regionalen Differenzierungen in den neuen Ländern künftig stark zunehmen werden. Dies stellt die Politik vor die Aufgabe, mit besonderen Konzepten den Aufbau Ost weiter zu unterstützen.
Im Erinnerungsbild vieler Ostdeutscher ist die Blitzprivatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhand-Anstalt, kurz Treuhand, von 1990 bis 1994 eher als "Abbau Ost" präsent. Damals verkaufte die zeitweise größte Staatsholding der Welt in weniger als fünf Jahren fast 14.000 Ostunternehmen an private Investoren und schloss zahlreiche weitere Betriebe für immer. Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft kostete nicht nur 80 Prozent der Erwerbstätigen vorübergehend oder auf Dauer den Arbeitsplatz. Sie war auch ein gigantisches Verlustgeschäft für den deutschen Staat. Noch im Oktober 1990 hatte Treuhand- Chef Detlev Karsten Rohwedder den Wert der Treuhand-Betriebe recht hoch geschätzt: "Der ganze Salat ist 600 Milliarden wert". Am Ende verdiente die Treuhand am Verkauf von Betrieben und Grundstücken gerade einmal 66,6 Milliarden Mark. Die Ausgaben überstiegen die Einnahmen jedoch bei Weitem. Die Kosten für den massiven Arbeitsplatzabbau in den Betrieben und die Beseitigung ökologischer und sonstiger Altlasten, Kreditbürgschaften, Verlustausgleichszahlungen an die Investoren, Beraterhonorare und die Altschulden der Betriebe, all das schlug bei der Treuhand zu Buche. Bei ihrer Selbstauflösung Ende 1994 hinterließ sie einen Schuldenberg von rund 250 Milliarden Mark. War die DDR-Wirtschaft nach 40 Jahren "real existierendem Sozialismus" tatsächlich keinen Pfifferling mehr wert, wie die Treuhändler behaupteten, oder ist das ostdeutsche Produktivvermögen im Schlussverkauf DDR auf verantwortungslose Weise verramscht worden, wie Treuhand-Kritiker meinen? Die Frage, wie man eine zentralistische Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft transformiert, war bis zum Zusammenbruch des Ostblocks niemals ernsthaft erörtert worden. Es gab weder Lehrbücher noch Präzedenzfälle. Dieses Argument führen die Treuhänder gern ins Feld, wenn man ihnen den Ausverkauf der DDR-Wirtschaft und das Plattmachen ganzer Industrien vorwirft. Zudem sei die Mehrzahl der Treuhandunternehmen mit etwa vier Millionen Beschäftigten, die sich 1990 im Besitz der Treuhand befanden, unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht überlebensfähig gewesen. Umso verwunderlicher ist es, dass man sich angesichts dieser Diagnose dennoch dazu entschloss, den Markt zum Richter über Tod und Leben der ehemaligen VEBs zu machen. Privatisierung nach Treuhand-Rezept, das bedeutete die Betriebe schleunigst an private Investoren zu verkaufen. Birgit Breuel, Nachfolgerin des 1991 von der Rote Armee Fraktion (RAF) erschossenen Treuhandpräsidenten Rohwedder, stellte die einfache Formel auf: "Schnelle Privatisierung bedeutet schnelle Sanierung." Die Treuhand erbte nicht nur eine nach westlichen Maßstäben vielfach veraltete und unproduktive Ökonomie, sondern auch eine Volkswirtschaft, die durch die deutsch-deutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 1. Juli 1990 mit einem Schlag ihrer Märkte beraubt worden war. Die Übernahme der D-Mark durch die DDR machte ostdeutsche Produkte in den Ostblockstaaten, wohin zwei Drittel der Exporte gingen, über Nacht unbezahlbar. Im Westen hatte die DDR ihre Produkte oft nur aufgrund des für den Außenhandel geltenden, inoffiziellen Umrechnungskurses von 4,40 DDR-Mark zu einer D-Mark verkaufen können. Auch dieser war nach der Währungsunion hinfällig. Zugleich wurde der ostdeutsche Binnenmarkt über Nacht mit Westprodukten überschwemmt. Es entbehrt nicht einer gewissen bitteren Ironie, dass die DDR-Bürger, deren Sparguthaben bis zu einer bestimmten Höhe (je nach Alter 2.000, 4.000 oder 6.000 Mark) im Kurs 1:1 in D-Mark umgetauscht worden waren, den Niedergang der DDR-Industrie nach Kräften beschleunigten, indem sie mit dem neuen, "echten" Geld all die Dinge kauften, die es in der DDR gar nicht oder nur in minderer Qualität gegeben hatte. Die politischen Visionäre, die im Osten die Wende gemanagt hatten, Bürgerrechtler, Künstler und Intellektuelle, konnten angesichts dieser Blitzmetamorphose des befreiten Volkes zu Bilderbuchkonsumenten nur die Köpfe schütteln.Die Währungsunion, die Bundeskanzler Helmut Kohl trotz der Bedenken der Bundesbank und anderer Kritiker hinsichtlich des Zeitpunktes und des Umtauschkurses durchsetzte, war zweifellos eine Katastrophe für die ostdeutsche Industrie. Für den Machterhalt des Kanzlers erwies sie sich jedoch als wesentlich. Das Versprechen, die D-Mark einzuführen und auf eine baldige Wiedervereinigung hinzuarbeiten, sicherte den DDR-Christdemokraten den Sieg in den ersten und letzten freien Wahlen in der Geschichte der DDR im März 1990 und bereitete Kohls eigene Wiederwahl bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen im Dezember 1990 vor. Nebenbei stoppte die Währungsunion vorerst auch die Massenflucht von DDR-Bürgern in den Westen. Sicher ist, dass die Währungsunion vor allem eine gigantische Staatssubvention für die westdeutsche Wirtschaft war, die ungestüm auf den neuen Markt drängte. Von Mitte 1990 bis 1997 wurden Waren und Dienstleistungen im Wert von 1,4 Billionen DM von West nach Ost transferiert. Das westdeutsche Bruttoinlandsprodukt stieg vor allem aufgrund der Nachfrage im Osten bis 1991 um fünf bis sechs Prozent, während es in der Noch- bzw. Ex-DDR im selben Zeitraum um fünfzehn bis zwanzig Prozent schrumpfte. Eine nach außen abgeschottete, technologisch veraltete und über weite Strecken unproduktive sozialistische Planwirtschaft war von einem Moment zum nächsten dem freien Markt und einem Zusammenprall mit der leistungsfähigsten Volkswirtschaft Europas ausgesetzt worden. Als die Treuhand sich anschickte, die ostdeutsche Wirtschaft zu "privatisieren" blieb ihr in vielen Bereichen oft wenig mehr, als die Trümmer der Kollision aufzusammeln, die postsozialistische Konkursmasse schnellstmöglich abzustoßen.
Die große Schnelligkeit, mit der die Treuhand sich ihrer Aufgabe entledigte und der Zeitdruck, unter den sie sich dabei selbst setzte, ist vielleicht das bemerkenswerteste Merkmal ihres Wirkens. Wo es an Zeit fehlte, stand der Anstalt immerhin eine andere Ressource in ausreichender Menge zur Verfügung: Geld. Womit denn auch nicht gespart wurde. Beträchtliche Summen wurden an im Osten tätige westdeutsche Liquidatoren, Unternehmensberater, Wirtschaftsprüfer und Notare gezahlt. Juristische Berater kassierten Stundensätze von bis zu 600 DM, Unternehmensberatungen wie Roland Berger, BCG, Kienbaum und Price Waterhouse erhielten für jede Außenstelle im "wilden" Osten bis zu 250.000 DM monatlich. Findige "Consultants" stellten für ihre Dienste 2.000 bis 4.000 DM pro Tag in Rechnung, bis die Treuhand nach Protesten des Bundesrechungshofes und interner Prüfung den Höchstsatz auf 2.000 DM begrenzte. Auch Politprominenz engagierte sich im Osten. Klaus von Dohnanyi (SPD), Exbürgermeister von Hamburg, beriet die Treuhand für einen hohen Tagessatz. Für Liquidatoren erwies sich das Betriebssterben im Osten als wahrer Segen, Millionenbeträge als Honorare waren keine Seltenheit. Die mit Abstand größten volkswirtschaftlichen Kosten ergaben sich jedoch aus den sozialen Folgen der marktwirtschaftlichen Rosskur und aus den ökologischen und sonstigen "Altlasten" der DDR-Betriebe, die plötzlich nach westdeutschen Maßstäben gemessen wurden. So wurden potenziell lukrative Privatisierungen zum Verlustgeschäft für die Treuhand. Beim Verkauf der ostdeutschen Braunkohlewirtschaft übernahm die Treuhand die Kosten für 95.000 Entlassungen ebenso wie für die Beseitigung sämtlicher ökologischer Altlasten – Rekultivierung durchwühlter Mondlandschaften, Müll- und Abraumbeseitigung und vieles mehr. Bei der Veräußerung der ostdeutschen Vereinigten Energiewerke (VEAG) (Jahresumsatz 1991: 6 Milliarden Mark) an Preussen- Elektra, RWE, die Bayernwerk AG und die EBH zahlte die Treuhand trotz des Kaufpreises von mehreren Milliarden Mark am Ende noch drauf. Die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS), die 1995 die noch verbliebenen Treuhand-Firmen übernahm, stellte bei 2.700 Verträgen aus der Frühphase der Privatisierung zum Teil grobe Unregelmäßigkeiten fest. Schlagzeilen machten dabei nur die wirklich großen Skandale, wie zum Beispiel der Verkauf der Geräte- und Regler- Werke Teltow an die westdeutschen Investoren Claus Wisser und Roland Ernst für eine Mark. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass allein der Substanzwert des Betriebes um die 170 Millionen Mark wert gewesen war. Ebenfalls eine Mark zahlten indische Investoren für die Textilbetriebe Thüringische Faser und Sächsische Kunstseiden GmbH. Nachdem die versprochenen Investitionen ausblieben, mussten die Firmen 1993 Konkurs anmelden. Bei derartigen "Geschäften" nimmt es nicht Wunder, dass ein Mitglied des Treuhand-Vorstandes bitter bemerkte, man habe oftmals nicht Betriebe ver-, sondern Investoren gekauft. Eine Privatisierung, bei der der Verkäufer den Markt zunächst durch ein riesiges Überangebot verzerrt und sich zudem noch selbst unter immensen Zeitdruck setzt, hat tatsächlich mit Marktwirtschaft nicht viel zu tun. Leitende Treuhand-Mitarbeiter erhielten gar Prämien für schnelle Privatisierungen. Potentielle "Investoren" hätten in keiner besseren Verhandlungsposition sein können. Eine Studie ermittelte, dass sich Ende 1994 von 1.247 Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten im Osten 62,7 Prozent in Westbesitz befanden. Der Anteil stieg mit der Größe der Betriebe. Die meisten dieser Betriebe wurden als "verlängerte Werkbänke" westdeutscher Konzerne klassifiziert. Forschungs- und Entwicklungsabteilungen gab es in ihnen nicht mehr, sie dienten im Wesentlichen der kurzfristigen Kapazitätsausweitung und der Fertigung von Einzelkomponenten für den Mutterkonzern. In nur 280 Privatunternehmen in den neuen Bundesländern gab es noch mehr als 500 Beschäftigte. Zwischen 1989 und 1997 ging die Zahl der Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe von 4,3 Millionen auf 1,9 Millionen zurück. Bis heute hat der Osten diese Strukturimplosion nicht verwunden. Hohe Arbeitslosigkeit, Massenabwanderung junger und qualifizierter Arbeitskräfte und Überalterung der zurückbleibenden Bevölkerung prägen bis heute das Bild in weiten Teilen der neuen Bundesländer. Dennoch hat es seit dem Ende des Wirkens der Treuhandanstalt auch positive Entwicklungen gegeben – nicht zuletzt aufgrund milliardenschwerer Transferleistungen von West nach Ost im Rahmen des Solidarpaktes. Neben den immer wieder gern als Indikatoren eines Aufschwungs bemühten Erfolgen beim Ausbau der Infrastruktur und der Erneuerung von Städten und Gemeinden, haben sich besonders in Sachsen und Thüringen leistungsfähige Industrie- und Wachstumskerne herausgebildet. Die Arbeitslosenquote im Osten lag zwar im November 2008 mit 11,8 Prozent noch immer doppelt so hoch wie im Westen, stand aber auf dem niedrigsten Niveau seit 1991. Abgesehen von den Auswirkungen der aktuellen Krise, die niemand vorhersehen kann, ist eine generelle Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West jedoch noch lange nicht in Sicht. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im Osten lag im Jahr 2007 bei etwa 70 Prozent des Westniveaus, und auch die negative Bevölkerungsentwicklung stimmt noch immer nachdenklich. Eine Prognose geht davon aus, dass einige der neuen Länder bis 2030 mehr als ein Viertel ihrer ohnehin seit Wendezeiten merklich geschrumpften Bevölkerung verlieren könnten. Ob ein wirklicher Aufschwung Ost bis dahin zu einer Kehrtwende geführt haben wird, bleibt fraglich.
Vor 20 Jahren am 5. Dezember 1989 nahm mit der Besetzung der ersten Dienststellen der Staatssicherheit in Erfurt und anderen Bezirksstädten der DDR ein einmaliges Unternehmen seinen Anfang: die Sicherung des Aktenbestandes des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR und die Öffnung dieses Bestandes für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Seitdem ist die Öffnung der Stasi-Akten zu einem Erfolgsmodell mit Ausstrahlungskraft nach ganz Osteuropa geworden. Dahinter steht der Grundgedanke, dass der Neuanfang einer demokratischen Gesellschaft die aktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unter der Diktatur erfordert. Joachim Gauck, der erste Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, hat diese Überzeugung 1991 mit den folgenden Worten zum Ausdruck gebracht: "Wie wir das Problem der Stasi-Akten auch drehen und wenden – wir werden besser damit fertig, wenn wir Einblick nehmen können in dieses unheimliche Erbe der untergegangenen DDR." Die Entscheidung für die Aktenöffnung war umstritten. Niemand bei den Bürgerkomitees konnte in den ersten Wochen 1990 abschätzen, welche Folgen ihre Öffnung haben würde. Aus Sorge vor Missbrauch ließ der Runde Tisch Anfang März die Magnetbänder der zentralen Personenkartei vor laufenden Kameras zerschreddern. Damit blieb nur noch die Karteikartenversion mit rund 5,2 Millionen Namen, die zwei große Säle in der MfS-Zentrale füllte. Erst nach und nach bildete sich die Überzeugung heraus, dass nur die Offenlegung der Akten Klarheit biete. Dies zeigte deutlich der Fall Wolfgang Schnur, Spitzenkandidat des "Demokratischen Aufbruchs" für die Volkskammerwahl im März 1990 und langjähriger Anwalt von Oppositionellen. Über Wochen brachten MfS-Offiziere Gerüchte über seine Tätigkeit als inoffizieller Mitarbeiter (IM) in Umlauf, bevor schließlich die Funde des Bürgerkomitees in Rostock bittere Gewissheit schufen. Nach der Volkskammerwahl bildeten sich zwei Lager. Die Bundesregierung und die DDR-Regierung unter ihrem Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere einigten sich schnell, dass die Akten umgehend geschlossen werden sollten - "differenzierte Vernichtungsregelungen" inbegriffen, wie es das Bundesinnenministerium formulierte. Die Innenminister Wolfgang Schäuble (West) und Peter-Michael Diestel (Ost) machten keinen Hehl daraus, dass sie innere Befriedung durch einen klaren Schlussstrich und Generalamnestie wollten. De Maiziere warnte vor "Mord und Totschlag" im Falle einer Offenlegung von IM-Namen und Schäuble plädierte für einen "möglichst restriktiven Um- und Zugang" zu den Stasi-Akten (Der Vertrag, S. 273). Im Einigungsvertrag sollte daher ein Straffreiheitsgesetz für Spione aufgenommen werden. Dagegen formierte sich breiter Protest: praktisch die gesamte Volkskammer, die Aktivisten der Bürgerkomitees und die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung votierten für die Öffnung der Akten. Eine Gruppe von Bürgerrechtlern, unter ihnen Wolf Biermann und Bärbel Bohley, besetzte Räume im MfS-Archiv in Berlin-Lichtenberg und forderte unter Androhung eines Hungerstreiks die Übernahme des gerade beschlossenen Gesetzes über die Stasi-Akten ins Bundesrecht. Nach hektischen Verhandlungen beugten sich die beiden Regierungen schließlich dem Druck. Ein Jahr später, im Dezember 1991, nahm der Bundestag das Stasi-Unterlagen-Gesetz an.
Für die Archivierung und Aufarbeitung ist fortan das neu geschaffene Amt des "Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR" zuständig. Erster Bundesbeauftragter wird der ehemalige Abgeordnete der DDR-Volkskammer Joachim Gauck. Schon bald trägt das Amt überall nur noch den Namen "Gauck-Behörde". Zu den Grundsäulen der Aufarbeitung gehören: - das Recht auf persönliche Akteneinsicht bei vollem Datenschutz gegenüber Dritten - die Überprüfung auf Mitarbeit bei der Staatssicherheit - die Unterstützung der Strafverfolgung - die historische und politische Aufarbeitung in der Öffentlichkeit. Der Blick in die eigene Akte stellt die meistgenutzte Form der Stasi-Aufarbeitung dar. Seit 1992 wollten mehr als 1,5 Millionen Menschen "ihre" Akte einsehen. Jede einzelne der Einsichten war eine ungewisse Reise in die eigene Vergangenheit. Welche bösen Überraschungen hat die Stasi-Überlieferung für mich parat? Welche Freunde haben mich verraten, welche zu mir gehalten? Jenseits der großen Schlagzeilen ist die persönliche Akteneinsicht die eigentliche "stille Basis" der Aufarbeitung, weil sie den Alltag der DDR-Einwohner im Rückblick unmittelbar betrifft. Erstaunlicherweise steigen in den letzten Jahren diese Anträge wieder an. Was zuerst nach einem zeitweiligen Aufschwung aussah, als im Jahr 2006 der Film "Das Leben der Anderen" in die Kinos kam und die Erinnerung an die dunklen Seiten der DDR wachrief, hat sich inzwischen als "zweiter Atem" der Aufarbeitung entpuppt. Offenbar besinnen sich viele Menschen erst jetzt auf die ferne Welt ihres Lebens in der DDR. Vielleicht fragen die Kinder und Enkel nach: Wie war das eigentlich damals bei euch? Allein 2008 gingen rund 87.000 solcher Anfragen bei der Behörde ein, und zwar zu drei Vierteln von Menschen, die sich das erste Mal für "ihre" Stasi-Akte interessierten. Das zweite zentrale Ziel der Stasi-Aufarbeitung war, die geheime Mitarbeit bei der Staatssicherheit aufzudecken und belastete Personen aus dem öffentlichen Dienst und politischen Ämtern herauszuhalten. Mehr als 1,7 Millionen Anfragen zu Mitarbeitern des Öffentlichen Dienstes, vorwiegend in Ostdeutschland, sind bislang gestellt worden. Auch die Überprüfungen von politischen Mandatsträgern des Bundestages, der Landtage und Kommunalparlamente gehen in die Hunderttausende. Dabei ist jeder Einzelfall sorgfältig zu überprüfen, unter anderem, weil etliche Akten nur noch in Bruchstücken überliefert sind. Auch haben sich einige öffentliche Arbeitgeber entschieden, nur leitende Mitarbeiter zu überprüfen oder über die hauptamtliche oder inoffizielle MfS-Mitarbeit auch bei eindeutiger Aktenlage hinwegzusehen. So waren zum Beispiel in den neunziger Jahren rund 1.500 ehemalige MfS-Mitarbeiter bei den Polizeien von Bund und Ländern im Dienst. Wie erst 2006 bekannt wurde, hatte das Bundesinnenministerium sogar der im Aufbau begriffenen Gauck-Behörde 1990/91 mehrere Dutzend Wachleute aus MfS-Diensten zugewiesen. Dies geschah wissentlich, wurde aber zunächst geheim gehalten. Noch unübersichtlicher ist die Bilanz bei den inoffiziellen Mitarbeitern. Die Stasi-Debatte nachhaltig geprägte haben vor allem spektakulären Medienschlachten um die tatsächliche oder vermeintliche Verstrickung von prominenten Personen mit der Stasi: Hatte der brandenburgische Ministerpräsident Stolpe gewusst, dass ihn die Kirchenabteilung des MfS über viele Jahre als IM "Sekretär" geführt hatte? Hatte der ehemalige PDS-Chef Gregor Gysi vor 1990 als Rechtsanwalt seine Mandanten an die Stasi verraten? Noch heute werden heftige Debatten über mögliche Stasi-Vergangenheiten geführt, vor allem wenn es um Personen des öffentlichen Lebens geht. Es ist ein erinnerungspolitischer Diskurs, bei dem auch um Deutungshoheit gerungen wird. Trotz allem lässt der Blick nach Osteuropa erkennen, dass in Deutschland einiges erreicht worden ist. Heutige Debatten in Polen zeigen, dass die verzögerte Aktenöffnung dort unendlichen Spekulationen und politischen Ränkespielen Tür und Tor geöffnet hat. Noch dramatischer ist die Situation in Russland. Nach soziologischen Analysen spielen dort ehemalige KGB-Offiziere heute eine größere Rolle in den Eliten als zu Zeiten der Sowjetunion. Zumindest in den öffentlich sichtbaren Eliten Deutschlands stellen ehemalige hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter wie der Bundestagsabgeordnete Lutz Heilmann die Ausnahme dar. Die Überprüfungsmöglichkeit für den Öffentlichen Dienst lief Ende 2006 aus – rechtlich gilt damit die MfS-Mitarbeit als "verjährt". Seitdem können nur noch Personen überprüft werden, die Spitzenpositionen in Politik, Sport und Verwaltung innehaben. Allerdings können Journalisten und Historiker weiterhin Einsicht in IM- und Mitarbeiterakten nehmen und öffentlich darüber berichten. Als weitgehend erfolglos hat sich hingegen die strafrechtliche Verfolgung von Stasi-Unrecht erwiesen. Anders als im Fall der Schießbefehlprozesse gegen Grenzsoldaten und deren Befehlsgeber scheiterten die meisten der mehreren tausend Ermittlungsverfahren gegen MfS-Offiziere wegen Verbrechen im Amt an einem Gemisch aus Beweismängeln, Lücken in der Strafbarkeit und der Prozessunfähigkeit der oft betagten Angeklagten. Selbst Erich Mielke wurde nicht für seine Befehle als Minister für Staatssicherheit zur Verantwortung gezogen, sondern wegen eines Mordes an zwei Polizisten 1931. Er bekam dafür sechs Jahre Gefängnis. Härter traf es die westdeutschen Agenten der Staatssicherheit, wie den NATO-Spion Rainer Rupp, der zu einer Haftstrafe von zwölf Jahren verurteilt wurde. Seine Ostberliner Vorgesetzten wie Spionagechef Markus Wolf profitierten von einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1995, wonach Stasi-Mitarbeiter von strafrechtlicher Verfolgung freigestellt wurden, sofern sie ihre Spionagetätigkeit ausschließlich vom Boden der DDR aus begangen haben. Allerdings wurde Wolf wegen Nötigung und Freiheitsberaubung in einem Entführungsfall trotzdem verurteilt. Doch die Folter der fünfziger Jahre und die Mordanschläge blieben in den meisten Fällen ungesühnt. Häufig konnten sich die Opfer nach so langer Zeit nicht mehr präzise an die Täter erinnern. Schriftliche Beweise in den Akten waren vernichtet. So konnte ein Anschlag mit Rattengift auf den Fluchthelfer Wolfgang Welsch nur deshalb geklärt werden, weil der Täter ein Geständnis ablegte.
Eine weitere nicht gelöste, vielleicht auch gar nicht nachträglich zu lösende Aufgabe stellt nach wie vor die Unterstützung von Verfolgten dar. Verlorene Lebenschancen kann kein Gesetz zurückgeben. Was blieb waren Rehabilitierung, Haftentschädigung und eine erst 2007 beschlossene Opferrente von bis zu 250 Euro für "bedürftige" ehemalige politische Häftlinge. Zum Komplex der Aufarbeitung gehört schließlich auch die Möglichkeit, Stasi-Akten für die historische Forschung sowie die Medienberichterstattung zu nutzen. Diese Nutzung ist jedoch schwierig, weil an vielen Punkten der Datenschutz Vorrang vor den Forschungsinteressen hat und es an einem nutzerfreundlichen Recherchesystem fehlt. Gleichwohl gehört das MfS mittlerweile zu den am besten erforschten Geheimdiensten der Weltgeschichte. Bis heute sind die Stimmen für eine Schließung der Akten nicht verstummt. Politiker wie Altbundeskanzler Helmut Kohl oder Egon Bahr, einstmals engster Berater des Bundeskanzlers Willy Brandt, haben die Aufarbeitung stets als "unappetitlich" abgelehnt. Sie plädierten für einen Schlussstrich. Auch eine Mehrheit der Ostdeutschen von 78 Prozent (2006) lehnt es Meinungsumfragen zufolge mittlerweile ab, "danach zu fragen, ob jemand während des alten DDR-Regimes für die Stasi gearbeitet hat oder nicht". Dennoch ist die Aufklärung über die Staatssicherheit in der politischen Öffentlichkeit zu einem zentralen Element des historischen Bewusstseins der Bundesrepublik Deutschland geworden. Paradoxerweise scheinen hingegen die Tage der Stasi-Unterlagen-Behörde gezählt. Der zuständige Staatsminister für Kultur und Medien, Bernd Neumann, hält an dem Ziel fest, das von Weisungen unabhängige Amt aufzulösen und die Akten in Bundes- und Landesarchive zu überführen, um "behördliche Doppelkapazitäten" abzubauen. Wann das sein wird, ist noch nicht klar. Die Bundeskanzlerin hat im Januar 2009 erklärt: "Es ist nach wie vor so viel Aktualität drin, dass sich die Arbeit dieser Behörde im Augenblick jedenfalls noch deutlich von der eines zentralen Archivs unterscheidet." Eine Expertenkommission soll nach der Bundestagswahl 2009 Vorschläge erarbeiten, wie die derzeitigen Aufgaben der Stasi-Unterlagen-Behörde nach der Überführung der Akten in die allgemeine Archivverwaltung erfüllt werden können. Der bedeutendste Eingriff wird die Aufteilung der Bestände zwischen Bundesarchiv und Landesarchiven sein. Damit zerfällt die bisherige Einheit des Recherchezugriffs und der rechtlichen Regelungen. Es ist völlig offen, wie diese Archive den Ansturm von mehreren zehntausend Anfragen pro Jahr organisatorisch und rechtlich bewältigen sollen. Außerdem wäre nach allgemeinem Archivrecht der Zugang zu Mitarbeiter- und IM-Akten erheblich erschwert. Schon jetzt setzen ehemalige IM und MfS-Offiziere immer häufiger per Gericht ihre Anonymität durch. Sie wollen nach zwanzig Jahren nicht mehr beim Namen genannt werden und berufen sich dabei auf das Persönlichkeitsrecht. Dem steht das Aufklärungsinteresse entgegen. Außerdem leiden die Opfer darunter, wenn dadurch die öffentliche Diskussion zum Erliegen kommt. In Rechnung zu stellen ist auch, dass die MfS-Akten mit 178 Regalkilometern etwa dreimal soviel Umfang haben wie die gesamten sonstigen DDR-Bestände des Bundesarchivs einschließlich des SED-Parteiarchivs. Mit einer beschleunigten und professionalisierten Erschließung ist deshalb bei gleichzeitigem Personalabbau nicht zu rechnen. Tritt man einen Schritt zurück, so wird deutlich, wie sehr der deutsche Weg der Stasi-Aufarbeitung weltweit als Symbol für den Sieg der demokratischen Revolution in der DDR und den Zusammenbruch der kommunistischen Welt gilt. Jeder Schritt, der auch nur den Anschein erwecken könnte, dieser Weg solle nicht weiter verfolgt werden, kann deshalb eine fatale Signalwirkung haben – gegenüber der interessierten Öffentlichkeit in Osteuropa, aber auch gegenüber all jenen, die in der DDR unter dem Wirken der Stasi zu leiden hatten.
Die Bilder aus der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 gehören zu den Ikonen der Weltgeschichte. Die durch die geöffneten Grenzübergänge strömenden Menschenmassen, die auf der Mauerkrone sitzenden und tanzenden Menschen sind aus dem öffentlichen Bildergedächtnis nicht mehr wegzudenken. Obwohl es für die Machthaber der SED in der DDR auch Wochen nach dem Mauerfall keineswegs ausgemachte Sache war, dass die Mauer und die Grenze dauerhaft geöffnet bleiben würden, ging bereits am 10. November 1989 eine erste Anfrage aus Bayern bei der DDR-Regierung ein, in der angeboten wurde, "nicht benötigte Teile Ihrer Grenzsicherungsanlagen" gegen Devisen zu kaufen. Am 14. November 1989 schließlich wandte sich eine Unternehmensberatung an die Ständige Vertretung der DDR in Bonn und empfahl – da der Handel mit Teilen der Berliner Mauer nicht mehr aufzuhalten sei –, dass die DDR-Seite doch "bei aller Zwiespältigkeit" bedenken sollte: "Gehandelt wird mit Mauerteilen, woher sie auch immer stammen mögen. Wenn aber schon, dann halte ich es für sinnvoll, daraus auch Devisen zu machen."
Quasi über Nacht wurde die Mauer zum heiß begehrten Kaufobjekt, zu einer Trophäe des Kalten Krieges, zum Exportschlager und zu einem Symbol. Kein anderes Bauwerk in Deutschland und vielleicht sogar in Europa hatte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so gravierende Auswirkungen auf das Leben so vieler Menschen. Kein anderes Bauwerk wurde in dieser Zeit weltweit zum Symbol für Unfreiheit und Diktatur, für die Verachtung elementarer Menschenechte und letztlich für die Geiselnahme von Millionen Menschen durch ein auf Unrecht gegründetes Regime. Und kein anderes Bauwerk wurde nach dem Mauerfall 1989 von ebendiesem Symbol der Unfreiheit und Menschenverachtung zum Symbol für Freiheitswillen und Bürgermut. Nachdem in den Wochen und Monaten nach dem Mauerfall immer wieder Nachfragen nach Mauerteilen aus aller Welt eingegangen waren, beschloss die DDR-Regierung unter Hans Modrow am 7. Dezember 1989 bzw. am 4. Januar 1990, die Mauer zu verkaufen. Man erhoffte sich auf diese Weise, die vor dem Bankrott stehende DDR-Wirtschaft retten zu können. Anlass zu diesen Hoffnungen gaben Anfragen, denen zufolge für ein Mauerteil bis zu 500.000 DM geboten wurde. Da die politische Entwicklung bis zum Jahresende 1989 ohnehin gezeigt hatte, dass die SED-Herrschaft nicht mehr zu retten und nicht nur die Berliner Mauer, sondern die gesamte innerdeutsche Grenze geöffnet worden war, stand der Abbau der einst am besten bewachten Grenze fortan auf der Tagesordnung. Und so lag es nahe, wenigstens einen Teil der Kosten über den Verkauf der Mauer zu refinanzieren. Um der verunsicherten und empörten Bevölkerung in der DDR die Gründe für das Geschäft mit der Mauer zu erläutern, startete die DDR-Regierung zu Weihnachten 1989 eine Informationskampagne. Damit sollten die in Beschwerdebriefen an die DDR-Regierung gerichtete Kritik aufgegriffen und zugleich der als alternativlos angesehene Verkauf begründet werden. Die Empörung über den Verkauf der Mauer richtete sich gegen die Regierung, die erst jahrzehntelang die Bevölkerung eingesperrt und auf Flüchtlinge rücksichtslos geschossen hatte und nunmehr ebenjene "Schandmauer", an denen Menschen ermordet worden waren, zu Geld machen wollte. Die Regierung begründete ihre Entscheidung für den Verkauf der Mauer im Wesentlichen mit drei Argumenten:
Ungeachtet etwaiger fortbestehender Vorbehalte gegen diese Geschäfte begannen die Truppen des Grenzkommandos Mitte, die noch bis Ende Dezember 1989 die Grenze schützen und Grenzdurchbrüche verhindern sollten[6 ], im Januar 1990 mit dem Abbau. Begonnen wurde mit besonders gut verkäuflichen Teilen, die von Mauerkünstlern bemalt worden waren. Die meisten der Betonblöcke wurden geschreddert und als Baumaterial, unter anderem für Autobahnen, weiter verwertet. Innerhalb von nicht einmal einem Jahr verschwand das, was die Menschen der Stadt einst auf 156 Kilometern Länge, mit 54.000 Betonsegmenten – 2,6 Tonnen schwer und 3,2 Meter hoch –, Hunderten Kilometern Stacheldraht, Lichttrassen, Hundelaufanlagen und mit 186 Wachtürmen, von denen scharf geschossen wurde, getrennt hatte, fast vollständig aus dem Stadtbild. Der Wunsch nach den langen Jahren der Teilung und Trennung zu einer innerstädtischen Normalität zurückzukehren, war nur zu verständlich. Kaum jemand konnte sich 1990 vorstellen, dass es einmal Forderungen geben könnte, die der Stadt und den Menschen zugefügte Wunde wieder sichtbar zu machen. Für eine möglichst schnelle Überwindung der Teilung und ihrer Folgen in der Stadt schien das möglichst vollständige Entfernen der Mauer der geeignete Weg zu sein. Zugleich nahm man damit in Kauf, dass die Vorstellung davon, was die Mauer, für die Stadt und für das Leben der Menschen bedeutet hatte, zunehmend verblasste. Nicht nur die Besucher Berlins, deren Interesse an Berlin auch in der Mauer begründet lag, fragten zunehmend ratlos: Wo war denn nun die Mauer?
Dabei hatte es bereits frühzeitig warnende Stimmen gegeben, die sich dafür einsetzten, zumindest in einigen Bereichen der Stadt die Mauer als Baudenkmal zu erhalten. In einem letzten Akt beschloss etwa der Ost-Berliner Magistrat am 2. Oktober 1990, das noch vorhandene "Ensemble" an der Bernauer Straße unter Denkmalschutz zu stellen. Trotz dieses Beschlusses schritt auch an der Bernauer Straße die rege Verkaufs- und Bautätigkeit weiter voran. Bis zur Entwicklung eines Gesamtkonzepts für die Berliner Mauer sollten noch fast 15 Jahre vergehen und der allergrößte Teil der einstigen Grenzanlagen aus dem Stadtbild spurlos verschwinden.Während die Mauer mit deutscher Gründlichkeit aus der Stadt entfernt wurde, erfreuten sich Mauerteile großer Beliebtheit und Nachfrage in aller Welt. Vor allem in den ersten Jahren nach dem Mauerfall wurden Denkmäler aus Mauerteilen in über 40 Ländern der Welt errichtet. Mittlerweile gibt es weltweit über 140 Denkmäler, in denen 600 Mauerteile verwendet wurden. 1991 wurde in Berlin an den 30. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer erinnert. In der medialen Berichterstattung war vor allem die Realgeschichte der Zeit um den 13. August 1961 Thema. Dass in Berlin selbst kaum mehr etwas an die Teilung erinnerte, wurde hingegen kaum beachtet und nicht erwähnt. Vielmehr Beachtung fand in diesem Zusammenhang der Spruch von der "Mauer in den Köpfen" zwischen Ost- und Westdeutschen, die längst die real nicht mehr existierende Mauer abgelöst hätte.
Symbolträchtig fasste der Berliner Senat am 13. August 1991 den Beschluss, an der Bernauer Straße eine "zentrale Gedenkstätte" zu errichten. Es vergingen danach weitere drei Jahre, bis 1994 ein entsprechender künstlerischer Wettbewerb ausgeschrieben wurde, aus dem das Büro Kohlhoff & Kohlhoff als Sieger hervorging. Die schließlich bis 1998 realisierte Denkmalsanlage vermittelte auf einem abgetrennten Teilstück, das nur über eine Aussichtsplattform in seiner Anlage zu überblicken war, eine vage Vorstellung von der Tiefenstaffelung der Mauer und des Grenzstreifens. Zu den am häufigsten geäußerten Kritikpunkten am vollständigen Abriss der Mauer- und Grenzanlagen gehörte, dass selbst dort, wo Mauerreste noch den Abrissarbeiten entgangen waren, die eigentliche Grenzstruktur nicht mehr sichtbar war. Dadurch sei es kaum mehr möglich, eine Vorstellung davon zu vermitteln, dass eben nicht nur eine einfache Mauer, sondern eine breit "ausrasierte Stadtwunde" die Stadt geteilt habe. Als das Denkmal 1998 an der Bernauer Straße eingeweiht wurde, hagelte es Kritik an der kalten und abstrakten Gestaltung, die keine Vorstellung davon gebe, was die Mauer eigentlich gewesen war. Gleichzeitig wurde von Opfervertretern immer wieder das Desinteresse am 13. August und den Opfern gerügt – eine Klage, die bereits 1996 zum 35. Jahrestag von Klaus-Peter Eich als Vertreter der Opfer formuliert worden war. Die 1998 eingeweihte Anlage an der Bernauer Straße änderte daran nichts Grundlegendes. Zum einen wurde das Denkmal und die Erinnerungsarbeit am Ort nach wie vor von einem vor allem ehrenamtlich arbeitenden Verein und der Kirchgemeinde betrieben. Die Finanzierung und die personelle Ausstattung waren über lange Jahre hinweg mehr als prekär. Dass der Ort "Bernauer Straße" sich zu dem Erinnerungsort an die Berliner Mauer entwickeln konnte, hatte vor allem mit dem Engagement der Enthusiasten vor Ort zu tun. Für die Politik schien die Erinnerung an die Mauer und das 1998 eingeweihte Denkmal außerhalb der Gedenktage am 13.8. und am 9.11. in Vergessenheit geraten zu sein.
Der 40. Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 2001 machte schließlich die unterschiedlichen Erwartungen an eine würdige und ernsthafte Erinnerung an die Mauer und die Teilung und darüber vermittelt an die SED-Diktatur als Ganzes offensichtlich. Auf dem Höhepunkt der (N)Ostalgiewelle prägten Spekulationen um eine rot-rote Koalition in Berlin die Erinnerung an den Mauerbau 40 Jahre zuvor. In den Medien standen Kommentare über die politische Instrumentalisierung des Jahrestags im Vordergrund, die – wie es beispielsweise in einem Kommentar von Rolf R. Lautenschläger in der "tageszeitung" zum 13. August 2001 hieß – "beschämend" sei. Für die Opfer des SED-Regimes hingegen war die Vorstellung unerträglich, dass eine Koalition aus SPD und PDS, der Nachfolgerin ebenjener für Unrechts-Regime, Mauerbau, Willkür, Repression, Hunderttausende politische Unrechtsurteile und Hunderte Grenz- und Mauertote verantwortlichen SED, die Geschicke der deutschen Hauptstadt lenken könnte. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch, dass sich die PDS für das Grenzregime und den Mauerbau und die Toten bis dahin nicht entschuldigt hatte. Auch Klaus Wowereit, der Regierende Bürgermeister Berlins, forderte die PDS auf, "sich bei den vielen Opfern der SED-Diktatur" zu entschuldigen. Und Frank Steffel von der CDU erklärte, dass" die Partei der Mauerschützen von damals nicht Senatoren von morgen" stellen könne. Gregor Gysi, Spitzenkandidat der PDS, lehnte eine Entschuldigung ab, erklärte aber, dass das "inhumane Grenzregime" durch nichts zu rechtfertigen sei.Für die Opfer der SED-Diktatur waren die rot-roten Planspiele unerträglich. Sie erneuerten ihre Forderungen nach einem würdigen, in der Mitte Berlins angesiedelten Denkmal, und sie drohten mit einem Boykott der Gedenkveranstaltungen. Als Vertreter der PDS bei der Gedenkveranstaltung an der Bernauer Straße mit einem Kranz erschienen, wurde dieser von Alexander Bauersfeld, einem politischen Häftling der DDR, unter lautem Protest von der Gedenkmauer entfernt und zertreten. Bauersfeld wurde von der Polizei festgenommen.
Wer gehofft hatte, dass sich der Berliner Senat nach dem 40. Jahrestag des Mauerbaus daran machen würde, die Erinnerung in der Stadt sichtbar zu halten, sah sich enttäuscht. Die Denkmalsanlage an der Bernauer Straße wurde weiterhin vor allem ehrenamtlich und über befristete Projektfinanzierungen betreut. Eine Änderung dieser stiefmütterlichen Behandlung des als offizielle Gedenkstätte bezeichneten Erinnerungsortes an die Berliner Mauer und die Teilung war nicht abzusehen. Dessen ungeachtet gab es in der Stadt eine Vielzahl privater Initiativen, um an die Mauer und deren Opfer zu erinnern. Sei es der einstige Grenzwachturm an der Kieler Straße, der vom Bruder des ersten erschossenen Maueropfers, Günter Litfin, mit viel ehrenamtlichem Engagement betrieben wird, sei es die vom Aktionskünstler Ben Wargin gestaltete Erinnerungsstätte "Parlament der Bäume" oder die East-Side-Gallery am Spreeufer. Auch der von Michael Cramer initiierte "Mauerradweg" gehört zu diesen Initiativen, die auf vielfältige Weise versuchten, die Erinnerung an die Mauer und das geschehene Unrecht wach und im Gedächtnis der Menschen und der Stadt zu halten. In diese offizielle Leerstelle platzte 2004 zum 15. Jahrestag des Mauerfalls eine Initiative der Chefin des Mauermuseums "Haus am Checkpoint Charlie". Mit einem als temporär angekündigten Mahnmal auf einer Brachfläche am Checkpoint Charlie rüttelte Alexandra Hildebrandt nicht nur die Berliner Politik auf. Das Mahnmal, das aus einem Imitat der Mauer und über 1.000 zumeist namentlich gekennzeichneten Holzkreuzen bestand, befriedigte das Bedürfnis vieler nach einem als authentisch empfundenen Erinnerungsort an die Mauer. Es machte deutlich, dass es ein unbefriedigtes öffentliches Bedürfnis sowohl der Einwohner der Stadt als auch der Touristen nach einem anschaulichen Ort gab, an dem die Mauer und die Teilung der Stadt vermittelt werden könne. Der Verweis auf die Bernauer Straße lief ins Leere. Auch viele Opfer fühlten sich zum ersten Mal in ihren Forderungen nach einem emotional ansprechenden Denkmal mit einer eindeutigen Formensprache ernst genommen.
Die Kritik gegen das Mahnmal richtete sich gegen die Vielzahl der Kreuze, die eine konkrete Zahl an Opfern vorgebe, die so nicht nachzuweisen sei. Auch die angebliche Orientierung an der Formensprache des kurz zuvor eingeweihten Mahnmals für die Ermordung der europäischen Juden wurde kritisiert: Mit der Analogie – dort über 6.000 Betonquader, hier über 1.000 Holzkreuze – werde eine Gleichsetzung von Nationalsozialismus und SED-Diktatur betrieben, lautete der Vorwurf. Unbeirrt von den kritischen Stimmen gegen das Mahnmal wehrte Hildebrandt sich schließlich – wie in anderen Fällen zuvor auch – gegen den Abbau ihres als ursprünglich befristete Aktion gedachten Denkmals. Sie organisierte Mahnwachen; Opfer der kommunistischen Diktatur ketteten sich an den Kreuzen fest, um gegen den Abriss der Kreuze zu protestieren. Sie argumentierten, dies sei der einzige Ort in der Berliner Mitte, der den Opfern der SED-Diktatur eine angemessene Erinnerung im öffentlichen Bewusstsein ermögliche. Dieses "Guerillagedenken" gab der Berliner Politik einen Schub. Noch im November 2004 lagen dem Abgeordnetenhaus schließlich zwei Anträge von CDU und Bündnis 90/Die Grünen vor, in denen der Berliner Senat aufgefordert wurde, ein Konzept für den Erhalt der noch bestehenden Mauerbauwerke und zur Erinnerung an die SED-Diktatur vorzulegen. In beiden Anträgen wurden vom Senat mehr Initiativen gefordert, um an die zweite deutsche Diktatur und deren Opfer in Berlin zu erinnern. Es gebe nicht nur "Defizite bei der sichtbaren Erinnerung an die Mauer als Symbol für die Geschichte der Teilung der Stadt, Deutschlands und der Welt, sondern auch bei der umfassenden Darstellung der SED-Diktatur, in ihren Bereichen Herrschaft, Alltag, Widerstand." Das Berliner Abgeordnetenhaus organisierte im Frühjahr 2005 eine Anhörung im Abgeordnetenhaus, um über "die öffentliche Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte in der Hauptstadt Berlin – Mauergedenken und SED-Vergangenheit" zu diskutieren.
Vor dem Hintergrund des von Alexandra Hildebrandt initiierten und von großem Publikationserfolg begleiteten Erinnerungsorts am Checkpoint Charlie hatte der Berliner Kultursenator, Thomas Flierl (PDS), bereits im Sommer 2004 begonnen, ein Konzept für die Ausgestaltung des Mauergedenkens zu entwickeln. Dieses Konzept sah zum einen vor, noch bestehende Mauerreste zu sichern und zu erhalten und die wenigen noch vorhandenen Freiflächen, die eine Vorstellung von Mauer und Todesstreifen in ihrer räumlichen Ausdehnung geben könnten, vor weiterer Bebauung zu schützen. Zum anderen sollten die bereits bestehenden Erinnerungsorte und Denkmäler besser sichtbar gemacht werden und aufeinander verweisen. Denn bereits zu jenem Zeitpunkt gab es etwa 60 Einzeldenkmäler, die an ermordete Flüchtlinge erinnerten, oder zu Denkmälern umgebaute Mauerreste, wie auf dem Potsdamer Platz. Hierzu gehörte auch die doppelte Pflastersteinreihe, die bereits seit Anfang der Neunzigerjahre im Straßenverlauf die Mauer kennzeichnete. Jedoch wurde deren Sicht- und Erkennbarkeit dadurch beeinträchtigt, dass dieser Typ Pflastersteine nicht exklusiv für die Kennzeichnung des Mauerverlaufs verwendet wurde, sondern auch für die Reparatur der chronisch schlechten Straßen. Für das lückenlose Einbringen des Metallbandes mit den Daten von Mauerbau und Mauerfall, das in der Mauerkennzeichnung eine eindeutige Zuordnung und Orientierung ermöglichen sollte, fehlte schlicht das Geld.
Das Konzept wurde im Juni 2006 fertiggestellt. Es war als Handlungsgrundlage gedacht, um bis 2011, dem 50. Jahrestag des Mauerbaus, die Erinnerung an die Teilung der Stadt und die Opfer der Diktatur zu gestalten. Zum 13. August 2011 wird die neu gestaltete – und in Teilen bereits zugängliche – Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße mit einem großen Festakt durch den Bundespräsidenten Christian Wulff eingeweiht. Bereits in den vergangenen Jahren war immer deutlicher geworden, dass die Erinnerung an den Mauerbau und an seine dramatischen Folgen für die in der DDR eingesperrten Menschen zu der bestimmenden Erinnerung an die zweite Diktatur in Deutschland werden würde. Wie 2011 im Juni bereits bei der Wahrnehmung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 zu besichtigen, beginnt die Erinnerung an die Mauer jene an andere traumatische Ereignisse der SED-Diktatur in den Hintergrund zu drängen. Wir können gespannt sein, ob die Erinnerung an den Mauerbau und an das tödliche Grenzregime – weil sie mit eindrücklichen Bildern und konkreten Bauwerken im Stadtraum verbunden sind – auch künftig das Gedenken an die kommunistische Diktatur in der DDR dominieren wird.
Der große Erfolg des Kinofilms "Good bye Lenin" aus dem Jahr 2003 beruht zweifellos auf einer Erfahrung, die Menschen in Ost und West bis zu einem gewissen Grade miteinander teilen: Es war das atemberaubend schnelle Verschwinden fast aller sichtbaren Attribute der Teilung sowie des Lebens im Osten. Die Berliner Mauer wurde so rasch abgerissen, dass ihr Verlauf an vielen Orten schon bald kaum noch nachvollziehbar war, Straßen wurden umbenannt, Denkmäler wie die Lenin-Statue in Berlin abgebaut. Auch die Trabis verschwanden von den ostdeutschen Straßen und DDR-Produkte aus den Läden. In einer Szene des Films jagt der Held vergeblich einem Glas "Spreewälder Gurken" nach, das sich seine aus dem Koma erwachte Mutter gewünscht hat, die – so der Plot – nicht wissen darf, was sich da draußen gerade verändert. Bei seinem Gang durch die Stadt türmen sich an den Straßenrändern Schrankwände und Couchgarnituren, Fernseher und Waschmaschinen, weil ihre Besitzer sie im hoffnungsfrohen Wendefieber gegen neue und schönere Westprodukte eingetauscht haben. Dieses einmalige Erlebnis der Plötzlichkeit, mit der die bisherigen Verhältnisse ins Wanken kamen und die Deutschen sich unvermittelt und unvorbereitet in einem vereinigten Land wieder fanden, gehört vermutlich zu den wenigen gemeinsamen Befindlichkeiten der Menschen in Ost und West. Jenseits davon verlaufen bis heute die Gräben, die sich bald nach der Vereinigung auftaten, als die Euphorie des Aufbruchs und der Gemeinsamkeit verebbte und der Alltag der Unterschiede hervortrat. Schließlich zeitigte der historische Bruch von 1989/90 in den unterschiedlichen Lebenswelten sehr verschiedene Konsequenzen. Während sich die einen über den Abbau der Grenzanlagen und den Wegfall der Grenzkontrollen freuten und allenfalls den Verlust der Zonenrandgebietsförderung und die Einführung des Solidaritätszuschlags beklagten, erfuhren die anderen, wie sich ihre bisherigen Lebensverhältnisse schlichtweg völlig umkrempelten: Vom Arbeitsplatz über die Wohnung, das Schulsystem und die Verwaltung bis hin zu den neuen Freiheiten und Unsicherheiten, die die D-Mark mit sich brachte. Hatten sich die Ostdeutschen im Herbst und Winter 1989 als selbstbewusste Akteure der friedlichen Revolution gefühlt, so richteten viele von ihnen spätestens seit den Wahlen im März 1990 ihre Erwartungen vor allem auf die Politiker und Investoren aus dem Westen. Auf die von der Mehrheit der Menschen durchaus gewünschte Vereinigung nach Artikel 23 des Grundgesetzes folgte eine für viele nicht vorhersehbare Lawine von Veränderungen. Viele Ostdeutsche sahen sich plötzlich in der Rolle von Verlierern im Systemwettbewerb und meinten, sich für ihr bisheriges Leben in der DDR erklären und rechtfertigen zu müssen. Im Gegenzug stellte sich bei Bürgern der alten Bundesrepublik, selbst wenn sie bis dahin kritisch mit ihrem Staat umgegangen waren, eine Art retrospektive Loyalität und Zufriedenheit mit den eigenen Lebensleistungen ein. Es verwundert nicht, dass diese Asymmetrie von Veränderungserfahrungen und Selbstbewertungen deutlich unterschiedliche Perspektiven auf die DDR-Vergangenheit zur Folge hat. Eine Umfrage des Allensbach-Instituts zeigt, dass sich die Deutschen in Ost und West am Vorabend der Vereinigung noch weitgehend einig waren in der Verurteilung des SED-Regimes als willkürlich, undemokratisch und wirtschaftlich bankrott. Doch das Bild änderte sich schon bald. Während die Westdeutschen in den folgenden Jahren an ihrer negativen Bewertung im Großen und Ganzen festhielten, habe eine wachsende Zahl von Ostdeutschen begonnen, die DDR in immer milderem Licht zu sehen, kommentiert das Autorenduo Monika Schröder-Deutz und Klaus Schröder in der Publikation "Soziales Paradies oder Stasi-Staat" die Ergebnisse der demoskopischen Untersuchungen: Noch im Vereinigungsjahr 1990 hätten knapp drei Viertel der Ostdeutschen die Verhältnisse in der DDR als unerträglich bewertet. "Nach der Jahrtausendwende jedoch hat sich die Gruppe der Kritiker des SED-Staates nahezu halbiert und die Gruppe der mehr oder weniger mit dem damaligen Leben Zufriedenen verdoppelt". Allerdings zeigt ein genauer Blick auf die zitierten Umfragen, welche Probleme sich durch zu stark vereinfachte und standardisierte Fragestellungen ergeben können und wie vielschichtig und unterschiedlich interpretierbar die Ergebnisse letztlich sind. Beispielsweise stimmten der Feststellung "Die SED hat uns alle betrogen" im Jahr 1992 70 Prozent der Befragten zu, 2001 waren es nur 40 Prozent, 2004 noch 39 Prozent. Diese Zahlen lassen aber nicht zwangsläufig die Schlussfolgerung zu, dass die übrigen Befragten, durchweg unkritischer gegenüber der SED-Politik geworden sind. Das Ergebnis kann auch bedeuten, dass bei einem Teil von ihnen ein solches holzschnittartiges Erklärungsmuster einfach nicht mehr greift: Vielleicht weil das Wissen über die Vergangenheit größer geworden ist oder aber das komplexere Bild von Vergangenheit in einem solchen Satz nicht aufgeht. Eine andere, in der Allensbach-Umfrage angebotene Aussage lautete Am Anfang hat die SED so viele schwierige Probleme bewältigt, dass man ihr danach zunächst vertraut hat Im Jahr 1992 stimmten 44 Prozent der Befragten dem zu, 2001 waren es nur noch 31 Prozent, 2004 noch 28. Auch daraus ergibt sich keinesweg eindeutig eine Tendenz zur Verklärung der Diktatur. Dieser zweite Satz weist uns zudem auf ein weiteres Defizit vieler quantitativer Umfragen hin. So aufschlussreich sie für Momentaufnahmen zu gerade aktuellen Problemen auch sein mögen, sie stoßen häufig an ihre Grenzen, wenn es darum geht, historische Entwicklungsprozesse zu erfassen. Richard Schröder, Theologe und 1989 Mitbegründer der SDP in der DDR, machte in einem ZEIT-Artikel im Juni 2006, darauf aufmerksam, dass die DDR-Diktatur in den vierzig Jahren ihres Bestehens keineswegs immer gleich blieb: "Wir Älteren jedenfalls mussten sagen: Es war schon einmal schlimmer, nämlich unter Stalin und Ulbricht. Die wilden Verhaftungen und Haft ohne Gerichtsurteil gab es unter Honecker kaum noch (...)".
Zusammen mit Bernd Faulenbach und Klaus Weberskirch habe ich Mitte der neunziger Jahre intensive lebensgeschichtliche Interviews mit Arbeitnehmer in Ost und West geführt. Unter anderem haben wir nach den DDR-Bildern der Gesprächspartner gefragt. Zwar lassen sich die Ergebnisse solcher qualitativen Untersuchungen nicht in Prozenten fassen, dennoch bieten sie umfassende, vielschichtige aber auch widersprüchliche Einblicke in die biografischen Erfahrungen von Menschen und in ihre Motivationen für die jeweiligen Deutungen und Haltungen. Die von uns befragten Männer und Frauen aus Ostdeutschland unterteilten die DDR meist in verschiedene Phasen der Entwicklung. Dabei fielen die Bewertungen je nach Alter und individuellen Erfahrungen unterschiedlich, manchmal sogar konträr, aus. Sowohl die fünfziger Jahre als auch die achtziger Jahre wurden als "schlimmste" wie auch als "schönste" Zeit bezeichnet: Entweder weil man noch Ideale hatte oder die Ideale verloren gegangen waren, weil die Willkür am größten war oder weil sich Zwänge zu lockern begannen. Die Befragten aus den alten Bundesländern betrachteten dagegen die DDR meist als ein Regime, das vom Beginn bis zum Ende im Wesentlichen unverändert blieb, was vermutlich vor allem von geringen Kenntnissen der ostdeutschen Verhältnisse zeugt. Einen der deutlichsten Unterschiede zwischen Ost und West konnten wir (und hier decken sich unsere Befunde mit denen vieler quantitativer Umfragen) im Hinblick auf Demokratie und Freiheit konstatieren. Die befragten Ostdeutschen ignorierten dieses Thema überwiegend. Beispiele von Repression und Überwachung wurden nur von wenigen Gesprächspartnern genannt, die dem System kritisch oder zumindest distanziert gegenüber gestanden haben. Bei den anderen spielten solche Aspekte nur dann eine Rolle, wenn das Leben in der DDR gegen eine als fremd empfundene Sicht verteidigt wurde: "Die Mauer war zwar schmerzlich, aber sie hat unsere heile Welt geschützt"; "Wir hatten zwar die Stasi, aber konnten uns abends auf die Straße trauen", so lauteten zusammengefasst die Kernaussagen. Im Vordergrund der Äußerungen aus dem Osten standen – auch dies ist inzwischen längst keine Neuigkeit mehr – soziale Sicherheit und Fürsorge, in erster Linie die Sicherheit der Arbeitsplätze. Die Erzählungen gipfelten häufig in dem Bild von einer solidarischen Gemeinschaft im Betrieb und im Wohngebiet, wo die Leute füreinander da waren. Soziale Sicherheit und Vollbeschäftigung, mehr noch die Kinderbetreuung, spielten auch im DDR-Bild unserer westdeutschen Interviewpartner eine Rolle. Sie wurden überwiegend positiv bewertet, gleichzeitig wurden auch ihre Schattenseiten gesehen: wirtschaftliche Ineffizienz und staatliche Reglementierung. Für die Interviewpartner aus dem Westen standen Demokratie und Freiheit bzw. deren Fehlen in der DDR im Vordergrund ihrer Wahrnehmung und Bewertung. Alle anderen Beobachtungen waren diesem Gesichtspunkt untergeordnet. Es verwundert deshalb nicht, dass einzelne Gesprächspartner aus der alten Bundesrepublik dazu tendierten, die Verhältnisse in der DDR mit denen des "Dritten Reiches" zu vergleichen und bisweilen sogar gleichzusetzen, während die Befragten aus der DDR, vor allem aus der ersten Nachkriegsgeneration, schon den Vergleich generell als unzulässig ablehnen. Dass aber die NS-Vergangenheit und die Vergangenheit der DDR im öffentlichen Diskurs seit Anfang der neunziger Jahre immer wieder miteinander verkoppelt werden, hat mit der Natur der Aufarbeitung selbst zu tun. Nach der Vereinigung gab es in den neuen Bundesländern nicht nur einen radikalen Paradigmenwechsel in Bezug auf die Bewertung des DDR-Regimes. Zur Disposition stand auch das bisher herrschende starre Bild von der NS-Vergangenheit, das wesentlich vom Legitimationsinteresse der SED-Führung geprägt worden war, die den kommunistische Widerstand ins Zentrum der offiziellen Erinnerung gerückt hatte, während der Massenmord an den Juden eher am Rande behandelt wurde. Die gleichzeitige und doppelte Revision hat zweifellos mit dazu geführt, dass sich heute beide Erinnerungsschichten berühren, überlagern, vermischen und sogar in Konkurrenz zueinander treten - zumal, wenn es um den angemessenen Umgang mit Orten geht, an denen nicht nur zur NS-Zeit Menschen inhaftiert und gequält wurden, beispielweise im Fall der ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen und Buchenwald, die nach 1945 von der sowjetischen Besatzungsmacht als "Speziallager" genutzt wurden. Auch in der Kontroverse um die Ehrenbürgerwürde für den Kinderarzt Jussuf Ibrahim, die Ende der 1990er-Jahre in Jena geführt wurde, verquickten sich die Debatten um DDR und Nationalsozialismus auf eigentümliche Weise. Als der westdeutsche Publizist Ernst Klee Fakten über die Beteiligung des in Jena hoch verehrten Mediziners am nationalsozialistischen Mord an behinderten Kindern enthüllte, wiesen Bürgerinnen und Bürger - aber auch Abgeordnete des Jenaer Stadtparlaments und Mitglieder von Ärztevereinigungen der Region – dies als Versuch der Delegitimierung der Leistungen der DDR-Medizin vehement zurück. An diesem Beispiel ist unschwer zu erkennen, wie eng die Debatte um die DDR-Vergangenheit im Osten mit der Verteidigung der eigenen Identität und Lebensleistung verknüpft scheint. Auch dies ist ein wesentlicher Punkt, an dem sich die Aufarbeitung in Ost und West scheidet. Während sie im Westen eher eine Frage des Interesses und der Vermittlung von Wissen ist, geht es im Osten quasi um die Existenz – und das keineswegs nur bei den älteren Generationen. Dies ist zweifellos ein Grund dafür, dass die Bezeichnungen Unrechtsstaat und Diktatur von Ex-DDR-Bürgern wenig benutzt oder sogar abgelehnt werden. Viele Ostdeutsche, die sich weder als Opfer noch als Täter des untergegangenen SED-Regimes begreifen, suchen bisher oft vergeblich nach einer Darstellung der Vergangenheit, in der sie sich mit ihren Alltagserinnerungen wieder finden können. Der Geschichtsdiskurs in der Öffentlichkeit wird bestimmt von den Themen Teilung, Repression und Widerstand. Davon handeln die bisher eingeweihten Gedenkstätten, die aufgestellten Gedenktafeln und Denkmäler. In den vergangenen Jahren gründeten sich auf private Initiative hin vor allem in der ostdeutschen Provinz viele kleine DDR-Museen. Deren Anziehungskraft beruht vor allem darauf, dass sie massenhaft Gegenstände aus einem untergegangenen Alltag ausstellen: vom "Trabi" über die Waschmaschine, die Wohnzimmereinrichtung einer typischen Neubauwohnung, bis zu Pionierblusen, Sportabzeichen und Wimpeln. Genau die Dinge, die Ostdeutsche zu Beginn der neunziger Jahre so schnell wie möglich loswerden wollten und die sie nun gern im Museum betrachten – nicht weil sie die Vergangenheit zurück haben wollen, sondern weil sie trotzig darauf beharren, dass es außer der Stasi und den Zuchthäusern, der Zensur und der Propaganda noch etwas anderes gab, an das sie sich erinnern, wenn sie an die DDR denken. Diese meist von Hobby-Historikern nach den Bedürfnissen des Publikums eingerichteten Museen verzichten weitgehend auf historisch einordnende Kommentare und Bezüge zur politischen Geschichte der DDR. Sie präsentieren eine nette, etwas skurrile, aber heile Alltagswelt, die scheinbar in keiner Verbindung steht zur dunklen Welt von Überwachung und Repression, wie sie im ehemaligen Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen oder in der "Runden Ecke" in Leipzig zu besichtigen ist. Diesen Gegensatz wieder aufzulösen, die Alltagserfahrungen der Ostdeutschen ernst zu nehmen und gleichzeitig die Spuren der Diktatur im scheinbar noch so unpolitischen Alltag sichtbar zu machen - wird zweifellos eine wichtige Aufgabe von Historikern und Bildungsverantwortlichen der nächsten Jahre sein. Die Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes "Aufarbeitung der SED-Diktatur" (die so genannte Sabrow-Kommission) haben 2006 diese Aufgabe deutlich benannt. So kann Vertrauen in die Demokratie allmählich gestärkt werden, so können auch die unterschiedlichen DDR-Sichten in Ost und West einander angenähert werden. "Von einer gemeinsamen Erinnerung", so schreibt Richard Schröder in seinem Artikel in der ZEIT, "aber sind wir noch weit entfernt". Das kann gar nicht anders sein und ich frage mich, ob eine gemeinsame Erinnerung zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt erstrebenswert ist. Viel produktiver wäre es, die Unterschiede zuzulassen und gemeinsam darüber nachzudenken, woher sie kommen. Die Maueröffnung am 9. November bedeutete die "unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates". Sie führte zwar zu einer Entlastung des massiv unter Druck geratenen Regimes, nahm aber gleichzeitig die staatliche Einheit mit der Bundesrepublik vorweg. Der Ruf nach Bürgerrechten und freien Wahlen sowie die Forderung nach Auflösung des SED-Regimes ("Wir sind das Volk") wurden nach dem 9. November von den Leitsprüchen "Deutschland einig Vaterland" und "Wir sind ein Volk" abgelöst. Die politischen Forderungen wurden zunehmend von nationalen Motiven überlagert - eine Parallele zum 17. Juni 1953. Weder die seit dem 13. November amtierende Übergangsregierung unter Hans Modrow noch die vorsichtig agierende Regierung in Bonn konnten sich der nationalen Sogwirkung entziehen. Bundeskanzler Helmut Kohl schlug am 28. November in einem "Zehn-Punkte-Plan" eine Konföderation vor, die in zehn bis 15 Jahren die Wiedervereinigung ermöglichen sollte. Doch die Initiative zur deutschen Einheit ging von den Menschen im Osten aus, die Umsetzung erfolgte durch die Politik der Bundesrepublik.
Am 3. Dezember 1989 trat das ZK der SED geschlossen zurück. Zwölf Mitglieder (u.a. Honecker und Stoph) wurden aus der Partei ausgeschlossen, vier wegen Amtsmissbrauchs verhaftet. Drei Tage später erklärte Krenz seinen Rücktritt als Staatsratsvorsitzender. Die Blockparteien beendeten ihre Mitarbeit in der Nationalen Front. Auf einem Sonderparteitag der Ost-CDU sprach sich ihr Vorsitzender Lothar de Maizière gegen den Sozialismus und für die deutsche Einheit aus. Zur selben Zeit benannte sich die SED unter ihrem neuen Vorsitzenden Gregor Gysi zur Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) um. Der seit Dezember tagende Zentrale Runde Tisch in Berlin förderte unter Moderation der Evangelischen und Katholischen Kirche den friedlichen Übergang. Die führende Rolle der SED wurde aus der Verfassung gestrichen, das Verbot von Privateigentum an ausgewählten Produktionsmitteln aufgehoben sowie ein Bündel von Gesetzen zur Demokratisierung und Einführung freier Wahlen erlassen, die zur ersten frei gewählten Volkskammer führten und den raschen Beitritt zur Bundesrepublik und zum Grundgesetz gestatteten. Die Wahl vom 18. März 1990 brachte einen überraschend klaren Sieg der konservativen Allianz für Deutschland aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch (48,1 Prozent), während die SPD nur 21,8 Prozent und die PDS 16,3 Prozent erzielten. Die Koalitionsregierung unter Ministerpräsident de Maizière verfolgte das Ziel eines föderativen Staatsaufbaus und der raschen deutschen Einheit auf der Basis von Artikel 23 des Grundgesetzes.
Die am 1. Juli 1990 in Kraft getretene Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion laut Staatsvertrag vom 18. Mai war der erste Schritt zur Implementierung der Marktwirtschaft und der politischen Einigung. Die Gründung der Treuhandanstalt wurde von den Ostdeutschen jedoch rasch als Inbegriff des Kapitalismus erfahren, begünstigte sie doch den Ausverkauf der DDR-Wirtschaft und führte ihren raschen Zusammenbruch herbei. Die Volkskammer erklärte am 23. August den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, was im Einigungsvertrag vom 31. August besiegelt wurde. Am 3. Oktober 1990 vollzog sich die staatliche Einheit.
Die Ablehnung der Staats- und Regierungschefs der EG wich allmählicher Akzeptanz, die ihren Ausdruck im Zwei-plus-Vier-Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland am 12. September 1990 fand. Die UdSSR, die noch im Frühjahr die Neutralität Deutschlands angestrebt hatte, gab ihren Widerstand gegen eine Einbeziehung des ehemaligen DDR-Territoriums in den NATO-Geltungsbereich auf. Es folgte die Suspendierungserklärung der Alliierten bezüglich Berlins und Deutschlands als Ganzes vom 1. Oktober 1990 und der Deutsch-Polnische Grenzvertrag vom 14. November 1990. Der äußeren Einigung im Kontext der europäischen Integration stand der weit beschwerlichere Weg zur inneren Einheit gegenüber. Erst in den Folgejahren sollte deutlich werden, welche Verwerfungen die Jahrzehnte der Teilung angerichtet hatten. In der öffentlichen Debatte überwogen die "Kosten der Einheit" ihre Vorteile.
Im Zuge der KSZE-Schlussakte entwickelte sich in der CSSR die insbesondere von Tschechen getragene Bürgerrechtsbewegung Charta 77. In der Slowakei blieb sie ohne größeren Widerhall. Ihre Sprecher waren Jiri Hájek und Václav Havel. Das Regime unter Gustav Husák reagierte mit Verhaftungen. Den Reformkurs von Gorbatschow lehnte die KPC unter Generalsekretär Milos Jakes ab. Im Oktober 1988 trat Ministerpräsident Lubomir Strougal zurück. Reformversuche von oben blieben wirkungslos.
Seit Ende Oktober 1989 kam es in Prag und Brünn zu Demonstrationen. Höhepunkt war die Kundgebung am 17. November 1989 zum Gedenken des 50. Jahrestages der Ermordung des Prager Studenten Jan Opletal durch die Nationalsozialisten, bei der die Freilassung politischer Gefangener, die Entlassung Jakes' und ein Ende der kommunistischen Herrschaft gefordert wurden. Die Polizei knüppelte die Kundgebung nieder. Dies steigerte die Studentendemonstration zum Massenprotest, was zum Generalstreik und schließlich zum Einlenken der Regierung führte. Am 19. November sprach sich das ZK der KPC für den "Dialog" aus. Die "sanfte" oder "samtene Revolution" bewirkte die rasche Umgestaltung des politischen Systems. Die Revolution in der CSSR, so manche Beobachter, sei eine Art Volksfest und dann ein "Umsturz als Beginn einer langfristigen, komplizierten, sogar schmerzhaften Transformationsperiode" gewesen.
Das am 19. November 1989 gegründete Bürgerforum (OF) mit Vertretern der Charta 77 um Havel und die slowakische Partnervereinigung "Öffentlichkeit gegen Gewalt" (VPN) wurden zu Plattformen der demokratischen Protestbewegung. Am 20. November trat das Politbüro, am 24. November das gesamte ZK mit Jakes zurück. Das OF begann mit dem als "Reformer" geltenden Ladislaw Adamec (KPC), dem Ministerpräsidenten der Föderalregierung, zu verhandeln, der versprach, weder Gewalt anzuwenden noch den Ausnahmezustand zu verhängen. Sein Vorschlag vom 3. Dezember einer Regierungszusammensetzung von Kommunisten und Vertretern der Opposition im Verhältnis von 15:5 wurde abgelehnt. OF und VPN forderten Neuwahlen bis Juli 1990. Unter dem Druck der Öffentlichkeit trat Adamec am 7. Dezember zurück. Die Machtbasis der KPC zerfiel. Der Reformkommunist Márián Calfa formte am 10. Dezember als Ministerpräsident erstmals eine nichtkommunistisch dominierte Koalitionsregierung der "nationalen Verständigung". Nach der Reorganisation der nationalen Regierungen ging die Verantwortung auf das OF über. Während die Legislative unangetastet blieb, kam es im Bereich der Exekutive zu Veränderungen. Kompromittierten Abgeordneten wurden ihre Mandate entzogen, führende KPCler wie Jakes, Jan Fojtík oder Vasil Bilák von ihren Funktionen entbunden. Am 29. Dezember strich das Parlament den Führungsanspruch der KPC aus der Verfassung. OF-Sprecher Havel wurde nach dem Rücktritt von Staatspräsident Husák am gleichen Tag vom Parlament einstimmig zu dessen Nachfolger gewählt. Alexander Dubcek war am 28. Dezember 1989 zum Parlamentspräsidenten gewählt worden.
Der Prager Runde Tisch beschloss Wahlen noch vor dem Juli 1990. Am 20. April folgte die Umwandlung der CSSR in einen föderativen Staat und die Umbenennung in Tschechische und Slowakische Föderative Republik (CSFR), um die Gleichberechtigung beider Volksgruppen zu betonen. Nach den freien Wahlen zum Bundesparlament (der Volks- und Nationenkammer) im Juni 1990 formten OF und VPN unter Vladimir Meciar (Austritt am 6. März 1991) eine Koalition mit der slowakischen Christlich-Demokratischen Bewegung (KDH) aus dem tschechoslowakischen Wahlbündnis Christdemokratische Union (KDU). Die neue Regierung unter Calfa (seit 1990 VPN) legte den Schwerpunkt auf Wirtschaftsreformen, Föderalisierung und kommunaler Selbstverwaltung. Wie in Polen kam es zur Zersplitterung der Oppositionsbewegung. Im März und April 1991 spalteten sich OF und VPN in verschiedene Parteien, darunter die Bewegung für die demokratische Slowakei (HZDS) unter Meciar und die rechtsliberale Demokratische Bürgerunion.
Mit der Selbstauflösung des Warschauer Pakts und des RGW (1991) orientierte sich die CSFR nach Westeuropa. Der Nachbarschaftsvertrag mit der Bundesrepublik am 27. Februar 1992 leitete die Normalisierung der Beziehungen ein. Es blieb bei der ethnischen Asymmetrie von neun Millionen Tschechen und vier Millionen Slowaken, während die 400 000 Ungarn, 500 000 Roma und Sinti sowie die polnischen, rumänischen und deutschen Minoritäten vergessen blieben. Der Kompetenzstreit zwischen Tschechen und Slowaken blockierte die rasche Lösung von Fragen der Wirtschaftsgesetzgebung. Durch Restitutionsforderungen wurde der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft belastet.
Seit 1991 formierten sich in der Slowakei separatistische und nationalistische Gruppierungen. Bei den Wahlen im Juni 1992 siegte die HZDS. Meciar wurde Ministerpräsident und forcierte die Unabhängigkeit. Mit dem neuen tschechischen Ministerpräsidenten Václav Klaus konnte er sich nicht auf die Weiterexistenz der CSFR einigen. Die Slowakei, die bereits seit 1969 als sozialistische Republik "Autonomie" besessen hatte, proklamierte am 17. Juli 1992 ihre Selbständigkeit. Daraufhin trat Havel als Staatspräsident der CSFR am 20. Juli 1992 zurück. Ohne Volksabstimmung trat die Auflösung der Konföderation am 1. Januar 1993 in Kraft. Obwohl die Slowakei bemüht war, Anschluss an die westliche Staatengemeinschaft zu finden, war ihr Ansehen durch innenpolitische Turbulenzen, die populistische Politik Meciars und die schlechte Lage der ungarischen Minderheit beeinträchtigt. Im Zuge veränderter Konstellationen traten Tschechien und die Slowakei am 1. Mai 2004 der EU bei.
Das rumänische Regime unter Nicolae Ceausescu lehnte Gorbatschows Reformen kategorisch ab. Gestützt auf den Geheimdienst Securitate hatte er seit den siebziger Jahren eine Diktatur mit Nepotismus und Personenkult aufgebaut. Außenpolitisch stilisierte sich Ceausescu als Rebell im sozialistischen Lager und praktizierte einen Kurs der "Öffnung nach allen Seiten". Die miserable ökonomische Lage, die neostalinistische Herrschaftspraxis und Menschenrechtsverletzungen steigerten den Unmut. Die Einebnung von ca. 7 000 Dörfern und die Umsiedlung von Rumäniendeutschen und -ungarn zur besseren Kontrolle, Landgewinnung und zum Aufbau von "Agrozentren" führten zu internationaler Kritik. Regimekritiker formierten eine oppositionelle Bürgerbewegung.
Studenten und Arbeiter protestierten am 15. November 1987 in Kronstadt. Das Regime schlug die Unruhen mit eiserner Faust nieder. Im Zuge der Umsturzbewegungen in Mittel- und Osteuropa lösten die von der ungarischen Minderheit getragenen und blutig erstickten Aufstände in Temesvar und Arad am 16./17. Dezember 1989 eine Massenerhebung aus. Ceausescu wurde bei einer Kundgebung ausgepfiffen und mit offenem Aufruhr bedroht. Große Teile der Armee stellten sich auf die Seite der Protestierenden. Am 21. Dezember kam es in Bukarest zu Straßenkämpfen mit der Securitate. Tags darauf wurde Ceausescu von einer parteiinternen Gegenelite im Zuge einer Palastrevolte gestürzt, mit seiner Frau Elena am 23. Dezember auf der Flucht verhaftet und am 25. Dezember in Târgoviste von einem Militärgericht verurteilt und hingerichtet. Als neue Regierung fungierte die Front der Nationalen Rettung (FSN), die am 26. Dezember den Putschistenführer und Reformkommunisten Ion Iliescu zum provisorischen Staatspräsidenten ernannte. Die Opfer der Aufstände beliefen sich auf über 1000 Personen.
Iliescu hob die Umsiedlungsgesetze auf und kündigte freie Wahlen an. Der Staat hieß fortan "Republik". Ende 1989 wurde die Nationale Bauernpartei-Christdemokraten (PNTCD) neu begründet. Massenproteste und eine Resolution des Runden Tisches führten zur Einsetzung eines Provisorischen Rats der Nationalen Einheit mit 30 Parteien und Gruppierungen. Doch Kämpfe in Siebenbürgen zwischen Rumänen und Rumänenungarn im März sowie zwischen antikommunistischen Demonstranten und Sicherheitskräften im Juni 1990 verdeutlichten die explosive Lage. Im Mai wurde Iliescu als Kandidat der FSN zum Staatspräsidenten gewählt; die FSN wurde stärkste Fraktion im Parlament. Die neue Verfassung von 1991 bedeutete zwar die formelle Beseitigung der Diktatur; Politik und Ökonomie blieben aber weiter in Händen ex-kommunistischer Eliten, während die im Bündnis Demokratische Konvention zusammengeschlossene Bürgeropposition unterdrückt wurde. Der Wechsel von Ministerpräsident Petre Roman zu Theodor Stolojan verdeutlichte die instabile Situation, die von ökonomischer Misere, politischen Gegensätzen und ethnischen Konflikten gekennzeichnet war.
Am 24. Juni 1991 verurteilte das Parlament einstimmig die Annexion Bessarabiens durch die UdSSR (1940) und erkannte die Unabhängigkeit Moldawiens an (27. August). Im April 1992 spaltete sich die FSN. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vom Herbst 1992 gewann Iliescu. Die Regierung Nicolae Vacaroiu war mit einer rasanten Inflation konfrontiert, die 1993 ihren Höhepunkt erreichte. Von April bis Sommer 1995 folgten Streiks und Massendemonstrationen. Bei der Präsidentschaftswahl im November 1996 gewann der Kandidat der Demokratischen Konvention, Constantinescu, der erstmals nach 1989 demokratisch legitimierte Macht ausübte. Insgesamt entsteht das Bild einer "unvollendeten Revolution zwischen Diktatur und Demokratie".
1993 unterzeichnete Rumänien ein EG-Assoziationsabkommen (in Kraft 1995). Es wurde Mitglied des PfP-Programms der NATO (1994) und des Europarats (1995). Am 15. Januar 2000 begannen EU-Beitrittsverhandlungen. 2004 wurde es Mitglied der NATO, 2007 soll die Aufnahme in die EU erfolgen.
Hintergründe und Folgen der Umsturzbewegungen in Mittel- und Osteuropa waren komplex; Gemeinsamkeiten in den Ursachen mischen sich mit Unterschieden der Merkmale, des Verlaufs und der Ergebnisse. Die sich abzeichnende Niederlage der UdSSR in Afghanistan, die Entlassung der alten Garde Breschnews, der ideologische Erosionsprozess, das Entstehen von Schattenwirtschaften, die verstärkte Integration Mittel- und Osteuropas in das westlich-kapitalistische Wirtschaftssystem mit Zunahme des Handels und der Auslandsschulden, die Unmöglichkeit, die von der "dritten industriellen Revolution" ausgehenden Innovationen der Mikroelektronik nachzuvollziehen sowie das Anwachsen einer Zivilgesellschaft führten zu einem Problemstau, der sich in politischen Umstürzen äußerte.
Eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Unterschieden fallen auf. Ohne Gorbatschows Politik, die mit der Breschnew-Doktrin der eingeschränkten Souveränität gebrochen hatte, wären die Umsturzbewegungen nicht möglich gewesen. Gorbatschow war Motor des Wandels, wenngleich er diesen weder steuern konnte noch dessen Resultate beabsichtigt hatte. Die deutsche Einigung, das Ende der Sowjetunion und die NATO-Mitgliedschaft der ehemaligen Verbündeten in Mittel- und Osteuropa sind Beispiele für die unbeabsichtigten Wirkungen seiner Politik. Angesichts notwendiger Reformen stellte sich für die Sowjetunion und ihre Satelliten die Frage ihrer Existenzfähigkeit und Überlebensmöglichkeit. 1989 zeigte sich die Wettbewerbsunfähigkeit der gestürzten Regime und der Unabhängigkeitswille der beherrschten Völker.
Die Ereignisse von 1989 sind im historischen Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 in der DDR, dem polnischen Oktober und dem Ungarn-Aufstand 1956, dem Prager Frühling 1968 und der polnischen Gewerkschaftsbewegung seit 1981 zu sehen. Die unterschiedliche vorrevolutionäre Erfahrung und das gemeinsame kollektive Erlebnis der Niederwerfung der Volksbewegungen durch den sowjetischen Totalitarismus prägten in den geschilderten Umbruchszeiten sowohl das Handeln der Opposition als auch das Reagieren der Regime. In Rumänien vollzog sich die Preisgabe der kommunistischen Staatsmacht nicht gewaltfrei. Eine echte Chance auf Regeneration der sozialistischen Einparteiensysteme und Kommandowirtschaften gab es nicht. Die kommunistischen Diktaturen waren von "Selbsterneuerungsunfähigkeit" gekennzeichnet: Mit den permanenten Systemdefiziten waren mittelfristig Systemkrisen und langfristig Systemzerfall verbunden.
Timothy Garton Ash hat auf Polen und Ungarn bezogen von "Refolutionen" gesprochen, einem Mischungsverhältnis von "Revolutionen" als Druck der Straße ("von unten") und "Reformen" der Systeme ("von oben"). Pointierter nannte er den Zusammenbruch der DDR eine Kombination "aus gesundem Menschenverstand und Schlamperei der neuen Parteiführung". Daneben agierte das Fernsehen als Produzent und Multiplikator. Ben Fowkes hat die "so genannten Revolutionen" als "Kettenreaktion" bezeichnet. Die Gewerkschaftsbewegung in Polen und die sozioökonomische Liberalisierung in Ungarn bildeten Vorläufer und Pioniere der Umsturzbewegungen; die Opposition in der DDR und der CSSR profitierte davon. Rumänien eilte der Entwicklung gewaltsam hinterher. Die DDR und CSSR erlebten demokratische Revolutionen mit einer starken nationalen Dimension: In der DDR hatte sie die Vereinigung mit der Bundesrepublik, in der CSFR den Zerfall der Föderation zur Folge.
Die Forderung nach Freiheit und Volkssouveränität war ein zentrales Anliegen der Protestbewegungen. Sie manifestierte sich durch Runde Tische, kommunistische pseudo- oder semidemokratisch legitimierte Parlamente. Über die transitorischen Artikulationsforen führte der Prozess unaufhaltsam zu pluralistischen Erscheinungen westlich-demokratischer Ausprägung. Die Erringung der Freiheit bedeutete allerdings nicht automatisch die Sicherung von Demokratie und Rechtsstaat. So ergaben sich neue Spannungsfelder: einerseits die Diskrepanz zwischen politischer Veränderung und wirtschaftlicher Neugestaltung, andererseits das Dilemma zwischen rascher institutioneller Reform im staatlichen Bereich und zäher Demokratisierung des politischen Lebens.
Die Revolution in der DDR und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten markieren eine zentrale Zäsur in der jüngsten deutschen Geschichte. Seither sind alle Vorstellungen, alle Auffassungen, alle Anschauungen, die vormals die Jahrzehnte des Kalten Krieges bestimmten, revisionsbedürftig geworden . Eine der wichtigsten Veränderungen von der geteilten Nation zur Berliner Republik betrifft das Selbstverständnis der Deutschen, das heißt die Art und Weise, in der die Menschen sich selbst sehen und von anderen gesehen werden wollen. In der Nachkriegszeit und den Jahrzehnten der Zweistaatlichkeit war der Blick auf deutsche Geschichte von der fundamentalen Zäsur des Jahres 1945 geprägt; die Jahreszahl markierte den eigentlichen Fixpunkt deutscher Geschichtsbetrachtung. Von vielen Deutschen wurde 1945 zunächst als Zusammenbruch der Nation erlebt, in der Folge von Intellektuellen auch als Zivilisationsbruch begriffen und schließlich seit Mitte der achtziger Jahre vorwiegend von den Nachgeborenen als Befreiung vom Nationalsozialismus verstanden. Aufgrund der Singularität der deutschen Verbrechen wurde die Hitler-Diktatur nicht selten als katastrophischer Kulminationspunkt oder sogar als Synonym für die deutsche Geschichte schlechthin betrachtet. Sowohl die Bundesrepublik als auch die Deutsche Demokratische Republik waren daher von Anfang an bemüht, ihr demokratisches Selbstverständnis und ihre historische Legitimität durch die entschiedene Negation ihres geschichtlichen Vorgängers, des Dritten Reichs, zu rechtfertigen. Mit dem Umbruch von 1989/90 wurde diese Form der Geschichtsbetrachtung einer Neubewertung unterzogen, die zu einer bemerkenswerten Perspektivenverschiebung führte: Die historiographische Fixierung auf 1945 wurde gelockert zugunsten einer affirmativeren Wahrnehmung der Bundesrepublik, deren fünfzigjährige Existenz heute von zahlreichen Deutschlandexperten als "Erfolgsgeschichte" begriffen wird. Diese Lesart wurde von prominenten Kritikern wie Jürgen Habermas gleichwohl als eine neue "historische Interpunktion" [3 ] gedeutet, die von Revisionisten mit der Absicht angestrebt werde, den Einschnitt von 1945 zu relativieren, um eine unkritische Normalität im vereinigten Deutschland zu etablieren. Zwischen 1945 und 1989/90 bildete die Abkehr von der nationalsozialistischen Vergangenheit ein zentrales Merkmal des Selbstverständnisses der Deutschen in Ost und West. Was die Bundesrepublik betrifft, hat die "Negation dessen, was Deutschland zwischen 1933 und 1945 war, . . . die neu entstehende Demokratie mit begründet" . Die Abwendung vom Dritten Reich manifestierte sich in der Frühphase des neugegründeten Staates vor allem in Konrad Adenauers "Vergangenheitspolitik" , die zum einen auf die symbolische Abgrenzung vom Nationalsozialismus zielte - etwa durch verbale Schuldbekenntnisse des Bundeskanzlers und durch praktische Maßnahmen wie das Wiedergutmachungsabkommen mit Israel -, zum anderen aber auch jenen "Schlussstrich" unter die Vergangenheit intendierte, beispielsweise indem über 55 000 ehemaligen NSDAP-Mitgliedern unter Berufung auf Artikel 131 des Grundgesetzes die Rückkehr in den öffentlichen Dienst ermöglicht wurde. Diese Politik war seinerzeit trotz ihrer tiefen Ambivalenz mehrheitsfähig, weil sie der Bewusstseinslage jener allzu vielen Deutschen entsprach, die zuvor den Nationalsozialismus in der einen oder anderen Form überhaupt erst möglich gemacht hatten. Nach dem verlorenen Krieg sagte man sich zwar vom Dritten Reich los, aber diese Abkehr gründete zumeist nicht in selbstkritischer Reflexion auf das Verbrechen, sondern war Ausdruck der totalen Desillusionierung, die der Zusammenbruch des NS-Staates bewirkt hatte. Aus der Generation der damals jungen Deutschen reagierte ein Teil nach 1945 allerdings in anderer Weise auf die jüngste Vergangenheit. Diejenigen, die als Jugendliche unter Hitler in die Irre geführt worden waren und mit Kriegsende das Erwachsenenalter erreicht hatten, erlebten 1945 den Einsturz ihres nationalsozialistischen Weltbildes, an dessen Stelle in der Folge eine zutiefst skeptische Grundhaltung trat . Günter Grass zum Beispiel, den als Angehörigen dieser Altersgruppe die "Unbeirrbarkeit des Hitlerjungen" gekennzeichnet hatte, wandelte sich zu einem Westdeutschen, der nun eine "prinzipielle Antihaltung" bezog, und zwar einerseits gegenüber der konservativen Regierung, der Wiederaufrüstungspolitik oder dem Wirtschaftswunder-Materialismus der Bundesrepublik, andererseits aber eben auch gegenüber der Vergangenheit: er verstand "sich selbstredend und ohne Risiko als Antifaschist" . Für diejenigen aus Grass' Generation, die diesen Gestus der Verneinung teilten, erzeugte die Ablehnung der unmittelbaren Gegenwart und der Vergangenheit allerdings ein nicht unerhebliches Problem: Die Antihaltung stellte die nationale Identität dieser Altersgruppe als Deutsche grundsätzlich in Frage. Wie der Historiker Ernest Renan bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts deutlich gemacht hat, spielt bei der Bestimmung dessen, was eine Nation ist, die geschichtliche Dimension eine wichtige, wenn nicht die entscheidende Rolle. Neben gemeinsamen Grenzen, gemeinsamer Sprache und dem täglich sich erneuernden Willen zusammenzuleben konstituiere "der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen", einer "langen Vergangenheit von Anstrengungen, von Opfern und Hingabe" eine Nation. Interessanterweise hat Jürgen Habermas in diesem Zusammenhang eine Auffassung artikuliert, die auffallend mit der Renans korrespondiert: "Unsere Lebensform ist mit der Lebensform unserer Eltern und Großeltern verbunden durch ein schwer entwirrbares Geflecht von familialen, örtlichen, politischen, auch intellektuellen Überlieferungen - durch ein geschichtliches Milieu also, das uns erst zu dem gemacht hat, was und wer wir heute sind. Niemand von uns kann sich aus diesem Milieu herausstehlen, weil mit ihm unsere Identität, sowohl als Individuen wie als Deutsche, unauflöslich verwoben ist." Für Habermas wie für Renan konstituiert sich also die Identität einer Person oder Nation aus einer spezifischen Geschichte, die dieser Person oder Nation ein bestimmtes Profil verleiht, das sie von anderen unterscheidet. Für Grass' Generation war diese Art der Identifikation mit der deutschen Geschichte nach 1945 allerdings unmöglich geworden. Seine vormals auf nationalsozialistische Zielsetzungen getrimmte Altersgruppe musste vielmehr erfahren, "wie schwer es ist, eine solche unheilvolle Identifikation wieder aufzulösen" . Auch Grass' Altersgenossin Christa Wolf zum Beispiel hat im Rückblick auf die Nachkriegsjahre betont, dass sie damals, "wie viele meiner Generation, intensiv gewünscht hatte, keine Deutsche sein zu müssen" . Nachdem das ungeheuerliche Ausmaß der Verbrechen ans Licht gekommen war, bot deutsche Geschichte vielen aus dieser Altersgruppe nur noch zutiefst fragwürdige Traditionsbestände. Die "klärende Rückbesinnung" war blockiert: "Die Herkunft entziffert nicht wie in anderen Nationalkulturen die Gegenwart, eher umgekehrt, sie wirkt nach wie vor bedrohlich." Im Jahr 1945 sah sich die Generation von Grass und Wolf deshalb mit nichts weniger als dem "Zusammenbruch der nationalen Identität der Deutschen" konfrontiert. Auch für die Protestgeneration der sechziger Jahre war die kritische Negation der nationalsozialistischen Vergangenheit und deren höchst problematische Präsenz in der Gegenwart der Bundesrepublik von eminenter Bedeutung. Der Generationskonflikt flammte zu jener Zeit ja nicht zuletzt deshalb auf, weil die Eltern und Großeltern sich größtenteils unwillig gezeigt hatten, mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zu beginnen. "Die Abwehr der mit der Nazivergangenheit verbundenen Schuld- und Schamgefühle ist weiterhin Trumpf", schrieben Margarete und Alexander Mitscherlich. "Alle Vorgänge, in die wir schuldhaft verflochten sind, werden verleugnet, in ihrer Bedeutung umgewertet, der Verantwortung anderer zugeschoben, jedenfalls nicht im Nacherleben mit unserer Identität verknüpft." Hans Magnus Enzensberger brandmarkte die Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre daher als "mördergrube", in der "die vergangenheit in den müllschluckern schwelt", in der "im ewigen frühling der amnesie" das Verbrechen mit "fleckenwasser" bearbeitet wird. Erst in der Kritischen Theorie der späten Frankfurter Schule fanden die Nachgeborenen die Lehre und die Sprache, um die "Kritik des Negativen" in die Praxis umzusetzen. Für diese Altersgruppe boten weder die Geschichte ihrer Eltern und Großeltern noch die Gegenwart der Bundesrepublik irgendeinen Identifikationsanreiz; statt dessen suchte sie eine Art "geschichtslosen Neuanfang" jenseits der deutschen Traditionen. Der 68er Thomas Schmid schreibt rückblickend, dass seine Generation in der "Existenz im toten Winkel der Geschichte" den "Normalfall" sah; eine Einschätzung, die illustriert, warum in der Zeitgeschichtsschreibung eine "eigentümliche Geschichtslosigkeit" für die Bundesrepublik der sechziger Jahre diagnostiziert wurde. Die Protestgeneration definierte sich nicht über die deutsche Geschichte, sondern in linker Opposition zu ihr; eben deshalb griffen viele junge Deutsche in jener Zeit andere Identifikationsangebote auf, wandten sich einem oft politisch motivierten Internationalismus zu oder verstanden sich primär als Kosmopoliten und Europäer. Enzensberger konstatierte damals mit Blick auf das Selbstverständnis seiner Generation, den Deutschen sei ihre nationale Identität 1945 so gründlich abhanden gekommen, "dass man sich fragen muss, ob von einer deutschen Nation überhaupt noch die Rede sein kann" . Die Frage nach der nationalen Identität war damit allerdings nicht ad acta gelegt - auch nicht für Enzensberger. Nach dem Bau der Berliner Mauer schrieb er in seiner Büchner-Preis-Rede über die zwei deutschen Staaten: "Jeder Teil spricht dem andern Existenz oder Existenzberechtigung ab. Beide Teile sind sich in allen Punkten uneinig, außer in einem: dass es darauf ankomme, einander in allen Punkten zu widersprechen." Diese wechselseitige Verneinung, die in beiden Staaten zum Programm erhoben worden war, machte es den Ost- wie den Westdeutschen unmöglich, sich in einem Sinne als Deutsche zu verstehen, wie die Angehörigen anderer Staaten sich etwa als Franzosen oder Polen begreifen. "Wir sind nicht identisch mit einem dieser Staaten", schrieb Enzensberger über die beiden Deutschländer, "mit keinem von ihnen können wir uns identifizieren. Im Gegenteil: je mehr ihre Identität sich festigt, desto fragwürdiger wird die unsrige." Dieses geteilte Deutschland war im Vergleich mit seinen Nachbarländern nicht mit normalen Maßstäben zu messen, sondern stellte einen "Grenz- und Sonderfall" dar. Die Mauer, so Enzensberger damals, "trennt nicht allein Deutsche von Deutschen, sie scheidet uns alle von allen anderen Leuten". Angesichts der deutschen Anomalie kam er zu dem paradoxen Schluss: "Das einzige, was wir miteinander teilen, ist die Teilung. Die Zerrissenheit ist unsere Identität." In der DDR bildete die Negation der nationalsozialistischen Vergangenheit eine Säule des offiziellen, von der SED propagierten Selbstverständnisses. Die kursorisch beschworene "antifaschistische Tradition" wurde zum historiographischen Diktum, das die DDR vom diktatorischen Teil der deutschen Geschichte abkoppeln sollte. Jurek Becker, in Ostdeutschland aufgewachsen, hat die "Lüge", die diesem offiziellen Selbstverständnis zugrunde lag, einmal auf sehr anschauliche Weise auf den Punkt gebracht. Die DDR, schrieb Becker in den neunziger Jahren, "erfand sich eine Geschichte, die nie stattgefunden hatte - ihre Ahnherren seien die deutschen Antifaschisten. . . . Faschismus hatte nichts mit uns, den DDR-Menschen, zu tun, auf wunderbare Weise hatten wir uns der Tatsachen entledigt. Filme über die Nazizeit waren immer Filme über den antifaschistischen Widerstand; der Schulunterricht über die Nazizeit war kein Unterricht über unsere jüngste Geschichte, er handelte stets von den Untaten dieser schrecklichen aliens, die wir, die Antifaschisten, mit etwas Unterstützung durch die Rote Armee, besiegt hatten. Von den zehntausend Antifaschisten, die es in Nazideutschland gegeben haben mag, lebten allein acht Millionen in der DDR" . Eine weitere Funktion des antifaschistischen Imperativs bestand darin, das internationale Profil der DDR durch die permanente ideologische Negation der Bundesrepublik aufzuwerten. Von offizieller Seite wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass in Westdeutschland noch jene ideologischen Übel fortlebten, die es in der DDR angeblich nicht mehr gab. Ein linientreuer Schriftsteller wie Stephan Hermlin beschrieb die DDR deshalb Anfang der sechziger Jahre als "Antiglobkestaat" , in dem ehemalige Nazis wie Hans Globke, damals noch Staatssekretär unter Adenauer, keine Chance hätten. Die DDR war in der Tat ein "Gegenstaat", der zur Konturierung seines positiven Profils die Bundesrepublik als negativen Gegenspieler benötigte. Auf diese Weise sollte der antifaschistische Imperativ zudem jenen ostdeutschen Minderwertigkeitskomplex ausgleichen, der in der territorialen und ökonomischen Asymmetrie zwischen den beiden Staaten gründete. Um die deutsche Ungleichheit wegzublenden und die historische Legitimität der DDR zu unterstreichen, begann die Regierung deshalb in den sechziger Jahren, "das Wort ,deutsch' aus allen öffentlichen Namen zu streichen und es durch ,DDR' zu ersetzen" . Maßnahmen dieser Art spiegelten allerdings nicht die Meinungen und Wünsche durchschnittlicher Bürger wider; in der Realität gelang es den DDR-Offiziellen nicht, die Ostdeutschen in eine sozialistische Klassennation umzuformen, und zwar weil "nationale Identitäten nicht einfach kurzfristig durch politische Manipulationen geschaffen oder verändert werden" . In der Geschichte Ostdeutschlands gab es lediglich zwei Zeitabschnitte, in deren Verlauf die Herausbildung einer unabhängigen DDR-Identität möglich erschien: zum einen die "Phase der Nachkriegsentwicklung", als - wie Christa Wolf erläutert hat - "die allmähliche Identifikation von uns damals jungen Leuten mit der späteren DDR" sich abzeichnete - eine Entwicklung, die in den folgenden Jahren allerdings durch repressive staatliche Maßnahmen zunehmend zunichte gemacht wurde; zum anderen die Umbruchjahre von 1989/90, als die radikale öffentliche Kritik am "realexistierenden Sozialismus" die Möglichkeit einer vom Volk selbst bestimmten DDR aufscheinen ließ. Nach Erich Honeckers Sturz im Herbst 1989, schreibt beispielsweise Friedrich Schorlemmer, "gab es kurzfristig eine gelingende Identität der DDR-Deutschen, die sich auf sich selbst besannen und einen eigenständigen, grundlegenden demokratischen Umgestaltungsprozess begannen" . Auch Jens Reich unterstreicht in dieser Hinsicht: "Alle Ergebnisse dieses unglaublichen Vierteljahres führten dazu, dass ich mich mit der DDR im letzten agonalen Jahr ihres Bestehens doch noch identifizierte." Insgesamt bleibt allerdings festzuhalten, daß es abgesehen von diesen beiden Phasen "keine Identität gab", die für die DDR spezifisch gewesen wäre, "nur eine, die abgesichert wurde durch den Sicherheitsapparat" . Wie viele andere Bürger auch, bemerkt Schorlemmer, habe er sich "nie als DDR-Deutscher gefühlt. Ich war immer ein Deutscher aus der DDR" . Dass die Mehrheit der Bürger sich nicht mit ihrem Staat identifizierte, machten die Übersiedlerzahlen und die Ausreiseanträge in den Jahren der Teilung unmissverständlich deutlich. Mit Blick auf die Abwanderung aus dem SED-Staat, insbesondere der "Kinder der DDR", hat auch Christa Wolf eingeräumt, "dass die Verhältnisse in der DDR diesen jungen Leuten anscheinend keine wie immer streitbare, konfliktreiche Identifikation mit diesem Staat, und sei es im Widerspruch, ermöglicht haben" . Da die Teilung der Nation die Herausbildung einer gesamtdeutschen Identität nicht erlaubte, propagierte der Politologe Dolf Sternberger von den späten siebziger Jahren an ein Konzept, das auf der Zweistaatlichkeit als Prämisse beruhte. In seinen Überlegungen zum "Verfassungspatriotismus" konzedierte Sternberger zunächst durchaus: "Das Vaterland ist in der Tat schwer zu finden, dasjenige, welches eine natürliche Empfindung der Zugehörigkeit, der fraglosen Identifizierung erlaubte und zu erwecken imstande wäre." Doch obwohl wir nicht in einem "ganzen Deutschland" leben, so Sternberger, leben wir zumindest in einer "ganzen Verfassung", dem Grundgesetz; und seit 1949 "hat sich unmerklich ein neuer, ein zweiter Patriotismus ausgebildet, der eben auf die Verfassung sich gründet" . Sternbergers Modell wurde von vielen Westdeutschen, zumal den gebildeteren, begrüßt, weil es eine Art pragmatisches Arrangement mit dem Identitätsproblem ermöglichte. Es enthielt allerdings auch zwei substantielle Defizite; zum einen schloss es die Deutschen in der DDR nicht mit ein, zum anderen wies es einen merkwürdig ahistorischen Aspekt auf: Die gesamte Dimension der deutschen Geschichte vor der Einführung des Grundgesetzes im Jahr 1949 blieb in ihrer zentralen Bedeutung für das Selbstverständnis der Bürger der Bundesrepublik unberücksichtigt. Mitte der achtziger Jahre avancierte die kritische Negation der Vergangenheit schliesslich zum Zankapfel des berühmten Historikerstreits. Dessen Ausgangspunkt bildete damals die Infragestellung der Singularität des Holocaust durch Ernst Nolte, der einen "kausalen Nexus" zwischen Auschwitz und dem Archipel GULag behauptete und die sowjetische Untat für "ursprünglicher" als das deutsche Verbrechen erklärte. Als Noltes Hauptopponent bekämpfte Jürgen Habermas insbesondere dessen Relativierung des Holocaust, war aber zugleich nicht minder darum bemüht, die gesellschaftspolitische Intention hinter Noltes Lesart der Geschichte zu entlarven: nämlich "eine revisionistische Historie in Dienst [zu] nehmen für die nationalgeschichtliche Aufmöbelung einer konventionellen Identität". Habermas fürchtete, dass die deutsche Vergangenheit nicht länger kritisch überprüft würde, sondern sich durch Noltes Interpretation positive Identifikationsangebote eröffnen, die zur Erneuerung eines konventionellen deutschen Selbstverständnisses führen könnten. Obwohl Habermas in der Auseinandersetzung mit Nolte und dessen Gesinnungsgenossen am Ende die Oberhand behielt und das Forum nutzte, um als Alternative Sternbergers Konzept des Verfassungspatriotismus zu propagieren, führte auch der Historikerstreit nicht zur Lösung des Identitätsproblems. Das zeigte nicht nur die akademische Diskussion, sondern wurde auch in der Literatur der achtziger Jahre deutlich. Peter Schneider zum Beispiel, einer der führenden Aktivisten der 68er-Generation, hat die zerrissene deutsche Position jener Zeit eindringlich in der Erzählung Der Mauerspringer von 1982 festgehalten. Ende der achtziger Jahre führten die politischen Eruptionen in Mittel- und Osteuropa zu einer grundlegenden Verschiebung der historiographischen Perspektive: Zunehmend affirmative Wahrnehmungen deutscher Zeitgeschichte begannen sich abzuzeichnen. Schon die Titel internationaler Publikationen verkünden eine "Annäherung an Deutschland" , geben Deutschland eine "zweite Chance" oder enthalten gar eine "Liebeserklärung" an die "schrecklichen Deutschen. Zahlreiche Veröffentlichungen deutscher Autoren weisen einen ähnlichen Tenor auf: Während Kurt Sontheimer zum Beispiel behauptet, dass die Geschichte der Bundesrepublik "seit 1949 wahrlich ein differenziertes Lob verdient" , fühlt sich Arnulf Baring gar zu dem Ausruf legitimiert: "Es lebe die Republik, es lebe Deutschland!" In den Schriften dieser und anderer Deutschlandexperten bildet nicht mehr vorrangig das Jahr 1945, sondern die Zäsur von 1989/90 den eigentlichen Bezugspunkt und Bewertungsmaßstab für deutsche Zeitgeschichte. Für diese neuen, affirmativen Interpretationen gibt es eine Reihe von Gründen. Der erste betrifft die "Wiederkehr der Geschichte" mit der Zeitenwende von 1989/90, als die Bürger der DDR zum ersten Mal seit dem Arbeiteraufstand vom Juni 1953 ihr Schicksal wieder in die eigenen Hände nahmen und sich in einer friedlichen Revolution von einem diktatorischen Regime befreiten. Der folgende Vereinigungsprozess zeigte ebenfalls, dass die Deutschen den "Wartesaal der Geschichte" verlassen hatten: Kanzler Kohls Zehn-Punkte-Programm, die Volkskammerwahlen im März 1990, die Einführung der D-Mark im Sommer und die offizielle Vereinigung am 3. Oktober desselben Jahres waren Akte der Selbstbestimmung. In ihrer Verbindung zeigen sie, dass die Deutschen in den Jahren 1989/90 zum ersten Mal seit 1945 wieder begannen, eine gemeinsame Geschichte zu schreiben. Ein zweiter Grund war der Glaube, dass die Öffnung der Grenzen nicht nur die territoriale und ökonomische Asymmetrie, sondern auch die kulturelle und mentalitätsbedingte Zerrissenheit beenden würde, die die Deutschen nicht erst seit 1945 gespalten hat. In einer eindrucksvollen Studie hat Fritz Stern gezeigt, dass vor allem anderen "das Drama der deutschen Zerrissenheit" der Grund dafür war, dass es Deutschland nicht gelang, im 20. Jahrhundert eine konstruktive Rolle zu spielen, ja der es Hitler überhaupt erst ermöglichte, zur Macht aufzusteigen. In Anbetracht der Zäsur von 1989/90 allerdings erscheint deutsche Geschichte für Stern in einem anderen Licht, und zwar insofern, als er konstatiert, dass die "alte Bundesrepublik etwas geleistet hat, was in den vorhergehenden Jahrzehnten nicht erreicht wurde - die Überwindung der alten Zerrissenheit" . Die gleiche, von vielen Deutschen seinerzeit geteilte Überzeugung brachte ja auch Willy Brandt am Tag nach der Maueröffnung zum Ausdruck, als er vor dem Schöneberger Rathaus sagte, dass jetzt zusammenwachse, was zusammengehöre . Ein dritter Grund liegt in der Tatsache, dass die Vereinigung Deutschland normaler, das heißt, seinen europäischen Nachbarn ähnlicher gemacht hat. Es bestehe kein Zweifel, schreiben Andrei S. Markovits und Simon Reich, bis 1989 sei Deutschland aufgrund seiner Teilung entlang der Frontlinie des Kalten Krieges "in no way normal" gewesen. Nach der jüngsten Zeitenwende allerdings haben durchschnittliche Bürger die Zusammenfügung der beiden Staaten auch im Sinne einer psychologischen Normalisierung erlebt, und zwar weil die Teilung von vielen als eine Art Strafe für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust empfunden worden war. In Anbetracht des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik und der vertraglichen Regelung aller Grenzfragen muss die Deutsche Frage heute als gelöst gelten. Zum ersten Mal in der Geschichte respektiert oder unterstützt die Mehrheit der Deutschen das demokratische System und die Institutionen des Landes und erkennt die Grenzen mit allen neun Nachbarstaaten an. Ein letzter Grund für die Neubewertung der Geschichte ist, dass die jüngste Zeitenwende den Weg zur Beantwortung der Frage nach der nationalen Identität frei gemacht hat. Zuvor hatten die nationalsozialistische Vergangenheit und die Teilung eine allen Deutschen offen stehende Identifikation mit ihrer Geschichte versperrt. Die ungeheuerlichen Ereignisse vor 1945 und die beiden zutiefst unterschiedlichen deutschen Geschichten seit 1949 hatten diese Option nicht zugelassen. "Viele der verworrenen und neurotischen Versuche einer deutschen Identitätsfindung während der vergangenen vierzig Jahre waren ganz offensichtlich Resultat der abnormen Teilung in zwei Staaten." Erst die Zäsur von 1989/90 beendete diese Anomalie und führte dazu, dass die Deutschen wieder begannen, eine gemeinsame Geschichte zu schreiben, auf die sie sich - wenn sie es wünschen - affirmativ beziehen können. Allerdings hat diese gemeinsame Geschichte kaum erst begonnen, und die alten und neuen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zwischen Ost und West verursachen weiterhin große Probleme. Richard Schröder hat deshalb zu Recht betont, dass die Deutschen ihre unterschiedlichen Geschichten vereinigen müssen, wenn die Vereinigung als Ganzes gelingen soll. Um dies zu erreichen, so Schröder, müssten sie sich wieder als ein Volk verstehen, und zwar nicht, indem sie sich - wie zwischen 1871 und 1945 - gegen ihre Nachbarn und die angeblichen inneren Feinde abgrenzen, sondern sich von dem Grundsatz leiten lassen, dass es "nichts Besonderes, aber etwas Bestimmtes" bedeute, heute Deutscher zu sein. In diesem Zusammenhang sollte überdies bedacht werden, ob in einem zusammenwachsenden Europa überhaupt weiterhin von "deutscher" oder "nationaler Identität" die Rede sein muss und ob es nicht zeitgemäßer wäre, statt dessen von einem "deutschen Selbstverständnis" zu sprechen. Sicher lassen sich beide Begriffe nicht vollkommen voneinander trennen, aber es gibt Unterschiede, sowohl auf der denotativen als auch auf der konnotativen Ebene. Gängigen Definitionen zufolge ist mit "Identität" eine "Übereinstimmung, Gleichheit in allen Merkmalen" oder gar "Wesenseinheit" gemeint. Auf das Konzept der Nation bezogen, wirkt das dem Begriff inhärente Ideal einer Art absoluter Identifikation oder Symbiose von Subjekt und Nation ausgesprochen anachronistisch. Im Kontext der europäischen Integration gesehen zeigt sich zudem, dass derartigen Definitionen die Wahrnehmung der Nachbarnationen vollkommen abgeht. Überdies kann man sich mit Blick auf Deutschland der Assoziation der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" kaum erwehren. Zwei Gründe sprechen dafür, dem Begriff "Selbstverständnis" mehr Platz einzuräumen. Zum einen ist er frei von jenen prekären geschichtlichen Konnotationen; zum anderen kommt er ohne den Aspekt der Symbiose von Subjekt und Nation aus. Man kann sich ja zum Beispiel durchaus als Deutscher verstehen, ohne gleich eine "Wesenseinheit" mit der Nation zu verspüren. Und es gibt noch einen dritten Grund, auf der sprachlichen Ebene, der für die Verwendung des Begriffs spricht. In der jüngsten Forschung ist zu Recht betont worden, dass "nationale Identität", wie andere Identitäten auch, nicht als eine zeitunabhängige, quasi absolute Essenz, sondern vielmehr als relatives Konstrukt, als menschliches Modell, verstanden werden sollte. "There is no such thing as an ,essential' national identity" , schreibt Mary Fulbrook und spricht deshalb von "national identity construction". Auch wenn man in der Debatte um die Berliner Republik nicht am Begriff der "nationalen Identität" vorbeikommt, scheint doch die Rede vom "Selbstverständnis" in diesem Zusammenhang angemessener, zumal dieser Begriff den Konstruktionscharakter stärker hervortreten lässt: Die gängigen Definitionen betonen, dass mit dem "Selbstverständnis", das eine Person oder Gruppe von sich hat, vor allem eine "Vorstellung", etwas Konstruiertes also, gemeint ist. Affirmative Lesarten deutscher Zeitgeschichte sind von Teilen der politischen Linken in Deutschland heftig kritisiert worden. Insbesondere Jürgen Habermas hat hervorgehoben, dass der Einschnitt des Jahres 1945 in der "alten" Bundesrepublik aus gutem Grund einen zentralen historiographischen Bezugspunkt repäsentierte. Für Habermas kommt dieser Jahreszahl vor allem dadurch eine singuläre Bedeutung zu, weil sie auf Auschwitz verweist, das seiner Überzeugung zufolge "zur Signatur eines ganzen Zeitalters" geworden ist; eine Lesart, die ja beispielsweise auch Günter Grass teilt, für den die deutschen Verbrechen dergestalt eine Zäsur darstellen, "dass es nahe liegt, die Menschheitsgeschichte und unseren Begriff von menschlicher Existenz mit Ereignissen zu datieren, die vor und nach Auschwitz geschehen sind". Allein die kritische Reflexion auf diesen Zivilisationsbruch, so Habermas, habe in der Bundesrepublik seit 1949 die Entstehung politisch zivilisierter Verhältnisse erlaubt, ja eine "liberale politische Kultur" habe sich überhaupt nur "wegen Auschwitz" ausbilden können. Aus dieser Perspektive avancieren das Jahr 1945 und insbesondere der Holocaust zu einem alles andere überragenden Maßstab, an dem die Bewertung von Zeitgeschichte sich ausrichten soll. Affirmative Geschichtsinterpretationen neueren Datums werden als "revisionistische Lesarten" [59 ] verworfen, weil sie Habermas zufolge eine "historische Interpunktion" anstreben, die auf zweierlei zielt: zum einen darauf, den Bruch von 1945 zugunsten einer Relativierung von Auschwitz einzuebenen, und zum anderen darauf, 1989/90 als das Ende einer vorübergehenden Anomalie zu begreifen, das den Deutschen die Rückkehr zur Normalität erlaubt . Auf der anderen Seite des politischen Spektrums weigern sich Historiker wie Arnulf Baring, Auschwitz als das "zentrale Datum" oder die "Essenz unserer Geschichte" zu verstehen. "Es ist falsch zu glauben, unsere Geschichte müsse und könne nur im Lichte der Vernichtungslager gesehen werden." Statt dessen spricht er sich für eine umfassendere Perspektive aus, die die "Vielgestaltigkeit, Vieldeutigkeit und Offenheit unserer Geschichte" [63 ] mit in Betracht zieht. Den Holocaust begreift Baring daher nur als eines von vielen Geschichtskapiteln, obwohl er eingesteht, dass diese Vergangenheit schwer auf den Deutschen lastet: "Nichts wird uns von ihr erlösen." Barings Lesart rückt nicht die NS-Zeit, sondern die "demokratische Erneuerung" der vergangenen fünfzig Jahre in den Vordergrund, die den Deutschen das Recht auf eine "freudige Bejahung der Staatsform, die wir uns gegeben haben", einräume. Eine Bemerkung von Angela Merkel, der neuen Vorsitzenden der CDU, illustriert, wie weit diese affirmative Neubewertung von Zeitgeschichte bereits ins Alltagsbewusstsein vorgedrungen ist: "Wir sollten ein natürliches Gefühl für unsere ganze Geschichte entwickeln und dann sagen: Wir sind auch froh, Deutsche zu sein." Der zentrale Punkt an diesen unterschiedlichen Lesarten ist, dass es Habermas und Baring gleichermaßen darum geht zu definieren, welche Art "Normalität" das neue Selbstverständnis der Berliner Republik prägen soll. So gesehen dreht sich alles - wie beim Historikerstreit Mitte der achtziger Jahre - um die Deutungshoheit über Zeitgeschichte . Für Habermas ist das Bemühen um die Herstellung einer quasi genuinen Normalität in Deutschland inakzeptabel, weil sie die Relativierung und Einebnung jenes Zivilisationsbruchs zur Voraussetzung haben würde. Die Bürger der "alten" Bundesrepublik hätten wenigstens ein gewisses Gespür dafür entwickelt, "dass nur die Vermeidung eines auftrumpfend-zudeckenden Bewusstseins von ,Normalität' auch in unserem Land halbwegs normale Verhältnisse hat entstehen lassen" . Bedenklich sei deshalb, dass revisionistische Historiker wie Michael Stürmer heute Fragwürdigkeiten verkündeten, die auf die Devise hinausliefen: "Um wieder eine normale Nation zu werden, sollten wir uns der selbstkritischen Erinnerung an Auschwitz erwehren." Andere Deutschlandexperten hingegen verstehen die Zäsur von 1945 kaum mehr als maßgebend, sondern beschreiben das heutige Deutschland als "finally normal - ,stinknormal', in the Berlin argot" . Die neue Normalität des Landes, so die beiden Autoren, "probably grants it the same tolerance for mistakes that others enjoy". Kurt Sontheimer schliesslich betont, noch bestehende Unterschiede zwischen den Deutschen und ihren Nachbarn werden "doch überwölbt von einer gemeineuropäischen modernen Normalität, in der nun endlich auch die Deutschen ihren Platz und ihre Rolle gefunden haben" . Für das neue Selbstverständnis der Berliner Republik ist die historische Zäsur von 1989/90 von entscheidender Bedeutung. Mit ihr wurde die Negativfixierung auf die nationalsozialistische Vergangenheit gelockert zugunsten einer Neubewertung der Geschichte der Bundesrepublik seit 1949. Deren fünfzigjährige Existenz wird heute weithin als "Erfolgsgeschichte" begriffen, nicht zuletzt weil der Beitritt der DDR so etwas wie eine gesamtdeutsche Ratifizierung des Grundgesetzes vollzog. "Für die Bundesrepublik hat der Zusammenbruch des Staatssozialismus in der DDR zunächst einmal einen Selbstanerkennungsstoß sondergleichen ausgelöst." Nach Jahrzehnten deutscher Systemkonkurrenz beglaubigte der Untergang der DDR gleichsam die historische Legitimität der Bundesrepublik. Fritz Stern hat die Vereinigung deshalb treffend als "eine Art zweiter Anerkennung der Bundesrepublik" bezeichnet. In Anbetracht der ganzen deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts bleibt allerdings zu fragen, ob diese neue "historische Interpunktion" gerechtfertigt ist, oder ob der Einschnitt von 1945 nicht doch weiterhin als entscheidende historiographische Orientierungsmarke begriffen werden sollte. Es besteht wohl kein Zweifel, dass die fundamentale Umgestaltung Mittel- und Osteuropas eine kritische Revision der alten Positionen und Maßstäbe erfordert. Deshalb wird der "große Umbruch" von 1989/90, wie Jürgen Kocka betont hat, "nicht vorbeigehen an der Art, in der wir Geschichte schreiben" . Das kann allerdings nicht bedeuten, dass der Zivilisationsbruch von 1945 eingeebnet oder durch 1989/90 überdeckt werden sollte. Für die Deutschen steht 1945 weiterhin für eine nicht zu bewältigende Vergangenheit, deren Ungeheuerlichkeiten als Warnung der Geschichte Geltung haben müssen - nicht zuletzt, weil sie die Deutschen lehren, wer sie waren, wer sie nicht mehr sind und wer sie nicht wieder sein wollen. In ihrem Enthusiasmus für die bundesdeutsche "Erfolgsgeschichte" verlieren einige konservative Kommentatoren diese Lektion aus dem Blick und propagieren eine Position, die versucht, "to ,normalise' Auschwitz, to render it part of Germany's lively pluralist political culture like any other topic" . Auf der anderen Seite werden aber auch linke Kritiker der Sache nicht in vollem Umfang gerecht, wenn sie 1945 zur einzigen Messlatte deutscher Geschichtsbetrachtung erklären. Diese Sicht ist zwar verständlich, zumal wenn man berücksichtigt, dass zum Beispiel Jürgen Habermas und Günter Grass der "Auschwitz-Generation" angehören, also jenem Jahrgang, dem "inmitten der üblichen Daten, das Datum der Wannsee-Konferenz eingeschrieben war". Für einige aus dieser Altersgruppe, vor allem für die Überlebenden, ist der Holocaust deshalb zum Maß aller Dinge geworden. Zugleich aber lässt sich die Tatsache nicht übersehen, dass die große Mehrheit der Deutschen von heute nicht mehr direkt vom Nationalsozialismus geprägt wurde. Den wirklich formenden Einschnitt in der Biographie vieler Menschen markieren vielmehr die Jahre 1989/90, insbesondere in Ostdeutschland, wo die jüngste Zeitenwende die Lebensläufe und Lebensbedingungen fast aller Bürger radikal veränderte. Eine rationale und realistische Lesart deutscher Zeitgeschichte sollte daher beide Daten als zentrale Bezugspunkte ins Auge fassen: Es ist zum einen unerlässlich, die eminente Bedeutung von 1945 als Niederlage, Zivilisationsbruch und Befreiung von außen zu erfassen. Diese Einsicht sollte jedoch auf der anderen Seite nicht die Dimension von 1989/90 verkleinern; denn als positive Zäsur steht diese wichtigste Jahreszahl seit 1945 immerhin für die friedliche Selbstbefreiung von einer Diktatur und den Wiederbeginn einer selbstbestimmten Geschichte in ganz Deutschland. Richard Schröder hat sich dafür ausgesprochen, dass es heute "nichts Besonderes" mehr bedeuten dürfe, Deutscher zu sein. Im Vergleich betrachtet ist die Berliner Republik in der Tat normaler, als es die Mehrzahl der deutschen Staatsgebilde im zwanzigsten Jahrhundert je war. Jenen fragwürdigen "Sonderweg", der die Nation vor 1945 der westlichen Welt entfremdete und unter dem Nationalsozialismus in einem absurden "Sonderbewusstsein" gipfelte, hat das Land längst verlassen; mit der Vereinigung legte Deutschland auch seine bilateralen und internationalen "Sonderrollen" ab; es stellt also keinen "Sonderfall" mehr dar, wie Hans Magnus Enzensberger noch in den Zeiten der Teilung formuliert hatte. Vielmehr spricht der deutsche Außenminister heute zu Recht davon, dass die "Vollendung der EU . . . das oberste nationale Interesse Deutschlands" sei. Mit diesem Selbstverständnis will Richard Schröder aber nicht nur die relative Normalität der Deutschen in Europa, sondern eben auch "etwas Bestimmtes" verbunden wissen. Es reiche nicht, sich heute ins unverbindliche Menschheitspathos zu flüchten, weil man damit den anderen in seiner "Nationalität und Geschichte" nicht erkenne. Was die Deutschen in der Tat wesentlich von den Bürgern anderer Staaten unterscheidet, ist ihre Geschichte - auch wenn sich heute die Lebensformen und Mentalitäten in Europa einander annähern. Während zum Beispiel die Briten ihr Selbstverständnis nicht zuletzt über die gewonnenen Weltkriege und die bemerkenswerte Kontinuität ihrer demokratischen Traditionen definieren, wurden die Deutschen zu dem, was sie heute sind, durch zwei verlorene Weltkriege und das Holocaust-Verbrechen, durch vier Jahrzehnte der Teilung, schliesslich durch die friedlich geglückte Revolution in der DDR und die Zusammenfügung der beiden Staaten zur Berliner Republik. Diese zutiefst ambivalente, von Brüchen geprägte Vergangenheit hat bei den Nachkriegsgenerationen eine oft kritischere Einstellung gegenüber der eigenen Geschichte herausgebildet, als das anderswo zuweilen der Fall ist. Zumindest in den letzten drei Jahrzehnten konnte sich deshalb die Aufarbeitung fragwürdiger Geschichtsabschnitte zu einer spezifischen Qualität der politischen Kultur in Deutschland entwickeln. Die neueren öffentlichen Debatten lassen erkennen, dass nicht wenige Bürger die Normalität der Berliner Republik durchaus im Licht der problematischen deutschen Geschichte sehen. Zum Selbstverständnis der Berliner Republik gehört auch die Zäsur von 1945. Dies dokumentiert am eindringlichsten die öffentliche Debatte über die Errichtung des Holocaust-Mahnmals im Zentrum von Berlin. Diese erste gesamtdeutsche Kontroverse zeigte von den späten achtziger Jahren bis zum Bundestagsentscheid vom Juni 1999, dass Politiker, Akademiker, Publizisten, Künstler und durchschnittliche Bürger die deutsche Vergangenheit kritisch in der Gegenwart repräsentiert sehen wollen - nicht irgendwo in Deutschland, sondern an einem von niemandem zu übersehenden öffentlichen Ort zwischen dem Potsdamer Platz und dem Brandenburger Tor. Die Debatte und die anschließende Entscheidung zum Bau des Mahnmals haben im Grunde die von Andrei S. Markovits und Simon Reich geäußerte Befürchtung entkräftet, wonach Deutschland in seinem Wunsch nach Normalität möglicherweise sein "collective memory" aufgeben könnte "to normalise its relations with the past" [80 ] . Das Selbstverständnis der Deutschen ist überwiegend nicht von dem Drang geprägt, eine unkritische Normalität zu etablieren. Im Gegenteil, selbst Jürgen Habermas hat bei allen Vorbehalten über das Mahnmal-Projekt bemerkt: "Mit dem Denkmal bekennen sich die heute lebenden Generationen der Nachkommen der Täter zu einem politischen Selbstverständnis, in das die Tat . . . als persistierende Beunruhigung und Mahnung eingebrannt ist." Genau dort also, wo man die in den vergangenen Jahren oft zitierte Neue Mitte findet, unter den brandneuen und restaurierten Bauwerken der Stadt, wird sich das von Peter Eisenman entworfene Stelenfeld zum Gedenken an die ermordeten europäischen Juden wie eine Art Kainsmal in die Züge der Berliner Republik einprägen. So sehen sich, so wollen viele Deutsche heute offenbar gesehen werden.
Der Terminus Berliner Republik impliziert auch, dass die Republik etwas "östlicher", etwas "ostdeutscher" geworden ist, und das nicht nur, weil ihre Hauptstadt in Ostdeutschland liegt. Hierauf bezieht sich auch die "innere Einheit", zu der die Berliner Republik finden müsste. Der Terminus "innere Einheit" thematisiert die andersartigen sozialisatorischen Muster der ostdeutschen Bevölkerung, ihre Werte und kulturellen Praxen, ihre Erfahrungen, Erinnerungen und Sinnkonstruktionen. In der letzten Dekade wurde diese Ost-West-Differenzierung überwiegend als Anomalie und Störung in der politischen Kultur der Berliner Republik, als ungelöste Aufgabe oder gar als Gefahr gesehen. Im Unterschied dazu wollen wir diese kulturelle und politische Differenziertheit der Berliner Republik als eine Normalisierung, Vervollständigung, als eine Bereicherung der politischen Kultur deuten. Sie ist ein Zeichen dafür, dass nicht nur die Spaltung Deutschlands zu Ende ist, sondern auch, dass die mit der Spaltung einhergehende relative Homogenisierung der politischen Kulturen der Bundesrepublik und der DDR nach innen im vereinten Deutschland keine Fortsetzung mehr findet. Als mit Beginn des Kalten Krieges die zueinander konträr verlaufenden Umwälzungen in den Besatzungszonen so forciert wurden, dass schließlich zwei Teilstaaten entstanden, bedeutete das nicht nur eine Polarisierung zwischen Ost- und Westdeutschland auf der Ebene ihrer jeweiligen politischen und ökonomischen Verfasstheit. Es kam im Ergebnis der staatlichen Teilung langfristig auch in beiden Teilen Deutschlands zu einer relativen ideologischen, sozialmoralischen und mentalen Homogenisierung nach innen, die mit den je eigenen politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen korrespondierte. Hinzu kam noch, dass die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik teilweise zu einer tradierten Grenzlinie innerhalb der deutschen Kultur gehörte. Im Norden der DDR lagen die weiten Räume der halbfeudalen preußischen Großagrarier, in denen nicht die kleinbäuerlichen, sondern die landarbeiterlichen Unterschichten lebten. Im mitteldeutschen Raum gab es eine starke proletarische Tradition. In den hochmodernisierten Industriegebieten zwischen Dessau, Bitterfeld, Halle, Merseburg, Leuna und Buna sowie in den sächsischen Revieren, deren Industrie -Tradition bis ins 19. Jahrhundert reichte, bestand eine Kultur, die sich von den hessisch-westthüringischen und fränkischen Nachbarregionen unterschied und dem Ruhrgebiet ähnelte. In der SBZ war der Bevölkerungsanteil der abhängig Beschäftigten gegenüber dem der Selbständigen auch bedeutend größer als in den Westzonen . Die politisch intendierten Homogenisierungsbestrebungen in Richtung Proletarisierung der ostdeutschen Gesellchaft interagierten also mit einer für Ostdeutschland typischen, historisch gewachsenen Milieulandschaft. Die hier verankerten preußisch-protestantischen Tugenden - Fleiß, Pflichterfüllung und Sparsamkeit als zentrale Auffassungen, Einordnung in und Dienst an der Gemeinschaft - waren dem Wertehorizont der neuen "sozialistischen" Arbeitsgesellschaft angepasst. Mehr noch: Sie waren, wie sich zeigen sollte, geradezu Voraussetzung für ihr Funktionieren. Seit 1945 trieben die radikalen politischen, ökonomischen und ideologischen Umwälzung im Osten Deutschlands nicht nur politische Gegner, sondern vor allem auch Angehörige der besitzenden sozialen Milieus, des Groß- und Kleinbürgertums, zur Flucht in den Westen. Dem verkündeten Programm der "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung", und seit 1952 dem Programm des "Aufbaues der Grundlagen des Sozialismus " entsprechend, zerstörte die Politik in der SBZ und DDR also gezielt die ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Reproduktionsbedingungen des Großbürgertums, des kleinbürgerlichen Mittelstandsmilieus und des bürgerlich-humanistischen Milieus . Zugleich wurden die Angehörigen der und die Kinder aus den Arbeitermilieus, sofern sie sich nicht explizit gegen den politischen Kurs der neuen Eliten stellten, beim Zugang zu höherer Bildung und zu den neuen Dienstklassen gegenüber den bürgerlichen Schichten privilegiert. Dieser rabiate antikapitalistische Eingriff in die Besitzverhältnisse, gekoppelt mit einer beständigen öffentlichen Stigmatisierung bürgerlicher Ideologie und Lebensweise, mit der Repression ihrer Anhänger und der gezielten Privilegierung der Unterschichten, führte im Ergebnis zu einem raschen Verschwinden des Großbürgertums und einer erheblichen Dezimierung der Mittelstandsmilieus und damit zu einer Homogenisierung der Bevölkerung Ostdeutschlands in Richtung kleinbürgerlich-proletarischer Milieus. Dieses intendierte Programm einer sozialstrukturellen Homogenisierung der DDR-Gesellschaft zu einem "Arbeiter-und-Bauern-Staat" oder "sozialistischem Staat der Werktätigen" zielte auf die Formierung der ostdeutschen Bevölkerung zu einem "neuen historischen Subjekt" mit einander angeglichenen Lebensverhältnissen und vereinheitlichten politischen Vorstellungen. Das schien nicht allein durch ökonomische Eingriffe und das Erzwingen von Loyalität zu bewerkstelligen zu sein. Durch die Propagierung und Anerziehung eines neuen "sozialistischen Bewusstseins" versuchte die politische Führung der DDR, "die initiativreiche Mitarbeit aller beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft" - also authentisches Engagement im beruflichen und gesellschaftlichen Leben - zu erreichen. Die Implementierung einer "sozialistischen Ideologie" als für alle Bürger verbindliche Weltanschauung schien der Königsweg zu diesem Ziel. Die Durchsetzung der Weltdeutungshegemonie der neuen politischen Eliten in Gestalt des Marxismus-Leninismus geschah über den Weg strikter Reglementierung der gesamten gesellschaftlichen Kommunikation: Die Medien, Kultur und Kunst, Wissenschaft und vor allem das Bildungssystem wurden nicht nur durch permanente Verbreitung der neuen Deutungsmuster und rigide Ausgrenzung anderer Meinungen und Anschauungen, sondern seit 1951 auch durch Gesetze und Verordnungen ausdrücklich auf den Marxismus-Leninismus als weltanschauliches Grundkonzept verpflichtet. Als notwendige Voraussetzungen für die Konstituierung einer neuen, von sozialen Ungerechtigkeiten und von gesellschaftlichen Konflikten bereinigten Gesellschaft sah die DDR-Elite also nicht nur die Monopolisierung der politischen und der ökonomischen Macht, sondern auch die Egalisierung der Lebensverhältnisse wie auch die Angleichung der Normalitätsvorstellungen und politischen Werte der DDR-Bevölkerung. Etwa Mitte der sechziger Jahre hatte sich tatsächlich eine neue Milieulandschaft in Ostdeutschland ausgeprägt. Sie war gekennzeichnet durch "Entbürgerlichung" der Bildungselite, durch das Entstehen einer neuen "sozialistischen Intelligenz" sowie die Formierung eines "rationalistisch-technokratischen" und eines "status- und karriereorientierten" Milieus. Typisch für die Mittel- und Unterschichten der DDR waren das kleinbürgerlich-materialistische Milieu und die Arbeitermilieus. Diese Wandlungsprozesse führten zu einem Kulturraum, der im Vergleich zum westdeutschen eher proletarisch, egalitär und links war. Aber nicht nur im Osten des geteilten Landes waren Sozialingenieure am Werk. Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühten sich verschiedene Kreise neoliberaler Intellektueller und Industrieller in Amerika und Europa, den damals auch in den westeuropäischen Gesellschaften verbreiteten "kollektivistischen Zeitgeist" gezielt in Richtung auf eine marktradikale Einstellung zu beeinflussen. Es gab also auch im Westen Experten, die sich um die Herstellung größtmöglicher Übereinstimmung zwischen der Mentalität der Bevölkerung und dem wirtschaftspolitischen System kümmerten. So war der Marshall-Plan auch als "ein überaus ambitioniertes Werbeprojekt" gedacht und umgesetzt worden . Auch die Propagierung des Konzepts der "Sozialen Marktwirtschaft" in der Bundesrepublik Anfang der fünfziger Jahre zielte auf die mentale Beeinflussung der Bevölkerung in dieser Richtung. Man ging davon aus, dass die Bevölkerung gegenüber der Marktwirtschaft noch sehr zurückhaltend sei und dagegen etwas getan werden müsse, wolle man nicht Boden an den Kommunismus verlieren. Die "Soziale Marktwirtschaft" wurde von den wirtschaftspolitischen Vordenkern als "Gegenprogramm gegen Kommunismus und Bolschewismus" konzipiert. Im Jahre 1952 verschrieb sich eine von Unternehmern im Umfeld Ludwig Erhardts gegründete Organisation mit dem programmatischen Namen "Die Waage. Gemeinschaft zur Förderung des sozialen Ausgleichs e. V." der Aufgabe, kontinuierlich Vertrauenswerbung für die Idee einer als "Soziale Marktwirtschaft" neu verfassten Gesellschaft zu betreiben. Ihre PR-Kampagnen wandten sich über einen längeren Zeitraum - 1952 bis 1965 - mit Anzeigen in den großen Zeitungen und Zeitschriften, aber auch mit Werbefilmen an den "kleinen Mann auf der Straße". Dieser solle, so die Idee der Initiatoren, für einen konfliktarmen, möglichst konsensualen Wiederaufbau der westdeutschen Gesellschaft auf kapitalistischer Grundlage gewonnen werden. Die zentralen Botschaften der "Waage-Kampagnen" zielten auf die stärkere mentale Verankerung eines positiven Bildes vom Unternehmer als dem Träger oder Motor des wirtschaftlichen Aufschwungs und damit auch der Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums der bundesdeutschen Gesellschaft. Vor allem aber sollte ein allmählicher Bewusstseinswandel der proletarischen Schichten hin zu einem Mittelstandsbewusstsein angeregt werden. Man wollte ein gesellschaftliches Klima fördern, in dem der Unternehmergeist allgemein geschätzt und die wirtschaftlichen und politischen Belange in einem "ausgehandelten" Konsens gelöst werden. In der Jahresend-Anzeige der Waage von 1956 hieß es dann auch: "Der Klassenkampf ist zu Ende. Den Begriff des Proletariers gibt es nicht mehr. Im freien Deutschland vollzieht sich eine geschichtliche Wandlung: der ehemals klassenbewusste Arbeiter wird zum selbstbewussten, freien Bürger. Ein Mann, der auf lange Sicht plant, der für seine Kinder eine gründliche Schulung verlangt, der durch Eigentum die Freiheit seiner Familie zu sichern sucht, das ist der Arbeiter von heute." Auch wenn sich die Wirkung solcherart politischer Werbung nur schwer messen lässt, so ist doch zu konstatieren, dass die Intentionen der Kampagnenstrategen letztlich ihre Realisierung fanden. Schon im Jahr 1955 stellten Soziologen fest, dass Begriffe wie "Proletarier, Proletariat und Prolet" gewissermaßen ausgestorben seien. Der als "Fahrstuhleffekt" beschriebene simultane soziale Aufstieg aller sozialen Schichten im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik in den fünfziger und sechziger Jahren war also von einem Diskurs begleitet, der auch das Selbstbild der (ehemals) "kleinen Leute" zu modifizieren suchte. Resultat dieser Entwicklung war, wie im Osten des geteilten Landes, eine kulturell homogenere Gesellschaft: im Westen die nivellierte bürgerliche Mittelstandsgesellschaft, im Osten die nivellierte arbeiterliche Gesellschaft. Bis zu dem kulturellen Umbruch 1968 in Westdeutschland war die ostdeutsche Gesellschaft stärker von sozialer und geistiger Mobilität und Spannungen geprägt. Manche der alltagskulturellen Wandlungen, die Ende der sechziger Jahre im Westen in eindrucksvollen und originellen Attacken auf den Normenkanon des bürgerlichen Anstands durchgesetzt wurden, gab es im Osten schon. Allerdings waren sie Ergebnis einer kulturellen "Revolution von oben", die das Zurückdrängen formaler Distinktion im Alltag, die Emanzipation der Geschlechter und die ökonomische Unabhängigkeit der Frauen durchsetzte beziehungsweise anregte. Im Alltag ergab sich so ein Klima von Informalität, Kollegialität und Libertinage, das sich von der hierarchischen bürgerlich-traditionellen Distinktion im Westdeutschland der Adenauerzeit unterschied. Der Proteststurm 1968 und der Aufbruch der geistigen Starre des westdeutschen Restaurations-Muffs führten zur Synchronisierung der kulturellen mit der wirtschaftlichen Dynamik der Westrepublik. Zu dieser Zeit fanden sich auch die philosophischen und psychologischen Versatzstücke für die Inszenierung eines neuen, stärker individualisierten, innengeleiteten und hedonistischen Persönlichkeits- und Konsumententypus. All das ermöglichte die Bereicherung und Dynamisierung der politischen Kulturlandschaft der Bundesrepublik durch Friedens-, feministische, Minderheiten- und Ökologiebewegungen sowie zahllose Bürgerinitiativen im regionalen Bereich. Der Einfluss, den der systemübergreifende Wertewandel auf die Kultur in Ostdeutschland ausübte, war jedoch aus wirtschaftlichen und ideologischen Gründen nicht so offensichtlich wie in den westlichen Ländern. Zum einen fehlte den Konsumenten im Osten das warenmässige Pendant, das die Semantik für die Differenzierung, Verfeinerung und die öffentliche Präsentierung der neuen Lebensstile lieferte. Zum anderen ging der Staat bis in die frühen siebziger Jahre recht rigide gegen die kulturellen Symbole des Wertewandels und des "Generationen-Konfliktes", die der eigenen Gesellschaft als wesensfremde und gefährliche Importe galten, vor. Während es also "den 68ern" der Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren gelang, die Diskurshoheit zu gewinnen und den gesellschaftlichen Wertewandel kommunikativ zu stützen, fehlte eine vergleichbare Breitenwirkung im Osten. Nicht nur bei der älteren und mittleren Generation, sondern auch bei grossen Teilen der Jugend gab und gibt es Dispositionen, die außenorientierter und weniger individualisiert und innengeleitet als im Westen sind. Der Osten blieb eine weniger individualisierte, eher egalisierte arbeiterliche Gesellschaft. Auch in der subjektiven Schichteinstufung zeigten sich die Ostdeutschen in der Tendenz plebejischer als die Westdeutschen. Viele Menschen, die den nichtproletarischen Schichten angehörten, fühlten und sahen sich als Arbeiter. Dieser Trend hält bis in die Gegenwart an. In einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes unmittelbar nach dem Beitritt der DDR zeigte sich, dass sich fast zwei Drittel der ostdeutschen Bevölkerung (61 Prozent) der Unter- und Arbeiterschicht zurechneten - beinahe auf den Prozentpunkt genauso viel, wie sich im Westen der Mittelschicht zuordnen (62 Prozent). Aber auch die miteinander vergleichbaren sozialen Schichten und Milieus sind heute noch in West und Ost recht verschieden. Im Osten hat sich der Wertewandel, die subjektive Modernisierung, also unter spezifischen sozialstrukturellen, ideologischen und alltagskulturellen Bedingungen vollzogen. Die Bildung der "modernen Milieus" führte hier zu anderen Ergebnissen als im Westen: Das alternative Milieu hat im Osten eine ausgeprägte linksintellektuelle Tendenz, und seine Angehörigen verstanden sich zum Teil als Gegenelite der DDR und des vereinigten Deutschlands, zudem ist diese Minderheit im Osten größer als ihr West-Pendant. Die hedonistische Strömung des Wertewandels wurde in der DDR vor allem durch die selbstbewussten, gut ausgebildeten jüngeren Arbeiter repräsentiert. Die Neuakzentuierung der SED-Politik in den siebziger Jahren, die stärkere Legitimierung der Konsumansprüche, die Förderung "junger Arbeiterfamilien" verstärkte das noch. Im Alter von 25 Jahren hatten die Angehörigen dieses Milieus erreicht, was sie für erstrebenswert hielten und was in der DDR erreichbar war - und suchten nun außerhalb der DDR nach besseren Arbeits- und Konsummöglichkeiten. Nach einer langen Phase relativer Stabilität, in der die Angehörigen der verschiedenen Milieus auf jeweils spezifische Art und Weise mit der DDR "ihren Frieden" gemacht hatten, war die DDR ab Mitte der achtziger Jahre für die Mehrzahl der Ostdeutschen - aus ganz verschiedenen Perspektiven - in jeder Hinsicht nur noch "zweite Wahl": Weder war erkennbar, dass die SED-Führung für die Aufnahme des Perestroika-Impulses und eine Demokratisierung des Landes bereit war, noch nahm eine Mehrheit weiterhin an, dass man den technischen und konsumtiven Rückstand zu den westlichen Industrieländer auch nur verringern könnte. Für die mutige Minderheit der DDR-Bürger, die im Spätsommer und Herbst 1989 bei den riskanten Demonstrationen und öffentlichen Aktionen den Unmut über den Zustand des Landes und die Ziele für eine Reform artikulierte, war das Mehrheitsvotum der Ostdeutschen für die Übernahme des politischen und wirtschaftlichen Systems der Bundesrepublik eine herbe Enttäuschung - "das war doch nicht unsere Alternative". Das traf auch auf die bedeutend größere Gruppe der systeminternen "Opposition" gegen die Politik der SED-Führung zu, die sich aus Angehörigen der Dienstklassen, der Intelligenz und aus Künstlern und Kulturschaffenden zusammensetzte, die einen reformorientierten, eigenständigen Weg in die Zukunft präferierten. Diese Sicht der ostdeutschen linken Minderheit auf die deutsche Vereinigung ähnelte auch den Positionen, die westdeutsche linke und linksliberale Intellektuelle bezogen. Sie sahen sich durch die ostdeutschen Wähler bei der Bundestagswahl 1990 um den anstehenden politischen und geistigen Wechsel in der Bundesrepublik gebracht. Die sich als modern, linksliberal und aufgeklärt verstehende Reflexionselite der Bundesrepublik verknüpfte die unbestreitbare Rettung der Konservativen durch die Ostdeutschen rasch mit der Konstruktion eines bestimmten Klischees von "den Ostdeutschen", das weit über das Politische hinausging. Das Bild vom selig-blöden Ossi mit der Banane war eine der ersten Metaphern des nun beginnenden kulturellen Stigmatisierungsdiskurses . Es war die enorme Reibungsenergie, die im Kontakt zwischen den Ostdeutschen und den Westdeutschen entstand, die diesem Diskurs über Jahre hinweg und in ungeheurer Breite Antrieb verlieh. West- und Ostdeutsche waren einander fremder und verstanden einander weniger gut, als man erwartet hatte, und sie waren auch enttäuscht darüber. Die öffentliche mediale Kommunikation über diesen Zustand wurde fast ausschließlich aus der Westperspektive geführt. Nicht nur hitzige Journalisten, sondern auch Wissenschaftler entdeckten im Jahr nach dem Beitritt im Osten den "resignierten und völlig angepassten Menschen als die sozialistische Persönlichkeit". Neben einem "totalen Wissensmanko" sei "totale Vereinnahmung und Verkollektivierung des Einzelnen" zu konstatieren. Die Ostdeutschen wurden latent als eine Spezies dargestellt, die demokratieunfähig, autoritätsgläubig und konservativ sei. Kulturell wurden sie als provinziell, spießig-piefig und völlig rückständig gezeichnet, insgesamt entsprächen ihre Wertehaltungen jenen "der Bundesrepublik der fünfziger Jahre". Zum Allgemeinplatz in der populären und sozialwissenschaftlichen Diskussion wurden die "Deformationen" der Ostdeutschen: "Vierzig Jahre antrainierte Unselbständigkeit lassen sich nicht einfach abschütteln. Der Wandel von Befehlsempfängern zu eigeninitiativ und selbstbewusst handelnden Arbeitnehmern braucht Zeit", prophezeite man. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet jene Werte der politischen Kultur der Bundesrepublik, die als Früchte der 68er-Bewegung gelten, die Kritik- und Messpunkte für die Charakteristik der Ostdeutschen wurden: Antiautoritarismus, Antifaschismus und reformpädagogisches Denken. Man diagnostizierte, dass die Ostdeutschen autoritärer seien als die Westdeutschen und dass der "verordnete Antifaschismus der DDR" ohne die richtige Wirkung auf die Bevölkerung geblieben sei, dass in ostdeutschen Familien repressiver als in westdeutschen erzogen worden sei. Dieser Trend hielt auch noch im Jahr 1999 an . Man stellte also fest, dass den Ostdeutschen all das fehlte, worauf man selbst so stolz war. Das Bild von den Ostdeutschen entsprach dem ins Negative gewendeten idealisierten Selbstbild, das eine sich als modern, linksliberal und aufgeklärt verstehende Gruppe von Westdeutschen von der Kultur ihres Landes hatte. Dieser in Wissenschaft und Feuilleton über beinahe alle politischen Spektren hin und über Jahre anhaltende Diskurs führte in der politischen Kultur der Bundesrepublik zu einem "Konsensschwall", der den 1989 erreichten Stand einer kritischen Selbstreflexion der politischen Kultur der Bundesrepublik fortspülte. Bald zeigte sich, dass auch viele Ostdeutsche ihre kulturelle Andersartigkeit reflektierten, mehr noch, sie bestanden auch darauf, anders zu sein. Insgesamt 60 Prozent der Ostdeutschen haben ein spezifisch ostdeutsches Wir-Bewusstsein und die Gewissheit, "nicht westdeutsch zu sein", nur 20 Prozent der Ostdeutschen fühlen sich als Bundesbürger und nicht oder weniger als Ostdeutsche. Doch genau jenes Fünftel hat die meisten Ressourcen und westdeutsche Unterstützung, in den Medien ihre Wirklichkeitsdefinition als die "der Ostdeutschen" auszugeben. Die kommunikative Situation im vereinigten Deutschland ist dadurch gekennzeichnet, dass im Offizialdiskurs und dem der meinungsbildenden Medien die positiven Bezüge zum Osten, zur DDR und dem Leben in ihr tabuisiert, ignoriert und stigmatisiert werde. Bei vielen Menschen in den neuen Bundesländern gibt es aber einen gesteigerten Kommunikationsbedarf darüber, was ihr Leben, ihre Werte und Erfahrungen aus der DDR wie auch ihre Identifikationen als Ostdeutsche im Lichte der oft sehr problematischen Nach-Wende-Zeit bedeuten. Da diesem Selbstverständigungs- und Selbstvergewisserungsbedarf das professionelle Pendant fehlt, wird er in einer Art Laien-Diskurs in Form von Ostalgie befriedigt. Zum Teil unreflektiert, unbegrifflich, oft ironisch gebrochen, ist Ostalgie damit sowohl ein laienhafter Kommentar zum professionellen Diskurs über die DDR und die Ostdeutschen wie auch dessen Komplettierung. Dennoch sind und waren die Ostdeutschen nicht das "kollektive Subjekt", das die SED-Führung angestrebt hatte, sondern eine Bevölkerung, die sich aus unterschiedlichen sozial-moralischen Milieus zusammensetzte und zusammensetzt. Auch heute sind die Ostdeutschen keine Gruppe mit klarem, politisch formulierbaren Gruppenbewusstsein, es gibt keine markanten politischen Ziele, für die sich "die Ostdeutschen" gemeinsam einsetzen. Dennoch gibt es als typisch ostdeutsch zu bezeichnende Abweichungen im Verhältnis zur westdeutschen Durchschnittsverteilung politischer Werte und Einstellungen. In den Untersuchungen der empirischen Sozialforschung zu politischen Präferenzen und gesellschaftsbezogenen Werten der Bevölkerung, zu Ordnungskonzepten und Zielvorstellungen zeigt sich regelmässig, dass deren jeweilige Ausprägung von solchen Variablen wie Bildungsstand, sozialer Status, Geschlecht und Alter abhängt. Zehn Jahre nach dem Beitritt kann man immer noch feststellen, dass "Herkunft DDR" in Bezug auf gesellschaftsbezogene Werte eine gleichermassen relevante Variable ist, wie Bildungsstand und Sozialstatus. Das zeigt sich vor allem am Konstrukt "Gerechtigkeit" und daran, inwieweit dem Staat soziale Verantwortung zugeschrieben wird. Aber auch hinsichtlich "Vertrauen zu den Institutionen der Bundesrepublik" ist eine Ostspezifik auszumachen. Selbst Inhaber von Elitepositionen unterscheiden sich - entgegen dem bisherigen Trend zu einer "konsensuell geeinten" und einstellungshomogenen Elite - nach der Ost-West-Herkunftslinie und das selbst dann, wenn sie den gleichen politischen Lagern angehören. Beispielsweise zeigte sich, dass 93 Prozent der sich als links definierenden Eliteangehörigen ostdeutscher Herkunft die "Sicherung des Sozialstaates" für sehr wichtig halten, während nur 63 Prozent der sich als links definierenden West-Elite eine solche Position vertreten. Linke westdeutsche Eliteangehörige präferieren mit 24 Prozent das Ziel der "Verhinderung des Sozialmissbrauchs" während es bei der Gruppe der sich als links definierenden Eliteangehörigen ostdeutscher Herkunft nur 13 Prozent sind. Auch in der Bewertung der bundesdeutschen Demokratie zeigen sich sehr deutliche Differenzen. Nach wie vor und mit großer Mehrheit befürwortet die ostdeutsche Bevölkerung die Einführung eines demokratischen Systems. Dass aber die bundesdeutsche Demokratie die "beste Staatsform" ist, glauben nur die Westdeutschen. Im Jahr 1997 waren über zwei Drittel von ihnen dieser Meinung, im Osten denkt das nur ein Drittel der Bevölkerung. Die Ostdeutschen kritisieren zudem, dass sich "demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten im Vergleich zur DDR-Zeit" kaum verbessert hätten [38 ] . Auch die Wählerbindung ist beim ostdeutschen Wahlvolk eine andere als die im Westen zu beobachtende Milieubindung. Die Volkskammer- und Bundestageswahlen 1990 waren reine Themenwahlen, "die Wähler traten im März 1990 also nicht als Glieder sozialer Gruppen, sondern als Einzelne an die Wahlurnen. So gesehen war die deutsche Wahllandschaft nunmehr in zwei Gebiete gespalten, ein westliches, in dem gruppenbezogenes Wählen nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, und ein östliches, in dem rational nutzenkalkulierende Individuen den dominanten Wählertyp darstellen." Diese Orientierung der Ostdeutschen ist offenbar relativ stabil, und sie trug dann 1998 auch maßgeblich zur Abwahl der Kohl-Regierung bei, aber auch zur prompten "Abstrafung" der rot-grünen Regierungskoalition in den Landtagswahlen des Jahres 1999. Offensichtlich fühlen sich die Ostdeutschen auch stärker von der Regulierung durch die Politik abhängig und sorgen sich mehr um die "richtige" politische Steuerung als die Westdeutschen. Das ist ein entscheidender Hinweis zur Einordnung aktueller und künftiger Systembewertungen. Jeder zweite Ostdeutsche befürwortet eine stärkere Kontrolle der Wirtschaft durch die Politik. Diese Präferenz dürfte einerseits spezifisches Erbe der politischen Sozialisation in der DDR sein, andererseits dürften aber in hohem Maße auch die sozialen Absturzerfahrungen aus der Transformationszeit Anteil daran haben. Diese werden weniger einem persönlichen Verschulden, sondern mehr dem Kollaps eines Systems zugerechnet. Die Ostdeutschen interpretieren die Politik als ein der Wirtschaft übergeordnetes und nicht nur beigeordnetes System. Im "freien Spiel der Kräfte" sehen sie mehr als die Westdeutschen die Gefahr, dass Gesellschaft zu einem Freiraum für die Stärkeren und Verantwortungsloseren wird und ihre Funktion als Lebensraum verliert - und dass sie die Leidtragenden dieser Entwicklung sind. Viele Ostdeutschen erwarten ein System, das Stabilität und Solidarität zumindest befördert und Kontingenz, Partialinteressen und die zentrifugalen Kräfte des Marktliberalismus im Zaume zu halten versucht. Damit kommt man auch zur zweiten, für die deutsch-deutsche politische Kultur wichtigen Dichotomie, nämlich der von Freiheit und Gleichheit. Dreiviertel der Westdeutschen sind stolz auf die persönliche Freiheit in Deutschland, nur die Hälfte der Ostdeutschen teilt diesen Stolz. Entsprechend "aufgeregt" werden auch ostdeutsche Statements, die Freiheit nicht über Gleichheit stellen wollen, diskutiert. In einer der Erhebungen des Allensbacher Institutes kommentiert Elisabeth Noelle-Neumann den Befund, dass 48 Prozent der Ostdeutschen dem Satz: "Wir waren alle gleich, und wir hatten alle Arbeit - darum war es eine schöne Zeit" zustimmen: "Aber sie irren sich, es war keine schöne Zeit! . . . Wie groß ist die Gefahr, die Freiheit, gerade gewonnen, Stück für Stück wieder zu verlieren, sie einzutauschen gegen das Linsengericht der Gleichheit, genannt: ,soziale Gerechtigkeit'? Gleichheit macht nicht glücklich, macht passiv, die eigenen Kräfte verfallen." Dass politische Freiheit ein hoher Wert ist, wissen die Ostdeutschen sehr wohl. Ein Teil von ihnen hat sich höchst engagiert im Herbst 1989 für die Demokratisierung der Gesellschaft eingesetzt. Und immerhin sind "die Montagsdemonstrationen" neben der "Einheit" die einzigen politischen Symbole in der deutschen Kultur, bei denen Identifikation und Stolz der Ostdeutschen noch größer ist als bei den Westdeutschen, die ansonsten sehr viel Stolz auf ihr politisches System zeigen. Die Ostdeutschen wissen politische Freiheiten sehr wohl zu schätzen, aber sie haben seit 1989 erlebt, dass diese allein nicht ausreichen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Formulierung vom "Linsengericht der Gleichheit" bringt die unterschiedlichen Erwartungen, oder besser, die tendenziöse Beschreibung der unterschiedlichen Erwartungen von Ostdeutschen und Westdeutschen, auf den Punkt. Es ist die Attitüde derer, die sich um das tägliche Linsengericht nicht mehr sorgen, sondern nur noch um die Raffinesse des Desserts und dessen stilvolle Zelebrierung. Es ist die Perspektive einer sich unerschütterbar fühlenden Saturiertheit jener, zu deren Erinnerungsrepertoire soziale Absturz- und Desintegrationserfahrungen oder Ängste vor politischen und ökonomischen Bedrohungen nicht mehr gehören und denen folglich auch die "Witterung" für drohende soziale und ökonomische Verwerfungen verloren gegangen ist. Genau diese Wahrnehmungsweisen gehören aber zu dem in den letzten beiden Dekaden geformten Erinnerungsbestand der Ostdeutschen. Damit bringen die Ostdeutschen in die politische Kultur der Bundesrepublik einen gebeutelten, geläuterten Realismus mit ein, der zu den künftigen gesellschaftlichen Belastungen im sich einigenden Europa wahrscheinlich besser passt als die Wahrnehmungsmuster einer breiten westdeutschen Bevölkerungsgruppe, die sich in der historischen Ausnahmeperiode der Wohlstands-Bundesrepublik herausgebildet hatten. Der Beitritt der Ostdeutschen hat die Balance und die Maßverhältnisse der politischen Kultur der Bundesrepublik verändert. Die politische Kultur ist nun gewissermaßen wieder komplettiert, und zwar um den egalitaristischen und etatistischen Teil der Modernisierungsansätze des einst gesamtdeutschen Traditionsbestandes. Diese Komplettierung geschah allerdings nicht durch die Legitimierung dieses Traditionsstranges und damit durch seine Aufnahme in den Werte-Kanon des vereinigten Deutschlands, sondern sie geschah durch die Aufnahme einer Bevölkerung, die in mehreren Generationen unter dem in der DDR durchgesetzten Modernisierungsmodell sozialisiert wurde. Seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik sind also die Träger egalitär und etatistisch akzentuierter Wertebestände nicht mehr lediglich eine Minderheit von engagierten und idealistischen Intellektuellen und Ideologen, sondern eine relativ große, sich aus verschiedenen sozial-moralischen Milieus zusammensetzende Bevölkerungsgruppe. Das symbolische Gewicht dieser Werte ist zwar nach wie vor gering, aber sein "statistisches Gewicht" hat deutlich zugenommen. Aus diesen Fakten resultiert die Akzentverschiebung in der politischen Kultur der Bundesrepublik. Sie macht sich aber nur durch die spezifische Politik-Rezeption des ostdeutschen Wahlvolkes bemerkbar, weniger durch eine klare Modifizierung der Politikgestaltung durch ostdeutsche Politiker oder durch spürbare Politikbeeinflussung mittels eines speziellen "ostdeutschen Lobbyismus". Pointiert gesagt: Die Ostdeutschen stellen einen anderen politischen Resonanzboden dar - sie machen nicht die Musik, aber sie verändern doch ihren Klang. Der Beitritt der Ostdeutschen hat also die politische Kultur Deutschlands vervollständigt, pluralisiert und damit auch gewissermassen normalisiert. Das berühmte Alt-Kanzler-Wort, demgemäß nun zusammenwachse, was zusammengehöre, hat sich insoweit erfüllt, als man "Zusammengehörigkeit" nicht nach einem altbackenen Harmonie- oder Identitätsverständnis interpretiert. Die Diskussion der ostdeutschen Lebensmodelle und Wertehorizonte begann zu einer Zeit, als sich innerhalb der Westkultur bereits eine Verunsicherung hinsichtlich der hochindividualisierten und flexibilisierten Identitätsmodelle und die Suche nach anders akzentuierten Lebensmodellen abzeichneten. Während die übergroße Mehrheit der Ostdeutschen der Meinung ist, dass "sie im vereinigten Deutschland ihre kulturellen Werte beibehalten sollten", meinen nur zwei Drittel der Westdeutschen, dass sie die eigenen kulturellen Werte behalten sollten. Der Wandel in Gesellschaften ist oft ein "Wandel durch Minderheiten". Möglicherweise können die Ostdeutschen mit ihren anderen Werten und einer anderen kulturellen Praxis, ihren Erfahrungen, Erinnerungen und Sinnkonstruktionen der Diskussion um den beginnenden alltagskulturellen Wandel produktive Impulse geben. Damit hätte der Beitritt "des Ostens" in "den Westen" für die Berliner Republik auch ein Moment des Kulturtransfers.
Seit über zehn Jahren lässt sich ein in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie dagewesener dramatischer Anstieg der Armut beobachten. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, vollzieht sich dieser in Form einer zunehmenden Verfestigung von Armut bzw. einer zunehmenden Abkopplung eines "untersten" Bevölkerungsteils. Es fällt denen, die einmal in Armut geraten sind bzw. bereits länger in Armut leben, immer schwerer, aus der Armut wieder herauszukommen. Diese abnehmende Aufstiegsmobilität, nicht jedoch eine Zunahme der Abstiege in Armut hinein, kennzeichnet und treibt den beschriebenen Trend. Die Etablierung einer regelmäßigen Armuts- und Reichtumsberichterstattung durch die Bundesregierung im Jahr 2000 war notwendig. Damit wurde die Existenz und Problematik von Armut in der wohlhabenden Bundesrepublik erstmals politisch anerkannt. Mittlerweile liegen drei nationale Armuts- und Reichtumsberichte vor und eine größere Zahl von Gutachten, die in diesem Kontext erstellt wurden. Auch aus diesen Berichten geht der drastische Anstieg der Armut klar hervor, obschon man den Eindruck gewinnen kann, dass er hinter den vielen Tabellen und Grafiken eher versteckt als zusammenhängend analysiert wird. Entsprechend findet sich in den resümierenden und sozialpolitisch orientierten Berichtsteilen keine klare Benennung, geschweige denn eine systematische Analyse dieses Trends. Es regiert vielmehr die politische Rhetorik, die sich in schönen Worten über die sozialpolitischen Reformen und Reformvorhaben auslässt und ihre angeblichen Fortschritte und Erfolge preist. Damit wird klar: Die Etablierung einer nationalen Armuts- und Reichtumsberichterstattung allein ist kein Garant dafür, dass sich die erhoffte Rückkopplung von Armutsberichterstattung und Sozialpolitik auch tatsächlich einstellt. Eine solche Rückkopplung verlangt, dass zum einen die verwendeten Konzepte der Armutsberichterstattung differenziert und sensibel genug sind, um die nach Maßgabe sozialpolitischer Zielvorstellungen relevanten gesellschaftlichen Entwicklungen sichtbar machen zu können. Zum anderen müssen sich umgekehrt die Erfolge und Misserfolge sozialpolitischer Maßnahmen zur Armutsbekämpfung an der tatsächlichen Entwicklung messen lassen. In beiden Punkten verfehlt die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung bislang ihr Ziel: Sie liefert weder eine überzeugende Analyse der sozialpolitisch relevanten Entwicklungstrends, noch findet eine ausgewogene Bewertung der Sozialpolitik statt. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht vor allem der erste Punkt, also die gezielte empirische Analyse der aktuellen Trends der Armut. Die empirischen Analysen basieren auf den Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) und einem Armutskonzept, das sowohl dem mehrdimensionalen wie dem längsschnittlichen Charakter von Armut Rechnung trägt und damit besonders geeignet ist, die zeitlichen Trends der Armut differenziert zu untersuchen. Armut in Deutschland nimmt, sofern sich das empirisch nachzeichnen lässt, bereits seit Ende der 1970er Jahre zu. Die verfügbaren längeren Zeitreihen zu Armutsindikatoren - Sozialhilfebezug und relative Einkommensarmut auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) - folgen demselben U-förmigen Verlauf, mit auffälligen Parallelen zum Verlauf der Arbeitslosigkeit: Einer steilen Abnahme der hohen nachkriegsbedingten Armut folgt eine mehrjährige Talsohle der Armutsquoten in den 1970er Jahren. Ende desselben Jahrzehnts beginnt dann der langsame, aber kontinuierliche Wiederanstieg der Armut in Deutschland, der insbesondere in den zurückliegenden zehn Jahren noch einmal eine deutliche Beschleunigung erfährt. Differenzierter lässt sich die Entwicklung der Einkommensarmut ab Mitte der 1980er Jahre verfolgen. Betrachtet man die Entwicklung der Einkommensarmutsrisikoquote auf Basis des SOEP, so beginnt diese 1984 auf einem vergleichsweise hohen Niveau, nimmt jedoch bis Ende der 1980er Jahre zunächst leicht ab, und folgt in den 1990er Jahren konjunkturellen Schwankungen. Ein besonders ausgeprägter Anstieg der Einkommensarmut lässt sich seit etwa der Jahrtausendwende beobachten. Das Bemerkenswerte an dieser Entwicklung ist, dass der Anstieg monoton verläuft und sich von konjunkturellen Entwicklungen weitgehend unbeeindruckt erweist. Zwischen 1999 und 2006 sind die Einkommensarmutsquoten sieben Jahre in Folge gestiegen - von 10,4 Prozent im Jahr 2000 auf 14,8 Prozent 2006. Im Erhebungsjahr 2009 verharrt die Einkommensarmut auf dem sehr hohen Niveau von 14,6 Prozent. Es scheint, als hätte eine Entkopplung von Armutsentwicklung und Arbeitsmarktentwicklung stattgefunden: Die Armen profitieren nicht länger vom wirtschaftlichen Aufschwung. Kontrovers wird diskutiert, was genau sich hinter dieser Entwicklung verbirgt und wie sich die Armutsentwicklung interpretieren lässt. Auf der einen Seite steht die Diagnose einer "Verzeitlichung" und "Entstrukturierung" der Armut. Sie stützt sich auf eine längsschnittliche Betrachtung von individuellen Armutskarrieren, die deutlich macht, dass Armutsphasen häufig nur kurz andauern und oftmals mit kritischen Passagen im Lebensverlauf verbunden sind. In einer dynamischen Perspektive sind einerseits weitaus mehr Menschen (zumindest kurzzeitig) von Armut betroffen als in der Querschnittsbetrachtung, aber andererseits ist nur ein geringer Anteil kontinuierlich arm. Vor dem theoretischen Hintergrund der Individualisierungsthese wurde die Verzeitlichung der Armut als Ausdruck neuer Lebenslaufrisiken interpretiert, die sich quer zu den sozialen Klassen oder Schichten in der Gesellschaft verbreiten und damit zu einer sozialen Entgrenzung der Armut führen. Eine Gegenthese zu diesem Szenario bildete die Diagnose einer entstehenden neuen underclass der "Überflüssigen" oder "Entbehrlichen" oder eines "abgehängten Prekariats". Den unterschiedlichen Etiketten gemeinsam ist die Vorstellung einer sozialen Schicht am untersten Rand der Gesellschaft, die nahezu vollständig abgekoppelt ist von der Welt der Erwerbsarbeit, im Wesentlichen von sozialstaatlichen Transfers lebt und eine eigene "Unterschichtskultur" entwickelt, die je nach ideologischer Färbung und intellektuellem Feingefühl in mehr oder minder stereotypen und stigmatisierenden Bildern gezeichnet wird. Die Unterschicht zeichnet sich demnach nicht nur und möglicherweise nicht einmal primär durch ihre materielle Armut und Arbeitslosigkeit aus, sondern durch ihre Transferabhängigkeit, ihre "Ungebildetheit" und ihre zur Lebenshaltung geronnene Hoffnungslosigkeit, die sich nicht zuletzt in Zustimmungen zu rechtsextremen Parteien äußere. Zwischen diesen Extremen bewegen sich weitere Diagnosen wie die einer Zweidrittelgesellschaft und fortschreitenden Polarisierung von Armut und Reichtum. Besondere Aufmerksamkeit hat in jüngerer Zeit die Diagnose einer "schrumpfenden Mittelschicht" erfahren, die nicht nur auf die dramatisch angestiegene Armutspopulation verweist, sondern auch auf den parallelen Anstieg von Personen im Reichtum und damit auf die insgesamt zunehmende Einkommensungleichheit. In den Feuilletons wird dies bisweilen zur Annahme drastischer Verelendungstendenzen der Mittelschichten zugespitzt. Es gilt als Gemeinplatz, dass die Armut zunehmend auch die Mittelklassen erreicht habe, in der sich die Angst vorm sozialen Abstieg ausbreite. Dahinter steht das Szenario einer die gesamte Gesellschaft durchdringenden und bedrohenden Prekarisierung und Verarmung, die vor keinen Klassen- und Standesgrenzen mehr Halt mache. Um diese unterschiedlichen Trenddiagnosen empirisch überprüfen zu können, bedarf es jedoch eines komplexeren Konzepts zur empirischen Messung von Armut als das der statischen relativen Einkommensarmut. Nach einer Definition der Europäischen Kommission, der sich auch die Bundesregierung in ihren Armuts- und Reichtumsberichten angeschlossen hat, gelten Personen und Familien als arm, "die über so geringe (materielle, soziale und kulturelle) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist". Wie sich diese allgemeine Definition in eine empirische Messung von Armut umsetzen lässt, ist jedoch nach wie vor höchst unklar und umstritten. Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung hat sich mit der theoretischen Interpretation von Armut als "Mangel an Verwirklichungschancen" im Anschluss an Amartya Sen einem ambitionierten Konzept verschrieben. Auch hier klaffen jedoch Anspruch und Wirklichkeit (sprich empirische Operationalisierung) noch weit auseinander. Erneut entsteht der Eindruck, als diene die theoretische Rhetorik mehr dem schönen Schein als der Konfrontation mit empirischer Realität. Die Konzeptionalisierung von Armut als Mangel an Verwirklichungschancen muss in den Kurzzusammenfassungen der Berichte vor allem dazu herhalten, um zu betonen, dass "die Wahrnehmung von Chancen nicht zuletzt vom Einzelnen ab(hängt)". Das am stärksten verbreitete Konzept der Armutsmessung, das auch die empirischen Teile der Armuts- und Reichtumsberichte dominiert, ist nach wie vor das der relativen Einkommensarmut. Nach diesem Konzept gilt als arm, wer über ein bedarfsgewichtetes Nettoeinkommen (auch "Äquivalenzeinkommen" genannt) von weniger als 60 Prozent des gesellschaftlichen Durchschnitts (Median) verfügt - unter der Annahme, dass bei einem solchen Einkommen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht mehr möglich ist. Abgesehen von den Messfehlern disponibler Einkommen liefern jedoch zeitlich punktuelle Messungen der Haushaltsnettoeinkommen nur ein ungenaues Bild von den tatsächlich verfügbaren ökonomischen Ressourcen, die über die Teilhabemöglichkeiten bestimmen. So werden Vermögen und Verschuldung sowie zeitliche Aspekte mit diesem Indikator nicht erfasst. Es ist durchaus möglich, dass Haushalte trotz geringer monetärer Ressourcen einen akzeptablen Lebensstandard wahren können - etwa wenn der Ressourcenmangel nur für eine begrenzte Zeit anhält, auf angespartes Vermögen, Eigenarbeit oder verwandtschaftliche Unterstützung zurückgegriffen werden kann oder Verschuldung möglich ist. Ebenso können umgekehrt spezifische Bedarfslagen - zum Beispiel schwere Erkrankungen oder Verschuldung - dazu führen, dass trotz durchschnittlicher Einkommen materielle Mängel (Deprivationen) in zentralen Lebensbereichen fortbestehen. Das Verhältnis von (laufenden) Einkommen und materiellen Lebenslagen (bzw. Konsumstandards) ist dabei prinzipiell in einer zeitlichen Perspektive zu betrachten, da Haushalte dazu tendieren, ihre monetären Ressourcen zeitlich umzuverteilen, um möglichst gleichbleibende Lebensstandards zu wahren. Aufgrund dieser Unzulänglichkeiten statischer Einkommensarmut wird in der europäischen Forschungsliteratur zu Armut seit Längerem dafür plädiert, die "indirekte" Armutsmessung über die Haushaltsnettoeinkommen durch "direkte" Messungen des Lebensstandards zu ergänzen, und darüber hinaus Armut im Längsschnitt, also über einen mehrjährigen Zeitraum, zu betrachten. Im Idealfall sollte beides zugleich geschehen, da eine rein querschnittliche Betrachtung notwendig zu einer Überschätzung des mismatch von Einkommens- und Deprivationsarmut führt, während umgekehrt längsschnittliche Armutsanalysen auf Basis isolierter Indikatoren zu einer Überschätzung der Dynamik von Armut führen. Ein multidimensionaler und längsschnittlicher Armutsindikator ist selbstverständlich empirisch aufwendiger und erfordert eine Vielzahl von inhaltlich begründeten Entscheidungen, etwa über die zu berücksichtigenden Lebenslagen und die Bestimmung von Mindeststandards oder über die Abgrenzung kurzfristiger von langfristiger Armut. Hier werden, auf Basis des SOEP, neben dem verfügbaren Einkommen drei konkrete Lebenslagen herangezogen, die in enger Wechselwirkung mit den laufenden Einkommen stehen: Die Wohnsituation (Größe, bauliche Qualität und sanitäre Ausstattung der Wohnung) ist Ausdruck der eher langfristigen Einkommenssituation und des Lebensstandards. Die Verfügbarkeit bzw. das Fehlen von finanziellen Rücklagen ist Ausdruck vergangener Einkommenserzielung und prägt die Handlungsoptionen und das Sicherheitsgefühl gegenüber der Zukunft. Arbeitslosigkeit schließlich ist eine der wichtigsten Einkommensquellen und zugleich eine der wichtigsten nicht-monetären Dimensionen der sozialen Teilhabe. Die Einkommens- und Lebenslagen einer Person werden zudem über fünf aufeinanderfolgende Jahre hinweg betrachtet. Damit soll zum einen die Güte (Validität) der Armutsmessung erhöht werden - etwa im Sinne einer Identifikation der "wirklich" Armen (truly poor). Zum anderen soll den unterschiedlichen Ausprägungen von Armut und Prekarität Rechnung getragen werden. Je nach der Dauer und Intensität von Einkommensmangel und Lebenslagendeprivationen können Zonen des Wohlstands, der Prekarität und der Armut unterschieden werden, aber auch "Entstrukturierungen" der Armut: In der Zone des gesicherten Wohlstands am obersten Ende der Wohlfahrtsverteilung finden wir ausschließlich gesicherte Einkommen und Lebenslagen. In der darunterliegenden Zone des instabilen Wohlstands finden wir dagegen häufiger auch Jahre mit prekären Einkommen oder einzelnen Deprivationen - der Wohlstand zeigt Risse. In der dann folgenden Zone der Prekarität leben Personen zumeist mit prekären Einkommen und einzelnen Deprivationen. Die materielle Situation hat sich hier noch nicht zur dauerhaften multiplen Armut verfestigt, aber ihre Drohung ist stets präsent, und es finden sich kaum mehr Phasen des Wohlstands. In der Zone der verfestigten Armut am untersten Rand der Gesellschaft leben Personen, die sich überwiegend in Einkommensarmut befinden und mehrfache Lebenslagendeprivationen aufweisen. Hier hat sich die Armut in Einkommen wie Lebenslagen gleichermaßen festgesetzt. Während in der Zone der Prekarität bereits inkonsistente und temporäre Erscheinungen von Armut auftreten, im Ganzen gesehen aber das "Grau" zwischen Armut und Wohlstand als eigenständige "Farbe" dominiert, finden wir auch ausgeprägte Typen der "entstrukturierten" Armut, in der der Widerspruch zwischen Armut und Wohlstand eine eigene Form angenommen hat. Der Typus der temporären Armut ist dadurch gekennzeichnet, dass sich Jahre mit gesicherten Einkommen und ohne Lebenslagendeprivationen mit Jahren von Einkommensmangel und Deprivationen abwechseln. Beim Typus der inkonsistenten Armut sind dagegen Widersprüche zwischen Einkommen und Lebenslagen auf Dauer gestellt. Die durchschnittliche Einkommens- und Lebenslagensituation über alle fünf Jahre hinweg ist für die beiden Typen der entstrukturierten Armut weitgehend identisch und vergleichbar mit der Zone der Prekarität, aber die Erscheinungsformen und Erfahrungsweisen der Armut bzw. Prekarität sind sehr unterschiedlich. Die Unterscheidung von Erscheinungs- und Erfahrungsweisen von Armut und Prekarität eignet sich besonders gut für eine Überprüfung der unterschiedlichen Annahmen zur Trendentwicklung. Die dargestellten Trendanalysen zeigen, dass die große Gruppe im gesicherten Wohlstand über die vergangenen 26 Jahre hinweg relativ stabil bei 44 bis 48 Prozent der westdeutschen Bevölkerung liegt, mit leichten, aber trendlosen Schwankungen. Das bedeutet, dass die obere Hälfte der Bevölkerung vom Anstieg der Armut in diesem Zeitraum nicht betroffen war. Nicht einmal temporär oder in einzelnen Lebensbereichen nehmen hier Anzeichen und Erfahrungen der Armut oder Prekarität zu. Betrachtet man die Verteilung in der unteren Bevölkerungshälfte, so zeigt sich vor allem ein dominanter Trend: Die Zone des instabilen Wohlstands nimmt im Zeitverlauf deutlich ab (in Westdeutschland von etwa 32 Prozent in den ersten auf 28 Prozent in den letzten Fünfjahresperioden), während die Zone der extremen Armut deutlich zunimmt (von etwa sechs auf zehn Prozent). Die anderen Ausprägungen von Prekarität und entstrukturierter Armut erweisen sich dagegen als relativ stabil: In der Zone der Prekarität leben etwa zehn Prozent der Bevölkerung, starke Schwankungen zwischen Armut und Wohlstand erfahren etwa vier bis fünf Prozent der Bevölkerung, und in einseitiger Armut leben, mit leicht abnehmender Tendenz, drei bis vier Prozent der Bevölkerung. Trotz der Unterschiede in den Einkommens- und in einzelnen Lebenslagen zwischen Ost- und Westdeutschland ergibt sich für den Osten ein durchaus ähnliches Bild, mit einer noch deutlicheren Ausprägung der auch im Westen erkennbaren Trends. Die Zone des gesicherten Wohlstands ist erwartungsgemäß kleiner als im Westen, und sie entwickelt sich ebenfalls erstaunlich stabil. Die dominanten Trends bestehen auch hier in einer Abnahme der Zone des instabilen Wohlstands (von etwa 36 auf unter 30 Prozent) und einer dramatischen Zunahme der Zone der verfestigten Armut von etwa vier Prozent in den ersten beiden Perioden auf elf bis zwölf Prozent in den letzten beiden Perioden. Die Zone der Prekarität umfasst wie im Westen etwa zehn Prozent der Bevölkerung und weist keinen gerichteten Trend auf. Die beiden Typen der "entstrukturierten" Armut finden sich im Osten etwas häufiger als im Westen, aber sie sind auch hier weitgehend stabil über die Zeit. Die empirischen Befunde widersprechen damit den Thesen einer Entstrukturierung und Entgrenzung der Armut. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: In West- wie in Ostdeutschland haben wir es mit einer über die Zeit hinweg zunehmenden Verfestigung von Armut am unteren Rand der Gesellschaft zu tun. Die Stabilität der Zone des gesicherten Wohlstands, wie auch die Stabilität der entstrukturierten Typen der Armut, lassen darauf schließen, dass die Zunahme der Armut nicht in Form eines abbröckelnden Wohlstands oder eines "Fahrstuhleffekts nach unten" verläuft, sondern in Form einer Verfestigung der Armut "von unten nach oben". Die Tendenz zur Verfestigung von Armut lässt sich auch durch tiefergehende Analysen bestätigen. So nimmt etwa der innere, statistische Zusammenhang der gewählten Indikatoren im Zeitverlauf tendenziell zu. Insofern kann auch die These einer zunehmenden Status-Inkonsistenz der Armut widerlegt werden. Dasselbe gilt für die These der Verzeitlichung der Armut. Für alle Einzelindikatoren ebenso wie für den Gesamtindikator lässt sich zeigen, dass der Anteil kurzzeitiger Armut (Anteil der Personen, die genau ein Jahr von fünf betrachteten Jahren von Armut bzw. Deprivation betroffen sind) im Verhältnis zur dauerhaften Armut (Anteil der Personen, die vier oder fünf Jahren betroffen sind) im Zeitverlauf klar rückläufig ist. Eine andere Möglichkeit der weitergehenden Analyse der Armutsentwicklung besteht darin, die Übergangswahrscheinlichkeiten von einer Fünfjahresperiode in die nächstfolgende zu betrachten. Dies ist nur für Personen möglich, die mindestens zehn Jahre kontinuierlich an der Befragung teilgenommen haben. Auf Basis dieser Population kann gezielt gefragt werden, inwiefern "Abstürze" aus Wohlstandslagen in Prekarität oder Armut über die Zeit hinweg zugenommen haben. Die Analysen zeigen, dass extreme Abstiege aus der Zone des gesicherten Wohlstands in die Zone der verfestigten Armut praktisch gar nicht vorkommen, und auch Abstiege aus dem gesicherten Wohlstand in die Prekarität oder aus dem instabilen Wohlstand in verfestigte Armut nur sehr selten sind und über die Zeit nicht signifikant zunehmen. Dagegen lassen sich eine Zunahme von Abstiegen aus der Zone der Prekarität in die verfestigte Armut und eine deutliche Zunahme des Verbleibs in der Zone der verfestigten Armut erkennen. Der Anteil der Personen, die sich nach fünf Jahren in der verfestigten Armut auch in den folgenden fünf Jahren in dieser Zone befindet, steigt im Beobachtungszeitraum von unter 50 auf über 75 Prozent an. Wenn überhaupt, gelingen lediglich kleine Aufstiege in die benachbarte Zone der Prekarität, oder in eine Form der temporären oder einseitigen Armut. Aufstiege in den gesicherten Wohlstand finden sich so gut wie gar nicht, und Aufstiege in den instabilen Wohlstand liegen mit schwankenden, tendenziell abnehmenden Werten zwischen fünf und zwölf Prozent im Westen und im Osten noch darunter. Der generelle Anstieg der Armut in Deutschland kann also nicht durch zunehmende Abstiege in die Armut erklärt werden - und damit auch nicht durch vermehrte Prekarisierungen der gesellschaftlichen Mitte. Im Gegenteil: Der treibende Faktor bei der Zunahme der Armut ist vielmehr, dass es in Deutschland immer schwieriger geworden ist, aus der Armut wieder herauszukommen. Die Armutsentwicklung trifft diejenigen am härtesten, die ohnehin schon nahe an ihr oder gar schon lange in ihr leben. Auch im Hinblick auf die Entwicklung gruppenspezifischer Armutsrisiken zeigt sich alles andere als eine soziale Entgrenzung und Heterogenisierung der Armutspopulation. Ausgehend von einem soziologischen Klassenmodell ergibt sich für Westdeutschland das Bild einer weitgehend stabilen, klassenspezifischen Schichtung des Armutsrisikos. Die einfache Arbeiterklasse trägt das mit Abstand größte Armutsrisiko, das absolut gesehen auch am stärksten ansteigt, gefolgt von der Facharbeiterklasse. Noch extremer ist dieser Anstieg im Osten verlaufen. In Ostdeutschland haben wir es heute, was die Armutsrisiken betrifft, annähernd mit einer Zweiklassengesellschaft zu tun: Auf der einen Seite stehen die beiden Arbeiterklassen und Routine-Dienstleister mit zum Teil extrem hohen Armutsquoten, auf der anderen Seite die übrigen Klassen mit nach wie vor eher geringen Armutsrisiken. Ein besonders hohes und deutlich steigendes Armutsrisiko haben Personen, die höchstens über einen Hauptschulabschluss und keine berufliche Ausbildung verfügen. Allerdings stellt diese Gruppe auch einen abnehmenden Anteil nicht nur der Gesamtbevölkerung, sondern auch der Armutsbevölkerung dar. Ein starker Anstieg der Armutsquoten lässt sich insbesondere bei Personen in Alleinerziehenden-Haushalten und in Haushalten mit drei und mehr Kindern beobachten. Im Osten haben auch die Alleinstehenden - hier vor allem Männer mittleren Alters - erkennbare höhere Armutsrisiken. Drastisch ist der Anstieg der Armut für Personen mit Migrationshintergrund. Wenn man nur die westdeutschen Personen ohne Migrationshintergrund betrachtet, nimmt sich der Anstieg der Armut tatsächlich eher moderat aus.
Die empirischen Befunde widersprechen damit den Thesen einer Entstrukturierung und Entgrenzung der Armut. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: In West- wie in Ostdeutschland haben wir es mit einer über die Zeit hinweg zunehmenden Verfestigung von Armut am unteren Rand der Gesellschaft zu tun. Die Stabilität der Zone des gesicherten Wohlstands, wie auch die Stabilität der entstrukturierten Typen der Armut, lassen darauf schließen, dass die Zunahme der Armut nicht in Form eines abbröckelnden Wohlstands oder eines "Fahrstuhleffekts nach unten" verläuft, sondern in Form einer Verfestigung der Armut "von unten nach oben". Die Tendenz zur Verfestigung von Armut lässt sich auch durch tiefergehende Analysen bestätigen. So nimmt etwa der innere, statistische Zusammenhang der gewählten Indikatoren im Zeitverlauf tendenziell zu. Insofern kann auch die These einer zunehmenden Status-Inkonsistenz der Armut widerlegt werden. Dasselbe gilt für die These der Verzeitlichung der Armut. Für alle Einzelindikatoren ebenso wie für den Gesamtindikator lässt sich zeigen, dass der Anteil kurzzeitiger Armut (Anteil der Personen, die genau ein Jahr von fünf betrachteten Jahren von Armut bzw. Deprivation betroffen sind) im Verhältnis zur dauerhaften Armut (Anteil der Personen, die vier oder fünf Jahren betroffen sind) im Zeitverlauf klar rückläufig ist. Eine andere Möglichkeit der weitergehenden Analyse der Armutsentwicklung besteht darin, die Übergangswahrscheinlichkeiten von einer Fünfjahresperiode in die nächstfolgende zu betrachten. Dies ist nur für Personen möglich, die mindestens zehn Jahre kontinuierlich an der Befragung teilgenommen haben. Auf Basis dieser Population kann gezielt gefragt werden, inwiefern "Abstürze" aus Wohlstandslagen in Prekarität oder Armut über die Zeit hinweg zugenommen haben. Die Analysen zeigen, dass extreme Abstiege aus der Zone des gesicherten Wohlstands in die Zone der verfestigten Armut praktisch gar nicht vorkommen, und auch Abstiege aus dem gesicherten Wohlstand in die Prekarität oder aus dem instabilen Wohlstand in verfestigte Armut nur sehr selten sind und über die Zeit nicht signifikant zunehmen. Dagegen lassen sich eine Zunahme von Abstiegen aus der Zone der Prekarität in die verfestigte Armut und eine deutliche Zunahme des Verbleibs in der Zone der verfestigten Armut erkennen. Der Anteil der Personen, die sich nach fünf Jahren in der verfestigten Armut auch in den folgenden fünf Jahren in dieser Zone befindet, steigt im Beobachtungszeitraum von unter 50 auf über 75 Prozent an. Wenn überhaupt, gelingen lediglich kleine Aufstiege in die benachbarte Zone der Prekarität, oder in eine Form der temporären oder einseitigen Armut. Aufstiege in den gesicherten Wohlstand finden sich so gut wie gar nicht, und Aufstiege in den instabilen Wohlstand liegen mit schwankenden, tendenziell abnehmenden Werten zwischen fünf und zwölf Prozent im Westen und im Osten noch darunter. Der generelle Anstieg der Armut in Deutschland kann also nicht durch zunehmende Abstiege in die Armut erklärt werden - und damit auch nicht durch vermehrte Prekarisierungen der gesellschaftlichen Mitte. Im Gegenteil: Der treibende Faktor bei der Zunahme der Armut ist vielmehr, dass es in Deutschland immer schwieriger geworden ist, aus der Armut wieder herauszukommen. Die Armutsentwicklung trifft diejenigen am härtesten, die ohnehin schon nahe an ihr oder gar schon lange in ihr leben. Auch im Hinblick auf die Entwicklung gruppenspezifischer Armutsrisiken zeigt sich alles andere als eine soziale Entgrenzung und Heterogenisierung der Armutspopulation. Ausgehend von einem soziologischen Klassenmodell ergibt sich für Westdeutschland das Bild einer weitgehend stabilen, klassenspezifischen Schichtung des Armutsrisikos. Die einfache Arbeiterklasse trägt das mit Abstand größte Armutsrisiko, das absolut gesehen auch am stärksten ansteigt, gefolgt von der Facharbeiterklasse. Noch extremer ist dieser Anstieg im Osten verlaufen. In Ostdeutschland haben wir es heute, was die Armutsrisiken betrifft, annähernd mit einer Zweiklassengesellschaft zu tun: Auf der einen Seite stehen die beiden Arbeiterklassen und Routine-Dienstleister mit zum Teil extrem hohen Armutsquoten, auf der anderen Seite die übrigen Klassen mit nach wie vor eher geringen Armutsrisiken. Ein besonders hohes und deutlich steigendes Armutsrisiko haben Personen, die höchstens über einen Hauptschulabschluss und keine berufliche Ausbildung verfügen. Allerdings stellt diese Gruppe auch einen abnehmenden Anteil nicht nur der Gesamtbevölkerung, sondern auch der Armutsbevölkerung dar. Ein starker Anstieg der Armutsquoten lässt sich insbesondere bei Personen in Alleinerziehenden-Haushalten und in Haushalten mit drei und mehr Kindern beobachten. Im Osten haben auch die Alleinstehenden - hier vor allem Männer mittleren Alters - erkennbare höhere Armutsrisiken. Drastisch ist der Anstieg der Armut für Personen mit Migrationshintergrund. Wenn man nur die westdeutschen Personen ohne Migrationshintergrund betrachtet, nimmt sich der Anstieg der Armut tatsächlich eher moderat aus. Die hier vorgestellten Analysen machen deutlich, dass wir es in Deutschland mit der Entwicklung einer zunehmenden Verfestigung von Armut zu tun haben, die es in dieser Form in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben hat. Auch wenn keine Daten für hinreichend differenzierte Analysen für die Zeit vor Mitte der 1980er Jahre vorliegen, so scheint der Armutsanstieg in den vergangenen zehn Jahren zwar eingebettet in eine langfristige "große Welle" wiederansteigender Armut seit den 1970er Jahren, aber gleichwohl einmalig. Er ist charakterisiert durch die zunehmende Schwierigkeit, aus der Armut und auch aus der Prekarität wieder herauszukommen. Auf diese Weise nimmt der Anteil der langfristigen Armut kontinuierlich zu. Offenbar sind die von verfestigter Armut besonders betroffenen und gefährdeten Gruppen sozial relativ homogen: Es sind vor allem Familien der Arbeiterschicht, mit mehreren Kindern oder alleinerziehenden Müttern oder Vätern sowie Menschen mit Migrationshintergrund. Damit widersprechen die empirischen Befunde weit verbreiteten Annahmen über eine zunehmende Temporalisierung und soziale Entgrenzung der Armut, eine Zunahme sozialer Abstiege aus der Mitte der Gesellschaft und ein Ausgreifen von Prekarität in immer breitere Bevölkerungskreise. Der Kern der Armutsentwicklung besteht vielmehr in ihrer signifikanten Verfestigung. Dieser zentrale Trend wird in der Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung nicht angemessen erkannt und reflektiert, obwohl der Anstieg der Armut aus dem umfangreichen Zahlenmaterial durchaus hervorgeht. Während sich der konzeptionelle Teil mit einem ambitionierten theoretischen Armutskonzept hervortut, bleibt der empirische Teil in einer Aneinanderreihung von Einzelindikatoren stecken, die als solche oft wenig aussagekräftig sind. Der sozialpolitische Berichtsteil schließlich steht mit seiner Rhetorik erfolgreicher Armutsbekämpfung in einer eklatanten Diskrepanz zum Versagen der Sozialpolitik vor der verfestigten Armut. Die Etablierung einer nationalen Armuts- und Reichtumsberichterstattung stellt zweifelsohne einen großen Erfolg dar. Dieser Erfolg kann sich aber leicht in sein Gegenteil verkehren, wenn sich die deutsche Armutsforschung auf die Rolle einer bloßen Zulieferantin zu dieser Berichterstattung herabstufen lässt und die Definitionshoheit einer reinen Behördenlogik überlässt. Eine unabhängige Armutsforschung und -berichterstattung, die über die amtliche Berichterstattung hinausgeht und diese beständig kritisch reflektiert, ist daher unverzichtbar für das Gelingen einer demokratischen - und eben nicht technokratischen - Sozialberichterstattung.
Die Vergangenheit überschattete in den vergangenen Jahren wiederholt die deutsch-polnischen Beziehungen. Der Dauerstreit um die museale Repräsentation von Flucht und Vertreibung und die ungelöste Frage nach der Rückführung von Kulturgütern zeigt, dass die Geschichte des 20. Jahrhunderts keineswegs abschließend aufgearbeitet oder gar bewältigt ist. Die Auseinandersetzungen verdeutlichen, dass die gewaltige Zäsur, die der Zweite Weltkrieg für beide Länder markierte, noch immer nachwirkt und das Selbstverständnis der jeweiligen Gesellschaften prägt – in ganz unterschiedlicher Weise. Mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen begann am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Am 17. September besetzte die Rote Armee die östlichen Landesteile. Grundlage der doppelten Aggression war der Hitler-Stalin-Pakt, mit dem sich die beiden Diktatoren über ihre "Interessensphären" in Ostmitteleuropa verständigt hatten. So wurde Polen einmal mehr von seinen mächtigen Nachbarn geteilt. Die Folgen der deutschen Okkupation, die sich nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 auch auf die polnischen Ostgebiete erstreckte, waren verheerend: Die Deutschen ermordeten fast die gesamte jüdische Bevölkerung, fast 3 Millionen Menschen, und große Teile der polnischen Elite. Insgesamt wurden mehr als 5 Millionen polnische Staatsbürger, etwa 15% der Gesamtbevölkerung von 1939, Opfer von Krieg, Terror und Völkermord. Zu den enormen demographischen kamen die materiellen Verluste. Die Besatzer beuteten hemmungslos die Wirtschaft aus, rekrutierten Zwangsarbeiter in großer Zahl, plünderten und zerstörten Museen, Archive und Bibliotheken. Obwohl Polen eines der wichtigsten Mitglieder der Antihitlerkoalition war – polnische Soldaten kämpften in allen alliierten Armeen gegen das NS-Regime – brachte das Kriegsende keinen Sieg. Auf Betreiben der Sowjetunion verständigten sich die drei alliierten Siegermächte bereits auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 auf eine Westverschiebung des polnischen Staats, ohne dabei die Exilregierung in London zu konsultieren. Ihre Position war nach dem gescheiterten Warschauer Aufstand erheblich geschwächt. Der Versuch der Heimatarmee, die polnische Hauptstadt noch vor dem Einmarsch der Roten Armee von den deutschen Besatzern zu befreien, endete nach neunwöchigem Kampf Anfang Oktober 1944 mit der Kapitulation der Aufständischen. Gestützt auf die Rote Armee und die sowjetischen Sicherheitskräfte konnten die Kommunisten so schrittweise die Macht in Polen erobern. Die Westverschiebung, die zugleich das Staatsgebiet erheblich verkleinerte, war von umfangreichen Zwangsumsiedlungen begleitet. Aus den polnischen Ostprovinzen, die nun an die Sowjetunion fielen, wurden mehr als 1,5 Millionen Menschen nach Zentralpolen oder in die vormals deutschen Gebiete im Westen und Norden umgesiedelt. Die Deutschen wiederum mussten Schlesien, Pommern, Westpreußen und Ostbrandenburg verlassen, sofern sie nicht bereits vor der heranrückenden Roten Armee geflohen waren. Von den Zwangsumsiedlungen betroffen waren zudem Ukrainer, Weißrussen und Litauer. Die Kommunisten realisierten im Nachkriegspolen so politische Vorstellungen der Nationalisten aus der Zwischenkriegszeit: Ein ethnisch homogenes Polen, dessen Staatsterritorium weit nach Westen verschoben war. Die neuen Grenzen legitimierten die Machthaber mit historischen Argumenten aus dem 19. Jahrhundert. Demnach handelte es sich bei Schlesien und Pommern um Gebiete, die im Frühmittelalter Ausgangspunkt für die polnische Staatlichkeit waren. Nach Jahrhunderten deutscher Fremdherrschaft konnten diese "urpolnischen Gebiete" wieder gewonnen werden, verkündete die kommunistische Propaganda. Der Rückgriff auf Traditionsbestände des Nationalismus war keineswegs ungewöhnlich. Die Kommunisten, die anfangs nur über einen schwachen Rückhalt in der Bevölkerung verfügten, nutzen gezielt die nach den Erfahrungen von Krieg und Besatzung verbreiteten antideutschen Ressentiments, um ihren Machtanspruch zu legitimieren. Schutz gegen den deutschen "Drang nach Osten" garantierte allein der neue sowjetische Bündnispartner. Die Verbrechen der sowjetischen Besatzer, wie die Deportation hunderttausender polnischer Staatsbürger oder die Ermordung tausender Offiziere der polnischen Armee durch den NKWD, unterlagen unter kommunistischer Herrschaft einem Tabu. Zahlreiche weitere Aspekte der Erfahrung von Krieg und Besatzung wurden in der offiziellen Erinnerung, die sich in Denkmälern, Feierlichkeiten, Filmen, Fernsehserien und Publikationen manifestierte, ausgeblendet oder marginalisiert. Dazu gehört die Rolle der Heimatarmee, die der Exilregierung in London unterstand, der Untergrundstaat, aber auch die polnisch-ukrainischen Konflikte in Ostgalizien und Wolhynien und die Zwangsumsiedlungen aus den östlichen Landesteilen nach dem Kriegsende. Die Erinnerung an diese Ereignisse konnte bis zum Systemwechsel von 1989/90 allein in den Familien und der oppositionellen Gegenöffentlichkeit gepflegt werden. Die selektive offizielle Erinnerung betraf auch den Mord an den Juden. Die Leiden und Opfer der Juden wurden seit den 60-er Jahren immer stärker unter dem Martyrium der polnischen Nation subsumiert. Ausdruck für diese Vereinnahmung war die Wendung von den "6 Millionen polnischen Opfern". In den Staatlichen Gedenkstätten Auschwitz Birkenau und Majdanek wurden die Juden bloß als eine Opfergruppe unter vielen anderen geführt. Trotz der offensichtlichen Deformationen und Leerstellen besaß das volkspolnische Geschichtsbild von Krieg und Besatzung durchaus gesellschaftliche Integrationskraft: Polen war demnach ausschließlich unschuldiges Opfer deutscher Aggression; unbequeme Aspekte wie das Verhalten der Bevölkerung gegenüber den verfolgten Juden oder der deutschen Zivilbevölkerung nach Kriegsende blieben weitgehend ausgeblendet. Die offizielle Erinnerung in Deutschland an den Krieg und seine Folgen ging von anderen Voraussetzungen aus: Der vom NS-Regime entfesselte totale Krieg endete in der totalen Niederlage. Zerstörung der Städte, Hunger und erzwungenen Heimatverlust erlebte die Mehrheit der Deutschen jedoch erst in der zweiten Kriegshälfte oder nach dem Kriegsende. Doch nicht nur die materiellen Kriegsfolgen mussten überwunden werden. Die Alliierten hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die Verbrechen des Nationalsozialismus strafrechtlich und politisch aufzuarbeiten. Die meisten Deutschen lehnten das Tribunal von Nürnberg gegen die Hauptkriegsverbrecher als "Siegerjustiz" ab. Die vier Siegermächte betrieben die Entnazifizierung und Reedukation jeweils nach ihren eigenen Vorstellungen. Überformt wurde die frühe Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus durch die ideologische Blockkonfrontation und den Kalten Krieg. Unter diesen Bedingungen verlief die Auseinandersetzung in beiden deutschen Staaten in beständiger Konkurrenz und Konfrontation. Sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR beanspruchten für sich, die richtigen Lehren aus der Vergangenheit gezogen zu haben. Die Vergangenheitspolitik der Bundesrepublik gründete auf eine konsequente Westbindung und einen antitotalitären Grundkonsens, hinter dem sich ein scharfer Antikommunismus verbarg. Als Rechtsnachfolgerin des untergegangen Deutschen Reichs reklamierte der westdeutsche Teilstaat den Anspruch auf die Ostgebiete, die – so die offizielle Sprachregelung – seit der Potsdamer Konferenz unter "polnischer Verwaltung" standen. Mit dieser Haltung, die mehrheitlich von beiden großen Volksparteien bis in die 60-er Jahre vertreten wurde, war eine Verständigung mit der Volksrepublik Polen unmöglich. Das Bewusstsein, dass der millionenfach erfahrene Heimatverlust eine Folge des von Deutschland begonnenen Krieges war, fehlte in der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Mit dem Sammelbegriff Vertreibung wurden verschiedene historische Ereignisse bezeichnet: Die seit Sommer 1944 vor der Roten Armee Geflüchteten und von den deutschen Behörden Evakuierten galten ebenso als Vertriebene wie die von polnischen Milizen im Frühjahr 1945 gewaltsam Verjagten und die nach der Potsdamer Konferenz von den Behörden Zwangsumgesiedelten. Die Vertriebenen waren seit den Anfängen der Bundesrepublik in den jeweiligen Landsmannschaften und dem Bundesverband der Vertriebenen organisiert. Diese Lobbygruppen verfügten über gute Kontakte in alle politischen Parteien. Die 1950 verabschiedete "Charta der deutschen Heimatvertriebenen" enthielt ein Bekenntnis zum Verzicht auf "Rache und Vergeltung", aber auch die Forderung nach einem "Recht auf Heimat". Zu diesen Überzeugungen bekannten sich die großen bundesdeutschen Parteien. Zu einem Bruch kam es erst durch die "neue Ostpolitik" der sozial-liberalen Koalition Ende der 60-er Jahre. Mit den Ostverträgen erkannte die Bundesrepublik die politischen Nachkriegsrealitäten an. Zu diesem Schritt waren die Vertriebenenverbände nicht bereit. Der heftige Widerstand gegen die Ostverträge führte die Vertriebenenverbände in die politische Selbstisolation. Bis in die 80-er Jahre hinein proklamierten einzelne Landsmannschaften bei ihren Treffen Ansprüche auf die ehemaligen Ostgebiete des Deutschen Reiches. Im Zentrum der offiziellen bundesrepublikanischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg standen zu diesem Zeitpunkt längst andere Aspekte. Die Dimension des nationalsozialistischen Judenmords war seit den 60-er Jahren durch Strafverfahren wie dem Auschwitzprozess, Debatten über die Verjährung von NS-Verbrechen und nicht zuletzt durch die Fernsehserie "Holocaust" langsam ins Bewusstsein der bundesdeutschen Öffentlichkeit gerückt. Die kollektive Schuldabwehr und Selbstviktimisierung, die für den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den 50-er Jahren beispielhaft waren, wichen so einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen. Die bundesdeutsche Vergangenheitspolitik war jedoch keine lineare Erfolgsgeschichte. Sie verlief immer kontrovers, enthielt Leerstellen und eklatante Defizite, bei der Anerkennung einzelner Opfergruppen ebenso wie im Umgang mit den konkreten Tätern und ganzen Verbrechenskomplexen. Dennoch gilt: Die Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine Verbrechen war seit den 80-er Jahren konstitutiv für das Selbstverständnis der Bundesrepublik. Die DDR entwickelte einen ganz anderen Umgang mit dem Nationalsozialismus. Sie verstand sich als antifaschistischer Staat, der konsequent mit der dunklen Vergangenheit gebrochen hatte. Indem sie sich auf die Traditionen des kommunistischen Widerstands berief, wechselte die DDR auf die Seite der sowjetischen Siegermacht. Die Schuld für die NS-Verbrechen wurde konsequent auf die Bundesrepublik projiziert. Die sowjetische Besatzungsmacht betrieb zwar eine umfassendere Entnazifizierung, um in Justiz, Bildung, Wirtschaft und Politik die Grundlage für den Umbau der Gesellschaft in ihrem Sinne zu legen; für die Mehrheit der Bevölkerung bot der verordnete Antifaschismus jedoch die Möglichkeit, den Fragen nach Schuld und Verantwortung auszuweichen. Der antifaschistische Gründungsmythos wurde von der DDR in Denkmälern, Feiern, Kunst und Literatur zelebriert. Bei der Interpretation des Nationalsozialismus blieb die DDR bis zu ihrem Ende dem orthodoxen Marxismus verpflichtet. Zahlreiche Aspekte der Vergangenheit blieben so unterbelichtet oder wurden ganz ausgeblendet. Der Faschismus galt als Ausgeburt des Kapitalismus und verschärfte Form des Klassenkampfes. Den Rassenantisemitismus des NS-Regimes und schließlich auch der Mord an den Juden Europas ließ sich damit nicht erklären. Das Verhältnis zu Polen war in der DDR zwiespältig: Einerseits galt die Volksrepublik als sozialistischer Bruderstaat, dessen Westgrenze unter massivem Druck der Sowjetunion bereits 1950 anerkannt wurde; andererseits gab es bis die 70-er Jahre hinein keinen nennenswerten gesellschaftlichen Austausch zwischen den Nachbarstaaten. Unter der Rhetorik von Völkerfreundschaft und Bündnistreue wirkten die antipolnischen Ressentiments fort. Anders als in der Bundesrepublik konnten sich Flüchtlinge und Vertriebene in der DDR nicht in Verbänden organisieren. Der Komplex Flucht und Vertreibung unterlag den Bündnispflichten und dem verordneten Geschichtsbild. Flüchtlinge und Vertriebene galten als "Umsiedler", die möglichst rasch in die sozialistische normierte Gesellschaft zu integrieren waren. Wie in Polen war das Thema Heimatverlust ein Tabu. Jeder Ansatz der Selbstorganisation von Flüchtlingen und Vertriebenen wurde von der Staatssicherheit verfolgt. Mit dem Ende des Staatssozialismus änderte sich der Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland und Polen grundlegend. Mit der DDR ging auch der längst hohl gewordene Staatsantifaschismus unter. Für die Bundesrepublik entfiel damit die permanente Herausforderung, sich als der vergangenheitspolitisch bessere Teilstaat profilieren zu müssen. Die Befürchtung, das wiedervereinigte Deutschland werde den Erinnerungsimperativ an den Nationalsozialismus abstreifen, erwies sich als gegenstandslos. In den 90-er Jahren gab es in dichter Folge Debatten über die NS-Vergangenheit. Öffentlich gestritten wurde über die Entschädigung von Zwangsarbeitern, die Beteiligung der Wehrmacht am Vernichtungskrieg, das Ausmaß des Rassenantisemitismus in der deutschen Gesellschaft und die Formen des staatlichen Gedenkens an die verschiedenen Opfergruppen des NS-Staats. Neue Gedenkstätten, Ausstellungen und Denkmäler entstanden, die an die NS-Verbrechen erinnern. Vielfach gingen die Initiativen für diese Projekte von organisierten Interessenverbänden aus. Bürgerschaftliches Engagement und staatliches Handeln prägen heute gleichermaßen die Erinnerungskultur der Bundesrepublik.
Standen in den 80-er und 90-er Jahren der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und der Holocaust im Zentrum wissenschaftlicher Forschungen und öffentlicher Aufmerksamkeit, so werden seit einigen Jahren vermehrt andere Aspekte wieder diskutiert. Dazu gehören der alliierte Bombenkrieg gegen das Deutsche Reich, der militärische Niedergang des NS-Staats und seine Folgen: Die Flucht und Vertreibung von Millionen Deutschen aus den Ostgebieten. Populäre Bücher, Filme, Fernsehserien und Zeitschriftenreihen bereiteten diese Themen massenmedial auf. Anders als vielfach behauptet, waren Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung in der bundesdeutschen Erinnerungskultur zuvor keineswegs tabuisiert worden. Die verstärkte mediale Hinwendung zu den deutschen Opfern löst in Polen Irritationen und bisweilen offene Kritik aus. Das betrifft besonders das vom Bund der Vertriebenen (BdV) forcierte Projekt eines "Zentrums gegen Vertreibungen". Die Vorbehalte richten sich sowohl gegen den BdV als Träger, als auch gegen die inhaltliche Ausrichtung der geplanten Gedenk- und Informationsstätte. Der schlechte Leumund des BdV in Polen ist nicht bloß eine Nachwirkung der kommunistischen Propaganda, die den Verband und seine Funktionäre beständig als unverbesserliche Revanchisten und Bedrohung für den polnischen Staat diffamierte. In Polen erinnert man sich daran, dass die organisierten Vertriebenen bis in die 80-er Jahre hinein nicht bereit waren, die territorialen Nachkriegsrealitäten anzuerkennen. Das Selbstbild des BdV als Brückenbauer und Vorreiter der deutsch-polnischen Aussöhnung stößt in der polnischen Öffentlichkeit daher auf breite Ablehnung. Die inhaltliche Kritik gegen das Projekt richtet sich gegen die vom BdV betriebene Universalisierung des Gedenkens an Flucht und Vertreibung. Mit Schlagworten wie "Jahrhundert der Vertreibungen" und der Bezeichnung von Vertreibung als Völkermord werden die historischen Ereignisse, die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches, aus dem konkreten historischen Zusammenhang gehoben. Die massive Kritik aus Polen an der vom BdV geforderten Gedenk- und Informationsstätte stößt in der deutschen Öffentlichkeit wiederum auf Irritationen und Unverständnis. Ein Grund dafür ist die weitgehende Unkenntnis über die veränderten Geschichtsbilder und vergangenheitspolitischen Debatten in Polen seit den 90-er Jahren. Nach der Systemtransformation begann die Aufarbeitung der "weißen Flecken" in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dazu gehörten die Verbrechen der sowjetischen Besatzung Ostpolens, die polnisch-ukrainischen Konflikte während des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Ursachen und Folgen des Warschauer Aufstands, die Erfahrung von Zwangsumsiedlungen und Deportationen und das Verhalten der polnischen Gesellschaft im Angesicht des Holocaust. Besonders heftig verlief die Kontroverse um das Pogrom von Jedwabne. Im Juni 1941 ermordeten in der ostpolnischen Kleinstadt Polen ihre jüdischen Mitbürger. Die Debatte, die durch die Publikation eines polnisch-amerikanischen Autors ausgelöst wurde, stellte das Selbstbild von Polen als ausschließlichem Opfer des Zweiten Weltkriegs in Frage und rief zugleich heftige Abwehrreaktionen hervor. Polen werde, so argwöhnten konservative Publizisten und Politiker unter Verweis auf die im Ausland und besonders in Deutschland breit rezipierte Auseinandersetzung, vom Opfer zum Täter gemacht. Die Debatte fiel zeitlich zusammen mit dem Anlauf des BdV für eine museale Repräsentation von Flucht und Vertreibung. Konservative Publizisten sahen Polen so gleichsam doppelt in die Rolle der "Täternation" gerückt. Von deutscher Seite aus wäre man gut beraten, diese Reaktionen nicht bloß als Hysterie und haltlose Polemik abzutun. Vor der Kritik an der vermeintlichen polnischen Unschuldsbesessenheit sollte die Reflexion über die Folgen von Krieg und Besatzung für Polen stehen – und darüber, wie diese Erfahrungen in den vergangenen 70 Jahren verarbeitet wurden.
DDR-Bewohner waren laut Grundgesetz Deutsche, und wer in den westlichen Teilstaat gelangte, konnte sich ohne Umschweife einen Pass ausstellen lassen. Im Vergleich zu anderen Menschen, die das Gebiet der Bundesrepublik betreten und hier ansässig werden wollten, waren die aus der DDR Herüberwechselnden daher privilegiert. Die Regelung des Grundgesetzes, die ihnen Freizügigkeit sicherte, bedeutete für sie gleichsam eine offene Tür; auch über alle weiteren Rechte, die der westdeutsche Staat seinen Bürgern garantierte, verfügten die ostdeutschen Flüchtlinge und Übersiedler sofort vollumfänglich. So waren DDR-Zuwanderer einerseits ihrem Status nach von vornherein zugehörig und gleichberechtigt – während sie andererseits von außen, aus einem andersartigen Staatswesen und einer nach anderen Grundsätzen organisierten Gesellschaft, in die Bundesrepublik kamen. Die folgenden Ausführungen setzen bei dieser Besonderheit der deutsch-deutschen Migration an. Fokussiert auf die 1980er Jahre gehe ich der Frage nach, wie sich dieses Spezifische hinsichtlich der Aufnahme und des Ankommens der Zuwanderer in der neuen Gesellschaft fassen lässt. Drei Aspekte werden dabei in den Blick genommen. Erstens: Wie moderierte der westdeutsche Staat auf Basis der grundgesetzlich festgeschriebenen Staatsbürgereigenschaft die Eingliederung der Übergesiedelten in zentrale gesellschaftliche Funktionssysteme, vor allem die Bereiche Bildung und Arbeit Zweitens: Ebenfalls per Verfassung gesetzt war die Zugehörigkeit der Ostdeutschen zu derselben (gedachten) nationalen Gemeinschaft. Lassen sich Beobachtungen einer partiell skeptisch-distanzierten Aufnahme in den 1980er Jahren aus einem Wandel des nationalen Selbstverständnisses der Westdeutschen erklären? Drittens: Inwieweit machten auch diese Wandernden, die "von Deutschland nach Deutschland" gingen, Fremdheitserfahrungen – und sind darin anderen Migranten trotz aller Spezifik eventuell vergleichbar? Wo im Folgenden jenseits allgemeiner Beobachtungen eine lokale Ebene angesprochen ist, wird als Beispiel West-Berlin herangezogen. Über die volle Mitgliedschaft im westdeutschen Staat verfügten übergesiedelte DDR-Bürger als Deutsche laut Grundgesetz umstandslos. Wie interpretierte der Staat auf Grundlage dieser Beziehung seine Aufgabe speziell gegenüber diesen Bürgern? Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann formulierte im November 1984 mit Blick auf die Zuwanderer aus der DDR: "Für ihre Eingliederung muss ihnen die Hilfe zuteil werden, die notwendig ist, um vorhandene Startnachteile auszugleichen und Chancengleichheit herzustellen." Wie dieses Programm zu verstehen ist, erschließt sich, wenn man die Erläuterungen des Migrationsforschers Michael Bommes zur Aufnahme von Aussiedlerinnen und Aussiedlern in der Bundesrepublik nachvollzieht. Er beschreibt ein Prinzip, das trotz sonstiger Unterschiede etwa hinsichtlich der Sprache für beide Gruppen galt: Bommes argumentiert, dass der Wohlfahrtsstaat die abweichenden Biografien der Migranten gleichsam reparierte. Abweichend waren ihre Lebensläufe, weil Bildungs- und Ausbildungswege nicht dem entsprachen, was man in der Bundesrepublik kannte und erwartete; und auch, weil sich das an Eigentum und sozialer Absicherung Akkumulierte nicht ohne Verluste in das Leben nach der Wanderung transferieren ließ. Diese Problematik struktureller Anschlussfähigkeit traf auch auf die Lebensläufe von DDR-Zuwanderern zu. Der Staat begegnete ihr mithilfe des gleichen Eingliederungsinstrumentariums, das er für Aussiedler nutzte; unter anderem in Gestalt des Bundesvertriebenen-, Fremdrenten- und Lastenausgleichsgesetzes war dieses Instrumentarium bis Mitte der 1960er Jahre in wesentlichen Zügen entwickelt worden. Gelder für Wohnungsbau und Hausratsbeschaffung, Kredit- und Steuererleichterungen, auch Hilfen zur wirtschaftlichen Existenzgründung: Diese Mittel erlaubten, Defizite infolge der Migration auszugleichen. Bei den Sozialversicherungen wurden DDR-Zuwanderer so behandelt, als hätten sie ihr Leben lang in der Bundesrepublik Beiträge gezahlt. Damit sie erfolgreich "Mitgliedschaftsrollen" übernehmen konnten, war es darüber hinaus wichtig, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten anzupassen. Diese Thematik wurde für DDR-Zuwanderer 1984 virulent, als nach rund zwei Jahrzehnten erstmals wieder deutlich mehr und vor allem jüngere Ostdeutsche in die Bundesrepublik wechselten. Etwa 35.000 Menschen ließ das SED-Regime in diesem Jahr ausreisen. Ein Mitarbeiter der West-Berliner Senatskanzlei vermerkte, dass die größte Altersgruppe unter den Neubürgern die 25- bis 40-Jährigen bildeten. Als Berufsgruppe seien Facharbeiter und Handwerker am stärksten vertreten, doch stellten auch Akademiker mit knapp 18 Prozent einen beachtlichen Anteil. Notwendig war nun eine Bestandsaufnahme: Wo ergaben sich Schwierigkeiten? Wie weit reichten vorhandene Regularien – Arbeitsförderungsgesetz und Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) etwa sowie die Zusatzprogramme, die seit Mitte der 1970er Jahre vornehmlich für Aussiedler aufgelegt worden waren? Die West-Berliner Schulsenatorin Hanna-Renate Laurien konstatierte "Anschlussprobleme" vor allem für Höherqualifizierte dort, wo Systemdifferenzen zum Tragen kamen: bei Oberstufenschülern zum Beispiel, denen unter anderem Kenntnisse in Fremdsprachen fehlten, und bei Akademikern. Zumal Lehrer, Juristen und Wirtschaftswissenschaftler ohne weitere Qualifizierung im Westen nicht als anerkennungsfähig galten. Die unterschiedliche ideologische und methodologische Ausrichtung verschärfte sich aus westlicher Sicht in einigen Bereichen durch ein Technologie- und generelles Modernitätsgefälle. Hinzu kam eine weitere Herausforderung, die in anderer Weise aus dem System der DDR erwuchs: Politiker, Verwaltungsmitarbeiter und Arbeitgeber im Westen mussten beurteilen, inwieweit sich Repression in die Biografien der Gewanderten eingeschrieben hatte und auch auf diese Weise andere Karrieren entstanden waren, als man sie in der Bundesrepublik kannte. Die Frage, was die Betreffenden insbesondere hinsichtlich ihrer beruflichen Teilhabe aus dem alten Leben mitbrachten, stellte sich für verschiedene Migrantengruppen. Auffallend ist im Fall der DDR-Zuwanderer (wie auch bei den Aussiedlern), mit welchem Aufwand sich die Politik um Anschlüsse für sie bemühte. Die skizzierten "Eingliederungsprobleme" beschäftigten in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre die Kultusministerkonferenz und immer wieder auch Bundestag und Bundesregierung. Zwei Beispiele: 1985 wurde ein "Akademikerprogramm", das Ende 1982 eingestellt worden war, wiederaufgelegt; 1988 erneuerte das Bundesjugend- und Familienministerium durch zwei Richtlinien den sogenannten Garantiefonds, der jungen Zuwanderern in Schule und Ausbildung zugutekam. Bemerkenswert ist außerdem, wie man die DDR-Zuwanderer der sogenannten 84er-Welle als Gruppe hinsichtlich ihres Teilhabepotenzials einschätzte. Den Gewanderten wurden hier überwiegend positive Noten ausgestellt. Laut Bundesinnenminister etwa zeigten sie "hohe Einsatzbereitschaft und Aktivität“ sowie neben Mobilität "eine große Arbeitswilligkeit". Auf der anderen Seite gingen Vertreter von Integrationsbürokratie und Beratungseinrichtungen davon aus, dass die Neubürger durchaus "Akkulturationsbedarf" hatten: Vor allem Konsummündigkeit und Eigeninitiative müssten sie lernen. Als soziale Problemgruppe wurden DDR-Zuwanderer jedoch generell nicht wahrgenommen, Hinweise auf Schwierigkeiten gab es nur begrenzt. Einige Medien, so z. B. Der Siegel, thematisierten immer wieder mal, dass ehemalige DDR-Bürger – bevorzugt Männer und ehemalige Häftlinge – einen überdurchschnittlich hohen Anteil der Obdachlosen stellten. Der Soziologe Volker Ronge konstatierte bei den Übersiedlern einen Trend zur "sozialen Isolation", den er auf unterschiedliche Werthaltungen in Ost und West zurückführte, doch blieben sowohl dieser Befund wie auch seine Erklärung empirisch ungesichert. Auch bei diesem Thema bildet die Staatsangehörigkeitsregelung den Ansatzpunkt: 1949 hielten die Verfassungsgeber an einer einzigen deutschen Staatsangehörigkeit fest, um dem Fortbestand eines (gesamt)deutschen Staatsvolks Ausdruck zu verleihen. DDR-Bewohner, die in die Bundesrepublik wechselten, waren durch ihre Staatsangehörigkeit daher über formale Gleichberechtigung hinaus als Angehörige derselben nationalen Gemeinschaft qualifiziert. In den 1970/80er Jahren war die Vorstellung dieser Gemeinschaft unsicherer geworden: Inwieweit konnte man nach Jahrzehnten der Teilung und Auseinanderentwicklung vom Bestand einer (gesamt)deutschen Nation überhaupt noch ausgehen? Die Existenz zweier deutscher Staaten war selbstverständlicher geworden, die DDR vielen aus dem Blick gerückt. Zu der Frage, ob und wie sich diese Entwicklungen in der Wahrnehmung der DDR-Zuwanderer niederschlugen, finden sich in der Geschichtswissenschaft polare Positionen. Helge Heidemeyer geht davon aus, dass Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR zunehmend "als Fremde wie Asylsuchende wahrgenommen wurden"; Michael Kubina postuliert, dass sie "im Verständnis der bundesdeutschen Öffentlichkeit und Politik letztlich Deutsche [waren]", denen man überwiegend mit Wohlwollen begegnete. Heidemeyers These entsprechen Beobachtungen von Journalisten und Demoskopen Mitte der 1980er Jahre, die auf eine Abwehrhaltung gegenüber DDR-Zuwanderern hindeuten. "Warum kommen Sie denn hierher? In der DDR hatten Sie doch Wohnung und Arbeit. Hier wohnen schon genug Ausländer", zitierte etwa Der Spiegel im April 1984 plakativ die Äußerung einer Mainzer Passantin gegenüber einer Ausgereisten. Bei einer zur gleichen Zeit erstellten Infratest-Erhebung stimmten 52 Prozent der Befragten der Aussage zu "Die ostdeutschen Zuwanderer nehmen uns unsere Arbeitsplätze weg." Sehr häufig verband sich diese Sorge überdies mit der Überzeugung, der Zuzug sollte restriktiver gehandhabt werden. Fraglich ist jedoch, inwieweit solche Befunde als Ausdruck eines gewandelten nationalen Selbstverständnisses der Westdeutschen gelesen werden können beziehungsweise dieses überhaupt eine geeignete Erklärungsfolie für (mangelnde) Aufnahmebereitschaft abgibt. Dass hier kein einfacher Konnex bestand, veranschaulicht ein Blick auf die 1950er Jahre, für die sich das Verhältnis zu Ostdeutschland eindeutiger bestimmen lässt. Wie der Soziologe Duncan Cooper ausführt, lehnte die große Überzahl der Bundesbürger es damals ab, die DDR als unabhängigen Staat zu betrachten. Daraus erklärt er die 1953 per Umfrage erhobene Mehrheitsmeinung, Ostdeutsche sollten grundsätzlich Zugang zur Bundesrepublik haben. Zugleich aber, so Cooper weiter, begrenzten weite Teile der Bevölkerung in dieser Phase massenhaften Zuzugs ihre Unterstützung auf jene, die politisch verfolgt waren, in Not waren oder sich hier auf Verwandte stützen konnten – so wie es das von der Bundesregierung installierte Notaufnahmeverfahren für DDR-Zuwanderer auch offiziell vorsah. Eine Kontrolle und Einschränkung der Zuwanderung mit Hilfe des Postulats "legitimer" Flucht- oder Übersiedlungsgründe waren also trotz damals stark empfundenem Ost-West-Zusammenhalt von Bedeutung. Schon vor diesem Hintergrund scheint es nicht umstandslos möglich, aus einem ähnlichen Befund (nicht umfassend wohlwollender Aufnahme) nun zu folgern, dass die DDR und ihre Bewohner "Deutschland" oder der "deutschen Nation" nach bundesrepublikanischem Verständnis nicht mehr zugehörig waren. Auch zeigten Meinungsumfragen in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, dass die Bundesbürger das Ziel, die deutsche Einheit herzustellen, nach wie vor mehrheitlich unterstützten. Schließlich relativieren sich die in der Presse überlieferten Titulierungen als "Ausländer" angesichts einer 1989 erstellten Repräsentativumfrage unter DDR-Zuwanderern, die unter anderem auf Diskriminierungserfahrungen abhob. 89 Prozent der Befragten machten solche Erfahrungen nicht; von den 11 Prozent, die von Herabsetzungen berichteten, gab wiederum nur ein kleiner Teil an, als "Ausländer" ausgegrenzt worden zu sein. Doch gilt auch in umgekehrter Perspektive kein Automatismus: Dass man sie größtenteils als Mitglieder derselben nationalen Gemeinschaft sah, garantierte DDR-Zuwanderern keine vorbehaltlose Inklusion. Ihr Zugang wurde zumindest phasenweise mit bestimmten Auflagen und Erwartungen an die Übersiedlungsgründe verknüpft, und sie waren nicht dagegen gefeit, als Konkurrenten um knappe Ressourcen oder "Spione" mit Abwehr und Misstrauen belegt zu werden. Beide Aspekte traten in Zeiten hoher Zuzugszahlen und einer – wie 1984/85 – krisenhaft wahrgenommenen Wirtschaftslage schärfer hervor. Insgesamt gewinnt man jedoch nicht den Eindruck, dass sich die genannten Stereotype zu einem klar konturierten Bild verfestigt hätten, das systematisch auf DDR-Zuwanderer als eine bestimmte Migrantengruppe bezogen worden wäre. In Selbstberichten und Zeitzeugeninterviews zeigen sich deutlicher Wahrnehmungen, die etwas anders gelagert waren: unterhalb von offener Ausgrenzung, aber dennoch Fragen von Zugehörigkeit tangierend. So thematisierten viele der Gewanderten, dass sie sich mit ihrer Biografie im Westen nicht anerkannt fühlten, weil sie hier vielfach auf Unwissen und Desinteresse trafen. "Man merkt eine verbreitete Unlust, das zur Kenntnis zu nehmen, was DDR heute ist", stellte ein Ausgereister 1988 fest. Auch einige Umfrageergebnisse legen nahe, dass die DDR aus dem westdeutschen Problemhorizont weitgehend herausgerückt war beziehungsweise dortige Verhältnisse kaum mehr fundiert eingeschätzt werden konnten; insofern fanden "Westbindung" und "Konzentration auf sich selbst", wie Heidemeyer sie konstatiert, tatsächlich Niederschlag. In der Folge trafen herübergewechselte Ostdeutsche mit ihren Erfahrungen oft auf Unverständnis. Eine über Ungarn Geflüchtete bemerkte rückblickend: "Im Westen war es schwierig, […] jemanden zu finden, und denn [au]ch […] so verstanden zu werden." In den Zitaten deutet sich eine Erfahrung an, die auch andere Migranten in der Bundesrepublik machten: "Die Leute wissen gar nicht, was Du bist", zitiert die Soziologin Roswitha Breckner einen ihrer rumänischen Interviewpartner. Dass man im Westen mit seinem Herkunftsland nichts verband, erlebte auch er als Irritation und Ungleichgewicht. Der Frage nach charakteristischen Erfahrungen in Migrationsprozessen lässt sich anhand des dritten hier zu verhandelnden Themas, Fremdheit, weiter nachgehen. Von einem DDR-Bürger erwarte man, "da er ja von Deutschland nach Deutschland kommt, dass er Deutscher – Bundesdeutscher ist. Man ist aber völlig fremd, unwissend, wirkt [...] eigenartig und dumm beziehungsweise weltfremd. Noch heute fehlen mir häufig hier übliche Umgangsformen, Verhaltensregeln", äußerte eine Ausgereiste rückschauend. Wie diese Lehrerin aus Ost-Berlin thematisierten auch andere Übergesiedelte Fremdheitserfahrungen, wenn sie über ihr Ankommen im Westen sprachen. Diese Erfahrungen konnten unterschiedlicher Art sein; eine mögliche Ausprägung kommt in der Formulierung der Lehrerin zum Ausdruck: Fremdheit als Unvertrautheit im Sinne von "nicht kennen" beziehungsweise "nicht wissen" oder auch "nicht verstehen" und "sich nicht verhalten können". Diese Unvertrautheit begleitete die Gewanderten im Prozess des sich Hineinfindens in die neue Gesellschaft; in spezifischer Weise aber kennzeichnete sie die Situation unmittelbar nach dem Wechsel: die Phase des Übergangs, in der nach der Ankunft ein neuer Alltag etabliert werden musste. Eine Studentin, Anke*, schilderte 1989 ihr Erleben kurz nach ihrer Ausreise im September 1985:
"Ja erstmal war ich irgendwie tagelang völlig verwirrt, so von dieser Eindrucksvielfalt, weil ja, also uns Westlern, also mich jetzt eingeschlossen, fällt das ja nicht mehr auf, wir haben gelernt, mit den vielen bunten Plakaten und so zu leben und wir gucken nich mehr hin, wie haben andere, man oder ich habe dann entwickelt eine andere Art von Wahrnehmung[...]."
Anke beschrieb hier Eindrücke, die sie anfangs überforderten, weil sie sie nicht gewichten und sich nicht abgrenzen konnte; sie reagierte mit wochenlanger Müdigkeit und Kopfschmerzen. Ein weiteres Beispiel: Marianne K.* gelangte nach ihrem Freikauf ebenfalls im September 1985 zunächst nach Gießen; sie berichtete im Interview 2011:
"denn erschlägt einen ja das is ja auch nervlich belastend diese Anjebotsfülle [...] is ja auch richtich teuer alles was verdienste hier und, [...] man muss sich hier wahnsinnich sortieren und im, Kopp rattert das Tach und Nacht dies, diese ganzen Eindrücke zu verarbeiten, das erschlägt einen schon n Stück weit, die bürokratischen Hürden erschlagen einen auch [...]".
Beide Frauen stellten in diesen Passagen dar, dass sie hinsichtlich bestimmter Situationen oder Anforderungen nicht mehr über Verhaltenssicherheit verfügten; Orientierungsschemata im Sinne erprobter und selbstverständlicher Rezepte für das Alltagshandeln fehlten. Insofern lässt sich ihr Erleben als "Krisis-Erfahrung" kennzeichnen, wie sie die Forschung zumeist in Anlehnung an den Soziologen Alfred Schütz als typische Erfahrung bei einem Gesellschaftswechsel beschreibt. Dass solche Krisis-Erfahrungen bei DDR-Zuwanderern erkennbar sind, hat Manfred Gehrmann anhand einiger Fälle kurz skizziert. Die Interviews, die in der Stiftung Berliner Mauer vorliegen, geben weitere Beispiele dafür, wie sich die Krisis-Erfahrung ausprägte und in welchen lebensgeschichtlichen Zusammenhängen sie stand. Sowohl bei der zitierten Anke als auch bei Marianne K. bündelten sich in der geschilderten Orientierungslosigkeit nicht allein Schwierigkeiten des Neuanfangs; ihr Erleben von Überforderung verschärfte sich durch Vorerfahrungen in der DDR, die nun aufbrachen. Anke hatte mit ihrer Mutter 22 Monate auf die Ausreise gewartet, davon das letzte Jahr als Putzhilfe gearbeitet; Marianne K. kam aus einer fünfmonatigen Haft, deren gesundheitliche Folgen sie nun belasteten. Als Faktoren, die in der neuen Umgebung die Überwindung von Fremdheit erleichterten, gibt Gehrmann an: über verwandtschaftliche Netzwerke zu verfügen, rasch Freunde zu finden oder auf eine "community" von DDR-Zuwanderern vor Ort zurückgreifen zu können. Nicht jede Fremdheitserfahrung ließ sich jedoch auflösen. In Interviews und publizierten Selbstberichten beschreiben einige der Gewanderten Formen von Unvertrautheit, denen nicht ohne Weiteres durch Wissenserwerb beizukommen war. Reiner F.* etwa bemerkte, dass man, weil man selbst nicht hier gewesen war, die Erfahrungen der anderen nie ganz teilen konnte – beziehungsweise biografisch verspätet war. "Det is natürlich irgendwie ne-ne-ne quälende Sache. Man ist im Grunde genommen in nem Alter, wo man diese Erfahrungen schon haben müsste und hat sie nicht." Der Schriftsteller Utz Rachowski beschrieb sich als habituell unpassend, was sich in Kommunikationssituationen äußerte und, wie er meinte, auch den Umgang mit Frauen erschwerte. "Ich habe durch das Exil auch das Leben meiner Generation verloren", lautete sein Fazit. Anhand des Themas Fremdheit lässt sich aufzeigen, wie sich Herausforderungen der Integration auf der Ebene der Erfahrung der Gewanderten selbst darstellen konnten. Außerdem bietet sich hier ein Ansatzpunkt, um Ähnlichkeiten mit anderen Wanderungen herauszuarbeiten, die innerdeutsche Ost-West-Migrationen bei aller Spezifik gegebenenfalls aufwiesen. So scheint sich die These zu bestätigen, die Roswitha Breckner in ihrer Untersuchung "Migrationserfahrung – Fremdheit – Biografie" 2009 aufgestellt hat: dass es bezüglich bestimmter Aspekte der Erfahrung in Migrationsprozessen über unterschiedliche Typen von Migration hinweg Gemeinsamkeiten gebe; und dass eine wichtige dieser Gemeinsamkeiten darin liege, Diskontinuität in den eigenen Orientierungsmustern und sozialen Zugehörigkeiten zu erleben, die biografisch bearbeitet werden muss. DDR-Zuwanderern in der Bundesrepublik boten sich, wie in den ersten beiden Abschnitten ausgeführt, hinsichtlich Partizipation und Zugehörigkeit in besonderem Maße inklusionsfördernde Bedingungen; gleichwohl lohnt es sich auch in ihrem Fall genauer zu prüfen, inwieweit sie sich in der Position des Fremden wiederfanden und wie sie damit umgingen.
Der Volksaufstand des 17. Juni 1953 in der DDR wurde in der Bundesrepublik zum "Nationalfeiertag" erklärt, zum "Tag der deutschen Einheit". An ihn knüpften sich im Zeitverlauf unterschiedliche nationale Geschichtsbilder. Zuerst wurde er als Arbeiter-, dann als Volksaufstand interpretiert. Anfangs sahen die meisten in ihm eine Erhebung für die Wiedervereinigung, dann, seit den 1960er Jahren, nur noch eine Freiheitsbewegung oder eine gescheiterte Revolution wie 1918/19 oder nur mehr einen sozialen Protest. Oftmals gab es einen Vergleich mit dem 20. Juli 1944 als einen Versuch, die totalitäre Diktatur zu stürzen. In der DDR wiederum kam es zum Versuch, einen sozialistischen Patriotismus zu generieren. Nach der nationalen Trennung bedeutete der Mauerbau die – wie es schien: endgültige – Teilung Deutschlands. Während die SED in den 1970er Jahren die "deutsche Nation" in der DDR-Verfassung eliminierte – was die meisten Ostdeutschen ablehnten –, beanspruchte die Bundesregierung mit der Neuen Ostpolitik die Einheit der Nation zu wahren. Erinnerungskulturell fanden die beiden deutschen Gesellschaften Anfang der 1980er Jahre wieder zusammen. Zahlreiche Gedenkanlässe öffneten Schleusen der Erinnerung. Im Westen brach ein regelrechter Geschichtsboom aus, "von unten" befördert durch unzählige Geschichtswerkstätten. Und im Osten erwies sich das "Erbe und Tradition"-Programm der SED, das eine gefühlsmäßige Bindung an die "Nation DDR" bewirken sollte, als Bumerang: Die Vergangenheit – sei es Luther, Friedrich der Große oder gar Bismarck – stimulierte bei den Menschen gesamtdeutsche Gefühle und Solidarität und zwar nicht als vergangene Geschichtsnation, sondern in der Gegenwart. Angesichts des Kalten Krieges trat die Moral hinter dem Pragmatismus zurück. Was bedeutet dies? In der Bundesrepublik lautete 1949 die Frage: Demokratisierung und gesellschaftliche Integration der NS-Funktionseliten, also der mittleren Garnitur, oder vorbehaltlose Aufarbeitung und Bestrafung der Verbrechen. In einer Art großen Koalition entschied man sich für den ersten Weg – ein allgemeiner Rechtfertigungsdrang und ein gemeinschaftlicher Wille, sich von Schuld und Verantwortung frei zu sprechen verband die meisten Deutschen miteinander. Vom Holocaust war bis zum Ende der 1950er Jahre kaum die Rede. In der Öffentlichkeit wurde das "Dritte Reich" weitgehend totgeschwiegen. Nur Minderheiten, meist Opfergruppen, wagten die Schuld verdrängende Verharmlosung, die Vergangenheitsabwehr und die Schuldabwälzung zu stören. Im populären Geschichtsbild der Zeit erschien der Nationalsozialismus als unerklärlicher Einbruch, als Heimsuchung, ja Verhängnis und Hitler als Dämon. Außerdem wurden die NS-Diktatur und die SED-Diktatur über denselben Kamm geschoren und nach dem Mauerbau 1961 erschien die DDR nicht wenigen als ein KZ. Halbheiten bestimmten die Wiedergutmachung für die Opfer des Nationalsozialismus. Israel erhielt zwar Entschädigungszahlungen, doch in der Wiedergutmachung steckte zu viel Kalkül und Außenpolitik, als dass sie moralisch voll überzeugte: Gezahlt wurde dort, wo es die internationale – und das bedeutete damals: westliche – Reputation der Bundesrepublik gebot, im Westen. Osteuropäische Opfer gingen leer aus. Das Klima und mit ihm die Erinnerung wandelte sich seit etwa 1958, als antisemitische Skandale die Republik erschütterten. Weit reichende Folgen ergaben sich aus den Reaktionen: Die Kultusminister verabschiedeten neue Richtlinien für den Geschichtsunterricht, der Gesetzgeber schuf den Straftatbestand der "Volksverhetzung" und auf Betreiben von Opfergruppen wurden endlich Gedenkstätten gebaut. Ferner richteten die Landesjustizminister die "Zentrale Stelle zur Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen" ein, womit sie die strafrechtliche Verfolgung von NS-Tätern vorantrieben. Intellektuelle wie Rolf Hochhuth kritisierten den Umgang mir der NS-Vergangenheit offen und ein Generationenkonflikt radikalisierte den Umgang mit der Vergangenheit. Die Verjährungsdebatten im Deutschen Bundestag seit 1965 – Mord verjährte nach 20 Jahren, durfte NS-Völkermord verjähren? – verzeichneten eine ebenso breite öffentliche Resonanz wie der Eichmann-Prozess in Jerusalem oder der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main. Seit dem Machtwechsel von 1969 politisierte und polarisierte sich die Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg. Willy Brandt (SPD), ehemals Widerstandskämpfer, verstand sich als "Kanzler eines befreiten Deutschland". Doch die CDU/CSU-Opposition klagte: Die Kapitulation von 1945 könne man nicht feiern. Viele Konservative lehnten die "linksliberale" Vergangenheitsbewältigung ab – eine solche "Dauerbüßeraufgabe" würde das deutsche Selbstwertgefühl auf ewig traumatisieren. 1979 dann – ein Medienereignis. Die amerikanische TV-Serie "Holocaust" verzeichnete in der Bundesrepublik eine sensationelle Sehbeteiligung. Sieben Jahre später wurde im "Historikerstreit" um die Identität der Bundesrepublik gestritten – und das Ergebnis dieser Auseinandersetzung fiel deutlich aus: Konstitutiv für den bundesdeutschen Rechtsstaat und seine geistige Westbindung blieb der Erinnerungsimperativ an den Nationalsozialismus. Während in der Bundesrepublik die Vergangenheits-bewältigung ein ständiger und zwischen zahlreichen Gruppen umstrittener Prozess war, erklärte die SED, dass mit der "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" 1945-1949 der Nationalsozialismus mit Stumpf und Stil "ausgerottet" worden sei. Weitere Debatten über Schuld und Verantwortung erübrigten sich. Die DDR lehnte jegliche Haftungspflichten für die Vergangenheit ab. Hitler, so konnte man meinen, sei ein Westdeutscher gewesen. Im Gründungsmythos der DDR hatten deutsche Antifaschisten an der Seite der Sowjetunion die Hitler-Diktatur besiegt und dann das neue Deutschland geschaffen. Die großen Nazis wurden abgeurteilt, die mittleren und kleineren "domestizierte" die SED in der eigens dafür geschaffenen national-demokratischen Blockpartei. Der Antifaschismus war Staatsdoktrin und außenpolitisch die unangreifbare Existenzberechtigung der DDR – quasi ihr Alleinvertretungsanspruch. Da jedoch die allerwenigsten DDR-Bürger Widerstandskämpfer gewesen waren, musste über Rituale, Denkmäler, Schule und Künste dieser Antifaschismus in das kollektive Gedächtnis eingepflanzt werden. Daraus erklärt sich, dass die DDR flächendeckend mit Denkmälern und Erinnerungstafeln übersät war. Und das ehemalige KZ Buchenwald machte die SED mit enormem Aufwand zum Gedächtnisort des heroischen kommunistischen Widerstands gegen das "Dritte Reich". Sie erkor es zum "roten Olymp". Es wäre freilich zu kurz gegriffen, den DDR-Antifaschismus nur als von oben "verordnet" zu bezeichnen. Bei vielen DDR-Bürgern bildeten sich antifaschistische Einstellungen aus und hielten sich bis zum Untergang des zweiten deutschen Staates, teils darüber hinaus. Allerdings wurde der Nationalsozialismus über die Kategorie "Faschismus" gleichsam universalisiert – mit fatalen Folgen. Der Nationalsozialismus unterschied sich bekanntlich von allen anderen faschistischen Bewegungen dadurch, dass er den überall vorhandenen Antisemitismus mit der Konsequenz der absoluten Vernichtung betrieben hatte. Doch genau diesen Wesenskern verschwieg die ostdeutsche Erinnerung, da der Holocaust nicht in das Klassenschema passte. In der Auflösungsphase der DDR kam plötzlich ein pragmatischer Zug in die Erinnerung an den Nationalsozialismus. Erich Honecker strebte danach, die internationale Anerkennung der DDR mit einem Besuch in Washington zu krönen und war – dies verlangten die USA dafür – 1988 bereit, jüdische Opfer zu entschädigen. Die DDR stieg somit am Vorabend ihres Untergangs vom hohen Ross des "Siegers der Geschichte" herab und wurde, was die Bundesrepublik immer war: ein Nachfolgestaat des "Dritten Reiches". Die wichtigsten neuen Konstellationen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts lassen sich in zehn Punkten skizzieren: