e-Portfolio von Michael Lausberg
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Geistesgrößen der Frühen Neuzeit

Petrarca

Francesco Petrarca (1304-1374) war ein italienischer Dichter und Geschichtsschreiber. Er gilt als eigentlicher Begründer des Humanismus und zusammen mit Dante Alighieri und Boccaccio als einer der wichtigsten Vertreter der frühen italienischen Literatur. Sein Name liegt dem Phänomen des Petrarkismus zugrunde, der eine bis ins 17. Jahrhundert verbreitete Richtung europäischer Liebeslyrik bezeichnet.

Petrarca studierte Jura in Montpellier und Bologna. Er kehrte 1326 nach Avignon zurück. Das rechtswissenschaftliche Studium brach er ab, erhielt die niederen Weihen und hatte sein neues Domizil in einem Haus in Vaucluse. Petrarca wählte sich den Kirchenvater Augustinus zu seinem Vorbild und versuchte, dessen Lebenswandel nachzueifern. Als sein Vater starb, geriet Petrarca in wirtschaftliche Schwierigkeiten.

Am 6. April 1327 sah er eine junge Frau, die er Laura nannte und die möglicherweise identisch war mit der damals etwa 16-jährigen und jungverheirateten Laura de Noves. Ihr Eindruck wirkte derart stark auf ihn, dass er sie als ideale Frauenfigur und dauerhafte Quelle seiner dichterischen Inspiration zeitlebens verehrte, wohl wissend und akzeptierend, dass sie für ihn unerreichbar war. Als Dichter strebte er nach Ruhm und Lorbeer (lat. laurus) und fand ein Mittel dazu in Laura. In einem auf den 26. April 1336 datierten Briefschildert Petrarca, wie er zusammen mit seinem Bruder den Mont Ventoux in der Provence bestieg. Als er oben angekommen war, betrachtete er die Landschaft und wandte sich, angeregt durch ein zufällig aufgeschlagenes Wort aus den Confessiones des Augustinus, sich selber und damit der radikalen Subjektivität seiner Dichtung zu.

Das Zusammenfallen von Naturerlebnis und Rückwendung auf das Selbst bedeutet eine geistige Wende, die Petrarca, das Bekehrungserlebnis betreffend, in eine Reihe mit Paulus von Tarsus, Augustinus und Jean-Jacques Rousseau stellt. Petrarca sah die Welt im Unterschied zu mittelalterlichen Vorstellungen nicht mehr als eine feindliche und für den Menschen verderbliche, die nur Durchgangsstation in eine jenseitige Welt ist, sondern sie besaß nun in seinen Augen eine eigene Wertigkeit. Wie in der Landschaftsmalerei dieser Zeit klingt bei Petrarca eine neue Natur- und Landschaftserfahrung an, bei der sich ästhetische und kontemplative Sichtweisen miteinander verbinden. Einige Gelehrte sehen deswegen in der Besteigung des Mont Ventoux einen kulturhistorischen Schlüsselmoment an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit.

Petrarca zog sich nach Reisen durch Frankreich, Belgien und Deutschland nach Fontaine-de-Vaucluse bei Avignon zurück, wo er von 1337 bis 1349 lebte und einen großen Teil seines Canzoniere schrieb. 1341 wurde Petrarca auf dem Kapitol in Rom zum Dichter (poeta laureatus) gekrönt. Zwischendurch ging er an den Hof des Kardinals von Avignon, für acht Jahre war er Gesandter in Mailand. Das letzte Jahrzehnt lebte er abwechselnd in Venedig und Arquà.

Petrarca gilt als eigentlicher Begründer des Humanismus und war einer der größten Dichter Italiens. Er wollte die Antike als Ganzes wiederbeleben. Sein Canzoniere, ein Gedichtzyklus von 366 Gedichten, darunter 317 Sonette, in denen er seine reine, ausdauernde Liebe zu Laura besingt, der madonna angelicata, prägte inhaltlich und formal die europäische Lyrik der Renaissance (Petrarkismus). Als Hilfe zum Verständnis des Canzoniere wird oft Petrarcas Traktat Secretum meum angesehen. Dieser ganz im Stil seines großen Vorbildes Cicero abgefasste lateinische Dialog bietet auch einige interessante Anhaltspunkte zu Petrarcas Persönlichkeit.

Von großer Bedeutung auch für die Musik waren seine Madrigale als Textvorlagen sowohl für das Trecento-Madrigal wie auch das Madrigal des 16. und 17. Jahrhunderts. Adrian Willaert und Cipriano de Rore hatten sich für ihre schnell als musterhaft rezipierten Madrigale der 1540er Jahre fast ausschließlich Petrarca-Sonette gewählt. Willaert brachte 1559 seine Musica nova mit 22 Madrigalen auf Petrarca-Sonette heraus. Luca Marenzio vertonte ebenfalls Petrarca. Claudio Monteverdi schrieb vier Petrarca-Madrigale. Franz Schubert setzte 1818 drei Sonette Petrarcas in den Übersetzung von August Wilhelm Schlegel und Johann Diederich Gries für Singstimme und Klavier.

Ausgangspunkt für seine Geschichtsschreibung war das Vorbild der Antike. Er versuchte, antike geschichtliche Beispiele auf die Gegenwart anzuwenden (viri illustres). Dabei wählte er die monographische Form oder reflektierte über wichtige Ereignisse (res memorandae). Petrarca verstand die Geschichte als Exemplum. Er nahm auf Moralvorstellungen beruhende Bewertungen vor. Geschichtsschreibung müsse den Menschen ermuntern und ihm Beispiele für sein Handeln geben. Er nahm keine Quellenkritik vor, sondern folgte der Quelle, die ihn am meisten überzeugte. Neu im Sinne eines Aufbruchs in die Renaissance war, dass Petrarca den Menschen in den Mittelpunkt des Weltgeschehens rückt – im Gegensatz zum mittelalterlichen Weltbild, in dem Gott als Weltenlenker fest verankert war. Dieser Perspektivenwechsel beeinflusste die Geschichte der Geschichtsschreibung.

Der Friedhof, den sich Petrarca als letzte Ruhestätte auserwählte, wurde 1874 anlässlich der 500. Wiederkehr seines Todestages in einen Platz umgestaltet, der 1965 mit Trachytplatten belegt wurde. Petrarcas Sarkophag besteht aus Veroneser Marmor.

Nach Petrarca ist ein bedeutender Literatur-Preis benannt. Der von Hubert Burda gestiftete Petrarca-Preis wurde von 1975 bis 1995 und wieder 2010 an zeitgenössische Dichter und Übersetzer vergeben und soll an die Geschichte der Poesie erinnern. Eine Marmorherme von Petrarca befindet sich neben solchen von Dante, Tasso und Ariost im Dichterhain vor der Westseite des Schlosses Charlottenhof, auch „Siam“ genannt. Die Hermen wurden von Gustav Blaeser geschaffen. In Arezzo wurde 1928 in unmittelbarer Nähe zum Duomo, im Park Paseggio del Prato, ein Denkmal für den Sohn der Stadt errichtet.

Der Petrarkismus ist eine Stilrichtung vornehmlich der Lyrik des 15.-17. Jahrhunderts, die in den Bereich der Nachahmungsliteratur einzuordnen ist, d.h. die Autoren konzentrieren sich auf ein ästhetisches Vorbild und versuchen dieses entweder nachzuahmen (imitatio), mit ihm in den Wettstreit zu treten (aemulatio) oder es zu überbieten (superatio). Eine genauere Definition gestaltet sich auf Grund der Heterogenität des Petrarkismus als sehr schwierig, allgemein handelt es sich aber um ein vorwiegend literarisches Darstellungsrepertoire, welches im Kern auf das Liebeskonzept Petrarcas zurückzuführen ist.

Die für den Petrarkismus prägendsten Werke Petrarcas waren die Trionfi (1356) und der Canzoniere. Sie stellen die einzigen seiner Texte in italienischer Sprache dar.

Die Trionfi sind eine Terzinendichtung, welche Petrarca nie vollendet hat. Das Werk besitzt keine Handlung im eigentlichen Sinne, sondern die Darstellung wechselnder Visionen über das Schicksal der Liebenden Petrarca und Laura. Keuschheit, Tod, Ruhm, Zeit, Ewigkeit und Weisheit zeigen als allegorische Figuren in Visionen den Liebenden ihr mögliches Schicksal auf. Das Werk ist vor allem als Wiederaufnahme antiker Traditionen zu sehen und will beweisen, dass die Volkssprache(Italienisch) mit dem Latein wetteifern kann. Insbesondere bei den Humanisten erfreuten sich die Trionfi größter Beliebtheit. Der Canzoniere ist ein Gedichtszyklus mit insgesamt 366 Gedichten, davon 317 Sonette, 29 Kanzonen, 9 Sestinen, 7 Balladen und 4 Madrigale. Der erste Teil ist „In vita di Madonna Laura“, der zweite „In morte di Madonna Laura“ gewidmet. Petrarca selbst bewertete seine volkssprachige Dichtung als minderwertige und jugendliche Spielereien, gleichzeitig überarbeitete er Anordnung und Formulierung bis ins hohe Alter hinein. Mit dem ersten Druck von 1470 wird der Canzoniere schließlich berühmt und verdrängt in kurzer Zeit das Interesse für Petrarcas lateinische Dichtung. Der Canzoniere wird zur wichtigsten Grundlage der petrarkistischen Nachahmungsbestrebungen.

Es existieren verschiedene Forschungsansätze zur Einordnung des Petrarkismus. In dieser Definition wird dies als Kunst- oder Literaturproduktion verstanden, welche unter direktem oder indirektem Einfluss des Werkes von Petrarca steht. Problematisch bei diesem Ansatz ist, dass Petrarkisten späterer Jahrhunderte und anderer Länder, selten tatsächlich Bezug auf Petrarca nehmen konnten. Ihnen standen oft nur spätere italienische Petrarkisten als Grundlage der Nachahmung zur Verfügung. Diese führten ihrerseits jedoch schon Elemente ein, welche sich nicht bei Petrarca finden lassen bzw. erfassten nicht die gesamte Vielfalt Petrarcas Schaffens. Zum Beispiel finden Oxymora, Parallelismen und Chiasmen sehr breite Verwendung durch die Petrarkisten, obwohl diese Stilmittel bei Petrarca eine untergeordnete Rolle spielen. Zudem ist das imitatio-Prinzip insbesondere während des Humanismus ein weit verbreitetes Konzept und keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal des Petrarkismus.

Um den weitreichenden Begriff des Petrarkismus genauer fassen zu können, wurde versucht, ein petrarkistisches System deutlich zu machen. Das Problem ist dabei, wie ein solches System zu fassen ist, da schon in Italien im 16.Jahrhundert mehrere solcher Systeme nebeneinander existieren und diese sich schwer voneinander trennen lassen oder deutlich rekonstruierbar sind. Ein petrarkistisches System birgt die Gefahr, Vorannahmen zu treffen, welche außergewöhnliche petrarkistische Texte ausschließen und somit eine vorgetäuschte Geschlossenheit des Systems zur Folge haben. Oft werden für den Petrarkismus die Aufzählung bestimmter Stilmittel, sowie die Herausarbeitung der Liebeskonzeption, der Unerreichbarkeit der Dame als Grundbausteine genutzt . Es muss dabei bewusst sein, dass der Petrarkismus als System lediglich ein idealtypisches Modell darstellt. Beachtet werden muss außerdem bei einer Betrachtung des Petrarkismus als System, dass innerhalb dieses Systems einzelne Stilmittel jeweils an einen konkreten Inhalt geknüpft sein können, also beispielsweise die Antithetik an die antinomische Liebeskonzeption. Dies ist wiederum hilfreich bei der Herausarbeitung des Systems als solchem. Stilmittel können sich somit an ihrer Inhaltszuschreibung petrarkistisch einordnen lassen und gleichzeitig von parallel vorkommenden Systemen abgrenzen.

Auch wenn deutlich geworden ist, dass der Petrarkismus schwer als einheitlicher Begriff zu fassen ist, so gibt es dennoch zahlreiche charakteristische Elemente petrarkistischer Lyrik. Grundlegende Übereinstimmung bei allen petrarkistischen Dichtungen besteht im antinomischen Liebeskonzept. Dabei wird ein Widerspruch aufgebaut zwischen der göttlichen Schönheit der Geliebten einerseits und ihrer Abweisung des Liebenden andererseits. Die Geliebte führt einen ständigen (Liebes-)Krieg gegen ihren Verehrer.

Demgegenüber verharrt der Liebende in einem qualvollen Sklavendasein und versucht das Mitleid der Dame zu erwecken. Dabei kann er darauf hinweisen, dass ihre Schönheit vergänglich sei und nur durch seine Verse Unsterblichkeit erlangen könne. Vortragsort ist oft die idyllische, zuhörende Natur, wo dem Dichter Nymphen, Tiere und Bäume lauschen. Ergebnis der Zurückweisung können die Schmerzliebe (dolendi voluptas), der Selbstverlust oder auch Verderben und Tod des Liebenden sein. Das Sonett ist die vorherrschende Gedichtform des Petrarkismus. Bereits in Petrarcas Canzoniere sind 317 der 366 Gedichte Sonette. Durch Martin Opitz wird im deutschen Petrarkismus der Alexandriner vorherrschendes Versmaß. Die Beschreibung der Dame erfolgt üblicherweise von oben nach unten, besonderes Augenmerk erhält dabei die Beschreibung von Kopf und Gesicht. Das Schönheitsideal ist geprägt von der tradierten Christusvorstellung (blond, schwarzäugig, engelhaft). Charakteristisch insbesondere für den deutschen Petrarkismus ist die Konzentration auf einen Körperteil der Geliebten.

Es kann hier nur eine grobe Aufzählung der Stilmittel vorgenommen werden, die besonders prominent für den Petrarkismus sind. Die häufige Verwendung von Antithesen und Oxymora stellen eines der charakteristischsten Merkmale des Petrarkismus dar. Die Motive sind:

Die häufig vorkommenden Metaphern sind Liebeskriegtopos, Schifffahrtsmetapher und die Lichtmetaphorik: Hitze/Kälte, Flamme und Eis, Sterne. Der Körper der Geliebten wird gewöhnlich mit einem Katalog von Naturmetaphern beschrieben. Diese gehen auf die mittelalterliche Dichtung zurück.

Der Petrarkismus breitete sich während der Renaissance von Italien über Spanien, Frankreich, England und Deutschland nahezu in ganz Europa aus. Mit der Aufklärung kommt es zu einem Bruch der Petrarkismusverwendung. Die Romantik entdeckt ihn jedoch wieder, was zum zweiten Petrarkismus im 18.Jahrhundert führt. Einige Bestandteile des Petrarkismus wirken bis heute nach.

Es ist naheliegend, dass Petrarca seine ersten Nachahmer in Italien findet. Erste Zentren des Petrarkismus sind Florenz und Padua. Einen wirklichen Durchbruch hat der Petrarkismus aber erst im 15.Jahrhundert mit dem petrarchismo cortigiano, welcher durch eine besondere Betonung der Sinnlichkeit sowie der höfischen Situation gekennzeichnet ist. Die verwendeten Metaphern werden schon hier durch umfangreiche Naturmotive gekennzeichnet. Der Petrarkismus geht schließlich in den Marinismo, eine italienische Form des Barock, über.

Die neapolitanischen Quattrocentisten Serafino, Cariteo und Teraldeo nehmen gegen Ende des 15. als erstes Petrarca auf. Der Petrarkismus wird besonders rhetorisch und in scherzhafter Weise genutzt. Petrarcas Liebeskonzept wird lediglich als Rahmen übernommen, während die formalen und inhaltlichen Elemente in Anlehnung an die antike Liebesdichtung erweitert werden.

Pietro Bembo kodifiziert in Ablehnung der Quattrocentisten zu Beginn des 16.Jh. Petrarca und ahmt ihn nach, was den Petrarkismus schließlich weit verbreitet. Bembo veröffentlicht wichtige kommentierte Auflagen von Petrarcas Werken und verfässt theoretische und systematische Abhandlungen zum Thema.(Regn) Er schafft eine ernste, platonische Liebeskonzeption. Der Bembismus stellt von den 1530er bis `70er Jahren den Höhepunkt des italienischen Petrarkismus dar. Um 1550 werden in Süditalien die Regeln Bembos mit dem erotischen Diskurs des ersten Petrarkismus verbunden. Neben Constanzo, Tansillo und Rote tritt schließlich Marino in Erscheinung, welcher seine besonders expliziten erotischen Bilder in petrarkistische Sprache kleidet.

Ab 1504 gehören Sizilien und Neapel zu Spanien, ein Übergreifen des italienischen Petrarkismus nach Spanien ist unter diesen Umständen naheliegend. Die erste Generation des spanischen Petrarkismus bildet nach einigen Vorläufern Juan Boscán Almogáver. Wichtigste Vertreter der zweiten Generation(1534-1580) sind Herrera sowie Fray Luis de León. Daran schließt die dritte Generation mit Lope de Vega, Góngora und Quevedo an. Sie lösen sich schließlich von der bembistischen Mode und nähern sich dem präbarocken Quattrocentismus an.

Der französische Petrarkismus hatte gute Voraussetzungen durch die Troubadour-Tradition und einen regen Künstler-Austausch mit Italien. Auch hier unterscheidet man drei Phasen: Lyoneser Dichterschule: um 1550, Vertreter: Maurice Scève, Louise Labé, Pernette du Guillet, Charakteristisch ist hier die Übernahme platonischer Züge.

In England griff Geoffrey Chaucer als erster englischer Dichter Petrarca auf, als er einige von dessen Versen in seinem Werk Troilus and Criseyde einbrachte. 120 Jahre später schufen schließlich Thomas Wyatt und Henry Frederick Howard, Earl of Surrey die Grundlagen für den englischen Petrarkismus. Wyatt übertrug einige von Petrarcas Sonetten, sowie auch italienische Gedichtformen. Während die Hochphase des Petrarkismus in Italien, Frankreich und Spanien parallel abläuft und ähnliche Merkmale aufweist, hinkt England etwas hinterher. Erst gegen Ende des 16.Jahrhundert, während der Regierungszeit Elizabeth I., beginnt hier eine größere Verbreitung. Hauptvertreter sind Thomas Watson (Hecatopathia 1582), Philip Sydney (Astropel and Stella, 1591), Edmund Spenser (Amoretti, 1591) und William Shakespeare (Sonnets, 1598).

Dieser kurze Blick über den deutschen Horizont hinaus zeigt vor allem eins: bevor der Petrarkismus in Deutschland größere Berühmtheit erlangt, ebbt er in anderen Teilen Westeuropas bereits wieder ab.

Liebeslyrik wurde in Deutschland freilich nicht erst durch den Petrarkismus erfunden. Bei den Troubadours, bzw. in der Minnelyrik sind hinsichtlich Thema und Motivik (Unerreichbarkeitstopos usw.) Vorläufer zu erkennen. Bereits vor 1430 erscheint die erste Übersetzung von Petrarcas De remediis utriusque fortunae (Von den Heilmitteln gegen Glück und Unglück) in Deutschland, sie bleibt jedoch ohne umfangreiche Rezeption. Über 100 Jahre später gelangen über die neulateinische Dichtung (z.B. Julius Caesar Scaliger) petrarkistische Motive zuerst ins Deutsche. Melissus vermittelt in den 1570ern durch seine Beziehungen mit den Humanisten in Frankreich und Italien den Petrarkismus in deutschen Landen. Auch Weckherlin war durch seine Reisen nach Frankreich und Italien vom Petrarkismus beeinflusst und verarbeitete ihn zum Beispiel in seinem Buhlereyen Zyklus .

Auch wenn Martin Opitz (1597-1639) nicht der erste deutsche Petrarkist ist, so kann man dennoch sagen, dass er den Petrarkismus in Deutschland zum Durchbruch bringt. Im Buch von der deutschen Poeterey heißt es “Petrarquiser, das ist/wie Petrarcha buhlerische reden brauchen“. Er zitiert dabei den französischen Petrarkisten Ronsard. Opitz übersetzt lediglich zwei Sonette Petrarcas. Um die Ebenbürtigkeit der deutschen Sprache zu verdeutlichen, entfernt sich Opitz von der Vorlage und vermengt den Petrarkismus mit neulateinischer Motivik und bürgerlich-moralischen Auffassungen. Zudem wendet Opitz seine Versreform auf die petrarkistischen Gedichte an und macht so aus ihnen moderne Sonette. Dabei muss beachtet werden, dass Opitz zwar Petrarca als muttersprachlichen Dichter schätzte und lobte, die Motivik des Petrarkismus jedoch von Petrarcas Nachfolgern in Italien, den Niederländern und den Neulateinern ableitete.

Offenbar waren Opitz Ernst Schwabe von der Heydes Petrarcaübersetzungen geläufig, da er diesen bereits 1617 in seinem „Aristarchus sive de contemptu linguae Teutonicae“ zitiert. Doch nicht nur von der Heide, auch die niederländische Dichtung vor allem Heinsius‘ beeinflusst ihn. Opitz‘ Petrarcaübersetzung ruft in der Folge eine umfangreiche Nachahmung, aber auch Parodien hervor, als erstes wird er nachgeahmt von Tscherning und Titz. Martin Opitz hat einen großen Einfluss auf die deutsche Lyrikproduktion, so auch auf Paul Fleming (1609-1640). Zunächst beschränkt sich Fleming auf eine strikte Nachahmung der Vorgaben Opitz‘, später löst er sich jedoch davon und findet seinen eigenen, einfachen, liedhaften Stil. Neben Opitz waren aber auch Heinsius, Guarini, Grotius und Scaliger Vorbilder Flemings. Er kombiniert verschiedene Formen und bildet aus diesen seine eigene Ausdrucksweise. Charakteristisch für Flemings petrarkistische Lyrik sind seine Übertreibungen und Renaturalisierungen von Metaphern. Fleming mischt petrarkistische und antipetrarkistische Züge, teilweise sogar innerhalb eines Gedichtes. Das mythische Liebeskonzept wird dabei oft aufgebrochen durch die Darstellung der erfüllten Liebe, die Dame bleibt für die Akteure in Flemings Lyrik nicht unerreichbar. Anstelle von Qual tritt der Liebesgenuss, eine feste Bindung. Der Selbstverlust wird durch gegenseitige Treue aufgehoben. Sogar das Herz, welches gewöhnlich im Petrarkismus mit Unbeständigkeit verbunden wird, erhält bei Fleming eine gegenteilige Bedeutungszuschreibung. Charakteristisch für Fleming ist der Einfluss des frühneuzeitlichen Stoizismus. Dies erscheint insofern paradox, da der Stoizismus mit seiner Abkehr von affektgesteuerten, unsteten Menschenbild dem Petrarkismus entgegenstand. Gleichzeitig ist eine Zuwendung zum Stoizismus schon für Petrarca selbst nachweisbar(z.B. in den „De remediis utriusque fortunae“); oft tritt der affektiven Betroffenheit die Vernunft gegenüber. Fleming lässt sich damit in einer Traditionsreihe mit den französischen Petrarkisten du Bellay und Ronsard einordnen. Durch die Schlichtheit seines Ausdrucks bewegt sich Flemings Stil allerdings näher an Petrarca als zum Beispiel die galante Lyrik. Später schließt sich Fleming allerdings der volkstümlichen Tradition an und löst sich so vom Petrarkismus.

Ein weiterer Vertreter war Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616-1679). Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus Dichtung, überliefert in der Anthologie Benjamin Neukirchs „Herrn von Hoffmannswaldau und anderer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte“ aus dem Jahre 1695, gilt als Grundstein für deutsche galante Lyrik. Die galante Lyrik fand ihren Ursprung in Frankreich zwischen 1650 und 1670, Hoffmannswaldaus Lyrik setzte dieser eine deutsche Variante entgegen, welche aber durch die Neukirchsammlung erst im 18. Jahrhundert in großem Rahmen von den Literaten aufgegriffen wurde. Im Gegensatz zur höfisch geprägten französischen Galanterie tritt die deutsche schäferlich und säkular auf.

Hoffmannswaldau kam während seiner schulischen Ausbildung in Breslau und Danzig in Kontakt mit Martin Opitz‘ sprachlichen Reformbestrebungen. Seine Freundschaft zu Andreas Gryphius wirkte sich ebenfalls auf seinen Stil aus. Während einer Bildungsreise lernte er nicht nur die preziös-galante Dichtung Frankreichs, sondern auch die spielerisch kunstvolle Schreibart des Italieners und Petrarkisten Marino kennen. Hoffmannswaldaus Lyrik ist geprägt von einem affektfreundlichen, neuplatonischen Charakter, greift also antike Formen wieder auf. Stilistisch orientiert er sich an Giambattista Marino, einem Petrarkisten des 15.Jahrhunderts aus Neapel.

Hoffmannswaldau gilt als Gründer der „Zweiten Schlesischen Schule“, welche in sprachlichem und stilistischem Kontrast zur „Ersten Schlesischen Schule“ um Martin Opitz stand. Den galanten Petrarkismus zeichnet seine sexuelle Anstößigkeit und Explizitheit aus. Sexualität wird als naturgegeben begriffen, womit man sich gegen die zölibatäre Überzeugung des Katholizismus wandte. Dieser wird denn auch wiederholt satirisch vorgeführt. Interessanterweise treten Bezüge auf die Ehe trotz explizit benannter Sexualität sehr in den Hintergrund. Die Rolle der Frau erfährt in der galanten Lyrik eine Veränderung. Während sie bislang noch als unerreichbar und nahezu göttlich beschrieben wurde, wird sie nun stärker in die Handlung einbezogen. Die idealisierte Frauenliebe wird aufgebrochen und damit auch die klassischen petrarkistischen Geschlechterkonstellationen.

Das Grundkonzept ist die Werbung eines Liebenden um die Gunst seiner Geliebten. Er soll ihr Herz erweichen, aber gleichzeitig den Tag genießen. Die typische barocke Metaphorik spart auch Hoffmannswaldau nicht aus, die Verarbeitung des Dreißigjährigen Krieges und eigener Erlebnisse lässt er jedoch im Gegensatz zu Barockdichtern wie Gryphius außen vor. Memento Mori, Carpe Diem, Vanitas und die Behandlung der „Welt“ treten deutlich in den Gedichten hervor. Hoffmannswaldaus Lyrik sticht besonders durch ihre ausgeklügelten Wortspiele, umfangreichen Wortschatz, eine insgesamt ausladende bis paradoxe Metaphorik und besonders pompöse und durch Epitheta ausgeschmückte Sprache hervor. Die Schönheit der Frau soll genutzt werden, sie soll sich nicht zieren, da jeder Tag der letzte sein könnte. Auch wird die religiös christliche Seefahrtmetaphorik gern genutzt, um erotische Inhalte zu verschleiern.

Stark von Petrarca beeinflusst war der etwas jüngere Giovanni Boccaccio. Auch er entdeckte Handschriften bedeutender antiker Werke. Seine humanistische Grundhaltung zeigte sich insbesondere in seiner Verteidigung der Dichtkunst. Der Dichtung gebührt nach seiner Überzeugung nicht nur unter literarischem Gesichtspunkt höchster Rang, sondern auch eine Vorzugsstellung unter den Wissenschaften, da sie bei der Erlangung von Weisheit und Tugend eine maßgebliche Rolle spielt. In ihr vereinen sich (im Idealfall) Sprachkunst und Philosophie und erreichen ihre Vollendung.

Ein weiterer Vertreter war Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616-1679). Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus Dichtung, überliefert in der Anthologie Benjamin Neukirchs „Herrn von Hoffmannswaldau und anderer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte“ aus dem Jahre 1695, gilt als Grundstein für deutsche galante Lyrik. Die galante Lyrik fand ihren Ursprung in Frankreich zwischen 1650 und 1670, Hoffmannswaldaus Lyrik setzte dieser eine deutsche Variante entgegen, welche aber durch die Neukirchsammlung erst im 18. Jahrhundert in großem Rahmen von den Literaten aufgegriffen wurde. Im Gegensatz zur höfisch geprägten französischen Galanterie tritt die deutsche schäferlich und säkular auf.

Hoffmannswaldau kam während seiner schulischen Ausbildung in Breslau und Danzig in Kontakt mit Martin Opitz‘ sprachlichen Reformbestrebungen. Seine Freundschaft zu Andreas Gryphius wirkte sich ebenfalls auf seinen Stil aus. Während einer Bildungsreise lernte er nicht nur die preziös-galante Dichtung Frankreichs, sondern auch die spielerisch kunstvolle Schreibart des Italieners und Petrarkisten Marino kennen. Hoffmannswaldaus Lyrik ist geprägt von einem affektfreundlichen, neuplatonischen Charakter, greift also antike Formen wieder auf. Stilistisch orientiert er sich an Giambattista Marino, einem Petrarkisten des 15.Jahrhunderts aus Neapel.

Hoffmannswaldau gilt als Gründer der „Zweiten Schlesischen Schule“, welche in sprachlichem und stilistischem Kontrast zur „Ersten Schlesischen Schule“ um Martin Opitz stand. Den galanten Petrarkismus zeichnet seine sexuelle Anstößigkeit und Explizitheit aus. Sexualität wird als naturgegeben begriffen, womit man sich gegen die zölibatäre Überzeugung des Katholizismus wandte. Dieser wird denn auch wiederholt satirisch vorgeführt. Interessanterweise treten Bezüge auf die Ehe trotz explizit benannter Sexualität sehr in den Hintergrund. Die Rolle der Frau erfährt in der galanten Lyrik eine Veränderung. Während sie bislang noch als unerreichbar und nahezu göttlich beschrieben wurde, wird sie nun stärker in die Handlung einbezogen. Die idealisierte Frauenliebe wird aufgebrochen und damit auch die klassischen petrarkistischen Geschlechterkonstellationen.

Das Grundkonzept ist die Werbung eines Liebenden um die Gunst seiner Geliebten. Er soll ihr Herz erweichen, aber gleichzeitig den Tag genießen. Die typische barocke Metaphorik spart auch Hoffmannswaldau nicht aus, die Verarbeitung des Dreißigjährigen Krieges und eigener Erlebnisse lässt er jedoch im Gegensatz zu Barockdichtern wie Gryphius außen vor. Memento Mori, Carpe Diem, Vanitas und die Behandlung der „Welt“ treten deutlich in den Gedichten hervor. Hoffmannswaldaus Lyrik sticht besonders durch ihre ausgeklügelten Wortspiele, umfangreichen Wortschatz, eine insgesamt ausladende bis paradoxe Metaphorik und besonders pompöse und durch Epitheta ausgeschmückte Sprache hervor. Die Schönheit der Frau soll genutzt werden, sie soll sich nicht zieren, da jeder Tag der letzte sein könnte. Auch wird die religiös christliche Seefahrtmetaphorik gern genutzt, um erotische Inhalte zu verschleiern.

Stark von Petrarca beeinflusst war der etwas jüngere Giovanni Boccaccio. Auch er entdeckte Handschriften bedeutender antiker Werke. Seine humanistische Grundhaltung zeigte sich insbesondere in seiner Verteidigung der Dichtkunst. Der Dichtung gebührt nach seiner Überzeugung nicht nur unter literarischem Gesichtspunkt höchster Rang, sondern auch eine Vorzugsstellung unter den Wissenschaften, da sie bei der Erlangung von Weisheit und Tugend eine maßgebliche Rolle spielt. In ihr vereinen sich (im Idealfall) Sprachkunst und Philosophie und erreichen ihre Vollendung.

Rubens

Peter Paul Rubens (1577-1640) war einer der bekanntesten Barockmaler und Diplomat der spanisch-habsburgischen Krone. Seit 1592 widmete er sich der Kunst und hatte nacheinander die Maler Tobias Verhaecht, Adam van Noort und Otto van Veen als Lehrer. 1598 schloss er die Lehre ab und wurde in die Malergilde zu Antwerpen aufgenommen.

Im Mai 1600 ging er nach Italien, um dort Tizian, Veronese und andere zu studieren. Hier wurde der Herzog Vincenzo Gonzaga von Mantua auf ihn aufmerksam, der ihn als Hofmaler nach Mantua holte.

Die Kunstschätze des Herzogs, die Fresken Giulio Romanos, die Arbeiten Mantegnas in Mantua, boten ihm die reichste Anregung für sein Schaffen. Nach längerem Aufenthalt in Rom begab sich Rubens 1603 als Überbringer kostbarer Geschenke des Herzogs an den spanischen Hof nach Madrid. 1604 zurückgekehrt, malte er ein Triptychon mit der heiligen Dreifaltigkeit für die Jesuitenkirche in Mantua. 1605 ging er nach Rom, wo er ein in drei Teilen auf Schiefertafeln ausgeführtes Altarbild für Santa Maria in Vallicella (Madonna mit sechs Heiligen) zu malen begann (1608 vollendet). 1607 besuchte er mit dem Herzog Genua, wo er die Marchesa Spinola malte, und Mailand.

Die Nachricht von der Krankheit seiner Mutter rief ihn im Herbst 1608 nach Antwerpen zurück. Die Trauer über ihren Tod sowie das Versprechen der Statthalter der spanischen Niederlande, Erzherzog Albrecht und Isabella, ihn zum Hofmaler zu ernennen, hielten ihn dort fest. Rubens wichtigster Mäzen wurde der mehrfach amtierende Bürgermeister von Antwerpen, Nicolaas Rockox (Rubens’ Bruder Philipp war dessen Sekretär). In Rockox’ Haus lernte Rubens Isabella Brant kennen, mit der er sich am 3. Oktober 1609 vermählte. Die Aufträge des Bürgermeisters („Die Anbetung der Heiligen Drei Könige“, 1609, für das Antwerpener Rathaus, unmittelbar folgend „Samson und Delila“ für sein privates Wohnhaus) verhalfen Rubens dazu, sein Können in kürzester Zeit bekannt zu machen und weitere lukrative Aufträge der Oberschicht zu erhalten. Am 9. Januar 1610 erfolgte schließlich Rubens’ Vereidigung zum Hofmaler der Erzherzöge, schon am 23. September war er ernannt worden. 1611 gründete Rubens ein eigenes prächtiges Heim, in dem er seine reiche Sammlung unterbrachte. In demselben Jahr wurde auch seine erste Tochter Clara geboren, die Motiv seines Werkes wurde.

Sein Atelier füllte sich bald mit Schülern. Die ersten Bilder dieser Periode sind: die Anbetung der Könige (1610, Museum zu Madrid), der Altar des heil. Ildefonso (Wien), ein fein ausgeführtes Werk mit zarten Farben (damals begonnen, aber erst nach 1630 vollendet), und das bekannte Bild in der Alten Pinakothek zu München, welches ihn und seine Frau in einer Laube sitzend darstellt.

1622 rief ihn Maria de' Medici nach Paris, um ihren dort erbauten Luxembourgpalast mit Darstellungen der denkwürdigsten Begebenheiten ihres eigenen Lebens zu schmücken. Rubens entwarf die Skizzen und ließ danach von seinen Schülern die Gemälde ausführen, die er in der Schlussfassung überarbeitete, als er 1625 die Gemälde selbst nach Paris brachte. Zwischen 1622 und 1623 fertigte Rubens die Kartons zu Tapisserien der Konstantinfolge für Ludwig XIII., die in der Manufacture des Gobelins gefertigt wurde.

Nachdem Rubens schon seit 1623 als Diplomat in den Diensten der Erzherzogin Isabella zum Zweck von Friedensunterhandlungen tätig gewesen war, sandte ihn 1628 die Erzherzogin in gleicher Absicht nach Spanien. Rubens gewann das Vertrauen des Königs, wurde Sekretär des Geheimen Rats und führte während seines Aufenthalts in Madrid mehrere Werke aus. Von Madrid wurde er unmittelbar 1629 nach London gesandt, um mit dem König über einen Frieden zwischen Spanien und England zu verhandeln. Diesen Vorbesprechungen ist zu verdanken, dass 1630 der Friedensvertrag unterzeichnet wurde. König Karl I. von England schlug ihn deshalb zum Ritter. Auch in London war er als Maler tätig. In der Folge wurde er noch zu mehreren Staatsgeschäften gebraucht, die ihm jedoch geringere Ehren einbrachten.

In den späteren Jahren seines Wirkens entwarf er, da sich die Aufträge zu sehr häuften, fast nur noch die Skizzen selbst; die Ausführung überließ er größtenteils seinen Schülern. Bei Übernahme von Arbeiten wurde häufig ausgemacht, welche Schüler ihm helfen durften. Rubens lebte jetzt bald in der Stadt, bald auf seinem Landsitz Steen bei Mechelen. Seit 1635 malte er meist Staffeleibilder von feinerer Ausführung.

Peter Paul Rubens starb am 30. Mai 1640 im 63. Lebensjahr in Antwerpen nach längerem Leiden an der Gicht. Über seiner Grabstätte in der St.-Jakobskirche zu Antwerpen steht eines seiner Werke, welches die Madonna mit dem Kind und mehreren Heiligen darstellt. Seine Witwe Helene beauftragte den aus Münster stammenden Maler Johann Bockhorst, der einer seiner engen Mitarbeiter gewesen war, unvollendete Arbeiten ihres Mannes fertigzustellen.

Der Erlös aus dem Verkauf seines Nachlasses belief sich auf 1.010.000 Gulden. 1840 wurde in Antwerpen eine von Willem Geefs modellierte Bronzestatue auf dem Groenplaats errichtet. 1877 wurde der 300. Geburtstag von Rubens sowohl in Antwerpen als auch in Siegen feierlich begangen.

Rubens Werke sind geprägt durch Licht und Farbigkeit. Seine Freude an der sinnlichen Erscheinung bildet einen scharfen Gegensatz zu der weltentrückten Frömmigkeit der Andachtsbilder der älteren Schule. Seine religiösen Kompositionen kamen den katholischen Reformbestrebungen, die in erster Linie durch die Jesuiten vertreten wurden, sehr entgegen, weshalb ihn auch die Jesuiten 1620 mit der Ausschmückung ihrer Kirche in Antwerpen betrauten und er bis an sein Lebensende der bevorzugte Kirchenmaler der katholischen Welt blieb.

Er widmete sich auch mythologischen Gegenständen. Er malte Akte mit leuchtender Fleischfarbe. Er bildete nicht nur ausgekleidete Modelle nach, sondern schuf auch Gestalten, welche, wie die der Griechen und Römer, an Nacktheit gewöhnt waren.

Seine Bilder zeichnen sich durch eine allegorische Bildsprache mit mythologischer Symbolik aus. Dabei werden die Zeichnungen vielfach zu eigenen Werken, die die späteren Gemälde in der Formulierungskraft übertreffen. So zeichnet Rubens für die große Antwerpener Kreuzaufrichtung die Halbfigur des gekreuzigten Jesus als triumphierenden Jüngling – als eine seiner vielen „Vorratserfindungen“, die er in keinem seiner Werke unterbrachte. Vergleichbarer Pathos spricht aus Prometheus, der dem Betrachter aus dem Bild entgegenrutscht, oder der tote Christus, der wie ein Stein vom Kreuze fällt. Rätsel sprechen aus hockenden, sinnenden Frauengestalten wie Hagar oder Susanna – und viele dieser Zeichnungen verwahrte er nur für sich selbst.

Rubens’ Streben ging auf Lebendigkeit der Darstellung und auf koloristische Wirkung. Die erloschene religiöse Begeisterung suchte Rubens, ohne sich jedoch in den Dienst einer kirchlichen Richtung zu stellen, dadurch wieder anzufachen, dass er ruhende Gegenstände in Iebhaft bewegter Weise malte.

Rubens hat etwa 1500 Bilder hinterlassen, von denen freilich ein großer Teil von Schülerhänden ausgeführt und von ihm nur ergänzt worden ist. Neben den bereits genannten religiösen Bildern ist das jetzt im Kunsthistorischen Museum in Wien befindliche Bild des heil. Ignaz von Loyola, der den Teufel austreibt, besonders typisch für Rubens.

Er hat zahlreiche dramatische Bilder geschaffen: der Sturz der rebellischen Engel, der Sturz der Verdammten, das große und kleine Jüngste Gericht, das apokalyptische Weib, die Niederlage Sanheribs und der bethlehemitische Kindermord (sämtlich in der Alten Pinakothek). Von anderen biblischen Darstellungen sind zu nennen: das Urteil Salomos, Samson und Delila, Christus und die bußfertigen Sünder, Lot mit Frau und Töchtern von zwei Engeln aus Sodom geleitet (bei Mr. Butler zu London), zahlreiche Darstellungen der Anbetung der Könige und der Himmelfahrt Mariä (letztere zu Antwerpen, Brüssel, Düsseldorf, Wien), die Kreuzigung Petri (Peterskirche zu Köln), die Kreuzigung Christi (Coup de lance (Stoß mit der Lanze), Antwerpen), die Kreuztragung Christi (Brüssel) und die Hl. Cäcilia (Berlin).

Er entnahm dem klassischen Altertum eine große Zahl von Bildern, zum Teil aus der Göttergeschichte, besonders aus dem bacchischen Kreis (zahlreiche Bacchanalien), zum Teil aus der Heroengeschichte (Decius Mus in Wien). Hervorzuheben sind: der Raub der Töchter des Leukippos, die Amazonenschlacht und der sterbende Seneca (München), das Venusfest und Boreas und Oreithyia (Wien), Jupiter und Kallisto (Kassel), Neptun und Amphitrite (Wien), die gefesselte Andromeda und Bacchanal (Berlin), das Urteil des Paris (Madrid) und Neptun auf dem Meer (Dresden, ein Teil der unter Rubens’ Leitung ausgeführten Dekorationen zum Einzug des Kardinal-Infanten Ferdinand zu Antwerpen, 1635).

In seinen Tierbildern, die zum Teil in Gemeinschaft mit Frans Snyders entstanden sind, entfaltet Rubens ebenfalls Lebendigkeit und dramatische Kraft. Es sind zumeist Jagden, unter denen die Löwenjagd in München, die Wolfsjagd bei Lord Ashburton, die Wildschweinjagd in Dresden und die Hirschjagd der Diana in Berlin in erster Reihe stehen.

Von Rubens gibt es sowohl Landschaften, die vorwiegend aus der Fantasie hervorgegangen sind und die Elemente in Aufruhr zeigen (Odysseus an der Küste der Phäaken in Florenz, Überschwemmung mit Philemon und Baucis in Wien), als auch solche, die Rubens’ Heimatland darstellen (Landschaft mit dem Regenbogen in München, Abendlandschaft in Petersburg).

Zu seinen wenigen Genrebildern zählen Bauernkirmes und Turnier im Louvre sowie Bauerntanz in Madrid. Von den Konversations- und Schäferstücken existiert der Liebesgarten in vielen Exemplaren, von denen aber das Bild in Madrid, nicht das in Dresden, als das Original zu betrachten ist. Ein anderes Konversationsstück befindet sich unter dem Namen Der Schlosspark im Belvedere zu Wien.

Unter seinen zahlreichen Bildnissen gehört das Bild im Palazzo Pitti zu Florenz, bekannt unter dem Namen der vier Philosophen, welches Justus Lipsius, Ioannes Wowerius, Philipp Rubens und den Künstler selbst vorstellt, seiner frühsten Zeit an. Im Schloss Windsor befinden sich Bildnisse von Rubens und seiner Frau, in der Nationalgalerie zu London sein Familienporträt, in München das Bild seiner Frau mit Kind und das Doppelbildnis seiner Söhne in der Galerie Liechtenstein zu Wien.

Das Bildnis des Doktors van Tulden hängt in der Pinakothek zu München. Das unter dem Namen Strohhut bekannte Bildnis eines Mädchens in der Nationalgalerie zu London zeichnet sich durch sein Helldunkel aus, und das Bildnis der nur mit einem Pelz bekleideten Hélène Fourment in Wien ist gekonnt modelliert.

Wenige Künstler haben auf ihre Zeit einen so nachhaltigen Einfluss geübt wie Rubens. Es gibt keinen Zweig der niederländischen Malerei, auf den er nicht bestimmend eingewirkt hätte. Schon zu seinen Lebzeiten wurde er als Künstler-Unternehmer bewundert, und seine Werkstatt war in ganz Europa berühmt. Außerordentlich groß war daher auch die Zahl seiner Schüler. Die bedeutendsten sind: Anthonis van Dyck, Soutman, Th. van Tulden, M. Pepyn, Abraham van Diepenbeeck, Cornelius Schut, Erasmus Quellinus II., Justus van Egmont.

Rubens erkannte früh die Möglichkeiten, die der Kupferstich für die Reproduktion und die Verbreitung seiner Werke eröffnete. In seinem Betrieb sorgte er daher für die Heranbildung ausgezeichneter Kupferstecher, wie Vorsterman, Schelte a Bolswert, Pontius und anderen. Auf Rubens’ Kosten wurden die Kupferstiche für den Handel produziert. Auch die alte Methode des Holzschnitts diente zur Verbreitung Rubensscher Werke. Rubens arbeitete ebenfalls in Zusammenarbeit mit Druckern oder Verlegern unter Einsatz seiner Werkstatt an der Ausstattung (Buchillustrationen, Titelbilder) von Büchern.

Den Handzeichnungen und den Ölskizzen widmete sich im Herbst 2004 eine Ausstellung in der Wiener Albertina die dadurch Rubens’ mehrstufigen Arbeitsprozess erhellt. Er war legendär in der malerischen Schnellschrift seiner Ölskizzen, durch die er zuerst seine eigene Vorstellung über geplante Werke entwickelte und dann mit Auftraggeber und Werkstatt kommunizierte.

Die Vorarbeit umfasste mindestens: gezeichnete Entwürfe, monochrome Skizzen, farbige Ölskizzen (für die figurenreiche Komposition) und Zeichnungen, welche die einzelnen Motive vergrößerten. Letztere waren die Vorgabe für die Ausführung im Gemälde oder Stich.

Die eigentliche Umsetzung erfolgte dann zum großen Teil von Werkstattsmitgliedern, während Rubens sich fast ausschließlich auf die Kontrolle beschränkte. Lediglich Korrekturen wurden vom Meister noch selbst ausgeführt. Dieses wurde möglich durch die virtuose Vorarbeit der oben beschriebenen Öl-Skizzen, die dann den anderen Künstlern der Werkstatt als Blaupause diente. Diese war für damalige Zeit nichts Ungewöhnliches. Nicht anders war auch die immense Produktivität der Werkstatt zu schaffen. Rubens machte daraus auch keinen Hehl. In einer von ihm beschriebenen Auflistung seiner zum Verkauf stehenden Werke heißt es dann auch „vom Meister selbst retuschiert“. Es gab auch Bilder aus seiner Werkstatt, die nur nach seinen Skizzen gefertigt wurden, ohne dass Rubens daran selbst gemalt hatte. Rubens war nur insofern ungewöhnlich, als dass er das System wie kein Anderer perfektioniert hat. Er hat sogar Kollegen Auftragsarbeiten an seinen Bildern erteilt, die sich z. B. auf Landschaften oder Blumen spezialisiert hatten. So glich seine Werkstatt schon fast einer Manufaktur.

Andererseits gibt es Detail-Ölskizzen, von denen bei der Umsetzung in das endgültige Meisterwerk in – jedoch entscheidenden – Einzelheiten im positiven Sinne abgewichen wurde. Die Verbesserung, etwa im Gesichtsausdruck des Dargestellten, mag bei der entwurfsgetreuen Ausführung durch die Hand des Meisters erfolgt sein oder durch seine eigene spätere Retusche der durch seine Werkstatt (oder beauftragte Zuarbeiter) anhand des modello erfolgten Weiterbearbeitung. Ein schönes Beispiel für das Verhältnis zwischen Entwurf und letzter Fassung ist zu beobachten bei der Entstehung der Letzten Kommunion des Hl Franz von Assisi, was den Brennpunkt der Komposition, den Kopf des Heiligen angeht.

Das Charakteristische an seiner eigentlichen Technik in seinen Bildern ist, dass Rubens immer noch im hohen Maß Holz als Bildträger benutzte, zu einem Zeitpunkt, als sich Leinwand als Bildträger weitestgehend durchgesetzt hatte. Ca. 50 % seiner Bilder sind auf Holz ausgeführt, darunter auch großformatige Werke. Für Holz als Bildträger kann nur bestes Material verwendet werden, und das Zusammenfügen der Hölzer zu einer Tafel erfordert großes handwerkliches Können und Erfahrung. Rubens wird diese Arbeit nicht selbst gemacht haben, sondern darauf spezialisierte Handwerker damit beauftragt haben. Insbesondere für seine Ölskizzen bevorzugte er Holz, weil es einer Maltechnik entgegenkam, bei der eine glatte Oberfläche von Vorteil war, um den so charakteristischen Emaille-Effekt zu erreichen.

Die Bildtafeln und Leinwände wurden mit Kreide grundiert und glatt geschliffen. Dann folgte eine farbige Isolierung aus einem Harzbindemittel. Zum einen sollte diese Isolierung das Einsinken der oberen Malschichten verhindern, damit die Leuchtkraft der Farben erhalten blieb, zum anderen ließen sich die Halbschatten der Inkarnate (Hautfarben) damit leichter erzielen. Zudem lassen sich auf einem strahlend weißen Untergrund die Proportionen schlechter abschätzen.

Die Untermalung war höchstwahrscheinlich eine Ei-Tempera-Ölfarbe, mit der die Motive in lockerer Manier als Übertrag einer kleineren Öl-Skizze des Meisters skizzenhaft angelegt wurden. Darauf folgte die eigentliche Malschicht, die wohl eine Harz-Öl-Farbe war. Dieser Prozess wurde nass-in-nass gemalt ohne Zwischentrocknung. Harze wie Venezianisches Harz verzögerten die Trocknung und damit die Alterungsauswirkungen. Nur so ist zu erklären, dass die Leuchtkraft der Bilder in den Jahren so wenig nachgelassen hat und die Werksspuren (der Pinselstrich) einen so zarten „Schmelz“ (weichen Verlauf) haben. Wäre das Bild in vielen Ölschichten entstanden (wie z. B. bei Tizian), wäre eine stärkere Vergilbung zu beobachten.Zum Schluss wurden noch (nach dem vollständigen Austrocknen) einige kleine Stellen überarbeitet oder durch Übermalung verändert.

Dante Aligheri

Dante Alighieri überwand mit seiner Schrift „Göttlichen Komödie“ das bis dahin dominierende Latein und führte das Italienische zu einer Literatursprache. Dante ist einer der bekanntesten Dichter der italienischen Sprache.

Auf welche Weise und an welchen Ausbildungsstätten Dante seine ungewöhnliche Bildung und Gelehrsamkeit erwarb, ist nicht sicher bekannt. Aus seinen Gedichten und der Vita nova ergibt sich, dass er früh in literarischem Verkehr mit ihrerseits hochkultivierten volkssprachlichen Dichtern wie Guido Cavalcanti und Cino da Pistoia stand. Im Inferno präsentiert er Brunetto Latini als eine Art Lehrer, was in der späteren Forschung zu manchen Ausschmückungen geführt hat, aber zumindest insofern einen tatsächlichen Hintergrund haben mag, als Dante von den Werken Brunetto Latinis und von dessen allgemeinem Bemühen um eine Popularisierung lateinischer Gelehrsamkeit in den Volkssprachen wichtige Anregungen empfing.

Im Convivio erwähnt Dante, dass er zeitweise „die Schulen der Mönche und die Disputationen der Philosophen“ besucht habe. Gemeint sein dürfte ein Studium generale an den Lehrstätten der Dominikaner und Franziskaner in Florenz, wo zu seiner Zeit bedeutende Lehrer wie Remigius Girolami und Petrus Johannis Olivi wirkten. Seine Kommentatoren haben überdies Studienaufenthalte an den Universitäten von Bologna und (seit Boccaccio) Paris angenommen, was als möglich anzusehen, aber nicht durch historisch belastbare Anhaltspunkte abgesichert ist. Dass Dante eine Universität besucht hat, ist jedenfalls aufgrund des Stils und der Machart seiner lateinischen Werke und auch des Convivio sehr wahrscheinlich, auch wenn man ihm besondere autodidaktische Fähigkeiten zutrauen kann.

Dantes Leben war durch die seinerzeit aktuellen politischen Auseinandersetzungen gekennzeichnet. Er beteiligte sich am Kampf der guelfischen Bürgerwehr an der Schlacht von Campaldino (1289–1290), bei der die Florentiner Guelfen den in den beiden vorausgegangenen Jahren in Arezzo und in Pisa an die Macht gekommenen Ghibellinen eine schwere Niederlage zufügten. Seine eigentliche aktive Beteiligung an den politischen Konflikten seiner Vaterstadt ist jedoch erst einige Jahre später dokumentiert. 1295 schreibt Dante sich in der Zunft der Apotheker und Ärzte ein und schafft dadurch eine formale Voraussetzung dafür, ein politisches Amt übernehmen zu können.

Vom 1. November 1295 bis zum 30. April 1296 ist er Mitglied im Rat des Capitano del Popolo (in etwa „Stadthauptmann“), von Mai bis September 1296 ist er Mitglied im Rat der Hundert, 1297 Mitglied in einem weiteren, diesmal nicht genau bestimmbaren Rat. Im Mai 1300 ist er in diplomatischer Mission in San Gimignano, und vom 15. Juni bis 15. August 1300 amtiert er als eines von sechs Mitgliedern des Priorats, des höchsten Gremiums der Stadt. Vom 1. April bis 30. September 1301 ist er wieder Mitglied im Rat der Hundert, und im Oktober/November 1301 befindet er sich vermutlich als Mitglied einer Gesandtschaft zu Verhandlungen mit Papst Bonifatius VIII. in Rom.

Italien war in dieser Zeit zerrissen von den gewaltsamen politischen Kämpfen zwischen Ghibellinen und Guelfen, von denen die Ersteren, sehr vereinfacht gesagt, die Ansprüche des Kaisers und die Letzteren die des Papstes vertraten und sich auch noch einmal in eine „Weiße“ (in Florenz angeführt von den Cerchi, sie setzten sich für eine Autonomie der Stadt gegenüber dem Papst ein) und eine „Schwarze“ (in Florenz angeführt von den Donati) Fraktion unterteilten. Während der Zeit von Dantes politischen Ämtern hatten die Ereignisse in Florenz eine turbulente Entwicklung genommen, und es war in der ohnehin aus heutiger Sicht kaum noch überschaubaren Gemengelage zwischen den Parteiungen zu neuen Verschiebungen und Spaltungen gekommen.

Aus Anlass eines Besuches des päpstlichen Legaten Matteo d’Acquasparta kam es im Sommer 1300 zu Unruhen, und Dante und seine Mitregenten im Priorat verbannten daraufhin, entgegen dem ausdrücklichen Willen des Legaten, nicht nur Vertreter der Weißen, darunter Dantes Freund Guido Cavalcanti, sondern auch Vertreter der Schwarzen, darunter deren Anführer Corso Donati. Florenz wurde daraufhin mit dem Kirchenbann belegt, und der Papst rief Karl von Valois als „Friedensstifter“ nach Italien, um mithilfe der Schwarzen die päpstliche Hoheit über Florenz herzustellen und die Toskana ein für alle Mal dem Kirchenstaat einzuverleiben. Am 1. November 1301 zog Karl in Florenz ein, und die mit ihm eindringenden Schwarzen nahmen Rache an ihren Gegnern in der Stadt, wobei auch Dantes Haus zerstört worden sein soll.

Am 27. Januar 1302 wurde Dante in Abwesenheit zu einer Geldstrafe und zum Ausschluss von allen öffentlichen Ämtern verurteilt. Da er sich von Florenz fernhielt und die Strafe nicht bezahlte, unterlag sein in der Stadt verbliebener Besitz der Konfiskation. Im März 1302 wurde er dann gemeinsam mit 14 anderen Weißen für den Fall seiner Rückkehr in die Stadt oder für den Fall seiner anderweitigen Verhaftung zum Tod durch Verbrennung verurteilt. Seine Gattin folgte ihm nicht ins Exil, während die Söhne mit dem 13. Lebensjahr Florenz verlassen mussten. 1315 lehnte Dante ein Angebot zur Rückkehr nach Florenz ab, da es mit einer Geldstrafe und einer öffentlichen Buße belegt war. Daraufhin wurde das Todesurteil von 1302 erneuert.

Für die Jahre des Exils fehlen externe Dokumente nahezu vollständig, andererseits ist Dantes Werk so überreich an Anspielungen auf Orte, Personen und zeitgenössische Vorgänge, dass sich der biografisch orientierten Forschung ein unerschöpfliches Feld für mehr oder minder plausible Vermutungen über den weiteren Lebensweg Dantes aufgetan hat, abgesehen davon, dass kaum eine Stadt oder Kleinstadt Italiens auf die Ehre verzichten möchte, von Dante womöglich einmal besucht worden zu sein. Wahrscheinlich ist, dass er sich ab 1302 überwiegend in Ober- und Mittelitalien aufhielt und zeitweise in Verona bei Bartolomeo della Scala (1303/1304), in Treviso bei Gerardo da Camina (1304–1306) und in der Lunigiana (einem Gebiet in Massa-Carrara im Norden der Toskana) bei den Grafen Malaspina (1306 u. ö.) Aufnahme und Unterstützung fand.

Der im Januar 1309 in Aachen zum römisch-deutschen König gekrönte und von Dante als Retter Italiens und des Weltkaisertums enthusiastisch begrüßte Luxemburger Heinrich VII. begab sich im Oktober 1310 nach Italien. In mehreren oberitalienischen Städten versuchte er, die verfeindeten Parteien zu befrieden und die Rechte des römisch-deutschen Reiches wiederherzustellen. Dante selbst war dem zukünftigen Kaiser vielleicht auch persönlich begegnet, zumindest richtete er seinen 7. Brief an ihn. Heinrich wurde am 29. Juni 1312 in Rom zum Kaiser gekrönt, doch war der Konflikt zwischen ihm und dem Papsttum sowie dem König von Neapel, Robert von Anjou, bereits entbrannt. Heinrichs Ressourcen waren begrenzt, und eine Belagerung von Florenz scheiterte im Herbst desselben Jahres.

Nach dem Tod Heinrichs (am 24. August 1313), den er in seiner Göttlichen Komödie zum alto Arrigo stilisierte, zerschlugen sich die politischen Hoffnungen Dantes. Ein als schmählich empfundenes Angebot seiner Vaterstadt, bei Zahlung einer Geldbuße und Leistung einer öffentlichen Abbitte nach Florenz zurückkehren zu dürfen, lehnte Dante ab, woraufhin seine Verurteilung noch einmal erneuert wurde (15. Oktober 1315). In der Folgezeit scheint er sich zeitweise wieder in Verona am Hof der Scala und ab 1318 in Ravenna bei Guido Novello da Polenta aufgehalten zu haben. Während einer Mission im Auftrag Guidos in Venedig erkrankte er und starb nach seiner Rückkehr in der Nacht vom 13. auf den 14. September 1321 in Ravenna; dort liegt er bis heute begraben. Die Stadt Florenz versuchte im Laufe der Jahrhunderte mehrmals, Dante in der Stadt beizusetzen, was zu heftigem Streit zwischen Ravenna und Florenz führte. Florenz errichtete in der Basilika Santa Croce ein monumentales Kenotaph in Form eines Grabes, das aber nach wie vor leer ist.

Dantes Werk schöpft souverän aus der Theologie, der Philosophie und den übrigen Wissenschaften (Artes liberales) seiner Zeit. Es bezieht sich kunstvoll auf Vorbilder in der italienischen, provenzalischen, altfranzösischen und lateinischen Dichtung. Dante verbindet dabei Gelehrsamkeit und literarische Bildung mit einem hohen Maß an Eigenständigkeit in der gedanklichen Aneignung und im sprachlichen und poetischen Ausdruck.

Wie kein anderer Dichter vor ihm stellt er die eigene Person als Liebender und Leidender, als Irrender und Lernender in den Mittelpunkt seiner Werke. Er spricht sich dabei nicht einfach selbst bekenntnishaft aus und macht sich nicht schlicht zum Chronisten seiner persönlichen Entwicklung, sondern stilisiert das Ich seiner Werke – deren lyrisches, erzählendes oder lehrhaftes Ich und die Erfahrung, die es zur Sprache bringt – nach Maßgabe genauer Wirkungsabsichten im Rahmen einer von Werk zu Werk fortentwickelten „Autofiktion“.

Er verbindet dieses Vorgehen mit dem hohen ethischen Anspruch, dem Leser, der politischen Gesellschaft und selbst der Kirche seiner Zeit einen Spiegel zur Selbsterkenntnis und ein Leitbild auf dem Weg zur Besserung zu bieten. Für ihn liegt das Ziel dieses Wegs im Persönlichen (ebenso wie im Politischen und Kirchenpolitischen) in der Übereinstimmung mit der göttlichen Weltordnung, wie sie nach seiner Überzeugung in der Bibel und ihrer inspirierten Auslegung durch die frühen Kirchenlehrer offenbart und zum Teil auch schon in den Werken der antiken Dichter (Vergil) und Philosophen (Aristoteles) vorgezeichnet ist.

Als Rime („Reime“) werden die seit etwa 1283 entstandenen lyrischen Gedichte Dantes bezeichnet. Es handelt sich um rund 90 Gedichte zu verschiedenen Themen, in der Mehrzahl Gedichte zur Liebesthematik, hinzu kommen 30 weitere (Rime dubbie), bei denen Dantes Autorschaft zweifelhaft ist. Dante hat einzelne Gedichte oder Gruppen in die Vita nova und das Convivio übernommen und dort erläutert, aber ansonsten, soweit bekannt, selbst keine größere Sammlung seiner Gedichte zusammengestellt. Als Gattungen begegnen hauptsächlich Sonett und Kanzone, außerdem Ballade und Sestine.

Dantes frühe Lyrik knüpft an die okzitanische Trobadordichtung und deren italienische Nachahmer in der Scuola Siciliana an und ist unter den Zeitgenossen vor allem Guittone d’Arezzo verpflichtet. Gemeinsam mit jüngeren Dichterkollegen wie Guido Cavalcanti, Dino Frescobaldi und Cino da Pistoia entwickelt Dante eine Stilrichtung, die mit einem von ihm selbst geprägten Begriff als Dolce Stil Novo bezeichnet wird und in der die Liebesthematik – die göttliche Macht Amors und der Dame, die den Liebenden zum Göttlichen hinführt – philosophisch überhöht und mit gesuchten Mitteln sprachlicher und rhetorischer Verrätselung für eine kleine Elite von kundigen Gleichgesinnten vorgetragen wird. Inhaltlich eine Sonderstellung haben, aufgrund ihrer Abweichung vom Ideal der „hohen Minne“, die derb obszöne Tenzone mit Forese Donati (Rime 73–78) und die sogenannten Rime petrose (Rime 100–103), Letzteres eine Gruppe von vier Gedichten, die das unerfüllte Verlangen nach einer wegen ihrer Unerweichlichkeit als „steinern“ apostrophierten donna Petra besingen und sich zu einer Phantasie gewaltsamer sexueller Befriedigung steigern.

Das im Text selbst durch eine eingebettete lateinische Phrase als vita nova betitelte (Incipit vita nova: „Es beginnt das neue Leben“), in der Forschung meist italienisch als Vita nuova zitierte Werk entstand zwischen 1292 und 1295 und gibt sich als autobiografische, aus dem „Buch der Erinnerung“ gleichsam abgeschriebene Erzählung von den inneren Wandlungen, die der Erzähler in der Folge seiner ersten kindlichen Begegnung mit der von ihm seither über den Tod hinaus verehrten Beatrice durchlebt hat. Die Stilisierung der eigenen Passion mit Traumgesichten, Ohnmachten und Bekehrungserlebnissen, besonders aber die Verklärung Beatrices zu einer Erlösergestalt mit christusähnlichen Attributen wendet dabei Stilmuster der geistlichen und hagiografischen Tradition in höchst ungewöhnlicher Weise auf die eigene Biografie an. Gewidmet ist das Werk dem primo amico Guido Cavalcanti, als Publikum sind in erster Linie die „Getreuen Amors“ (fedeli d’Amore) im Sinne des dolce stil novo intendiert, darunter ausdrücklich auch die Frauen, sofern sie mit dem nötigen (Seelen-)Adel und Verständnis für die Liebe (intendimento d'Amore) ausgestattet sind und nicht „nur einfach bloß Frauen sind“.

Formal handelt es sich um ein Prosimetrum, d. h. eine im Wechsel von Prosa und Verstexten arrangierte Komposition, die ein formales Vorbild besonders in der Consolatio philosophiae von Boëthius besitzt, aber auch von den Liederhandschriften der okzitanischen Trobadors angeregt wurde, in denen die Lieder der Trobadors nachträglich mit anekdotisch ausgeschmückten Erzählungen (razos) von deren Lebensumständen und Liebesgeschichten erläutert wurden. Die Vita nova nimmt 31 lyrische Gedichte Dantes auf (25 Sonette oder Doppelsonette, 5 Kanzonen oder Kanzonenstanzen, eine Ballade) und versieht sie in den Prosateilen mit divisioni (erklärenden Gliederungen der inhaltlichen Aussage) und ragioni (narrativen Erzählungen der Entstehungsbedingungen). Die heute übliche Einteilung des gesamten Werks in 42 oder 43 Kapitel ist nicht authentisch, d. h. nicht durch die Handschriften verbürgt, sondern geht auf den Erstdruck von 1576 und die Ausgabe von Alessandro Torri (1842) zurück.

De Monarchia libri tres (dt. Drei Bücher über die Monarchie), Dantes philosophisches Hauptwerk, in 21 Handschriften (eine davon seit 1950 nicht mehr auffindbar) und einem frühen Druck von 1559 erhalten, ist eine politische Abhandlung, die die göttliche Bestimmung des römischen Kaisertums zur Weltherrschaft und dessen Unabhängigkeit in weltlichen Dingen von der auf Geistliches zu beschränkenden Herrschaft des Papstes beweisen will. Die Datierung des Werks ist umstritten: Die Entstehung wird teils mit dem Konflikt zwischen Heinrich VII. und Clemens V. in Verbindung gebracht und dann 1308/09 (Bruno Nardi) oder 1310/12 (Gustavo Vinay) angesetzt, oder man geht, unter anderem weil das erste Buch sich bereits auf das Paradiso bezieht, von einem späteren Datum wie 1317 aus und ordnet es dann der beginnenden Auseinandersetzung zwischen Johannes XXII. und Ludwig dem Bayern zu.

Als Eclogae bezeichnet man eine Korrespondenz in vier lateinischen hexametrischen Gedichten, die 1319/20 zwischen Giovanni del Virgilio und Dante ausgetauscht wurden über die Frage, ob Dante, wie Giovanni del Virgilio ihm vorwirft, sein Talent in volkssprachlichen Gedichten an das gemeine Volk Italiens lediglich verschwende, anstatt sich mit lateinischen Gedichten Ruhm bei den Gelehrten aller Länder und Zeiten zu erwerben. Die beiden Antwortgedichte Dantes sind als Rollengedichte in Dialogform im bukolischen Stil der Eklogen Vergils verfasst und demonstrieren trotz ihrer inhaltlich ablehnenden Haltung Dantes Könnerschaft durch eine Kunstübung, die auf die erst im Entstehen begriffene humanistische Dichtung der folgenden beiden Jahrhunderte vorausweist. Der Gedichtwechsel ist deshalb zuweilen verdächtigt worden, eine spätere Fälschung Giovanni Boccaccios zu sein, mit der dieser eine Art humanistische Ehrenrettung Dantes bezweckt habe.

Die Quaestio de situ et forma aquae et terrae („Untersuchung über Lage und Form des Wassers und der Erde“) ist ein Vortrag, den Dante am 20. Januar 1320 in der Kapelle der Heiligen Helena in Verona über ein zuvor in Mantua aufgekommenes Streitthema hielt. In dieser Untersuchung, die sich als naturwissenschaftlich ausgerichtetes (non est extra materiam naturalem) Werk der Philosophie versteht, geht es um die Frage, warum die Erde als niederstes der vier Elemente nicht vollständig von Wasser bedeckt ist.

Dantes bekanntestes Werk ist die um 1307 bis 1320 verfasste Göttliche Komödie. Ursprünglich schlicht Commedia betitelt, was auf den glücklichen Ausgang der Erzählung, die italienische Sprache und den wechselhaften Stil des Werkes Bezug nahm, wurde der Titel nach Dantes Tod durch dessen Bewunderer Giovanni Boccaccio zu Divina Commedia erweitert, wobei das Beiwort „göttlich“ lediglich das Werk belobigen soll und nicht mit dem Inhalt zusammenhängt.

Das Werk schildert seine Reise durch die Hölle (Inferno), zum Läuterungsberg (Purgatorio), bis hin ins Paradies (Paradiso). Die Hölle und das Paradies sind jeweils in Schichten (in jeweils neun konzentrischen Kreisen) unterteilt. Je näher man den engeren Kreisen kommt, umso sündiger bzw. heiliger sind die gestorbenen Seelen. Die göttliche Komödie wird heute auch als dichterisches Hauptsymbol der Scholastik gesehen. Dante war dadurch so berühmt geworden, dass in einer der Hauptkirchen von Florenz im 15. Jahrhundert ein Fresko zu seinen Ehren geschaffen wurde, das nebenstehend wiedergegeben ist.

Dante wurden im Verlauf der Jahrhunderte eine Reihe von lateinischen und in einigen Fällen auch volkssprachliche Briefen zugeschrieben, von denen heute zwölf lateinische Epistolae als authentisch eingeschätzt werden. Bei einem als dreizehnter gezählten Brief, dem sogenannten Widmungsbrief an Cangrande, in dem der Autor dem Cangrande della Scala das Paradiso dediziert und eine kommentierende Einführung in das Werk bietet, ist die Verfasserschaft Dantes umstritten. Man hat das Schreiben teils vollständig und teils auch nur in dem Widmungsteil als Erzeugnis Dantes akzeptieren oder es auch vollständig als Fälschung ablehnen wollen. Für die Ablehnung waren neben überlieferungsgeschichtlichen und stilistischen Gründen vor allem inhaltliche Einwände gegen die im Kommentarteil des Briefes angesprochene Methode mehrfacher allegorischer Textauslegung ausschlaggebend.

Il Fiore („Die Blume“) ist eine erzählende allegorische Dichtung in 232 Sonetten, die auf den beiden Teilen des altfranzösischen Rosenromans (abgeschlossen um 1280) beruht und in einer einzigen, dem Autograph nahestehenden toskanischen Abschrift in der Handschrift H 438 der Universitätsbibliothek von Montpellier erhalten ist. Der Verfasser nennt sich an zwei Stellen (ser) Durante, das heißt mit einem in der Romania verbreiteten Namen, als dessen synkopierte Koseform auch schon in Dantes eigener Zeit der Name Dante galt. Ob Dante Urheber ist oder vielleicht einzelne Verse des Fiore in die Vita Nuova oder in die Commedia entlehnt hat, ist Gegenstand der Forschungsdiskussion.

Das Werk zeigt sprachlich eine für die italienische Literatur der Dantezeit nicht ungewöhnliche, aber in Dantes Werken in diesem Grad sonst nicht anzutreffende Prägung durch das Altfranzösische und kann aufgrund zeitgeschichtlicher Bezüge in die Zeit von etwa 1285–1290 datiert werden. Die Zuschreibung des Werkes an den jungen Dante, die unter anderem von Michele Barbi abgelehnt und seither besonders von Gianfranco Contini vertreten wurde, gehört zu den besonders strittigen Problemen der Danteforschung. Neue Perspektiven für die Untersuchung dieser Frage haben sich in jüngerer Zeit durch die These von Maurizio Palma di Cesnola ergeben, dass als Verfasser der aus Südfrankreich stammende, besonders als Verfasser lateinischer Sammelwerke zur Dekretalistik und Liturgie bekannte Jurist Guillaume Durand anzusehen sei, der in Modena als Professor wirkte, seit 1263 an der römischen Kurie verschiedene Ämter bekleidete, 1284–1285 auch als oberster päpstlicher Provinzbeamter (Rector) der Romagna regierte 1296 als Bischof von Mende (seit 1286) in Rom verstarb. Hingegen schließt Domenico De Robertis aus den sprachlichen Merkmalen heraus nicht zwingend auf einen Nicht-Italiener.

Der Detto d'Amore („Gedicht über die Liebe“ bzw. über Amor) ist ein Lehrgedicht in 480 paargereimten Siebensilblern, das in vier aus der gleichen Handschrift stammenden Blättern in der Biblioteca Medicea Laurenziana in Florenz erhalten ist. Da angenommen wird, dass beide Werke vom gleichen Verfasser stammen, steht auch für den Detto die Verfasserschaft des jungen Dante zur Diskussion.

Kein anderer Dichter vor und nach Dante wurde so oft, so umfangreich und mit einem solchen Aufwand an Gelehrsamkeit kommentiert, eine Entwicklung, die bereits kurz nach seinem Tod mit der Glossierung und öffentlichen Kommentierung der Commedia einsetzte. Auch seine eigenen Söhne und seit der Mitte des 14. Jahrhunderts Giovanni Boccaccio haben daran mitgewirkt. Der zu dieser Zeit in Italien entstehende Humanismus und die Renaissance haben Dantes Werk zum Teil mit kritischer Ablehnung, aber auch mit Bewunderung für seine oft nur vermeintliche Vorwegnahme ihrer eigenen Leitvorstellungen rezipiert.

In neuerer Zeit stand Dantes Wiederentdeckung zunächst unter dem Vorzeichen eines romantischen Interesses am Mittelalter und der Vereinnahmung seines Werks für die Herausbildung eines neuen politischen und kulturellen Selbstverständnisses der im Risorgimento entstehenden italienischen Nation. Progressive ebenso wie konservative oder reaktionäre, katholische ebenso wie protestantische, aber auch esoterische oder antikirchliche Milieus haben Dante für ihre Zwecke beansprucht und dem Verständnis seines Werkes manche Verzerrung hinzugefügt.

Zur wissenschaftlichen Konstituierung der Dantephilologie und Danteforschung haben seit dem 19. Jahrhundert deutsche, englische und in jüngerer Zeit auch amerikanische Forscher wesentliche Anstöße geliefert. Die Forschung hat viele Missverständnisse aufklären können, hat aber manche Befangenheit des vor- und außerwissenschaftlichen Betriebs auch bis in die Gegenwart tradiert. Es empfiehlt sich deshalb, bei der Konsultation von Sekundärliteratur zu Dante eine gewisse kritische Vorsicht walten zu lassen.

Machiavelli

Der Florentiner Niccolò di Bernardo dei Machiavelli (1469-1527) war beseelt vom Wunsche nach nationaler Einheit und Größe seines zerissenen Landes, möglichst unter der Führung von Florenz, und empfand Hass gegenüber dem Papsttum, das dieser Entwicklung im Wege stand. Machiavelli entwarf in seinen Schriften, besonders im Buch Il Principe (dt. Der Fürst) eine politische Theorie, die in der Selbsterhaltung und Machtsteigerung des Staates das ausschließliche Prinzip politischen Handelns sah. Diesem Zweck zu dienen, seien alle Mittel recht, moralische und unmoralische. Die Erfahrung seiner historischen Studien lehrte ihn, dass es oft die letzteren Mittel seien: Täuschung, List, Verrat, Meineid, Bestechung, Vertragsbruch und Gewalttat, die den Erfolg verbürgen. Von Staat zu Staat galt nicht Moral und Recht, sondern nur der bloße Machtkampf, mit politischen oder militärischen Mitteln. In der Rezeption ist gegenüber dem Buch Il Principe sein politisches und literarisches Werk Discorsi darüber in den Hintergrund getreten.

Machiavellis politisches Vermächtnis findet sich in seinen vier Hauptwerken. Dazu gehören neben seinem bekanntesten Buch Il Principe (Der Fürst) von 1513, das erstmals 1532 posthum erschien, die Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (Abhandlungen über die ersten zehn Bücher des Titus Livius), die er von 1513 bis 1517 schrieb und die 1532 veröffentlicht wurden, sowie seine 1521 verfasste Istorie fiorentine (Geschichte von Florenz) und sein im selben Jahr entstandenes Werk Dell’Arte della guerra (Von der Kriegskunst).

Es gibt große Widersprüche zwischen den einzelnen Schriften Machiavellis. So handeln die Discorsi eher vom Aufbau und den Vorteilen einer republikanischen Verfassung, während Il Principe sich mit Alleinherrschaft und den damit verbundenen machtpolitischen Überlegungen beschäftigt. Diese Widersprüche lassen sich jedoch auflösen, wenn man alle seine Werke betrachtet; so schreibt sein Biograph Dirk Hoeges: „Das Mißverständnis, dem er von Beginn an ausgesetzt ist, resultiert aus seiner Reduzierung auf den Politiker und auf den Autor des «Principe»; erforderlich aber ist der Blick auf sein Gesamtwerk und die Einsicht in den untrennbaren Zusammenhang aller seiner Teile zum Verständnis jedes einzelnen.“

Machiavelli widmete sich nach seinem Sturz einer umfassenderen schriftstellerischen Tätigkeit und seiner politischen Rehabilitierung. In dieser Zeit entstanden seine beiden Hauptwerke Il Principe, welches er unmittelbar nach seinen schweren Folterungen mit „verkrüppelten Händen“ niederschrieb, und die Discorsi. Gedruckt wurden beide Bücher 1531 und 1532. Er bricht mit der Tradition normativer Fürstenspiegel bereits damit, dass sein Fürst kein Erbfürst ist, sondern sich den Thron im politischen Spiel selbst errungen hat.

Machiavelli formuliert in diesem Werk als erster überhaupt die Grundsätze der Staatsräson, dass nämlich ein Herrscher, um die elementaren Notwendigkeiten des Staates zu erfüllen, „die Gesetze der traditionellen Moral verletzen“ müsse, sonst gehe er mit dem Staat zusammen unter. Für einen Herrscher sei es demnach gleichgültig, ob er als gut oder als böse gilt, wichtig sei nur der Erfolg, der voraussetzt, vom Volk nicht gehasst zu werden. Der Fürst muss die traditionelle Moral vorgeblich wahren können, aber er darf auch – im Interesse der Staatsräson – vor Gewalt und Terror nicht zurückschrecken.

Machiavelli untersucht verschiedene erfolgreiche Fürsten der Geschichte. Francesco I. Sforza kommt in seinem Urteil dem Ideal recht nahe, aber nur Cesare Borgia könnte ein perfekter Fürst sein, weil er den Mut hatte, seine Feinde in Senigalla zu ermorden, und weil er seine Macht in den eroberten Gebieten geschickt erhielt. Er beging jedoch einen Fehler, als er, nachdem sein Vater gestorben war, dem neuen Papst vertraute, der ihn entmachtete. Einen perfekten Fürsten kennt die Geschichte in Machiavellis Augen also nicht, er verspricht jedoch, dass die Anleitung des Principe es ermögliche, zum perfekten Fürsten zu werden. Machiavelli widmete das Buch Lorenzo II. de’ Medici. In der Schlusspassage gab Machiavelli Lorenzo die Aufgabe, Italien von den Barbaren zu befreien und zu einen.

Il Principe ist Lorenzo II. de’ Medici gewidmet, nachdem er es zuerst Giuliano II. de’ Medici hatte widmen wollen. Diese Widmungen Machiavellis enthalten ungeachtet des Themas klare und scharfe, mit den Mitteln humanistischer Rhetorik ausgestaltete Kritik an den Medici des Cinquecento, für die er nur Verachtung übrig hat. Als der wichtigste Berater von Lorenzo II. de’ Medici, Francesco Vettori, diesen auf das Werk hinwies, zeigte Lorenzo II. de’ Medici kein Interesse daran.

In seinem berühmtesten Werk beschreibt Machiavelli, wie ein Herrscher politische Macht gewinnen und bewahren kann, wobei das politische Ziel die Errichtung einer Republik sein sollte. Das Werk wird oft als Verteidigung des Despotismus und der Tyrannei solcher machtbewussten Herrscher wie Cesare Borgia verstanden, Borgia ist unglaubwürdig, aber nach Machiavelli muss ein Fürst glaubwürdig sein. Machiavelli konstruiert einen Idealfürsten, der aber von keiner lebenden Person je erreicht werden kann. Moses kommt, so sieht es Jeremias „mehr als jeder andere“ dem Idealfürsten nahe.

Machiavelli bricht in dem Fürstenbuch mit zwei Traditionen. Ein guter Fürst sollte nach den alten Traditionen nicht wild und brutal wie ein Löwe sein und nicht so listig und täuschend wie ein Fuchs, sondern er sollte tugendhaft herrschen. Als zweites bricht Machiavelli mit der Tradition, dass ein Fürst generös sein muss, indem er Freunde beschenkt und auch selber im Luxus zu leben hat. Ein Fürst, der dies befolgt, schmeichelt aber nur ein paar Mitläufern und ruiniert mit dem Luxusleben sein Fürstentum. Machiavelli lehrt aber nicht, dass der Zweck die Mittel heilige, sondern dass der Fürst nicht fürchten muss, brutal und geizig zu sein, und er das Notwendige machen muss, um das Ziel zu erreichen.

In dem Werk Discorsi, welches vermutlich parallel zum Fürstenbuch entstand, entwickelt Machiavelli das vor dem Hintergrund des Il Principe erstaunliche Ideal einer Republik ohne Fürsten. So soll „Macht und persönlicher Status stets getrennt“ und der „Staatsschatz stets wohlgefüllt, der Bürger hingegen arm“ sein. Die Discorsi sind ein Kommentar zum Geschichtswerk des Titus Livius, der die Geschichte der römischen Republik beschreibt. Machiavelli zieht die römische Geschichte heran, um aus ihr seine Überzeugungen zu gewinnen und zu festigen.

Im August 1521 wurde Über die Kunst des Krieges (Dell’Arte della Guerra) gedruckt. Geschrieben hat Machiavelli dieses Werk auch für seine Freunde der Orti Oricellari Gruppe. Mit ihnen verkehrte Machiavelli in dieser für ihn unbefriedigenden Zeit, was ihm half seinem Leben einen Sinn zu verleihen. Gewidmet ist es Lorenzo di Filippo Strozzi, der ihn während der dunklen Jahre gelegentlich beschenkte und ihn bei Kardinal Giulio de’ Medici eingeführt hatte.

Für Machiavelli die Praxis der Kriegskunst der Abschluss und die Grundlage des zivilen Lebens ist. Machiavelli ist sich bewusst, dass Krieg verheerende Folgen hat, aber eine Republik oder ein Fürstentum muss sich verteidigen können. Ein Herrscher muss den Frieden lieben und wissen, wann er Krieg führen muss.

Das Werk wurde von bedeutenden Zeitgenossen wie Kardinal Giovanni Salviati angepriesen. Im 16. Jahrhundert wurde Über die Kunst des Krieges sieben Mal nachgedruckt und in verschiedene Sprachen übersetzt.

Im Auftrag des Kardinals Giulio de Medici verfasste Machiavelli von 1521 bis 1525 seine Abhandlung über die Geschichte von Florenz, die den Zeitraum von der Gründung der Stadt bis zum Tode Lorenzos des Prächtigen abdeckt. Diese Geschichte der Florentiner Innenpolitik und Parteikämpfe ist keine zuverlässige Historiographie, sondern folgt mit historischen Lehrstücken in rhetorischer Sprache (Historia magistra vitae) humanistischen Traditionen und exemplifiziert – besonders durch den Einbau fiktiver Reflexionen und Reden der beschriebenen Akteure – Machiavellis politische Ideen.

Machiavelli sieht die Geschichte „keineswegs in einem kontinuierlichen Fortschritt ‚zum Besseren‘, wie Kant und Hegel später behaupten werden, noch ist sie als Heilsgeschichte zu lesen. Die Menschheit bewegt sich vielmehr unendlich in einem Kreis. Machiavelli übernimmt durch Polybios Platons Theorie des Verfassungskreislaufes. Deswegen ist das Minimalziel für Machiavelli nur, „die unausweichliche Dekadenz der Republik möglichst zu verlangsamen“. Deswegen muss die Verfassung der Republik eine Mischform sein.

Die Geschichtsschreibung Machiavellis ist hervorgegangen aus einer Kritik an der bisherigen Geschichtsschreibung, die die inneren Angelegenheiten der Stadt Florenz verdrängt und die äußeren hervorgehoben habe; diese sah er als eine parteiische Geschichtsschreibung an, in der die Konflikte innerhalb der Stadt ausgeblendet würden. Die absichtliche Eliminierung der inneren Geschichte durch Leonardo Bruni und Poggio Bracciolini, Sympathisanten der Medici, bewirkt eine Änderung seiner eigenen Konzeption, die Geschichte der Stadt zu schreiben. Hoeges zufolge entdeckte Machiavelli dadurch das „elementare Movens ihrer Geschichte (…), das in Destruktion und Zwietracht, in Disharmonie und konkurrierenden zerstörerischen Gegensätzen lag.“ Das Fehlen dieser Elemente habe verhindert, dass Florenz so groß wurde wie Rom oder Athen.

Virtù (Tugend/Tüchtigkeit) ist der Kernbegriff in Machiavellis Theorie und politischer Lehre. Unter dem Begriff virtù versteht Machiavelli die politische Energie bzw. den Tatendrang, etwas zu tun. Seine an der politischen Realität orientierten Ratschläge sind nicht auf ein wünschbares (Tugend)-Ideal ausgerichtet, sondern auf ihre Tauglichkeit für die Praxis. Sowohl einzelne Menschen als auch ganze Völker können Träger dieser Kraft sein. Diese virtù ist nie gleich verteilt. Wo sie allerdings war, führte sie zu großen Reichen. So hatte das Römische Reich eine so große Macht erreicht, weil seine Anführer und sein Volk von viel virtù beseelt waren. Folglich kann man diese metaphysische Kraft nicht erzwingen, aber man kann günstige Voraussetzungen für sie schaffen, z. B. in der Struktur der Verfassung. Die Bürger müssen zur virtù erzogen werden.

Gegenspieler der virtù ist die fortuna in Anlehnung an die Glücks- und Schicksalsgöttin der Römischen Mythologie. Sie steht für das Schicksal, den Zufall, aber auch für die Gelegenheit. Sie ist der unberechenbare Faktor in der politischen Rechnung. Machiavelli sieht den Herrscher immer in einem Kampf gegen fortuna. Allerdings macht diese nur etwa die Hälfte des Erfolges aus; die andere Hälfte ist bestimmt durch Willenskraft (virtù) und praktische Vorbereitung. Für letzteres stellt ein großer Teil von Machiavellis Werk einen praktischen Ratgeber für Soziales Handeln dar.

Weitere wichtige Begriffe sind ambizione (Ehrgeiz), necessità (Notwendigkeit) und occasione (Gelegenheit). Ambizione stellt für Machiavelli die entscheidende Triebfeder menschlichen Handelns dar. Wenn ein politisches Gemeinwesen durch innere oder äußere Bedrohungen gefährdet ist, bilden moralische Bedenken eine untergeordnete Rolle; man wird gezwungen, amoralisch zu handeln. Zum Zwecke der Selbstbehauptung sind dann alle Mittel erlaubt.

Neben politischen und philosophischen Schriften verfasste Machiavelli drei Komödien. Andria ist eine Übersetzung der gleichnamigen Terenz-Komödie. Die Mandragola ist eine eigenständige Komödie, die bis heute aufgeführt wird. Sie handelt von einem Jüngling, der sich in die Frau eines einflussreichen Florentiner Arztes verliebt und diese mit Raffinesse und Intrige erobert. Diese Komödie wurde vielfach als politische Allegorie gelesen. Ihr folgt die 1525 uraufgeführte Komödie Clizia, eine Auftragsarbeit, die das Niveau der Mandragola nicht ganz erreicht. Clizia ist stofflich an die Casina von Plautus angelehnt; Handlungsort und -zeit wurden vom antiken Griechenland ins zeitgenössische Florenz verlegt.

Machiavellis dramatisches Schaffen umfasste sechs Werke, von denen nur die drei oben erwähnten erhalten sind. Während des Rinascimento und der Besinnung auf die alten Meister der Antike begannen um 1500 verstärkt Übersetzungstätigkeiten, die eng mit dem Prinzip der „imitatio“ verbunden waren. Durch das die imitatio ergänzende Prinzip der aemulatio entstehen aus Machiavellis Feder das verloren gegangene Stück Le Maschere nach Aristophanes.

Die Auseinandersetzungen um Machiavelli begleiten die gesamte moderne Politische Theorie und Ideengeschichte bis hin zur Faschismustheorie und dem Begriff des Totalitarismus. Schon früh bildete sich die gegen die Machiavellianischen Anschauungen gerichtete Strömung des Antimachiavellismus, der zur Hauptsache Kleriker, Adelige, humanistische Philosophen, Freigeister, Aufklärer und Ethiker anhingen. Ihre berühmteste Schrift ist wohl der Antimachiavell Friedrichs des Großen, ein scharfer Angriff auf die im Fürsten vorgeschlagenen Wege, wenngleich Friedrich selbst diese Mittel einzusetzen verstand.

Marsilio Ficino

Marsilio Ficino gehört zu den bekanntesten Persönlichkeiten des Humanismus in Florenz. Mit seinen Übersetzungen und Kommentaren trug er maßgeblich zur Kenntnis Platons und des Platonismus in seiner Epoche bei und machte dem lateinischsprachigen Publikum Schriften antiker griechischsprachiger Autoren zugänglich. Sein vom Neuplatonismus Plotins geprägtes Platon-Verständnis wurde für die Frühe Neuzeit wegweisend. Die ihm von der Nachwelt zugeschriebene Rolle des Leiters einer „Platonischen Akademie“ in Florenz hat er allerdings nicht gespielt. Es gab damals keine Einrichtung dieses Namens, sondern nur einen informellen Kreis seiner Schüler, die er „Akademiker“ nannte, ohne institutionellen Rahmen.

Nach der Studienzeit verbrachte Ficino den Rest seines Lebens in der Heimat, wo ihn Cosimo großzügig unterstützte und ihm die materielle Basis für ein ganz der Philosophie und Theologie gewidmetes Leben verschaffte. Nach seinen eigenen Worten war ihm der Mediceer ein zweiter Vater. Cosimo schenkte ihm 1462 ein Haus in Florenz und überdies am 18. April 1463 ein bescheidenes Landhaus in Careggi, einem Ort in der Nähe von Florenz, der heute zu dieser Stadt gehört. Dort besaß Cosimo eine prächtige Villa.

Ficino war weitgehend bedürfnislos und führte stets ein sehr bescheidenes Leben. Er konzentrierte sich auf sein Ziel, die Erschließung der Hauptquellen zum antiken Platonismus, die in Westeuropa zugänglich geworden waren, als während und nach dem Untergang des Byzantinischen Reichs zahlreiche griechische Handschriften antiker Texte nach Italien gelangten. Nach Cosimos Tod (1464) erfreute sich Ficino weiterhin der Gunst der führenden Angehörigen des Geschlechts der Medici. Erst übernahm Cosimos Sohn Piero il Gottoso als neues Familienoberhaupt die Förderung von Ficinos Arbeit; ab 1469 war Pieros Sohn und Nachfolger Lorenzo il Magnifico der neue Mäzen des Humanisten. Zu allen drei Wohltätern hatte Ficino ein enges, vertrauensvolles Verhältnis.

Zunächst war Ficinos Hauptaufgabe die Erstellung der von Cosimo gewünschten ersten vollständigen lateinischen Übersetzung der Dialoge Platons. Zehn Dialoge konnte er noch zu Lebzeiten des Auftraggebers vorlegen; wenige Tage vor Cosimos Tod las er ihm daraus vor. Weitere neun Dialoge widmete er Cosimos Sohn Piero. 1484 erschien die gesamte Platonübersetzung im Druck. Zu einigen Dialogen äußerte er sich in eigenen kommentierenden Schriften. Da die Liebe samt ihren Wirkungen auf die Seele ihn besonders interessierte, befasste er sich eingehend mit Platons diesem Thema gewidmetem Dialog Symposion.

Seinen Symposion-Kommentar (Commentarium in convivium Platonis de amore), der eines seiner berühmtesten Werke wurde, gestaltete er als Dialog mit sieben Teilnehmern, die die Reden in Platons Symposion erläutern. Den Anlass soll ein Bankett geboten haben, das zu Platons Geburtstag in der Villa der Medici stattfand. Dieses Werk, in dem Ficino einen Kernbestandteil seiner Weltanschauung darstellt, übersetzte er auch ins Italienische. Außerdem kommentierte er Platons Dialoge Parmenides, Sophistes, Philebos, Timaios und Phaidros. 1496 veröffentlichte er eine Ausgabe seiner gesammelten Platon-Kommentare.

In dem jungen Gelehrten Giovanni Pico della Mirandola fand Ficino einen Geistesverwandten, der manche seiner Grundüberzeugungen teilte, ihm aber auch heftig widersprach. Pico regte ihn 1484 dazu an, die Enneaden des antiken Neuplatonikers Plotin zu übersetzen. Nach zwei Jahren war diese Arbeit beendet; anschließend widmete sich Ficino der Plotin-Kommentierung. Das gesamte Ergebnis dieser Bemühungen wurde 1492 gedruckt. Damit wurde die Lehre dieses Philosophen, die bisher in der lateinischsprachigen Welt nur auf indirekten Wegen nachgewirkt hatte, erstmals breiteren Kreisen zugänglich. Überdies übersetzte und kommentierte Ficino weiteres antikes Schrifttum, das großenteils der Tradition des Platonismus, Neuplatonismus und Pythagoreismus entstammte. Zu den Werken, die er den lateinischsprachigen Gelehrten zugänglich machte, gehörten auch die traditionell dem mythischen Hermes Trismegistos zugeschriebenen Schriften, die das Corpus Hermeticum bilden.

Diese Traktate, deren Übersetzung ins Lateinische er 1463 im Auftrag Cosimos abschloss, betrachtete er als eine ägyptische Variante der platonischen Weisheitslehre. Neben Plotin machte er auch spätere Neuplatoniker bekannt; er übersetzte einzelne ihrer Werke (darunter einen Traktat des Iamblichos, der unter dem Titel Über die Mysterien der Ägypter bekannt ist) oder veröffentlichte Auszüge in lateinischer Übersetzung (so verfuhr er mit Schriften von Porphyrios, Synesios und Proklos). Außerdem übersetzte er zwei Schriften des außerordentlich einflussreichen spätantiken christlichen Neuplatonikers Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die mystische Theologie und Über die göttlichen Namen, ins Lateinische und Dantes staatstheoretisches Werk De monarchia ins Italienische.

Ficino war nicht wie zahlreiche Humanisten in erster Linie schöngeistiger Literat, Philologe und Kulturhistoriker, denn sein Interesse richtete sich weniger auf die sprachliche Form der antiken Werke als auf ihren philosophischen Gehalt. Sein Hauptanliegen war eine zeitgemäße Erneuerung der antiken Philosophie. Deren Kern bildete für ihn die Lehre Platons, die er im Sinne der von Plotin begründeten neuplatonischen Tradition deutete. Wie schon viele mittelalterliche Denker, aber auf weitaus breiterer und soliderer Quellenbasis als sie bemühte er sich um ein Verständnis des antiken Platonismus, das diesen harmonisch mit den Grundüberzeugungen des Christentums verbinden sollte.

Mit seinem Streben nach einem konsistenten metaphysischen Weltbild, in dem theologische und philosophische Aussagen zu einer unauflöslichen Einheit verschmelzen sollten, reihte er sich in die stärker christlich geprägte Strömung des Humanismus ein. Neben seiner Übersetzer- und Kommentierungstätigkeit verfasste er auch Abhandlungen, die der systematischen Darstellung und Begründung seines (neu)platonisch-christlichen Lehrgebäudes dienen sollten. Hierzu gehörte vor allem sein philosophisch-theologisches Hauptwerk, die 1474 abgeschlossene, 1482 gedruckte Theologia Platonica („Platonische Theologie“). Mit diesem Titel, den er von einem Werk des spätantiken Neuplatonikers Proklos übernahm, deutete er sein Programm an, das auf eine Synthese von Philosophie und Theologie abzielte, auf eine stimmige, gleichermaßen christliche und platonische, für Humanisten plausible Weltdeutung.

Zur Umsetzung dieses Vorhabens bemühte sich Ficino unablässig um die Verbreitung seiner Ideen. Diesem Zweck dienten in Florenz seine Vorträge über christlichen Platonismus, die er in der Kirche Santa Maria degli Angeli und später auch in der Domkirche hielt. Auf europäischer Ebene verfolgte er sein Ziel mittels seiner ausgedehnten Korrespondenz mit einer Vielzahl bedeutender Persönlichkeiten des geistigen Lebens. Diese lateinischen Briefe waren nicht nur für die jeweiligen Empfänger bestimmt, sondern auch für die Öffentlichkeit; Ficino sammelte sie, 1495 wurden sie gedruckt.

Unzutreffend ist allerdings die jahrhundertelang verbreitete Behauptung, in Careggi sei auf Veranlassung Cosimos eine von Ficino geleitete Platonische Akademie gegründet worden. Diese Annahme, die noch heute in vielen Nachschlagewerken zu finden ist, ist von der neueren Forschung als falsch erwiesen worden. In Wirklichkeit ist die Bezeichnung „Platonische Akademie“ für Ficinos Freundeskreis eine Erfindung des 17. Jahrhunderts, und den Begriff „Akademiker“ verwendete er zur Bezeichnung seiner zahlreichen Schüler, ohne damit die Vorstellung eines institutionellen Rahmens zu verbinden. Von den Persönlichkeiten, die er unter seine „Akademiker“ einreihte, teilten nur relativ wenige seine Begeisterung für Platon und seine Feindseligkeit gegen den zeitgenössischen Aristotelismus.

Nebenbei befasste sich Ficino auch mit Gesundheitsfragen. Er schrieb in italienischer Sprache einen Ratgeber gegen die Pest mit dem Titel Consiglio contro la pestilenza („Rat gegen die Seuche“, lateinische Übersetzung: Epidemiarum antidotus) und die Abhandlung De vita libri tres („Drei Bücher über das Leben“; der oft genannte Titel De vita triplici ist nicht authentisch). De vita ist eine Abhandlung speziell über die Gesundheit des Gelehrten, der erste für eine einzelne soziale Gruppe bestimmte Gesundheitsratgeber. Besonderes Augenmerk richtet Ficino auf das melancholische (schwarzgallige) Temperament; ein Übermaß an schwarzer Galle ist nach seiner Überzeugung ein Berufsleiden der geistig Arbeitenden, das er auf deren starke Gehirnaktivität zurückführt. Sich selbst zählt er auch zu den Melancholikern. Die Ratschläge für eine gesunde Lebensführung enthalten unter anderem genaue Diätvorschriften. Im zweiten der drei Bücher erörtert er die Frage, wie man als Gelehrter bei guter Gesundheit ein hohes Alter erreichen kann. Da dieser Traktat auch magische Praktiken und Astrologie behandelt, zog sich Ficino mit der Veröffentlichung (1489) einen Häresieverdacht zu. Das in der Renaissance außerordentlich populäre Werk wurde bis 1647 rund dreißigmal gedruckt; hinzu kamen Drucke der Übersetzungen ins Deutsche, Französische und Italienische.

1473 empfing Ficino die Priesterweihe. Er erhielt – teils schon vor der Weihe – mehrere Pfründen. 1487 wurde er Kanoniker an der Kathedrale von Florenz. Damals versuchte sein Gönner Lorenzo de’ Medici sogar vergeblich, ihn zum Bischof von Cortona erheben zu lassen. Mit der Übernahme kirchlicher Aufgaben, zu denen das Predigen gehörte, verband sich ein verstärktes Interesse Ficinos an spezifisch theologischen Themen, wobei er aber seiner platonischen Grundausrichtung treu blieb.

1474 schrieb er De Christiana religione („Über die christliche Religion“), eine Rechtfertigung des Christentums gegenüber Islam und Judentum. Darin will er das Christentum als natürliche, vernünftige Religion erweisen, die man aus philosophischer Einsicht annehmen kann. Diese Abhandlung übersetzte er selbst ins Italienische (Della religione cristiana). Außerdem verfasste er kleinere Schriften, in denen er seine platonische Weltsicht in christlicher theologischer Sprache formulierte, darunter De raptu Pauli („Über die Entrückung des Paulus“). In seinen letzten Lebensjahren begann er den Römerbrief zu kommentieren; dieses Werk blieb unabgeschlossen. Es war Teil eines nicht mehr verwirklichten Projekts, das Neue Testament, insbesondere die Briefe des Apostels Paulus, in platonischem Sinne auszulegen.

Mit dem Tod des Staatsmanns Lorenzo il Magnifico endete 1492 die Epoche, in der Florenz das bedeutendste Zentrum des humanistischen Geisteslebens in Italien war, und damit auch die lange Zeit, die für Ficinos Arbeit optimale Voraussetzungen geboten hatte. In der Folgezeit setzten schwere politische und religiöse Wirren mit gewaltsamen Auseinandersetzungen ein. Die Medici wurden aus der Stadt vertrieben, 1494 besetzte die Invasionsarmee des französischen Königs Karl VIII. Florenz, und schließlich kam mit dem Dominikanermönch Girolamo Savonarola eine scharf antihumanistische Richtung an die Macht. Unter diesen Verhältnissen fand Ficinos Konzept eines humanistischen Christentums in neuplatonischem Geist keinen günstigen Nährboden mehr. Daher zog er sich weitgehend aus dem öffentlichen Leben zurück. Das Auftreten des Bußpredigers Savonarola, der für eine Sittenreform warb, verfolgte er so wie andere Florentiner Humanisten und Angehörige der Oberschicht zunächst wohlwollend (Pico della Mirandola wurde sogar ein Anhänger des kulturfeindlichen Dominikaners). Ficinos anfängliches Verständnis verwandelte sich jedoch in heftige Gegnerschaft, als die Gegensätzlichkeit der Haltungen und Ziele deutlich wurde. Nach der Hinrichtung Savonarolas im Mai 1498 verfasste Ficino eine Verteidigungsschrift gegen ihn, worin er befriedigt feststellte, die göttliche Barmherzigkeit habe die Stadt erfreulicherweise kürzlich „von dieser Seuche befreit“. Am 1. Oktober 1499 starb er in seiner Villa in Careggi. Sein Epitaph befindet sich im Dom von Florenz.

Ficinos für einen Humanisten untypisches Lebenswerk bestand hauptsächlich in der Errichtung eines philosophisch-theologischen Systems, in dem platonische (vor allem neuplatonische) Lehren die christlichen Glaubensinhalte untermauern sollten. Mit vielen spätantiken Neuplatonikern und auch mit Giovanni Pico della Mirandola teilte er die Überzeugung, dass es in der Metaphysik, der Kosmologie und der Anthropologie universelle Wahrheiten gibt, die im Prinzip allen Weisheitssuchern zugänglich sind.

Dieser Sichtweise zufolge sind die ewigen Wahrheiten in verschiedenen Kulturen und Traditionen von den damals führenden Philosophen erkannt oder ihnen von göttlicher Seite offenbart worden, oder sie wurden den Weisheitslehrern späterer Kulturen von denen der früheren vermittelt. Demnach stimmen manche philosophische und religiöse Lehren aus verschiedenen Epochen und Weltgegenden in bestimmten objektiv zutreffenden Kernaussagen überein (natürliche Theologie). Diese Lehren werden mit Begriffen wie „alte Weisheit“ bezeichnet, ihre nichtchristlichen Verkünder als „alte Theologen“ (prisci theologi). Nach dieser Deutung der Philosophiegeschichte gibt es ein Menschheitserbe an gesichertem metaphysischem Wissen. Später, im 16. Jahrhundert, wurde dafür der Begriff Philosophia perennis geprägt.

Ficino hielt eine bestimmte Gruppe von religiös-philosophischen Strömungen (Platonismus, Pythagoreismus, Orphik, Hermetik, christlicher Neuplatonismus, Zoroastrismus) für göttlich inspiriert. Die markanten Übereinstimmungen zwischen dem christlichen Theologen (Pseudo-)Dionysius Areopagita und nichtchristlichen Neuplatonikern wie Plotin und Proklos, die ihn in dieser Auffassung bestärkten, führte er darauf zurück, dass Dionysius ein Schüler des Apostels Paulus gewesen sei und auf die nichtchristlichen Neuplatoniker der späten römischen Kaiserzeit eingewirkt habe. Obwohl es im 15. Jahrhundert bereits Zweifel an der Echtheit der Schriften des angeblichen Dionysius gab, wusste Ficino nicht, dass diese Werke in Wirklichkeit erst in der Spätantike entstanden sind und die Beeinflussung in der umgekehrten Richtung erfolgte.

In Plotin sah er nicht nur einen legitimen Erben Platons, der dessen Lehre so authentisch wiedergebe, als ob Platon selbst durch seinen Mund redete, sondern auch einen Denker, der Platon sogar gelegentlich an Tiefe der philosophischen Einsicht übertreffe. Seine verehrungswürdigste Gestalt habe der Platonismus im Werk des Apostelschülers Dionysius erhalten. Oft berief sich Ficino auf den stark von der platonischen Gedankenwelt beeinflussten Kirchenvater Augustinus, gelegentlich auch auf Nikolaus von Kues.

Ficinos Denken kreiste um die Seele, wobei er die menschliche Vernunftseele im Sinn hatte. Er versuchte ihr Wesen, ihre Stellung im Kosmos und ihre Bestimmung im Rahmen der Weltordnung philosophisch zu ergründen. Ein zentrales Anliegen war ihm der Nachweis ihrer individuellen Unsterblichkeit, denn mit dieser Annahme steht oder fällt sowohl die platonische Anthropologie als auch die damalige kirchliche Seelenlehre. Außerdem entsprach es dem Menschenbild seiner Epoche, der Individualität einen hohen Rang zuzuweisen und die Einzigartigkeit des individuellen menschlichen Daseins zu betonen. Die Unsterblichkeitslehre wurde zu Ficinos Lebzeiten von einem breiten Konsens der Theologen getragen, war aber noch kein verbindliches kirchliches Dogma; in diesen Rang wurde sie erst 1513 auf dem Laterankonzil erhoben.

Mit seiner Verteidigung der individuellen Unsterblichkeit wandte sich Ficino gegen die Auffassung von Aristotelikern wie Alexander von Aphrodisias, die eine vom Körper unabhängige Existenz der Seele für unmöglich erklärten, und besonders gegen den Averroismus, eine im 15. Jahrhundert in Italien noch verbreitete Variante des Aristotelismus. Gegen Aristoteles selbst richtete sich diese Kritik nicht. Die Averroisten waren der Meinung, dass die menschlichen Geistseelen nicht wirklich individuell sind, sondern nur ein einziger universeller tätiger Intellekt sich überall in den Individuen manifestiert, so dass die ohnehin nur scheinbare Individualität mit dem Tod erlischt und eine persönliche Unsterblichkeit ausgeschlossen ist. Ficinos Argumentation fußt insbesondere auf dem Gedankengang, dass die Seele Immaterielles und Ewiges (wie platonische Ideen) denkend erfassen könne; ihr Zugang zu solcher Erkenntnis setze voraus, dass sie selbst von gleicher Beschaffenheit wie diese möglichen Erkenntnisobjekte und damit unvergänglich sei. Für Ficino ist die Seele weder ausgedehnt noch zusammengesetzt noch lokalisiert; räumliche und zeitliche Bestimmungen sind nicht Eigenschaften an den Dingen, sondern seelische Kategorien.

Hinsichtlich der Stellung der Seele im hierarchisch geordneten Kosmos betont Ficino ihre vermittelnde Position in der Mitte zwischen der geistigen (metaphysischen) und der sinnlichen Welt. Diese Mittelposition bringt er durch eine Symmetrie zum Ausdruck, indem er oberhalb der Seele zwei Stufen annimmt, Gott und die reinen Geistwesen (Engel), und unterhalb von ihr ebenfalls zwei Ebenen, die Qualität und (zuunterst) die Materie. Damit weicht er von Plotins System ab, in dem eine Stufe Qualität nicht vorgesehen ist. Unter „Qualität“ versteht er eine Wirkkraft in den physischen Objekten, die deren physikalische Interaktion verursacht. Eine solche Kraft hält er für erforderlich, da er die bloße Masse als Ursache nicht ausreichend findet. Damit wendet er sich gegen den Atomismus Demokrits und der Epikureer.

Die vermittelnde Rolle der Seele ergibt sich für ihn daraus, dass die Seele einerseits die Abbilder (imagines) der göttlichen Dinge und andererseits auch die Begriffe und Urbilder (rationes et exemplaria) der Sinnesobjekte in sich trägt, wobei sie die letzteren gewissermaßen sogar selbst erzeugt. Vom Oberen ist sie abhängig, nach unten ist sie ordnend und schöpferisch tätig; vom Höchsten zum Niedersten ist ihr alles zugänglich. Die Dinge kommen ihr nicht nur zu, sondern werden auch von ihr konstituiert. So ist sie die Mitte des Universums und das Band aller Dinge. Mit den Aufgaben, die ihr durch diese Stellung und Funktion zufallen, gewinnt sie eine dynamische Qualität.

Das Ziel der Seele besteht nach Ficinos Überzeugung, die er mit Plotin teilt, darin, in den geistigen, göttlichen Bereich aufzusteigen und letztlich „Gott zu werden“. Den Intellekt und den Willen betrachtet er als die beiden Flügel, mit denen die Seele sich emporschwingt. Er meint, dieses Streben sei dem Menschen so natürlich wie den Vögeln das Bestreben zu fliegen. Allerdings könne der Mensch das Ziel nicht mit eigenen Mitteln erreichen, sondern benötige dazu göttliche Hilfe. Ein Unterschied zu Plotin liegt darin, dass Ficino dem menschlichen Intellekt mehr zutraut als der antike Grieche. Während sich für Plotin die Erfassung des Einen, das die christlichen Neuplatoniker mit dem biblischen Gott identifizieren, jenseits des Denkens abspielt, da das Eine dem Denken unzugänglich sei, meint Ficino, dass philosophisches Denken Gott zu erreichen vermöge, wenn auch nicht in vollkommener Weise. Er unterscheidet die Gotteserkenntnis nicht prinzipiell von anderen Erkenntnisakten.

Voraussetzung für den Aufstieg der Seele und ihre Vergöttlichung ist ein Reinigungsprozess, in dem sie sich schrittweise von den sinnlich-materiellen Einwirkungen befreit. Die oberste Stufe dieses Reinigungsvorgangs wird ausschließlich durch göttliche Gnade erreicht; äußere Werke und Verdienste sind dabei belanglos.

Eine weit wesentlichere Rolle als dem Denken weist Ficino der Liebe und dem Willen zu. Die Liebe betrachtet er als einen Affekt des Willens. Er argumentiert, das Denken erfasse seinen Gegenstand auf die vorstellende Weise des Denkens, der Wille hingegen versetze sich in den Gegenstand, erfasse ihn so auf die Weise des Gegenstandes selbst und erreiche ihn somit besser. Diese voluntaristische Position, die einen Vorrang des Willens vor dem Intellekt annimmt, hat Ficino allerdings erst im Lauf seiner philosophischen Entwicklung, von einem ursprünglichen Intellektualismus ausgehend, herausgearbeitet. In einer späteren Phase änderte er seine Auffassung erneut und versuchte den Willen als Entäußerungsform und Wirkweise des Intellekts zu begreifen.

In der Liebe sieht er – auch darin der platonischen Tradition folgend – die maßgebliche Triebkraft für den Aufstieg der Seele zu Gott. Diese Funktion der Liebe ist gemeint, wenn er von der „sokratischen“ oder (seltener) von der „platonischen“ Liebe schreibt. Auf diesen von Ficino popularisierten Begriff geht der moderne, trivialisierte Ausdruck „platonische Liebe“ zurück, der jedoch mit dem von Platon und Ficino Gemeinten nur noch entfernte Ähnlichkeit hat. Ficino ist der Meinung, dass die Liebe der Menschen sich stets auf das Göttliche richte und daher auch Liebe zu einem Menschen auf das Göttliche in diesem Menschen und damit letztlich auf Gott abziele. Von der antiken neuplatonischen Sichtweise weicht er darin fundamental ab, dass bei ihm die Liebe nicht ausschließlich ein Streben des Niederen zum Höheren ist, sondern es auch eine Liebe des Höheren zum Niederen, Gottes zur Welt gibt. In diesem Sinne deutet Ficino die Schöpfung als Akt des göttlichen Willens, in dem die Liebe Gottes aus sich heraustritt und sich mitteilt, wie es dem Wesen der Liebe generell entspricht.

Diese Selbstentäußerung Gottes, die die Geschöpfe hervorbringt, führt zu einem kreisförmigen Bewegungsablauf, an dessen Ende die Geschöpfe zu ihrem göttlichen Grund zurückgeführt werden, womit dann auch die göttliche Liebe zu sich selbst zurückkehrt. Einer traditionellen pythagoreisch-neuplatonischen Auffassung folgend verleiht Ficino der Liebe eine kosmische Dimension, indem er sie zur im ganzen Weltall herrschenden Macht erklärt. Er behauptet, kein Teil der Schöpfung könne einem anderen feindlich sein, und sogar wenn Lebewesen andere vernichten (etwa zum Zweck der eigenen Ernährung), sei das Motiv dazu nicht Feindseligkeit, sondern Eigenliebe.

Das Schlechte hält er für nicht wirklich existierend, sondern für einen bloßen Mangel, eine Einschränkung eines bestimmten Guten und mangelhaften Anteil einer Substanz an diesem. Demnach ist alles Existierende an sich und ursprünglich gut, und nichts Vorhandenes ist überflüssig oder nichtig. Der menschliche Wille ist stets auf das Gute gerichtet, nur nicht immer auf das Beste, sondern manchmal gibt er irrigerweise untergeordneten Gütern den Vorzug.

In sein Liebeskonzept bezieht Ficino auch ausdrücklich den Eros ein, der sich auf irdische, körperliche Schönheit richtet. Damit knüpft er als Humanist an das antike Schönheitsstreben an. Obwohl er in der Erotik Gefahren sieht, ist ihm das prinzipielle mittelalterliche Misstrauen gegenüber der Schönheit in der Sinnenwelt als einer Ablenkung von Gott fremd. Vielmehr hält er auch die Wertschätzung solcher Schönheit für einen Weg zu Gott, denn man könne von der körperlichen Schönheit zur geistigen fortschreiten, die in Tugend und Weisheit bestehe, und von dort wiederum zu höheren Stufen gelangen.

Sein Verständnis erotischer Beziehungen ist von der provenzalischen und toskanischen Liebeslyrik beeinflusst, besonders von Guido Cavalcanti (dolce stil nuovo), dessen Nachkomme Giovanni Cavalcanti, der ebenfalls Dichter war, zum engsten Freundeskreis Ficinos gehörte. Guido Cavalcantis pessimistische, naturalistische Liebestheorie ergänzt Ficino, indem er der irdischen Liebe, die der Dichter schildert und analysiert, eine im platonischen Sinne aufgefasste himmlische an die Seite stellt. Cavalcantis Deutung einer auf irdische Ziele beschränkten Erotik als Krankheit und Trübung des Verstandes stimmt er zu. Seiner Auffassung zufolge entsteht aber analog zum sinnlichen Begehren ein geistiges Liebesstreben im Willen, das „dem Geschäft des Körpers gänzlich fremd“ ist. Beide beginnen mit dem Blick („Jede Liebe hat ihren Ursprung im Anblick“), führen dann aber in unterschiedliche Richtungen.

Nach Ficinos Theorie zeigt sich göttliche Schönheit im Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren meistens und am eindrücklichsten als Harmonie (concinnitas) von Einzelteilen des Zusammengesetzten, also als Wohlproportioniertheit einer menschlichen Gestalt, als harmonische Verbindung von Farben und Konturen oder als musikalischer Wohlklang durch Zusammenklang mehrerer Stimmen.

Ein schon von Plotin vorgebrachter Einwand gegen diese Überlegung besteht darin, dass eine als Harmonie der Teile definierte Schönheit nicht im Einfachen vorhanden sein kann. Somit kann sie nicht göttlichen Ursprungs sein, da das Göttliche sich vor allem durch Einfachheit auszeichnet und Teile nur in der Vielheit bestehen können. Daher definiert Plotin Schönheit nicht als Harmonie der Teile, sondern schreibt auch und sogar in erster Linie dem nicht Zusammengesetzten Schönheit zu. Ficino, der die Schönheit im Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren primär als Harmonie auffasst, sucht einen anderen Ausweg aus diesem Dilemma.

Er hält die Schönheit grundsätzlich für etwas, was nicht den Sinneseindrücken entnommen wird, sondern was der menschliche Geist selbst erzeugt, indem er sich von der sinnlichen Wahrnehmung dazu anregen lässt, sich seiner eigenen unkörperlichen Schönheit zuzuwenden. Durch das Zusammenwirken von Phantasie und Erinnerungsvermögen sei die Seele in der Lage, sich von einer Nachahmung der Sinnesobjekte zu emanzipieren und vollendetere Schönheit zu erschaffen als diejenige, welche sie in der Außenwelt vorfindet. Die Schönheit des Kosmos ist für Ficino der „Glanz des Guten“ (Gottes), der im Betrachter das Streben nach Vereinigung mit dem Guten auslöst. Nach seiner Überzeugung kann man, da das Gute sich in der Schönheit zeigt, nur über das Schöne Zugang zur Erkenntnis des Guten erlangen. Dabei spielt zwar die Phantasie anfänglich eine wichtige Rolle, doch ist sie wegen ihrer Verworrenheit und ihrer Bindung an empfangene Sinneseindrücke für die höhere Erkenntnis und die Gottesschau ungeeignet.

Die Aufgabe des Schönen, die Seele zu Gott hinzuleiten, sieht Ficino besonders auch in der Kunst erfüllt. Vom Künstler verlangt er Orientierung an der platonischen Idee, die dem jeweiligen Kunstwerk zugrunde liege. Der Künstler brauche sich nicht auf eine Abbildung der sichtbaren Natur zu beschränken, sondern könne den Schöpfer nachahmen, die Werke der Natur mit seinen Erzeugnissen verbessern und vollenden und damit das Naturgegebene übertreffen. Dies geschehe durch den Rückgriff auf die Idee, die auch den Naturdingen zugrunde liege, von diesen Werken der „niederen Natur“ aber auf weniger vollkommene Weise ausgedrückt werde als von einem Kunstwerk, dessen Urheber unmittelbaren geistigen Zugang zu der Idee habe.

Unter seinen humanistischen Zeitgenossen erfreute sich Ficino hohen Ansehens. Zu seinen Bewunderern gehörten Johannes Reuchlin, der ihn in Florenz besuchte, und Jacques Lefèvre d’Étaples. Er galt als der führende Platoniker seiner Zeit, und sein nachhaltiger Einfluss bewirkte, dass auch in den folgenden Generationen das Platonbild neuplatonisch geprägt blieb. Von seinen Schülern trug besonders Francesco Cattani da Diacceto († 1522) zum Fortleben seines Gedankenguts bei. Giovanni Corsi (1472–1547), ein Schüler Diaccetos (nicht Ficinos), schrieb 1506 eine lateinische Ficino-Biographie. Ein bissiger Gegner Ficinos war jedoch der Dichter Luigi Pulci, der ihn in Sonetten zur Zielscheibe seines Spottes machte. Paracelsus spendete Ficinos Leistung als medizinischer Autor höchstes Lob, indem er ihm unter den Ärzten Italiens den ersten Rang zubilligte. Giordano Bruno entnahm Ficinos Werken zahlreiche Anregungen.

In Frankreich wurde Ficino im Umkreis der Königin Margarete von Angoulême geschätzt, und auch bei Jean Bodin und bei der Dichtergruppe La Pléiade fand seine Philosophie Anklang. 1561 und 1576 erschienen in Basel Gesamtausgaben seiner Werke, 1641 wurde eine weitere in Paris gedruckt; alle drei sind fehlerhaft und unvollständig. Für die „Cambridger Platoniker“ des 17. Jahrhunderts, darunter Henry More, gehörten Ficinos Ideen zu den Grundlagen ihres Weltbilds. Leibniz hingegen kritisierte die neuplatonische Tradition, namentlich Plotin und Ficino; er meinte, diese Richtung befasse sich mit wirklichkeitsfremder theologischer Spekulation.

Als die wissenschaftliche Forschung zu Beginn der Moderne scharf zwischen der ursprünglichen Lehre Platons und der späteren Fortentwicklung des Platonismus zu unterscheiden begann, wurde Ficino nicht mehr als getreuer Interpret Platons wahrgenommen. Damit rückte zunehmend seine Bedeutung als eigenständiger Denker ins Blickfeld.

Gottfried Wilhelm Leibniz

Gottfried Wilhelm Leibniz zählt zur Frühaufklärung und wird oft als letzter Universalgelehrter bezeichnet. Er hatte einen starken Einfluss auf die nachfolgenden Aufklärer, die klassische deutsche Philosophie, den deutschen Idealismus und die Literatur der Klassik. Seine Entdeckungen in den Naturwissenschaften und seine philosophischen und historischen Schriften werden bis heute von Gelehrten aller Welt zu Rate gezogen. Er repräsentierte als letzter großer Denker die vor dem 18. Jahrhundert praktizierte Wissenschaft der vielfältigen Verknüpfung und des Analysierens der Zusammenhänge.

1672 reiste Leibniz als Diplomat nach Paris. Dort unterbreitete er dem „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. einen Plan für einen kreuzzugähnlichen Eroberungsfeldzug gegen Ägypten, um ihn von den geplanten Eroberungskriegen in Europa abzubringen. Der König lehnte diesen Plan ab; über einhundert Jahre später jedoch setzte Napoléon Bonaparte ihn in der Ägyptischen Expedition um.

1672/73 vollendete Leibniz Arbeiten an seiner Rechenmaschine mit Staffelwalze für die vier Grundrechenarten, führte diese vor der Royal Society in London vor und wurde auswärtiges Mitglied dieser berühmten Gelehrtengesellschaft. Das von Leibniz weiterentwickelte duale Zahlensystem legte den Grundstein für die rechnergestützte Informationstechnologie des 20. Jahrhunderts.

Schon Jahre zuvor, ab 1668, hatte sich unterdessen der welfische Herzog Johann Friedrich bemüht, Leibniz als Bibliothekar an seine Residenzstadt Hannover zu berufen. Doch erst nach mehreren Absagen sagte Leibniz dem Herzog schließlich im Jahr 1676 zu und wurde rund zwei Jahre später auch zu Johann Friedrichs Hofrat ernannt. Unter Ernst August wurde Leibniz 1691 auch Bibliothekar der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, mit Kurfürstin Sophie von der Pfalz stand er in regem Gedankenaustausch.

Ab 1685 reiste Leibniz im Auftrag des Welfenhauses durch Europa, um eine Geschichte der Welfen zu schreiben. Dadurch hatte er 1688 die Gelegenheit zu einer Audienz bei Kaiser Leopold I. in Wien. Dabei trug Leibniz seine Pläne für eine Münzreform, zum Geld-, Handels- und Manufakturwesen, zu der Finanzierung der Eroberungskriege gegen die Türken, zum Aufbau eines Reichsarchives und vieles andere vor. Doch es wurde ihm nur wohlwollende Aufmerksamkeit zuteil.

1698 bezog Leibniz ein heute nach ihm benanntes Leibnizhaus in Hannover. Hier ließ Leibniz bald darauf für Jahre seinen Schüler und Sekretär, den späteren Gelehrten Rafael Levi, ebenfalls wohnen. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Leibnizhaus zerstört und 1983 an anderer Stelle mit rekonstruierter Fassade neu gebaut.

1700 wurden nach Verhandlungen mit dem brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III., dem späteren König Friedrich I., Pläne für eine Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften nach englischem und französischem Vorbild in die Tat umgesetzt. Mit Unterstützung von Friedrichs Gattin Sophie Charlotte, an deren Hof im Schloss Lietzenburg Leibniz häufig zu Gast war, wurde die Akademie in Berlin gegründet und Leibniz wurde ihr erster Präsident. Um diesen Erfolg auszudehnen, führte er 1704 in Dresden Verhandlungen über die Gründung einer sächsischen Akademie. Er gründete insgesamt drei Akademien, die bis heute Bestand haben: die Brandenburgische Sozietät der Wissenschaften (heute weitergeführt als Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin und als Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften) sowie die Akademien in Wien und St. Petersburg. Leibniz hat auf diese Weise zusammen mit seinen eigenen mathematischen und philosophischen Leistungen die Herausbildung von eigenständigen Wissenschaften sehr befördert und hiermit historisch bleibende Bedeutung erlangt.

Leibniz betrachtete die Wissenschaft als eine Einheit. Seine Erkenntnisse in der Integralrechnung, die Theorie der unendlichen Reihen, seine neuartige Geometrie, die Theorien der Kombinatorik, die Vorstellung über die Grundlagen der Mathematik und die Wahrscheinlichkeitsrechnung entwickelten sich in enger Verbindung mit seinen philosophischen Ansichten. Das gleiche trifft auf seine Erkenntnisse der Dynamik, auf die biologischen und geologischen Konzeptionen sowie auf die Forschungen im Bereich der praktischen Politik und der theoretischen Geschichtswissenschaft zu.

Das philosophische Schaffen von Leibniz gruppiert sich um drei große Problemkreise: die Monadentheorie, die Determinationskonzeption und die erkenntnistheoretisch-logischen Ansichten. Leibniz hat sein Denken kontinuierlich revidiert. Eine komprimierte Darstellung wichtiger Ideen zur Metaphysik findet sich in seiner Monadologie (1714) – eine Monadentheorie. Auch das Problem der „Essai de Théodicée“ (1710) erscheint bei Leibniz gelöst. Unsere Welt ist die beste aller möglichen Welten, sie besitzt einen maximalen Reichtum von Momenten und in diesem Sinne die größtmögliche Mannigfaltigkeit.

In seiner Begriffslehre geht Leibniz davon aus, dass sich alle Begriffe auf einfache, atomare Konzepte zurückführen lassen. Er beschäftigte sich damit, wie man diesen Konzepten Zeichen zuordnen könnte und so wiederum daraus alle Begriffe ableiten könnte. So ließe sich eine ideale Sprache aufbauen. Neben anderen haben die Philosophen Russell und Wittgenstein diese Idee aufgegriffen und weitergeführt. Mit der Ars combinatoria (1666) versuchte Leibniz eine Wiederaufnahme des Projektes der Heuristik.

Der berühmte Satz von der „besten aller möglichen Welten“ ist oft missverstanden worden, unter anderem hat ihn Voltaire in seinem Roman Candide parodiert. Die Idee der „besten aller möglichen Welten“ soll nicht in naiver Weise tatsächliches und großes Übel in der Welt leugnen oder schönreden. Vielmehr weist Leibniz auf einen notwendigen Zusammenhang zwischen Gutem und Üblem hin: Es gebe nämlich Gutes, das nur zum Preis der Existenz von Übel zu haben ist. Die wirkliche Welt ist die beste u. a. in dem Sinne, dass das Gute in ihr auch von Gott nicht mit einem geringeren Maß an Übel verwirklicht werden kann. Außerdem ist die „beste aller möglichen Welten“ dynamisch gedacht: Nicht der derzeitige Zustand der Welt ist der bestmögliche, sondern die Welt mit ihrem Entwicklungspotential ist die beste aller möglichen Welten.

Gerade dieses Entwicklungspotential ermöglicht es, den derzeitigen Zustand zu verbessern, nicht hin auf einen utopischen Endpunkt, sondern immer weiter, in einem nicht endenden Prozess der ständigen sich überbietenden Entwicklung.

Leibniz argumentiert einerseits, dass einige der Übel nur scheinbar sind, bzw. dass weniger Übel an einer Stelle ein mehr an anderer Stelle notwendig machen würde. Auch führt er zum Beispiel die Vielfalt an, die die Qualität der Welt ausmache. Es gibt aber auch einen logischen Grund, warum diese die beste aller möglichen Welten sein muss. Wenn nämlich Gott eine Welt aus dem Möglichen ins Wirkliche überführen möchte, so braucht er einen zureichenden Grund, da er nicht willkürlich wählen kann.

Das einzige Kriterium, das eine Welt aber qualitativ von allen anderen unterscheidet, ist, die beste zu sein. Im Gegensatz etwa zu Descartes vertritt Leibniz die Ansicht, dass Gott logische Wahrheiten nicht schaffen oder ändern kann. Die Summe aller möglichen Welten findet Gott ebenso vor wie mathematische Sätze. Er hat darum auf den Zustand und die Geschehnisse innerhalb einer Welt keinen Einfluss. Selbst wenn er – Naturgesetze außer Kraft setzend – ein Wunder wirkt, so ist dieses Wunder mit der Auswahl der möglichen Welt schon ein für allemal festgelegt. Ein Teilaspekt davon ist: Gott hat unter allen möglichen Welten die beste geschaffen. Da er allmächtig, allwissend und allgütig ist, musste er das auch. Die in der Welt vorkommenden Übel stehen dem nicht entgegen.

Nach Leibniz gibt es keinen Widerspruch zwischen Determinismus und Freiheit. Obwohl mit der Wahl der Welt jede Handlung eines Menschen zum Beispiel vollständig unverrückbar festliegt, so ist die Tatsache, dass sich ein Mensch in einer Situation so und nicht anders verhält, völlig frei (im Sinne von unvorhersehbar). Dass sich ein Mensch so verhält (so verhalten würde), ist gerade der Grund, warum die Welt gewählt wurde. Ein anderes Verhalten wäre entweder logisch nicht möglich (nicht kompossibel mit dem Rest der Welt) oder würde eine moralisch schlechtere Welt bedingen.

Die Ausführungen über die beste aller möglichen Welten können als Antizipation moderner Modallogiken (z.B. die von Saul Aaron Kripke oder David Kellogg Lewis) gesehen werden. Leibniz formuliert früh die Maxime der Verstandesmäßigkeit der Aufklärung: „Jeder Mensch besitzt Fähigkeiten zur vernünftigen Lebensführung.“ Wenn Religion und Vernunft übereinstimmen, entstünde eine wahrhafte Religion. Leibniz postulierte, alle Gaben können den Menschen verderben, nur die echte Vernunft sei ihm unbedingt heilsam, aber an ihr werde erst dann kein Zweifel mehr haften, wenn sie sich überall gleich klar und gewiss, wie die Arithmetik, erweisen könne. Der Mathematiker Leibniz war im Gefolge des Pythagoras der Auffassung, dass sich in den Zahlen die tiefsten Geheimnisse verbergen. Das heißt, wenn man Vernunft mit Zahlen ausdrücken könnte, wäre der Einwand widerlegt: „Woher weißt du, dass deine Vernunft besser ist als meine? Welches Kriterium hast du für die Wahrheit?“

Harmonie ist ein prägender Begriff von Leibniz’ Philosophie. Er beschreibt Harmonie als Summe von unendlich vielen, unendlich kleinen Krafteinheiten, sogenannten Monaden, den Urbestandteilen der Weltsubstanz, die durch Gott vereint wurden und so die Welt zusammenhalten.

Leibniz geht davon aus, dass Gott alles aus dem Nichts geschaffen hat (creatio ex nihilo) und alles, was Gott geschaffen hat, gut ist. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass überall eine wunderbare Ordnung zu finden ist. Als Beispiel nennt er die Zahlen, da dort keine Veränderungen vorgenommen wurden.

Dieses Sinnbild des christlichen Glaubens wollte Leibniz sogar zur Heidenbekehrung einsetzen. Andererseits meint Leibniz auch: „Alles weltliche Übel entsteht aus dem endlichen Wesen der Natur.“ Allerdings sei die Unvollkommenheit ein notwendiges Teilübel. Letztlich sei die aktuale Welt die „bestmögliche aller Welten". Leibniz’ populäre Darstellung vieler seiner Grundgedanken unter dem Titel „Theodizee“ behandelt u. a. diese Ausräumung von vermeintlich an Gott zu richtenden Einwendungen wegen der Unvollkommenheit der Welt und der erfahrenen Leiden.

Leibniz entwickelte die Monadentheorie als Gegenentwurf zu den zeitgenössischen Strömungen. Die Philosophen des 17. Jahrhunderts arbeiteten in der Regel entweder eine neue Substanztheorie aus oder sie entwickelten die Atomtheorie nach neuzeitlichen Maßstäben weiter. Leibniz befriedigte keine dieser Auffassungen. Er nennt die Philosophie der Atomisten eine „faule“ Philosophie, da diese Auffassung, welche die Atome als letzte Bausteine ansieht, die lebendige, sich verändernde Welt nicht tiefgründig genug analysiere. Entgegen atomistischen Zeit- und Raumauffassungen, die diese Existenzformen der Materie mit einem leeren Gefäß vergleichen, vertritt Leibniz eine dialektische Konzeption, in der Raum und Zeit Ordnungsbeziehungen in der materiellen Welt sind. Der Raum ist die Ordnung der zur gleichen Zeit existierenden Dinge, die Zeit die Ordnung ihrer kontinuierlichen Veränderungen.

Den Monadenbegriff greift er aus der neuplatonischen Tradition auf. Der Begriff Monade, „Einheit“, stammt aus der Stoicheiosis theologike des spätantiken Philosophen Proklos. Wenn man die unendliche Substanz Baruch de Spinozas und des Mathematikers Blaise Pascal in unzähligen Punkten repräsentiert findet, deren jeder das Universum enthält, dann hat man ein Bild für das Bewusstsein, das in seinem Ichpunkt das ganze All umfasst: dann hat man die Leibniz’schen Monaden.

Eine Monade – der zentrale Begriff der Leibniz’schen Welterklärung – ist eine einfache, nicht ausgedehnte und daher unteilbare Substanz, die äußeren mechanischen Einwirkungen unzugänglich ist.

Das gesamte Universum bildet sich in den von den Monaden spontan gebildeten Wahrnehmungen (Perzeptionen) ab. Sie sind eine Art spirituelle Atome, ewig, unzerlegbar, einzigartig. Leibniz vertritt somit eine panpsychistische Weltanschauung. Die Idee der Monade löst das Problem der Wechselwirkung von Geist und Materie, welches dem System René Descartes’ entspringt. Ebenso löst sie das Problem der Vereinzelung, welches im System Baruch Spinozas problematisch erscheint. Dort werden einzelne Lebewesen als bloß zufällige Veränderungen der einzigen Substanz beschrieben. Ein Beispiel: Eine Substanz kann ohne Denken existieren, aber das Denken nicht ohne Substanz.

Da Leibniz die Grundfrage der Philosophie idealistisch löst und die Materie für ihn nur ein „Anderssein der Seele“ ist, verwirft er den absoluten Charakter von Raum und Zeit. Raum und Zeit werden in der Leibniz’schen Metaphysik als Ordnungsbeziehungen zwischen Entitäten der materiellen Welt verstanden. Die Theorie der Substanz von Leibniz schließt die Möglichkeiten der allseitigen Entwicklungen ein. Obwohl die Monaden in ihren Keimen identisch sind, entwickeln sie sich verschieden. Entwicklung bedeutet nach Leibniz nicht das Entstehen von grundsätzlich Neuem, sondern nur die Entfaltung des Vorhandenen. Leib, Seele und Geist sind nicht grundsätzlich verschieden, sie sind bloß unterschiedlich entwickelt.

Leibniz löst das Problem der Verbindung von Körper und Seele, indem er darlegt, dass alle Monaden, obwohl sie keinen gegenseitigen Einfluss auf ihre innere Struktur ausüben, koordiniert wirken. Er behauptet, dass Gott beim Schaffen der Monaden ihre Einheit und koordinierte Wirkung gesichert habe. Er kennzeichnet diesen Zustand mit dem Begriff der „prästabilierten Harmonie“. Trotz des idealistisch-teleologischen Wesens dieser Anschauung ist das Bemühen zu spüren, die Einheit der Welt nachzuweisen und die in ihr wirkenden Gesetzmäßigkeiten aufzudecken.

1667 veröffentlichte Leibniz eine Schrift zur Reform des Rechtswesens. Darin fordert er eine Vereinheitlichung der Gesetzeswerke der christlichen Nationen. Er versuchte, in jeder Religion etwas Wahres zu finden und dies in eine große Harmonie, in eine allumfassende allgemeine Religion einzuordnen. Mit diesen Bemühungen begab er sich auf die Ebene eines Erasmus von Rotterdam, der ein ähnliches Ziel hatte, nämlich eine Gelehrtenrepublik zu erschaffen, in der antike und christliche Elemente verbunden werden und zu Toleranz und Humanität führen sollten. Leibniz bemühte sich zeit seines Lebens um den Frieden. Er versuchte 1670 zu einer Reunion von Katholiken und Protestanten beizutragen. Zwischen 1679 und 1702 führte er Verhandlungen mit den Bischöfen Spinola und Bossuet. Bis 1706 bemühte er sich ergebnislos um einen Zusammenschluss wenigstens der evangelischen Konfessionen.

Diesen Bemühungen lag seine Ansicht zu Grunde, dass die Glaubensgemeinschaft eine unerlässliche Voraussetzung für die Bewahrung der abendländischen Kultur sei. Alle seine Anstrengungen konnten den Eigensinn der tief voneinander getrennten Länder nicht überwinden. Daran scheiterte Leibniz’ Streben nach Synthese und Harmonie.

Für Leibniz galt die Devise: „Ohne Gott ist nichts.“ Deshalb setzte er für Gott die Eins und für das Nichts die Null. Gleichzeitig untersuchte er die Sprache und stellte fest, dass sie ständig Fehler zulässt. Dadurch entstehen enorme Verständigungsprobleme, die über kurz oder lang zu Konflikten führen. Leibniz setzte als Ziel seiner Forschungen die Lösung dieser Konflikte. Er meinte erkannt zu haben, dass unser Denken eigentlich ein Rechenvorgang sei, womit sich der Kreis zur Religiosität und jener von Gott und Nichts, von 1 und 0, schließt. Konsequenterweise versuchte er eine sichere logische Symbolsprache zu entwickeln (mathesis universalis).

Dafür diskutierte er das Dualsystem entsprechend aus: es bildet die operationale Grundlage der modernen Computertechnik. Außerdem erkannte Leibniz, dass man jedem Gegenstand eine charakteristische Zahl beilegen kann, ähnlich den arithmetischen Zeichen für die natürlichen Zahlen. Damit, so Leibniz, wollte Gott uns zeigen, dass unser Verstand noch ein weit tieferes Geheimnis birgt, von dem die Arithmetik nur ein Schattenbild ist.

Leibniz befasste sich intensiv mit Logik und propagierte erstmals eine symbolische Logik in Kalkülform. Seine Logikkalkül-Skizzen veröffentlichte er allerdings nicht; erst sehr verspätet (1840, 1890, 1903) wurden sie publiziert. Seine charakteristischen Zahlen aus dem Jahr 1679 sind ein arithmetisches Modell der Logik des Aristoteles. Seinen Hauptkalkül entwickelte er in den Generales Inquisitiones von 1686. Er entwarf dort die erste Gleichungslogik und leitete in ihr fast zwei Jahrhunderte vor der Boole-Schule die Gesetze der booleschen Verbandsordnung ab. Innerhalb dieses Kalküls formulierte er die traditionelle Begriffslogik bzw. Syllogistik auf gleichungslogischer Grundlage. Er erfand die Mengendiagramme lange vor Leonhard Euler und John Venn und stellte mit ihnen die Syllogistik dar. Das Leibniz’sche Gesetz geht auf ihn zurück.

Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried Herder gilt als einflussreicher Geschichts- und Kultur-Philosoph der Weimarer Klassik. Er war einer der einflussreichsten Schriftsteller und Denker deutscher Sprache im Zeitalter der Aufklärung und zählt mit Christoph Martin Wieland, Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller zum klassischen Viergestirn von Weimar.

Am Wandel des kulturellen Lebens der gebildeten Deutschen gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte Herder einen wichtigen Anteil: Seine Spuren lassen sich in der Literatur, der Philosophie, der Theologie und der Geschichtswissenschaft nachweisen. Er trug Wesentliches zur Entwicklung der Sprachwissenschaft bei und war ein bedeutender literarischer Übersetzer. Die Forderung nach „Humanität“ und Heranbildung zum „vergöttlichten“ Menschlichen (Geniekult) als Lebens- und Bildungsideal sind durchgehende Grundgedanken seiner Schriften.

Sein ethisches Pathos verband er mit Stimmungen und Gefühlen aus der Dichtung verschiedener Zeiten und Völker, die er einem aufgeklärten Publikum durch Übertragungen ins Deutsche zugänglich machte. Damit bereitete er einer über die bisherige „Gelehrtengeschichte“ hinausgehenden modernen Literaturgeschichte den Boden. Neben den Stimmen der Völker in Liedern, dem Cid, den Epigrammen aus der griechischen Anthologie, den Lehrsprüchen aus Sadis „Rosengarten“ und der ganzen Reihe anderer Dichtungen und poetischer Vorstellungen, welche Herder zur deutschen Literatur beitrug, stehen jene orientalischen Erzählungen, Mythen und Fabeln, die er im Sinne der eigenen Anschauungen seiner Humanitätslehre nacherzählte.

Einfluss erlangte er als Kulturhistoriker, Religionsphilosoph, philosophischer Anthropologe, Ästhetiker, Essayist und Kritiker. Philosophisch bezog er sich insbesondere auf Giordano Bruno, Baruch de Spinoza, Gottfried Wilhelm Leibniz und Anthony Ashley-Cooper, Earl of Shaftesbury, aber auch auf Zeitgenossen wie seine Freunde Friedrich Heinrich Jacobi und Johann Georg Hamann, seinen Lehrer, den frühen Kant und Jean-Jacques Rousseau. Viele seiner Wendungen und Erkenntnisse wurden im deutschsprachigen Raum schnell zur Allgemeinbildung.

Als Theologe wandte er sich gegen das hergebrachte, auf Dogmen beruhende Christentum. Mit der Bibel beschäftigen sich seine literaturhistorischen Studien. Er lehrte, die biblischen Erzählungen seien aus ihrer Zeit und dem jeweiligen „Volkscharakter“ zu verstehen.

In seiner Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit formulierte er die These, dass die „Mächte der Geschichte“ wie Nationen, Epochen jeweils ihren eigenen Wert in sich tragen und unabhängig vom Betrachter zu beurteilen sind. Herder gilt damit als Erfinder des Nationenbegriffs. Seine Vorstellung der Nation unterschied sich allerdings vom Konzept des Nationalismus im 19. Jahrhundert. Herder zufolge bestimmen Gleichwertigkeit und Mannigfaltigkeit den Charakter der Nationen.

Die den Aufklärern bedeutende Idee der Toleranz wandte Herder auf andere Völker und Geschichtsepochen an. Er legte damit den Grundstein zum Historismus. Mit seiner Kulturtheorie und Geschichtsphilosophie, die, entgegen dem Universalismus der Aufklärung, als Ziel der Menschheitsgeschichte die Entwicklung einzigartiger Einheiten aus Volk und Land begreift, hat Herder eine wesentliche Grundlage konservativer Kulturtheorie (siehe z.B. Wilhelm Heinrich Riehl) entwickelt und auch die Basis für das Forschungsprogramm der klassischen länder- und landschaftskundlichen Geographie gelegt.

Sein Hauptwerk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) beruht auf den Gedanken, die er bereits in kleineren Schriften veröffentlicht hatte. Es ist eine Zusammenfassung seiner Erkenntnisse über die Erde und den Menschen, „dessen einziger Daseinszweck auf Bildung der Humanität gerichtet ist, der alle niedrigen Bedürfnisse der Erde nur dienen und selbst zu ihr führen sollen“. Er legte seine Auffassungen über Sprachen, Sitten, Religion und Poesie, über Wesen und Entwicklung der Künste und Wissenschaften, über die Entstehung von Völkern und historischer Vorgänge dar.

Vernunft und Freiheit hielt er für Produkte der „natürlichen“ ursprünglichen Sprache, Religion für den höchsten Ausdruck menschlicher Humanität. Die unterschiedlichen natürlichen, historischen, sozialen und psychologischen Umstände führen zur vielschichtigen Differenzierung der Völker, die verschieden aber dennoch gleichwertig sind.

Herder hat nie eine in sich stringente und systematische Sprachphilosophie entwickelt; vielmehr finden sich, über mehr als drei Jahrzehnte hinweg, in vielen seiner Schriften, teilweise vereinzelt oder in anderen Zusammenhängen stehend, sprachphilosophische Aussagen.

Doch liegt in der scheinbaren Verworrenheit und Unsystematik Herders dessen Methode: Er hat nämlich augenscheinlich überhaupt nicht die Absicht, ein in sich abgeschlossenes, stimmiges System zu schaffen, wie der Leser der Gegenwart bei der Abhandlung eines solchen Gegenstandes erwartet, sondern Herder arbeitet, für seine Zeit ganz und gar nicht untypisch, auf mehreren Ebenen, und zwar gemäß des Humanitätsgedankens, dem er sich zeitlebens verschrieben hatte, und den zu verwirklichen sein erklärtes Ziel war: Herders Konzept der Humanität besteht in der größtmöglichen Annäherung des Menschen an seinen verlorenen Idealzustand, und zwar durch „ zielbewusste Ergänzung zum jeweils möglichen Ebenbild vollkommener Menschheit“.

Ausgangspunkt und Fundament der Ausführungen Herders sind die Grundlagen der Epoche, in der er lebt: Er erlebt zu seiner Zeit nach eigenem Empfinden„ die Entfremdung des bürgerlichen Menschen von seiner Menschheit“ ; im Bereich der Sprache bedeutet das, dass die Sprachen sich auf dem Weg „vom Ideal eines integralen, das Bewusstsein von den Sinnen über die Phantasie bis zum Verstand hin ansprechenden Zeichens immer weiter in die Vergreisung einer abstrakten Büchersprache“ befinden. Jedoch kann nach Herder jede Denk-, Sprach- und Kulturgemeinschaft zu ihrer zeitspezifisch möglichen Verwirklichung integralen Menschseins sowie integraler Sprache gelangen, indem das jeweils Mangelnde ergänzt wird: Die Sprachphilosophie steht also im Dienste der Bildung zur Humanität. In dieser Hinsicht steht die „ Vermittlung der Gegenstandsbereiche Natur, Geschichte, Sprache zu einer einheitlichen Theorie in Frage, die sowohl den Anforderungen der im Wandel begriffenen Gesellschaftsverhältnisse genügen muss, als auch deren möglichen oder bereits realen Widersprüchen Rechnung tragen soll“.

Dementsprechend will Herder der von ihm konstatierten Entfremdung des Denkens von seiner ursprünglichen Ganzheitlichkeit, von Theorie und Praxis, von Kunst und Kultur entgegenwirken, indem er, seinem Sujet entsprechend, auf mehreren Ebenen argumentiert, und indem schon die Sprache, in der er dies umzusetzen versucht, die voneinander entfernten Diskurse miteinander in Verbindung setzt „(…) und zum sprachlichen Bild des vollständig humanen Menschen integriert.“: Herder steuert also ein synthetisches Modell an, indem er nicht mehr nur nach dem Menschen fragt, sondern nach der Möglichkeit seines Fragens nach sich selbst.“ Damit ist das Stadium der Selbstreflexion erreicht: „Selbstreflexion ist zugleich erinnernd und progressiv und ergreift sich in einem Moment der Gegenwart, die einerseits das Vergangene an die Zukunft vermittelt, andererseits, dem Vergangenen verpflichtet, das Zukünftige zu bilden und zu erziehen sucht.“ Sprachlich gesehen kann die Annäherung an den verlorenen Idealzustand durch die „schöne Prose“ geschehen, die als anzustrebendes Mittel zwischen der Poesie des Anfangs und der absolut rationalen Prosa des Zieles steht; Herders Konzept ist also ein wesentlich sprachliches, und die Sprachlichkeit ist für ihn die wesentlich menschliche Daseinsform.

Sprache ist für Herder „ (…) primäres Indiz und Produkt der menschlichen Freiheit“ ; sie durchläuft, wie er in seinem Roman der Lebensalter der Sprachen ausführt, analog zum Menschen, eine Entwicklung, die nie ganz abgeschlossen ist: „So wie der Mensch sich vom Säugling über Kindheit und Jugend zur vollen Höhe des Lebens entwickelt und dann wieder an Kraft verliert, so „ist’s auch mit der Sprache“.“ Die Entwicklung einer Sprache durchläuft verschiedene Stadien:

So bringt sie in ihrer „Kindheit“ „(…) einsilbichte, rauhe und hohe Töne hervor“. Es handelt sich um „Töne“, nicht um Worte, eine Sprache aus der Zeit, „ da man noch nicht sprach, sondern tönete; da man noch wenig dachte, aber desto mehr fühlte“. Diese kindliche Sprache geht vom Tönen zum Singen über, und mit diesem Fortschreiten in das Jugendalter legt sich auch ihre „Wildheit“; die Jugend der Sprache ist die poetische Periode: „ die Sprache war sinnlich, und reich an kühnen Bildern: sie war noch ein Ausdruck der Leidenschaft, sie war noch in den Verbindungen ungefesselt. Doch wie der Jüngling sich zum Mann entwickelt, schreitet auch die Sprache in ihrer Entwicklung fort und wird zum Mann, und eine Sprache, in ihrem männlichen Alter, ist nicht eigentlich mehr Poesie; sondern die schöne Prose.“ Die poetische Sprache wird von prosaischen Elementen durchdrungen, abstrakte Wörter werden eingeführt, die Sprache wird geregelter. Der Alterungsprozess setzt sich fort, und „das hohe Alter weiß statt Schönheit bloß von Richtigkeit.“ Dieser letzte Zustand ist „(…) das philosophische Zeitalter der Sprache.“

Leonardo da Vinci

Leonardo da Vinci (1452- 1519) war ein italienischer Maler, Bildhauer, Architekt, Anatom, Mechaniker, Ingenieur und Naturphilosoph. Er gilt als einer der berühmtesten Universalgelehrten aller Zeiten.

Verrocchio war einer der bedeutendsten Bildhauer im damaligen Florenz, der auch als Maler und Goldschmied tätig war. In seinem Atelier lernte und arbeitete Leonardo, etwa von 1470 bis 1477, in Gesellschaft von weiteren Schülern wie Perugino (um 1445/1448–1523), Domenico Ghirlandaio (1449–1494) und Lorenzo di Credi (um 1459–1537).

In den Künstlerwerkstätten des 15. und 16. Jahrhunderts war es üblich, dass der Meister die Anfertigung eines Werkes nicht allein vornahm, sondern Teile der Ausführung seinen Gesellen und Schülern übertrugen. Das vermutlich früheste erhaltene Zeugnis eines Gemäldes aus der Werkstatt Verrocchios unter Beteiligung Leonardo da Vincis ist Tobias und der Engel (datiert um 1470–1475). Kunsthistoriker nehmen an, dass Leonardo den Fisch in der linken Hand des Tobias, den Hund zu Füßen des Engels, aber auch den Haarschopf des Tobias gemalt haben könnte.

Nach dem Abschluss seiner Lehrzeit im Alter von etwa 20 Jahren, arbeitete Leonardo weiter in Verrocchios Werkstatt. Er soll, so berichtet der Maler, Architekt und Künstlerbiograph Giorgio Vasari (1511–1574), auf dem Bild Die Taufe Christi, das Verrocchio für die Mönche von Vallombrosa malte, den auf der linken Seite knienden Engel in das Bild seines Lehrers eingefügt haben. Das Gemälde befindet sich heute in der Sammlung der Uffizien in Florenz. Das ursprünglich in Tempera gemalte Bild wurde später zum Teil in Öl übermalt, so dass ein fundiertes Urteil über die Urheberanteile schwierig ist. Leonardos Beitrag wird nicht nur im Gesicht des Engels, sondern auch in Teilen der Bekleidung und des landschaftlichen Hintergrunds vermutet. Im linken Teil des Landschaftshintergrundes ist bereits Leonardos Sfumato-Technik zu erkennen, seine charakteristische Weichzeichnung von Motiven. Das Bild wird um das Jahr 1475 datiert, in dem auch das Bild Verkündigung an Maria und Leonardos Studien für Faltenwürfe von Gewändern und das Profil eines Kriegers entstanden.

Seit 1472 findet sich Leonardos Name in den Listen der Sankt Lukas-Gilde (Compagnia di San Luca), der Malergilde von Florenz. In Florenz lebte und arbeitete er weitere zehn Jahre und arbeitete gemeinsam unter anderen mit den Malern Sandro Botticelli und Perugino. Im Gegensatz zum später geborenen Michelangelo (1475–1564) wurde Leonardo als offen und freundlich geschildert.

Als sensibler Künstler begann er früh, seine Gedanken und Gefühle in Notizbüchern (Codici) zu notieren. Aus seinen Notizen ist zu schließen, dass er nicht, wie andere Renaissancekünstler, die Pracht der antiken Kunst durch Imitation von Modellen wiederbeleben wollte, sondern sich als Schüler der Natur berufen fühlte, die Schönheiten der Natur selbst und diese im Zusammenspiel mit Menschen darzustellen. Merkwürdige Formen von Hügeln und Felsen, seltene Pflanzen und Tiere, Bewegungen des Wassers, ungewöhnliche Gesichter und Figuren von Menschen waren die Dinge, die er in seiner Malerei und in seinen Naturstudien aufgriff. Die früheste datierte Zeichnung ist die Arnolandschaft vom 5. August 1473 (heute in den Uffizien in Florenz). Seine Porträtgemälde malte er meist vor einer Hintergrundlandschaft und in seinen Notizbüchern hielt er eine Vielzahl von Pflanzen- und Tierstudien fest.

Um 1477 scheint er die Gunst von Lorenzo I. de’ Medici (1449–1492), dem Stadtherrn von Florenz, gefunden zu haben und arbeitete als freier Künstler unter dessen Patronage. Es entstanden erste Porträts und Marienbilder, die Madonna Benois (1475–1478) und ein Porträt Ginevra de’ Bencis, einer Tochter von Amerigo de’ Benci, der Leonardos Leidenschaft für kosmografische Studien teilte. 1481 erhielt er einen ersten größeren Auftrag vom Augustinerkloster San Donato a Scopeto nahe Florenz für ein Altarbild und er zeichnete die Skizzen für die Anbetung der Heiligen Drei Könige (heute in den Uffizien in Florenz). Als sich vieler seine Künstlerfreunde in Rom niederließen, um für den Heiligen Stuhl zu arbeiten, ergab sich 1481 für ihn die Chance einer Stellung am Hof der Sforza, der Herzöge von Mailand.

Die Familie Sforza regierte Mailand und die Lombardei von 1450 bis 1535. Begründer der Dynastie, die meist eng mit der florentiner Herrscherfamilie Medici verbündet war, war Francesco Sforza (1401–1466). Nach seinem Tode wurde sein ältester Sohn Galeazzo (1444–1476) Herzog. Nach dessen Ermordung im Jahr 1476 kam Ludovico Sforza (genannt il Moro, „der Dunkle“; 1452–1508) als Protektor seines Neffen Gian Galeazzo Sforza (1469–1494), tatsächlich aber als Usurpator des Staates, an die Macht. Ludovico griff ein Projekt zur Errichtung eines Reitermonuments des Francesco Sforza zu Ehren des Gründers des Herrscherhauses wieder auf und suchte einen geeigneten Künstler. Von den Medici wurde der junge Leonardo empfohlen, der sich daraufhin am Hofe in Mailand vorstellte.

Wegen bevorstehender Kämpfe zwischen Mailand und der Republik Venedig erwähnte Leonardo in einem Empfehlungsschreiben an den Herzog ausführlich und detailliert seine Fähigkeiten und Erfindungen in der Militärtechnik. Erst am Schluss des Briefes betonte er sein Können als Bauingenieur und Architekt und fügte schließlich einen kurzen Hinweis auf seine Kenntnisse als Maler und Bildhauer hinzu, die die Grundlage zu einer angemessenen Ausführung des Monuments für Francesco Sforza bilden könnten. Nach seiner Anstellung arbeitete Leonardo mit Unterbrechungen über zwanzig Jahre für die Sforza.

In Mailand entwickelte sich Leonardo zum führenden Künstler und zum Organisator für Hofzeremonien und Festivitäten. Anlässlich der Hochzeit des jungen Herzogs Gian Galeazzo mit Isabella von Aragon 1487 entwarf der Künstler die Bühnenbilder und Kostüme der Masque Il paradiso. Die Pestepidemie der Jahre 1484 bis 1485 in Mailand veranlasste ihn wohl, dem Fürsten Pläne vorzulegen, nach welchen die Stadt unterteilt und nach verbesserten sanitären Prinzipien wiederaufgebaut werden sollte.

In den Jahren 1485–1486 war er an der Planung der Verschönerung und Verstärkung des Castello und der Vollendung des Mailänder Doms beteiligt. Er konnte sich allerdings nicht durchsetzen und entwarf daraufhin für die junge Herzogin einen Badepavillon von ungewöhnlicher Raffinesse und Schönheit. Parallel dazu machte er Aufzeichnungen über die Ergebnisse seiner Studien in Geometrie, Statik und Dynamik, menschlicher Anatomie sowie den Phänomenen von Licht und Schatten und setzte sich eingehend mit dem Entwurf des Sforza-Reitermonuments auseinander. Intensiv betrieb er Studien über die Bewegung und die Anatomie von Pferden und über die Kunst bzw. Wissenschaft der Bronzebearbeitung und Gießtechnik. Das Reiterstandbild sollte die größte Bronzestatue der damaligen Zeit werden.

Nach sieben Jahren bereitete er 1490 auf Drängen seines Auftraggebers sein Reiterstandbildmodell anlässlich der Heirat Ludovicos mit Beatrice d’Este zur Vorführung vor. Im letzten Moment war er jedoch mit seiner Arbeit nicht zufrieden und begann noch einmal von vorn.

Im selben Jahr verbrachte Leonardo ungestört einige Monate mit mathematischen und physikalischen Forschungen in den Bibliotheken und unter den Gelehrten von Pavia. Hierhin war er als Berater hinsichtlich einiger architektonischer Schwierigkeiten beim Bau der Kathedrale berufen worden. In Pavia erhielt er durch das Studium eines antiken Reitermonuments neue Anregungen für seinen Francesco Sforza. Aus dem Jahr 1492 stammen die Studie über Körperproportionen nach Vitruv sowie Proportionsstudien von menschlichen Körpern und Gesichtern und anatomische Studien, denn er wollte „das Innere des Menschen“ genau kennenlernen und begann an seinem Buch Von der menschlichen Figur zu arbeiten. In den folgenden Jahren verschafften ihm die zunehmenden Festivitäten und der Prunk des Mailänder Hofes fortwährend Aufträge, darunter die Komposition und Rezitation von Sagen, Fabeln und Prophezeiungen (d. h. moralischen und sozialen, im Futurum formulierten Satiren und Allegorien).

Zwischen 1483 und 1486 entstand die erste Fassung der Madonna in der Felsengrotte. Den Auftrag dazu erhielt er von der Bruderschaft der unbefleckten Empfängnis in der Franziskanerkirche San Francesco in Mailand. Diese Fassung wurde nie übergeben, da die Szene wohl entgegen den Wünschen der Bruderschaft in einer kalten, leblosen Höhle dargestellt ist und Jesus und Johannes der Täufer ohne Gold und Heiligenscheine gezeigt werden. 1499 gelangte das Gemälde nach Frankreich. Heute befindet es sich in der Sammlung des Louvre in Paris. Eine zweite, von der Bruderschaft akzeptierte Fassung, wurde zwischen 1493 und 1508 gemalt, von Leonardo begonnen und fortgeführt von seinem Schüler Ambrogio de Predis (um 1455–nach 1508).

In den 1480er Jahren beschäftigte sich Leonardo intensiv mit kriegstechnischen Aufgaben. Die Notizbücher dieser Zeit zeigen Skizzen von Waffen, Kriegsmaschinen, Flugmaschinen und Schiffen. Um 1490 entwarf Leonardo das Madonnenbild der Madonna Litta, die Ausführung wird heute seinem Schüler Giovanni Antonio Boltraffio (1467–1516) zugeschrieben, sowie das Porträt der Cecilia Gallerani, einer Mätresse Ludovico Sforzas (Die Dame mit dem Hermelin). Zur selben Epoche zählen das Bildnis eines jungen Mannes (Porträt des Musikers Franchino Gaffurio) und das Bildnis einer unbekannten Dame. Beide Bilder werden jedoch nicht zweifelsfrei Leonardo zugeschrieben.

Als Leonardo etwa 40 Jahre alt und davon fast zehn Jahre für den Mailänder Hof tätig gewesen war, bekam er von Ludovico Sforza den Auftrag, ein Bild für die Stirnwand des Refektoriums der Konventskirche von Santa Maria delle Grazie in Mailand zu malen.

Das bereits während der Entstehung von vielen Künstlern bewunderte Bild Das Abendmahl (ital.: Cenacolo oder Ultima Cena), ein Wandgemälde mit den Maßen von 8,8 × 4,6 m, entstand in den Jahren 1494 bis 1498. Es stellt den Moment dar, in dem Jesus seinen Jüngern mitteilt, dass einer von ihnen ihn in wenigen Stunden verraten würde. Leonardo malte das Bild in Tempera auf eine getrocknete Gipswand (Seccomalerei) – kein Fresko und auch nicht in Öl, wie eine Legende später behauptete. Die Tempera-Trägersubstanz hielt nicht lange auf dem Gipsuntergrund und dieser auch nicht auf der Wand. Durch Feuchtigkeit und Schimmelbildung kam es zu Abblätterungen und Schuppenbildung. Dieser Prozess dauerte jahrzehntelang. Die Restaurierungsversuche im 18. Jahrhundert gründeten auf der falschen Annahme, das Werk sei in Öl ausgeführt worden. So hat man es einmal mit Öl überstrichen, in der Hoffnung, dadurch die Farben wiederherstellen zu können. Andere versuchten es mit unterschiedlichen „Geheimmitteln“, meistens schädlichen Lacken und Klebstoffen. Erst Mitte der 1970er Jahre konnte der weitere Verfall durch moderne Restaurierungstechniken aufgehalten werden. Eine weitere Restaurierung folgte um die Jahrtausendwende. Der Zustand des Werks wurde mittlerweile mit einer Auflösung von 16 Gigapixel dokumentiert Trotz der großen Beschädigungen hinterließ das schon halb aufgelöste Bild immer wieder einen tiefen Eindruck auf die unterschiedlichsten Betrachter.

Um die Personen als Charaktere darstellen zu können, suchte Leonardo seine „Typen“ sorgfältig aus und fertigte viele Gesichtsstudien an. Die Gesichter von Jesus und Judas blieben unvollendet, der Perfektionist Leonardo fand keine befriedigende Lösung für eine malerische Darstellung. Nach dem Erfolg seines Werkes Das letzte Abendmahl fuhr Leonardo mit der Arbeit am Sforza-Monument – dem Cavallo – fort, dessen sieben Meter hohes Tonmodell bereits drei Jahre lang im Corte Vecchio des Castello stand und allgemein bewundert wurde. Nun sollte das Monument in Bronze gegossen werden.

Hilfe für die schwierigen Berechnungen für den Bronzeguss bekam Leonardo von dem Mathematiker Luca Pacioli aus Borgo San Sepolcro, dessen Summa de aritmetica, geometrica etc. Leonardo bei ihrer Ersterscheinung in Pavia erworben hatte. Der Mathematiker bewunderte Leonardos Malereien und Skulpturen und mehr noch seine mathematischen, physikalischen und anatomischen Forschungen, die er in den Manuskriptsammlungen Leonardos kennenlernte. Beide arbeiteten an Paciolis nächstem Buch De divina proportione („Über das göttliche Verhältnis“), das den Goldenen Schnitt behandelte. Auch die seit der Antike bestehende mathematische Aufgabenstellung zur Quadratur des Kreises versuchten beide zu lösen.

Bald beteiligte sich Pacioli auch an der Fertigstellung der Innendekoration bestimmter Kammern des Castello, der Saletta Negra und der Sala delle Asse, die bereits von anderen Künstlern begonnen worden war. Bei Reparaturarbeiten Ende des 19. Jahrhunderts legte Paul Müller-Walde unter den neu verputzten und getünchten Raumdecken Spuren von Leonardos Handwerk frei; so wurden in der großen Sala delle Asse viele Spuren Leonardos gefunden. Ein Großteil der Dekoration war gut erhalten und deshalb restaurierbar.

Für diese und andere künstlerische Arbeiten wurde Leonardo 1498 mit einem Garten außerhalb der Porta Vercelli belohnt, zu einer Zeit, als Geld nur spärlich floss und sein Gehalt lange im Rückstand war. Aber wiederum konnte er die Aufgabe nicht beenden, genauso wie das Bronzemonument, das der Herzog aus Mangel an Bronze (die er für Waffen benötigte) schließlich einstellen ließ. Dies half ihm aber nicht, seine Vertreibung im Jahre 1499 durch den französischen König Ludwig XII. zu verhindern. Ludovico musste fliehen, Leonardo und andere Künstler verließen Mailand.

Als Leonardo und sein Freund Luca Pacioli Mailand im Dezember 1499 verließen, war ihr Ziel Venedig. Leonardo bot dort seine Dienste als Ingenieur an und stellte seine Kriegsmaschinen vor, darunter auch einen Taucheranzug für den Unterwasserkampf. Er bekam jedoch keine Anstellung und zog weiter nach Mantua, wo er von der Herzogin Isabella Gonzaga empfangen wurde, die als kultivierteste Dame ihrer Zeit galt. Er versprach, zu einem späteren Zeitpunkt ein Porträt von ihr zu malen; zunächst fertigte er eine Kreidezeichnung an, die sich heute im Louvre befindet.

Die Freunde zogen im April 1500 nach Florenz. Hier fand Leonardo vorübergehend Unterschlupf im Kloster Annunziata, wo er sich verpflichtete, ein Altarbild für die Basilica della Santissima Annunziata zu malen. Ein Jahr verging, ohne dass der Auftrag ausgeführt wurde. Wissenschaftliche Fragen der physikalischen Geografie und des Ingenieurwesens fesselten Leonardo mehr als die Malerei. Er schrieb an Briefpartner, um Erkundigungen über die Gezeiten im Euxinischen und Kaspischen Meer einzuholen. Zur Information der Mercanti berichtete er über die gegen einen drohenden Erdrutsch auf dem Hügel von San Salvatore dell’Osservanza zu ergreifenden Maßnahmen. Er legte Zeichnungen und Modelle für die Kanalisierung und die Kontrolle des Arno vor und entwickelte einen Plan zum Transport des Florentiner Baptisteriums (Dantes bel San Giovanni) in einen anderen Stadtteil, wo es auf einen großen Marmorsockel gestellt werden sollte.

Den ungeduldigen Serviten-Brüdern von Annunziata legte er schließlich im April 1501 einen Entwurf des Altarbilds auf Karton vor, der in Florenz unter großer Beteiligung von Publikum ausgestellt wurde. Das Thema war die Jungfrau, die sich auf dem Schoß der Heiligen Anna sitzend vorbeugt, um ihr Kind festzuhalten, das halb aus ihrer Umarmung entflohen ist, um mit einem Lamm auf dem Boden zu spielen. Trotz des allgemeinen Lobs für seinen Entwurf vollendete Leonardo das Altarbild nicht. Die Mönche von Annunziata mussten den Auftrag an Filippino Lippi geben, nach dessen Tod die Aufgabe von Perugino beendet wurde. Leonardo vollendete erst später das Bild (1506–1516), das als Anna Metterca oder Anna selbdritt („Anna zu dritt“) heute im Louvre zu sehen ist.

In Florenz bemühte sich Leonardo um Aufträge. Der Gonfaloniere Piero Soderini bot ihm einen riesigen Marmorblock zur freien Verfügung an, doch Leonardo lehnte dankend ab. Drei Jahre später schlug Michelangelo seinen David aus diesem Block. Vom französischen Hof erhielt er den Auftrag für ein weiteres Madonnenbild; 1501 malte er die Madonna mit der Spindel. Aber eigentlich interessierte er sich viel mehr für technische und wissenschaftliche Herausforderungen und suchte diesbezüglich nach einem fürstlichen Auftraggeber.

Im Frühjahr 1502 trat er in den Dienst Cesare Borgias, des Herzogs von Valentino. Dieser war zu diesem Zeitpunkt mit der Konsolidierung seiner jüngsten Eroberungen in der Romagna beschäftigt. Zwischen Mai 1502 und März 1503 bereiste Leonardo als oberster Ingenieur einen großen Teil Mittelitaliens. Nach einem Besuch in Piombino an der Küste gegenüber Elba fuhr er über Siena nach Urbino, wo er kartografische Zeichnungen anfertigte. Anschließend wurde er über Pesaro und Rimini nach Cesena gerufen; zwischen Cesena und Cesenatico verbrachte er zwei Monate, in denen er Kanal- und Hafenarbeiten plante und leitete und mit der Planung zur Restaurierung des Palasts von Friedrichs II. beauftragt wurde.

Danach begleitete er seinen Arbeitgeber, der in Imola von Feinden belagert wurde. Hier lernte Leonardo auch Niccolò Machiavelli kennen, der als Abgesandter von Florenz mit Cesare Verhandlungen führte. Er folgte ihm nach Sinigallia, Perugia und schließlich über Chiusi und Acquapendente nach Orvieto und Rom, wo Cesare im Februar 1503 ankam. In dieser Zeit verließ Leonardo den Herzog und kehrte zurück nach Florenz.

In Florenz bekam Leonardo auf Initiative von Machiavelli und Piero Soderini den Auftrag, ein großes Schlachtengemälde für eine der Wände des neuen Ratssaals im Palazzo della Signoria zu schaffen. Er wählte als Thema eine Episode des Sieges der Florentiner über die Mailänder nahe einer Brücke bei Anghiari im oberen Tibertal. Der jüngere Michelangelo, der gerade seinen David vollendet hatte, wurde mit einem weiteren Schlachtengemälde auf einer anderen Wand des gleichen Saals betraut und entschied sich für die Schlacht bei Cascina.

Eigentlich wollte Leonardo keine Gewaltverherrlichungen malen, denn er hasste den Krieg, andererseits fühlte er sich gegenüber seinem Rivalen Michelangelo herausgefordert. Zur Vorbereitung seines Kartons wurde Leonardo die Sala del Papa in Santa Maria Novella zugewiesen. Er arbeitete – ähnlich wie an seinem Cenacolo – stetig und unermüdlich an seiner neuen Aufgabe. Aus seinen Berichten an die Signoria wird sein kontinuierlicher Fortschritt deutlich. In weniger als zwei Jahren (1504–1505) war der Entwurf fertig. Als dieser zusammen mit dem des Michelangelo ausgestellt wurde, wurden beide Entwürfe als großartige Kunstwerke bewundert und dienten den damaligen Studenten als Modell und Beispiel, so wie die Fresken von Masaccio in Santa Maria del Carmine den Schülern zwei Generationen zuvor geholfen hatten. Auch der junge Raffael lernte in dieser Zeit von Leonardo, ebenso Fra Bartolommeo.

Leonardo übertrug seinen Entwurf auf die Maueroberfläche. Dazu hatte er eine neue technische Methode erfunden, die er nach einem vorläufigen Versuch in der Sala del Papa für erfolgversprechend hielt. Die Farben – ob Tempera oder andere, ist unklar – mussten auf einen speziell präparierten Untergrund aufgetragen werden, worauf jene – Farben und Untergrund – mittels Wärme verbunden wurden. Nach Beendigung der zentralen Gruppe wurde Hitze angewendet, die aber ungleichmäßig wirkte: Die Farben im oberen Teil verliefen oder schuppten von der Wand ab, das Bild verfiel und wurde später (wahrscheinlich) übermalt.

In den Jahren 1503–1506 arbeitete Leonardo auch intensiv am Porträt der Mona Lisa. Einige Quellen belegen, dass die neapolitanische Hausfrau Monna Lisa del Giocondo (geb. Gherardini), Gattin des Francesco di Bartolommeo di Zanobi del Giocondo, für dieses Bild das Modell saß. In Lisa Gherardini soll er ein Modell gefunden haben, dessen Antlitz und Lächeln einen einzigartigen, rätselhaften Charme besaß. Er arbeitete an diesem Porträt während eines Teils von vier aufeinander folgenden Jahren und ließ während der Sitzungen Musik aufspielen. Zeit seines Lebens konnte sich Leonardo nicht von dem Bild (Maße 77 × 53 cm) trennen. Neuere Forschungen weisen darauf hin, dass der Auftraggeber Giuliano II. de’ Medici gewesen sei und das Bild eine idealisierte Mutter darstelle. Andere Quellen sollen belegen, dass es sich bei Mona Lisa um den heimlichen Geliebten Salaj handelt, der für das Bild Modell war. Demnach handele es sich bei dem Gemälde eigentlich um die Darstellung eines Mannes. Der Name Mona Lisa sei ein Anagramm zu Mon Salai (dt.: „Mein Salai“).

Nach seinem Tod blieb das Werk im Nachlass, wurde mit anderen Gemälden von seinem Schüler Salaj verwaltet und später von Franz I. von Frankreich für viertausend Goldflorin erworben. Seit 1804 ist es im Louvre ausgestellt. Vorübergehend gelangte es in den Besitz von Napoleon, der es in seinem Schlafzimmer platzierte und von dem rätselhaften Lächeln fasziniert war.

Heute ist das Gemälde ein ausgesprochener Publikumsmagnet, das Original ist jedoch nach einem Anschlag im Jahr 1956 nur noch durch Panzerglas zu betrachten. Der Reichtum der Farben hat sich im Lauf der Jahrhunderte verflüchtigt, teils durch Beschädigungen, teils weil der Maler bei seinen Bemühungen um Effekte daran gewöhnt war, seine Figuren auf einem Hintergrund zu modellieren, der im Laufe der Zeit dunkler wurde. Doch selbst in nachgedunkeltem Zustand bleiben die Raffinesse des Ausdrucks und die Präzision und Feinheit der Zeichnung erkennbar.

Mit der Signoria in Florenz gab es Streit, vermutlich wegen eines unfertigen Wandgemäldes (Die Schlacht von Anghiari) im Saal der Fünfhundert des Palazzo Vecchio. Leonardo nahm ein Angebot des französischen Hofes an und wurde Hofmaler und leitender Ingenieur in Mailand. Dort hatte Ludwig XII. Charles d’Amboise, Marschall von Chaumont, Leutnant des französischen Königs in der Lombardei, als Vizekönig eingesetzt. Beide bewunderten Leonardo sehr, schätzten besonders sein Organisationstalent, wenn es um die Ausrichtung von königlichen Festivitäten ging, und ließen ihm andererseits freie Hand, vor allem für seine wissenschaftlichen Forschungen und anatomische Studien, die er zusammen mit dem damals berühmten Professor von Pavia, Marcantonio della Torre, betrieb. Auch als Ingenieur war er gefordert, einerseits mit Planungen für einen neuen Palast in der Nähe der Porta Venezia, andererseits mit großen hydraulischen Projekten bzw. Bewässerungsarbeiten (Talsperren, Kanäle) in der Lombardei. Er konstruierte den ersten Wasserzähler und beschäftigte sich in einer Studie intensiv „mit dem Wissen des Wassers“.

Mit Unterstützung von Charles d’Amboise konnte Leonardo auch den alten Streit um sein Altarbild Felsgrottenmadonna regeln. Er fertigte mit Hilfe von Ambrogio da Predi eine Kopie an. Etwa zur gleichen Zeit arbeitete er weiter an seinen Bildern Anna Metterca und Mona Lisa. Er malte Leda mit dem Schwan (das Originalgemälde gilt als verschollen) sowie die ersten Entwürfe für Johannes der Täufer. Sein neuer Freund und Schüler wurde Francesco Melzi. In der Villa der Melzi-Familie in Vaprio, wo Leonardo regelmäßig verkehrte, wurde eine Madonna auf einer der Wände traditionell ihm zugeschrieben, zumindest wurde es unter seiner Anleitung gemalt.

Einen interessanten Auftrag bekam Leonardo von Gian Giacomo Trivulzio, der als französischer Kommandant Mailand erobert hatte und sich nach seinem Tod eine würdige Grabstätte wünschte. In Anlehnung an die alten Arbeiten des Sforza-Reiterstandbildes entwarf Leonardo das Trivulzio-Monument (aufbäumendes Pferd mit Reiter). Aber auch dieses Projekt konnte schließlich nicht realisiert werden, genauso wie seine Pläne, das Wissen der Zeit mit Hilfe seiner inzwischen zahlreichen Notizbücher als Enzyklopädie zusammenzutragen. Als sein Mäzen Charles d’Amboise 1511 plötzlich verstarb und sich zudem die politischen Verhältnisse in Norditalien abermals veränderten, verließ er Mailand und zog vorübergehend zu seinem jungen Freund in den Palazzo Trezzo der Melzi nach Vaprio d’Adda. Dort malte er wahrscheinlich die Rötelzeichnung mit dem Kopf eines bärtigen Mannes, sein vermeintliches Selbstporträt.

Inzwischen hatte Papst Julius II. Rom zum Zentrum der italienischen Kunst gemacht. Als ihm 1513 Giovanni de Medici als Leo X. nachfolgte, wurde Leonardo vom jüngeren Bruder des Papstes, Giuliano II. de’ Medici, als Künstler nach Rom berufen. Er wurde im Belvedere des Vatikans untergebracht und sah viele alte Freunde wie den Baumeister Donato Bramante oder den Maler Sodoma wieder. Er bekam ein eigenes Atelier mit einem deutschen Mitarbeiter, der jedoch den Auftrag hatte, den Papst, der keine Sympathien für Leonardo hegte, stets über dessen Aktivitäten zu unterrichten.

Die Bedingungen in Rom stellten sich als ungünstig für Leonardo heraus. Vom Papst wurde er nur halbherzig geduldet, ganz anders die jüngeren Künstler Raffael und Michelangelo, die sich durch ihre Arbeiten in den Stanzen und der Sixtinischen Kapelle große Anerkennung erwarben und vom Papst gefördert wurden. Ihre rivalisierenden Anhänger hassten sich gegenseitig und wandten sich erbittert gegen den altgedienten, inzwischen ergrauten Günstling der Medici. Der junge Raffael allerdings bewunderte sein altes Vorbild und hatte ihn Jahre zuvor in seinem großen Fresko Die Schule von Athen als den im Zentrum stehenden Platon verewigt.

Leonardo litt in seinen römischen Jahren nicht nur an Krankheiten, sondern auch an der Hektik und den Intrigen im Vatikan. Insgesamt blieb Leonardo knapp zwei Jahre in Rom und arbeitete kaum als Maler (bis auf den lächelnden Johannes den Täufer), sondern mehr als Ingenieur. Unter anderem arbeitete er an einem Projekt zur Energiegewinnung aus Sonnenlicht. Mit Hilfe eines deutschen Spiegelmachers und eines Metallschmiedes baute er verschiedene Hohlspiegel (Sonnenreflektoren), um mit diesen die Sonnenenergie in Wärme zu verwandeln und kochendes Wasser für eine Färberei zu gewinnen.

Die einzigen aus Leonardos Zeit in Rom bekannten Ingenieurtätigkeiten waren die Arbeiten am Hafen und an den Verteidigungsanlagen von Civitavecchia sowie Aktivitäten zur Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe. Durch weitere umfangreiche anatomische Studien entdeckte Leonardo damals auch die Arteriosklerose bei alten Menschen. Doch seine Aufzeichnungen hierüber wurden nie publiziert und blieben jahrhundertelang verschollen, ebenso seine apokalyptischen Visionen, die später im Codex Atlanticus gefunden wurden.

Inzwischen war sein französischer Gönner Ludwig XII. in den letzten Tagen des Jahres 1514 gestorben. Sein junger und brillanter Nachfolger Franz I. von Frankreich überraschte Europa: Er stieß an der Spitze einer Armee über die Alpen vor, um seine Rechte in Italien geltend zu machen und in der Schlacht von Marignano das Herzogtum Mailand zurückzuerobern. Nach einigem Zögern befahl Leo X. im Sommer 1515 Giuliano de Medici, die päpstlichen Truppen in die Emilia zu führen und die Bewegungen der Invasoren zu beobachten. Leonardo begleitete seinen Mäzen bis nach Florenz, wo Giuliano erkrankte und am 17. März 1516 verstarb. In seiner alten Heimatstadt wurde Leonardo dem neuen französischen König vorgestellt. Der junge Souverän und der alte Künstler und Wissenschaftler verstanden sich gut, und so nahm der Altmeister – nach anfänglichem Zögern – die Einladung des Königs an, seine letzten Jahre in Frankreich zu verbringen, wo ihm ein neues Heim, Ehre und Achtung zugesichert wurden.

Die letzten zwei Jahre seines Lebens verbrachte Leonardo da Vinci im Schloss Clos Lucé in Amboise, das ihm zusammen mit einer großzügigen Pension überlassen wurde. Der Hof kam oft nach Amboise, und der König erfreute sich regelmäßig der Gesellschaft seines Schützlings. Er erklärte, da Vincis Wissen in der Philosophie und den schönen Künsten stehe jenseits dessen, was alle Sterblichen wüssten.

Im Frühjahr 1518 hatte Leonardo Gelegenheit, seine alten Talente als Organisator von Festen einzusetzen, als gleichzeitig der Dauphin getauft und eine Medici-Bourbonische Hochzeit gefeiert wurde. Bereits in Rom hatte er einen mechanischen Löwen konstruiert, der sich zum Erstaunen aller Gäste einige Schritte alleine fortbewegen konnte. Unter den Gästen war auch der Kardinal Louis d’Aragon, dessen Sekretär einen Bericht hinterlassen hat, aus dem hervorgeht, dass Leonardo anscheinend an einer Behinderung litt, die die Bewegung seiner Hand beeinträchtigte. Er zeigte dem Kardinal drei seiner Bilder: Mona Lisa, Anna selbdritt und einen jugendlichen Johannes den Täufer. Dieses wahrscheinlich letzte Bild von seiner Hand hat er möglicherweise erst in Frankreich vollendet. Es zeigt das abgedunkelte Bild eines Johannes, der, ein von innen kommendes Lächeln auf den Lippen, prophetisch mit einem Finger aufwärts zeigt. Besonders deutlich wird hier Leonardos Chiaroscuro-Technik.

Bis wenige Wochen vor seinem Tod war Leonardo aktiv, sei es als Planer für einen neuen Palast in Amboise, als Projektingenieur für einen großen Kanal (Canal du Centre) zwischen Loire und Saône oder als Zeichner anatomischer Studien oder Architekturstudien in seinen Büchern. Gegen Ende seines Lebens sah der weise Uomo universale das Ende der Menschheit voraus und malte verschiedene Wasserstudien der Sintflut, die man in seinen Heften fand.

Am Osterabend 1519 machte Leonardo sein Testament. Er bestimmte, dass in drei verschiedenen Kirchen in Amboise Messen gelesen und Kerzen angezündet werden sollten. Er wollte auf dem Friedhof in St. Florentin mit einer Zeremonie, an der sechzig arme Männer als Fackelträger teilnehmen sollten, bestattet werden.

Vasari berichtet von einer Bekehrung und Reue Leonardos auf dem Totenbett. Obwohl viele seiner Meisterwerke christliche Motive zeigen, kann über seine Haltung zur Kirche und zur Religion keine Aussage gemacht werden. Von der Kirche wurde er oft verdächtigt, er betreibe magische Künste. Leonardo war jedoch Wissenschaftler und lehnte – im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen – magische Praktiken ab. Grundlage seiner Arbeiten war die Erfahrung. Die Erforschung der Naturgesetze interessierte ihn mehr als religiöse Dogmen; aber wenn er diese erwähnte, tat er es mit Respekt. Nachdem er die Sakramente der Kirche empfangen hatte, starb er am 2. Mai 1519. Nach einer vorläufigen Bestattung an einem anderen Ort wurden die Gebeine entsprechend seinem Willen am 12. August zum Kloster von St. Florentin gebracht. Im 19. Jahrhundert gingen bei Restaurierungsarbeiten die sterblichen Überreste jedoch verloren, so dass der Verbleib von Leonardos Leichnam bis heute unbekannt ist. Leonardo sah sich vornehmlich als Moral- und Naturphilosoph und benutzte zum Ausdruck seiner Intentionen sowohl die Schrift (Prosa und Dichtung) wie auch das Bild (Gemälde und Skizzen).

Leonardo schuf nicht nur zahlreiche Kunstwerke, sondern außerdem eine große Anzahl von Entwürfen für Gebäude, Maschinen, Kunstgegenstände, Gemälde und Skulpturen, die zu verwirklichen er nie die Zeit fand. Von sich selber sagte er, dass er die Idee mehr liebe als deren Ausführung, und dass er am Anfang einer Tätigkeit bereits ans Ende dächte. Tun und Erkennen waren für ihn gleichermaßen wichtig. Teilweise wurde seine Tatkraft von seinem großen Forschungsdrang gelähmt. Zunächst wollte er lernen, Meisterwerke der Kunst zu schaffen. Mehr und mehr interessierte er sich dann aber für das Wissen über die Natur und war fasziniert von deren Vielfalt und Schönheit und schrieb: „Für die Ehrgeizigen, die sich weder mit dem Geschenk des Lebens noch mit der Schönheit der Welt zufriedengeben, liegt eine Strafe darin, dass sie sich selbst dieses Leben verbittern und die Vorteile und die Schönheit der Welt nicht besitzen.“

Leonardo verband die Vergilsche Sehnsucht rerum cognoscere causas (die Ursachen der Dinge zu erkennen) mit dem Willen zum sichtbaren Schaffen. Seine Notizbücher, Zeichnungen und Skizzen bestehen aus ca. 6000 Blättern. Zu seinen Lebzeiten wurde insbesondere von seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten nichts veröffentlicht. Erst im 19. und 20. Jahrhundert fanden sich die Manuskripte in Bibliotheken und privaten Sammlungen und wurden somit erst spät gewürdigt.

Er schuf im Laufe seines Lebens eine große Zahl von künstlerisch wertvollen Illustrationen zu verschiedenen Themen wie Biologie, Anatomie, Technik, Waffentechnik, Wasserwirtschaft und Architektur und hinterließ Bauwerke, technische Anlagen und Beobachtungen des Kosmos. Besonders bedeutsam sind seine sehr genauen anatomischen und naturwissenschaftlichen Zeichnungen. Bereits gegen Ende seiner Lebenszeit wurde er als Uomo Universale verehrt und wird auch von heutigen Historikern als eines der außergewöhnlichsten Genies aller Zeiten bezeichnet.

In Florenz, Mailand und Rom betrieb Leonardo umfangreiche anatomische Studien. Er soll mehr als 30 Leichen seziert haben. Dabei kooperierte er meist mit angesehenen Ärzten der Zeit. Als Naturwissenschaftler interessierte er sich aber besonders für das Innere des Menschen und entdeckte dabei u. a. die Verkalkung von Gefäßen bei alten Menschen.

Auch Leonardos bekannteste Körperstudie „Der vitruvianische Mensch“, ist eine Art Anatomiestudie. Die Idee dieses Proportionsschemas der menschlichen Gestalt stammt von Vitruv, einem römischen Architekten, Ingenieur und Schriftsteller des 1. Jahrhunderts v. Chr. (daher der Name „Der Vitruvische Mensch“.). Allerdings hat Leonardo nur den Mittelpunkt des Kreises in den Nabel gelegt, den des Quadrates jedoch in den Genitalbereich. Im fortgeschrittenen Alter beschäftigte sich Leonardo neben der Anatomie besonders eingehend mit Botanik, Geometrie, Mathematik und Geologie. Vor allem faszinierte ihn das Wasser.

Er versuchte zu ergründen, warum es Wolken gibt, warum es regnet, warum Wasser fließt, warum es Wellen, Ebbe und Flut gibt und warum man auf Bergen Muscheln findet. Er konstruierte Boote und das erste U-Boot, baute hydraulische Anlagen zur Bewässerung und Kanalisation. Er experimentierte mit Pflanzen und Wasser, um die Bedingungen für das Pflanzenwachstum zu ergründen. In vielen Zeichnungen versuchte er die Bewegung des Wassers festzuhalten. Interessanterweise sind fast alle Hintergründe seiner Bilder Landschaften mit Wasser. Als erster erkannte er die Kugelgestalt eines Wassertropfens und somit die Oberflächenspannung des Wassers und hielt seine Erkenntnisse im „Codex Leicester“ fest.

Von Beginn an zeichnete Leonardo Landschaften und hat unter anderen einen Satz von sechs groß angelegten genauen Karten hinterlassen, die fast das ganze Territorium der Maremma, der Toskana und Umbriens zwischen dem Apennin und der Tyrrhenischen See abdecken. Darüber hinaus hat er Pläne zur Umleitung des Flusses Arno ausgearbeitet, die jedoch nicht ausgeführt wurden. Besonders bekannt ist sein Stadtplan von Imola. Die meisten von Leonardos kartografischen Werken befinden sich in der Sammlung der britischen Königin auf Schloss Windsor sowie im Codex Atlanticus in der Ambrosiana in Mailand.

Als Ingenieur war Leonardo ein Pionier und seiner Zeit weit voraus. Seine Intention war, Maschinen (und Waffen) zur Entlastung des Menschen bei ihrer Arbeit und Kriegsführung zu schaffen. Im Laufe der Zeit nahmen seine wissenschaftlichen Forschungen und sein durch Studium angeeignetes Wissen über Naturkräfte, die er zum Nutzen der Menschheit einsetzen wollte, immer mehr an Bedeutung zu.

Für die malerische Teildisziplin Farbenlehre gilt Leonardo als frühester Wegbereiter. Er beschrieb in seinen Notizen über Kunst und Malerei farbharmonische Phänomene wie den Simultankontrast und die Komplementärfarben. Im Regenbogen sah er eine Offenbarung der Harmoniegesetze durch die Natur. Auch die später von Goethe entwickelte Farbpsychologie nahm Leonardo insofern schon vorweg, als er Farbdisharmonien als unholde Gesellschaft beschrieb. Er vereinte sein Wissen über Licht und Schatten mit den alten Florentiner Stärken der linearen Zeichnung und des psychologischen Ausdrucks und schuf auf dieser Grundlage seine Meisterwerke. Er entwickelt die Sfumato-Technik zu seinem Markenzeichen, wobei er Ölfarben kreierte und diese mit äußerster Geduld schichtweise und in Abstufungen auftrug. Wie es ihm gelang, sein Verständnis von Licht und Schatten in die Malerei einzubringen, ist bis in die heutige Zeit in der Kunst ein wichtiges Thema. Eindrucksvolle Beispiele hierfür sind seine Gewänderfaltenstudien und sein letztes Bild Johannes der Täufer, der in einem magischen Licht erscheint. Einzigartig sind Leonardos Skizzen von Gesichtern, die meist als Vorstudien für Gemälde entstanden sind.

Es wird vermutet, dass Leonardo beabsichtigte, eine Enzyklopädie zu verfassen, die das Wissen seiner Zeit zusammenführen sollte. Skizzen und Entwürfe, Ideen und Gedanken notierte er in seinen Notizbüchern (Codices) meist völlig ungeordnet, scheinbar sprunghaft, gerade da, wo er Platz fand. Ein Zeitzeuge berichtet, dass Leonardo ein kleines Notizbuch stets an seinem Gürtel trug. Texte und Kommentare verfasste Leonardo in Spiegelschrift. Die Erklärung dafür ist umstritten. Eine Vermutung ist, dass dies ein Ausdruck seiner ausgeprägten Linkshändigkeit war. Eine andere Annahme besagt, er habe die Spiegelschrift benutzt, um seine Ideen nicht sofort allgemein zugänglich zu machen.

Leonardos Notizbücher, die nach dem Tod des Künstlers in den Besitz der Adelsfamilie Melzi gelangten, gingen als Gesamtwerk verloren. Bücher und einzelne Blätter wurden verkauft oder verschenkt und sind heute weltweit verstreut.

Die altniederländische Kunst

Da die Vereinigten Provinzen der Niederlande aus dem Widerstand gegen religiöse Unterdrückung entstanden waren, gewährten sie ihren Bürgern von Anfang an Religionsfreiheit. Die Kunde dieser Toleranz verbreitete sich schnell und hatte zur Folge, dass Protestanten, Juden, Hugenotten und andere religiös Verfolgte aus Spanien, Portugal und anderen Nationen – vor allem aus den spanisch besetzten Südprovinzen – ins Land strömten. Calvinismus wurde zum vorherrschenden Glauben, jedoch wurde das Land zu Anfang des Jahrhunderts durch den Streit über die Prädestinationslehre zwischen Remonstranten, den Anhängers des Arminius, und Contraremonstranten, die den Lehren des Franciscus Gomarus folgten, gespalten.

Auch der Humanismus mit seinem einflussreichsten Vertreter Erasmus Desiderius hatte sich etabliert und war für den kulturellen und sozialen Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit ebenso verantwortlich wie für die Bildungsbewegung und teilweise für das Klima der Toleranz. Diese Toleranz gegenüber Katholiken aufrechtzuerhalten, war nicht einfach, nachdem die Religion im Unabhängigkeitskrieg eine wichtige Rolle gespielt hatte. Feindliche Neigungen pflegte man dennoch möglichst mit Geld zu überbrücken. Deshalb konnten sich Katholiken die Privilegien zur Abhaltung von Feierlichkeiten beispielsweise erkaufen, öffentliche Ämter blieben ihnen indes versagt. Gleiches galt für die niederländischen Mennoniten (Täufer) und Juden. Das Niveau der religiösen Toleranz war jedenfalls ausreichend hoch, um Religionsflüchtlinge aus anderen Ländern anzuziehen, wobei besonders jüdische Händler aus Portugal viel Wohlstand mitbrachten. Jeder konnte für acht Gulden – was freilich immerhin der Jahresheuer eines niederländischen Seemanns entsprach und so zusätzlich die Staatskassen füllte – in die Provinzen einwandern, in denen sich bald viele der klügsten Köpfe Europas sammelten.

Die wirtschaftliche Stärke des Landes kam auf breiter Basis der sozialen und kulturellen Lebensqualität seiner Bürger zugute. Durch den Aufstieg des Bürgertums in die Oberschicht wurde die Kunst ebenfalls bürgerlich. Ein ganz trivialer Grund der kulturellen Blütezeit und des einsetzenden Bilderüberflusses war der vorhandene enorme Überhang an Kapital, erwirtschaftet aus spekulativen oder riskanten Geldgeschäften anlässlich Seefahrts- und Kolonialabenteuern, das nutzbringend angelegt werden sollte. Einrichtungs- und Dekorationsgegenstände, besonders Bilder, wurden zu einer beliebten Geldanlage, an der sich auch kleine Leute beteiligen konnten.

Gleichzeitig befand sich ganz Europa mitten in einem geistigen Umbruch, der als eine um 1450 begonnene „Renaissance der Naturwissenschaften“ bezeichnet und mit einem tiefgreifenden Wandel der Perspektive verbunden wird, die das Entstehen moderner wissenschaftlicher Denkweisen ermöglichte. Hatten sich die Gelehrten um 1450 noch darauf konzentriert, die Entdeckungen der Antike zu sichten und zu begreifen, lagen bis 1630 die grundlegenden wissenschaftlichen Schriften in verschiedenen volkssprachlichen Übersetzungen vor, ebenso die Werke zeitgenössischer Wissenschaftler, die sich mit jenen Inhalten auseinandergesetzt und sie weiterentwickelt hatten. Der Buchdruck erleichterte diese Verbreitung des Wissens: Antikes Gedankengut und seine Weiterentwicklungen wurden – gedruckt und jedermann verständlich – nicht nur Gelehrten, sondern auch weniger Gebildeten zugänglich.

Bürgerlichkeit, Individualismus und Freiheiten auf gesellschaftlicher Ebene hoben sich ab von den alten Werten, die sich auch in der Art der Kunst niederschlugen.

Seit dem 14. Jahrhundert hatte sich ein kultursoziologischer Wandel vollzogen: Weltliche Mäzene lösten die Kirche als wichtigsten Auftraggeber für Kunstwerke ab. Die höfische Kunstproduktion der Spätgotik, deren Zentrum Frankreich gewesen war, wurde bereits teilweise von Niederländern dominiert.

Die Niederlande waren durch das Haus Burgund auch herrschaftlich mit Frankreich verbunden, so dass es für flämische, wallonische und holländische Künstler leicht war, an den dortigen Höfen von Anjou, Orléans, Berry oder dem des französischen Königs Fuß zu fassen. Herausragende Meister dieser oft auch internationale Gotik genannten und über Burgund, Böhmen, Frankreich und Norditalien verbreiteten Kunst waren z. B. die Brüder von Limburg aus Geldern. In der niederländischen Ursprungsheimat blieben meist nur zweitrangige Kräfte zurück, wenn man von Ausnahmen wie Melchior Broederlam absieht.

Nach der Schlacht von Azincourt (1415) und dem Tod des Herzogs von Berry zog sich der burgundische Herzog Philipp der Gute nach Flandern zurück. Die Übersiedlung des burgundischen Hofes nach Flandern ermöglichte den einheimischen Meistern beste Arbeitsbedingungen in ihrer eigenen Heimat. Die Abwanderung an die französischen Kulturzentren erübrigte sich nun. Es konnten sich regionale Malerschulen herausbilden. Vorher war die Meisterschaft von Ausnahmebegabungen wie etwa Jan Bondol, Johan Maelwael oder den Brüdern von Limburg vom „Internationalen Stil“ aufgesogen worden. Nun wurden aus franko-flämischen Künstlern Niederländer. Erwin Panofsky hat gar von der „Repatriierung des flämischen Genies“ gesprochen. Die neue niederländische Künstlergeneration bediente sich aber nicht mehr der universellen, gotischen Formsprache. Sie ist daher als spezifisch niederländische Schule zu bezeichnen.

Der Reichtum der Handelsmetropolen förderte diese Entwicklung noch zusätzlich, die bürgerlichen Auftraggeber konnten sich nun auf kurzem Wege von den führenden Werkstätten beliefern lassen. Eine Blütezeit der flämischen und brabantischen Städte (Brügge, Antwerpen, Gent, Brüssel, Ypern, Mechelen, Löwen) hatte die Patrizier zu ebenbürtigen Konkurrenten der Fürsten werden lassen, die diesen an Reichtum und Macht nicht nachstanden. Diese neben den Höfen und den Kirchen dritte Auftraggeber- und Mäzenatengruppe wirkte maßgeblich auf die Themenwahl der Künstler ein.

Auch religiöse Kunstwerke, wie Altarbilder, wurden häufig nicht mehr direkt von der Kirche in Auftrag gegeben, sondern wurden beispielsweise auch von Kaufmannsgilden gestiftet. Aufträge für den repräsentativen Gebrauch von Gemälden im eigenen Haus brachten eine völlig neue Kunstgattung hervor, die Porträtmalerei, und diese beförderte wiederum ein individualisierendes Element in der Kunst, das den ohnehin wirksamen Tendenzen ganz und gar entsprach.

Um die Höfe der Herzöge von Burgund in Dijon und Brügge und die Stadt Tournai entwickelte sich im 15. Jahrhundert eine eigene Malschule zwischen der Gotik und der Renaissance. Einige Kunsthistoriker vermuten die Wurzeln in der französisch-flämischen Buchmalerei, etwa bei Jean Pucelle oder den Brüdern von Limburg.

Die Werke unterscheiden sich durch ihren oft nahezu fotografischen Realismus deutlich von ihren gotischen Vorgängern. Die Anregungen der italienischen Früh- und Hochrenaissance entwickelten sich in Verbindung mit den einheimischen Traditionen zu einer eigenständigen, völlig neuen Bildsprache. Ein wesentlicher Zug der niederländischen Naturbeobachtung ist die Darstellung der Landschaft. Zunächst wurden die mittelalterlichen Goldgründe durch realistische Landschaften als Bildhintergrund ersetzt, bevor die Landschaftsmalerei eine eigenständige künstlerische Gattung wurde.

Die genaue Naturbeobachtung erstreckte sich auch auf die Darstellung des menschlichen Körpers. Die Aktdarstellung von Adam und Eva auf dem Genter Altar von Jan van Eyck weisen eine seit der Antike nicht mehr erreichte Natürlichkeit auf. Sie unterscheidet sich wesentlich von den gleichzeitig in der italienischen Renaissance einsetzenden Aktdarstellungen, die viel mehr von wissenschaftlich-anatomischer Konstruktion geprägt waren, während Jan van Eyck die Oberfläche und die Bewegung des Körpers genau beobachtete und bis ins kleinste Detail darstellte.

Das unverwechselbar Neue in der altniederländischen Malerei war zum einen die detailbesessene stoffliche Oberflächencharakterisierung und zum anderen eine Plastizität durch genau beobachtete und wirkungsvoll eingesetzte Lichteffekte. Dem neuen Stil lag zunächst einmal eine neue Technik zugrunde: die Ölmalerei.

Die niederländische und flämische Malerei orientierte sich vor van Eyck und Robert Campin an der internationalen Gotik, die meist als „Schöner“ oder „Weicher Stil“ bezeichnet wird. Auch die großen Meister konnten sich noch länger nicht ganz von diesem Einfluss lösen, die lang gestreckten Gestalten und der reiche Faltenwurf der Gewänder verweisen deutlich auf die älteren Traditionen. Allgemein wird der altniederländischen Malerei vor dem 15. Jahrhundert heute wenig Beachtung zuteil. Die Werke gelten meist als provinziell und zweitrangig, in vielen kunstgeschichtlichen Publikationen wird die altniederländische Malerei erst ab dem Meister von Flémalle behandelt.

Am Anfang der altniederländischen Malerei im engeren Sinne steht Jan van Eyck, der 1432 sein Hauptwerk, den Genter Altar, vollendete. Schon die Zeitgenossen betrachteten die Kunstwerke Jan van Eycks und der anderen flämischen Meister als Ars nova, als etwas vollkommen Neues. Zeitlich entwickelte sich die altniederländische Malerei etwa gleichzeitig mit der Renaissance in Italien.

Mit dem Porträt wurde erstmals ein weltliches, individualisiertes Thema zu einem Hauptmotiv der Malerei. Das Genrebild und das Stillleben kamen dagegen erst im niederländischen Barock des 17. Jahrhunderts zum Durchbruch.

Allerdings weist die Altniederländische Malerei durch ihre „Verbürgerlichung“ schon in die Neuzeit. Als Auftraggeber traten die reichen Patrizier und Handelsherren immer mehr neben den Adel und den Klerus. Die Gestalten wurden nicht mehr idealisiert dargestellt. Dem Betrachter treten echte Menschen mit ihren körperlichen Unzulänglichkeiten entgegen. Falten, Tränensäcke, alles wurde schonungslos naturalistisch wiedergegeben. Die Heiligen hatten ihren Platz nicht mehr nur in den Gotteshäusern, sie hielten ihren Einzug auch in die Wohnstuben der Bürger.

Als einer der frühesten Vertreter der neuen Kunstauffassung gilt neben Jan van Eyck der Meister von Flémalle, der heute meist mit Robert Campin identifiziert wird. Sein Hauptwerk ist das Mérode-Triptychon (um 1425), das heute im Metropolitan Museum in New York zu sehen ist.

Die tatsächliche Existenz von Jan van Eycks angeblichem Bruder Hubert ist seit langem umstritten. Neuere Forschungen kommen zum Ergebnis, dass der – nur in wenigen Quellen erwähnte – Hubert nur ein unbedeutender Genter Maler gewesen sein soll, der in keinerlei verwandtschaftlicher oder sonstiger Beziehung zu Jan stand.

Als Schüler Campins ist Rogier van der Weyden anzusehen, dessen Mitarbeit am Mérode-Triptychon wahrscheinlich ist. Dieser beeinflusste wiederum Dieric Bouts und Hans Memling. Zeitgenosse Memlings war Hugo van der Goes, der erstmals 1465 urkundlich wurde.

Mit Hieronymus Bosch tritt uns der rätselhafteste Künstler dieser Gruppe entgegen, dessen Werk bis heute Anlass für zahlreiche Spekulationen ist. Neben den Großmeistern der altniederländischen Malerei sind noch Petrus Christus, Colijn de Coter, Aelbert Bouts, Gerard David, Goossen van der Weyden und Quentin Massys sowie deren Werkstätten anzuführen.

Heute ist nur noch ein Bruchteil der Werke der altniederländischen Künstler erhalten. Zahllose Gemälde und Zeichnungen fielen den Bilderstürmen in den Wirren der Reformation und den vielen Kriegen zum Opfer. Viele altniederländische Gemälde weisen zudem starke Schäden auf und müssen aufwändig restauriert werden. Einige Hauptwerke sind nur durch – handwerklich und künstlerisch häufig hochwertige – Kopien überliefert, die Mehrzahl allerdings ist für immer verloren.

Die Werke der frühen Niederländer und Flamen werden heute in den großen internationalen Kunstmuseen ausgestellt. Einige Altäre und Gemälde befinden sich jedoch auch noch an ihren alten Standorten in Kirchen, Kathedralen und Schlössern wie der berühmte Genter Altar in der St.-Bavo-Kathedrale in Gent. Aus Sicherheitsgründen ist er allerdings heute nur durch dicke Panzerglasscheiben zu studieren.

Besonders das Werk Jan van Eycks erregte in Italien, dem Ursprungsland der Renaissance, größtes Aufsehen. Der Humanist Bartolomeo Facio rühmte den Meister einige Jahre nach dessen Tod gar als „Malerfürsten unseres Jahrhunderts“.

Während sich die italienischen Maler komplizierter mathematischer und geometrischer Hilfsmittel (Fluchtliniensysteme u.a) bedienten, gelang es dem Flamen scheinbar mühelos, die „Wirklichkeit“ korrekt wiederzugeben. Das Bildgeschehen spielte sich nicht mehr nach gotischer Art gleichsam auf einer Bühne ab. Die Räume sind perspektivisch richtig wiedergegeben, die Landschaften nicht mehr kulissenhaft schematisiert. Weite, äußerst detailliert ausgeführte Hintergründe lenken den Blick in die Unendlichkeit. Auch Gewänder, Möbel und Ausstattungsstücke wurden oft nahezu fotorealistisch dargestellt.

Die maniera Fiamminga übte einen ungeheuren Einfluss auf die Kunst des italienischen Quattrocento aus. Antonello da Messina galt deshalb lange sogar als direkter Schüler Jan van Eycks. Italienische Sammler bestellten zahlreiche Bilder bei den nördlichen Meistern, Mäzene ermöglichten jungen Künstlern die Ausbildung in flämischen Werkstätten.

Van Eyck galt lange als der „Erfinder“ der Ölmalerei. Tatsächlich sind seine Gemälde jedoch in einer Mischtechnik ausgeführt, die traditionelle Temperamalerei wurde durch Elemente der Öltechnik ergänzt. Der Meister verwendete teilweise Terpentinöle (Weißlack) als Bindemittel. Die Farbe trocknet so wesentlich schneller und behält ihre intensive Leuchtkraft. Diese Neuerungen wurden rasch von anderen Künstlern in ganz Europa aufgegriffen. Neben der ungewöhnlichen Leuchtkraft der Farben beeindruckte die Italiener besonders die „innige Frömmigkeit“ der Flamen. Die eigene Malerei war eher vom Humanismus geprägt, der nördlichen Kunst gelang die Verbindung des Naturalismus mit einer tiefen Religiosität.

Auch das benachbarte Deutschland wurde selbstverständlich von der neuen Kunstauffassung beherrscht, die neben den italienischen Schulen die abendländische Kunst für nahezu zwei Jahrhunderte prägen sollte. Giorgio Vasari zählte sogar Albrecht Dürer und dessen Vorgänger Martin Schongauer zu den Flamen. In der Tat wäre das Werk dieser beiden Künstler ohne diese Anregungen undenkbar.

Dürer war bei Michael Wohlgemut in die Lehre gegangen, der als Schüler Hans Pleydenwurffs stark von der niederländischen Malweise geprägt war. 1520/21 hatte der große Nürnberger während seiner „Niederländischen Reise“ Gelegenheit, die flämische Kunst in ihrem Ursprungsland zu studieren.

Als eines der frühesten deutschen Gemälde „flämischer“ Art gilt der Kalvarienberg der Familie Wasservass. Noch deutlicher wird der burgundisch-flämische Einfluss bei Stephan Lochner. Durch die räumliche Nähe wurden Köln und der Niederrhein natürlich in besonderem Maße von der niederländischen Kunst geprägt. Der Kölner Patrizier Goddert von dem Wasservass bestellte um 1455 bei Rogier van der Weyden den Columba- oder Dreikönigsaltar für seine Familienkapelle.

Die ersten Einflüsse der nördlichen Malweise in Spanien werden im Königreich Aragon sichtbar, zu dem auch Valencia, Katalonien und die Balearen gehörten. König Alfonso V. sandte seinen Hofmaler Lluís Dalmau bereits 1431 nach Flandern. 1439 verlegte der Brügger Maler Luís Alimbrot (Lodewijk Allyncbrood) seine Werkstatt nach Valencia. Jan van Eyck dürfte die Stadt bereits 1427 als Angehöriger einer burgundischen Delegation besucht haben.

Valencia, damals eines der wichtigsten Zentren der mediterranen Welt, zog Künstler aus allen Teilen Europas an. Neben die traditionellen Malschulen des „Internationalen Stils“ traten flämisch beeinflusste Werkstätten und italienische Anregungen. Es entwickelte sich eine „hispano-flämische“ Kunstrichtung, als deren Hauptmeister Bartolomé Bermejo, Jaume Huguet und Rodrigo de Osona gelten.

Auch im Königreich Kastilien werden die nördlichen Einflüsse bereits früh deutlich. Die einheimischen Meister verwendeten jedoch statt der üblichen Eichenbretter Pinienholz als Maluntergrund und bevorzugten weiterhin die Tempera als Malmaterial. Auffällig ist die „verschwenderische“ Verwendung von Blattgold und Goldpulver in der Malerei Kastiliens und Aragons. Weitere Besonderheiten sind die reiche Ornamentik und die oft riesigen Ausmaße spanischer Flügelaltäre.

Die kastilischen Könige besaßen einige bedeutende Werke Rogier van der Weydens, Hans Memlings und Jan van Eycks.

Das „goldene manuelinische Zeitalter“ im frühen 16. Jahrhunderts wurde hauptsächlich von der flämisch-niederländischen Kunst geprägt. Der Flame Francisco Henriques wirkte in Lissabon und Évora. Ebenfalls aus dem Norden stammte Frei Carlos, ein Hieronymitenmönch aus einem Kloster in der Nähe von Évora. Als ein bedeutendes Beispiel der durch die Altniederländische Malerei beeinflussten portugiesischen Malerei gilt der Meister von Lourinhã.

Die Niederlande durchliefen im Goldenen Zeitalter eine kulturelle Entwicklung, die sich von der ihrer Nachbarstaaten deutlich unterschied und allgemein als Höhepunkt der holländisch-niederländischen Zivilisation angesehen wird. Während in anderen Ländern reiche Aristokraten Schirmherren und Gönner der Künste waren, spielten in den Niederlanden wohlhabende Händler und andere Patrizier diese Rolle. Hier bildete die aufstrebende, ungewöhnlich breite Mittelschicht zusammen mit den reichen Bauern das entscheidende Potential für die ökonomische wie auch für die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung des Landes.

Sie alle stellten einen riesigen Markt für den Absatz gewerblicher und künstlerischer Erzeugnisse dar. Durch ihr wachsendes gesellschaftliches Ansehen entstand bei Händlern, Handwerkern, kleinen Beamten oder Offizieren das Bedürfnis, ihren Status zur Schau zu stellen, und zwar auf eine vergleichbare Weise, wie es im Hochadel und Klerus gang und gäbe war. Dank ihrer Kaufkraft konnten sie sich diese Wünsche erfüllen.

Durch das allgemein gesteigerte Interesse an der Beschreibung der sichtbaren Welt wurde der Wunsch nach Kunstbesitz geradezu unersättlich, und die Nachfrage nach weltlicher Malerei blühte auf wie nie zuvor und nirgendwo sonst. Porträts beispielsweise sollten den gesellschaftlichen Rang der eigenen Person darstellen, wenn nicht erhöhen. Das über die unbedingt erforderlichen Einrichtungsgegenstände hinausgehende Mobiliar wurde als Statussymbol betrachtet, was sich im Besitz prächtiger Eichentruhen, achteckiger Tische und teurer Betten bei den Bauern und in kostbaren Uhren, Spiegeln, Porzellan oder Besteck der Bürgerschaft ausdrückte. Der teilweise ins Unerhörte wachsende Reichtum der Niederländer garantierte somit die Lebensgrundlage der Künstler des 17. Jahrhunderts und hatte zur Folge, dass es eine ungleich bessere „Kunstversorgung“ der Bevölkerung gab als irgendwo sonst in Europa.

Kunst und Kultur, dabei besonders die Malerei, entwickelten sich zusammen mit ihren neuen „Kunden“ zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor. Den schon damals gültigen Gesetzen der freien Marktwirtschaft folgend, wurde das „Dienstleistungsgewerbe Kunst“ immer differenzierter, es bildeten sich zum Beispiel Fachbetriebe für bestimmte Gattungen der Malerei aus und gleichzeitig entstanden Bildgattungen, deren Motive für die Malerei Neuland waren, wie beispielsweise die Landschaftsmalerei und das Genre der Sittengemälde. Auch stilistisch wurde die Kunstlandschaft immer vielfältiger, so dass die Auftraggeber sogar Malweisen, sei es der flämisch-italienischen oder der holländischen Schule selbst bestimmen konnten.

So bestimmten bürgerliche Auftraggeber die Kunstproduktion, die auf dem Selbstverständnis einer frühkapitalistischen Republik fußte, was zu einem höheren Realismus und zur Bevorzugung bestimmter Kunstgattungen wie Porträtmalerei (Einzel- und Gruppenbildnis), Genrebilder oder Stilllebenmalerei führte. Die schutterij, die Schützen mit ihrer Schützengilde und die rederijkers, die Dichter, organisiert in der rederijkerskamer, der Dichtergilde (seinerzeit „Redekammer“ genannt), waren gleichzeitig kulturelle Zentren und Förderer der Künste. Die Schützen hatten sich zu einer Art städtischen Bürgerwehr organisiert und sorgten nachts für Ruhe und Ordnung in den Städten. Alle männlichen Einwohner waren ihr zu Dienst verpflichtet.

Die Dichtergilden stellten Vereinigungen auf Stadtebene dar, die literarische Aktivitäten begünstigten und unterstützten. Die Städte waren ebenso stolz auf diese Gilden wie die Bürger auf ihre Mitgliedschaft, die sie sich viel kosten ließen. Große niederländische Dichter, wie zum Beispiel Pieter C. Hooft und Joost van den Vondel, waren Mitglieder einer Rederijkerskamer. Die einzelnen Gilden und Gildenmitglieder ließen sich gerne und oft bei der Ausübung ihrer Ehrenaufgabe porträtieren. Ein Beispiel dafür ist das Bild der Nachtwache von Rembrandt van Rijn.

Im 17. Jahrhundert erreichte die Malerei in den Niederlanden eine derartige Blüte, dass sie gelegentlich alleine mit dem Begriff des Goldenen Zeitalters verbunden wird. Schon im 16. Jahrhundert war die Kunstproduktion hoch gewesen. Allein in Antwerpen sollen 1560 mehr als 300 Meister mit Malerei und Graphik beschäftigt gewesen sein, hingegen nur 169 Bäcker und 78 Fleischer. Nun entstanden in dem dicht besiedelten Land in kurzer Zeit und auf engstem Raum viele Zentren der Malerei – neben Amsterdam etwa Haarlem, Delft, Utrecht, Leiden, Den Haag und Deventer. Bald waren Malerei und Druckgraphik geradezu allgegenwärtig, die Niederlande wurden zu einer riesigen „Kunstfabrik“. Jährlich kamen 70.000 Bilder auf den Markt, wobei 650 bis 700 niederländische Maler durchschnittlich jeweils 94 Bilder im Jahr malten, berühmte und weniger berühmte Maler gemeinsam mit ihren Schülern nahezu fließbandartig produzierten.

Die traditionellen kirchlichen Bildthemen wurden seit der Reformation indessen als „katholisch“ abgelehnt, die protestantischen Bürger wollten ihre Religiosität, ihre Lebensführung und ihre ureigenen Themen und Probleme – in erster Linie also sich selbst in ihrem beruflichen und privaten Umfeld, und in möglichst vorteilhafter Weise – verewigt sehen. Dies führte zur Ausprägung neuer Bildgattungen (z.B. Tronjes) und zur Erfindung neuer Bildthemen. Es entstanden geradezu massenweise Einzelporträts und Gruppenbildnisse, auf denen die Familie, die Verwandtschaft, die Gildemitglieder, das Ratskollegium oder Festivitäten und Feierlichkeiten festgehalten waren.

Eine nie da gewesene Spezialisierung innerhalb der Malerei setzte ein. Willem Claesz. Heda und Willem Kalf malten nur Stillleben. Ihre „Ontbijtjes“, ihre „Frühstücks“-Stillleben, hatten sie sogar auf wenige Gegenstände reduziert, die sie mit geringen kompositorischen Änderungen wieder und wieder variierten. Jan van Goyen, Jacob van Ruisdael und Meindert Hobbema standen für die Landschaftsmalerei, Jan Steen, Adriaen van Ostade und Adriaen Brouwer für die Bauernsatire, Gerard ter Borch und Pieter de Hooch für das Gesellschaftsstück (einer Variation des Genrebildes, das bäuerliche Festlichkeiten thematisiert), Pieter Jansz Saenredam und Emanuel de Witte für die Architekturmalerei, Thomas de Keyser und Frans Hals für Porträts.

Gerard ter Borch gilt als einer der Hauptmeister des holländischen Genrebildes. Seine erste Ausbildung als Zeichner erhielt er von seinem Vater Gerard ter Borch d. Ä. Erste Werke, die der Vater sorgfältig aufbewahrte, stammen aus dem Jahr 1625 und sind noch heute erhalten. Diese zeigen Genreszenen und vor allem Landschaften aus der Umgebung von Zwolle.

Zwischen 1644 und 1645 war er in Amsterdam als vielbeschäftigter Porträtist tätig und erlangte dadurch eine große Popularität. Dort ist es Ter Borch gelungen sich in den vornehmsten Amsterdamer Regentenkreisen Einzug zu verschaffen. Neben Portraits der Familien Six, De Graeff, Pancras, De Vicq hatte er auch Bildnisse von angesehenen Gelehrten wie Caspar van Baerle angefertigt. Diesem Bekanntheitsgrad verdankte er es, dass ihn 1646 der holländische Gesandte Adriaan Pauw bat, ihn zu den Friedensverhandlungen zwischen den Niederlanden und Spanien nach Münster zu begleiten. Dort durfte er viele der anwesenden Diplomaten porträtieren, wodurch er die Aufmerksamkeit des spanischen Gesandten, dem Grafen von Peñeranda, erregte. Dieser nahm Gerard ter Borch in seine Dienste, so dass dieser Augenzeuge des am 15. Mai 1648 geschlossenen Separatfriedens zwischen den Niederlanden und Spanien wurde.

Das Ereignis hielt er in seinem berühmten Gemälde Der Friedensschluß zu Münster fest, das heute im Rijksmuseum in Amsterdam gezeigt wird. Noch im gleichen Jahr kehrte er nach Holland zurück, wo er in den nächsten Jahren in den verschiedensten Städten tätig war. Abwechselnd lebte er in Amsterdam, Den Haag, Haarlem, Kampen und Zwolle. Sein Hauptbetätigungsfeld war nun die Genremalerei, wo er in kurzer Zeit zu einer Meisterschaft heranreifte, so dass er heute als einen der bedeutendsten Vertreter dieser Gattung gilt. Nach seiner Heirat am 14. Februar 1654 ließ sich Gerard ter Borch endgültig in Deventer nieder. Ab 1660 wandte er sich wieder vermehrt der Porträtmalerei zu, so dass nur noch wenige Genrebilder entstanden.

Trotz seines ausgedehnten Wanderlebens blieb Gerard ter Borch zeitlebens der holländischen Schule treu. Schon in seinen frühen Werken, die deutlich von den Amsterdamer Genremalern Pieter Codde und Willem Duyster beeinflusst sind, zeigt sich sein Interesse für die Wiedergabe menschlicher Figuren, die vorrangig von einer Seite beleuchtet werden und sich in Räumen mit spärlicher Einrichtung befinden. In diesem Genre der Malerei waren seine Werke den größten Entwicklungen unterworfen. Malte er anfangs vor allem Szenen aus dem Volks- und Soldatenleben, spezialisierte er sich ab 1648 auf Interieurszenen mit einigen wenigen Figuren, die galante Paare und meist Damen beim Lesen, Schreiben, Musizieren oder der Toilette zeigen.

In der Art der Anordnung und Darstellung der Figuren beschritt Gerard ter Borch völlig neue Wege und wurde damit zum Wegbereiter für jüngere Meister, die sich an ihn orientierten. Beispielhaft seien hier nur Gabriel Metsu, Pieter de Hooch und Jan Vermeer genannt. Seinen Porträtstil entwickelte Garard ter Borch unter dem Einfluss des Haarlemer Malers Hendrick Pot. Bereits in den 1640er Jahren war dieser voll ausgereift und kaum Wandlungen unterworfen. Seine Modelle sind meist schwarz gekleidet und vor neutralen grauen Hintergründen abgebildet.

Mit der Frührenaissance sind endgültig die Goldgründe mittelalterlicher Heiligenbilder durch Landschaften ersetzt, zunächst noch, wie bei Giotto, als kulissenartige Zusammenstellung einzelner Motive, später als einheitlicher Hintergrund.

Im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts entstand nördlich der Alpen ein neues, vorher unbekanntes Naturempfinden. Die Natur erhielt in Bildern der Donauschule einen eigenständigen Rang; Naturstudien ohne Menschendarstellungen sind keine Seltenheit. Das erste reine Landschaftsgemälde ohne jegliche Figuren ist das Bild Donaulandschaft mit Schloss Wörth, entstanden um 1522 von einem Maler der Donauschule, Albrecht Altdorfer. Frühe Beispiele aus dem nördlichen Europa für die Wiedergabe einer konkreten Landschaft - des Genfer Sees – sind Der wunderbare Fischzug des Konrad Witz - oder einer realistischen Darstellung von bewegtem Wasser auf dem um 1435 entstandenen Christophoros des gleichen Malers.

Sowohl in Venedig als auch in Florenz fanden die Anregungen aus dem Norden und die Entdeckungen der Perspektive in Italien auf unterschiedliche Weise ihren Niederschlag. In Piero della Francescas Montefeltro-Diptychon schaut der Betrachter aus der Vogelperspektive auf eine sich weit ausbreitende, lichte Landschaft, wobei sich Porträt und Landschaft auf unterschiedlichen und unverbundenen Bildebenen befinden. Leonardo da Vinci († 1519), von dem auch die erste reine Landschaftszeichnung stammt, stellte als Hintergründe einiger seiner Gemälde, wie der Felsgrottenmadonna, der Mona Lisa oder der Anna Selbdritt, alle im Louvre in Paris, keine Abbilder einer realen Natur dar. Diese Landschaften sind vielmehr eine Art Überblick über die elementaren Erscheinungsformen der Natur: Erde, Wasser, Fels und Luft, Nähe und Ferne, Wärme und Kälte.

Als ein Vermittler niederländischer Malkunst in Venedig gilt Antonello da Messina († 1479), der sich um 1475 in Venedig aufhielt. Ebenso folgenreich für die Landschaftsdarstellungen venezianischer Maler waren Dürers Holzschnitte, während seine Landschaftsaquarelle aus der Italienreise nicht publiziert waren und schon wegen ihrer Funktion als Arbeitsskizzen keine öffentliche Wirkung hatten. Bei den Venezianern Bellini, Giorgione und Tizian entfaltete sich die für die venezianische Malerei charakteristische Verschmelzung von Figuren und Landschaft, Licht und Farbe zu einer stimmungsvollen Bildeinheit von poetischer und lyrischer Qualität. Giorgione malte mit seinem Gewitter um 1515 das erste Bild, in dem die Figuren an den Rand gerückt sind und Landschaft zum Bildthema wird.

Ab Mitte des 16. Jahrhunderts kam es in den Niederlanden zu einer ersten Blüte der Landschaftsmalerei, die mit den Namen Joachim Patinir, Gerard David, Hieronymus Bosch und Pieter Brueghel verknüpft ist. Von Joachim Patinier († 1524) stammen die überblicksartigen Weltlandschaften, in denen biblische oder mythologische Figurengruppen fast nur den Rang von Staffagefiguren einnehmen. Auch auf Breughels Bild Sturz des Ikarus von 1558 ist das eigentliche – mythologische – Thema an den äußersten Rand gerückt zu Gunsten der Darstellung einer weiten Landschaft im Licht der Morgensonne, zu deren harmonischem Einklang auch der tätige Mensch gehört.

Die Hauptperson ist ein pflügender Bauer, hinter ihm steht ein Hirte, und am rechten unteren Bildrand sitzt ein Angler. Der Blick öffnet sich auf eine bis zum Horizont reichende Bucht mit der Sonnenscheibe am Horizont. Am Meer kreuzen Schiffe, und in der rechten oberen Ecke ragt ein weißes Felsengebirge auf. Schräg über dem pflügenden Bauern liegt eine befestigte Felseninsel (offenbar eine Anspielung auf das Labyrinth aus dem Mythos) und dahinter eine Hafenstadt. Links unten im Vordergrund ist ein Geldbeutel zu erkennen, in dem ein Schwert steckt, daneben liegt ein voller Getreidesack. Hinter dem Pferd, im Gebüsch, ist ein Gesicht im Halbschatten zu sehen, ein Toter, der von dem pflügenden Bauern, ebenso wie der im Hintergrund herabstürzende Ikarus unbeachtet bleibt. Der verunglückte Ikarus ist nur klein, gewissermaßen nur als Bilddetail am Rand in der unteren rechten Bildhälfte über dem Angler zu erkennen.

Der Hirte befindet sich annähernd im Mittelpunkt des Bildes. Sein aufwärtsgewandtes Gesicht liegt im Schnittpunkt der Haupt- und Nebendiagonalen. Der Standpunkt des Betrachters liegt auf einer Anhöhe. Der Bauer ist von schräg oben dargestellt, der Hirte etwas mehr von der Seite und das Segelschiff darüber frontal. Durch diese Winkelverschiebung verstärkt der Maler den Eindruck weiter Entfernung. Die Farbtöne gelb, grün und braun dominieren, auffallend ist jedoch das rote Hemd des Bauern.

Ikarus ist aus der griechischen Mythologie bekannt: Sein Vater Dädalus hatte Flügel konstruiert, mit denen er und sein Sohn aus der Gefangenschaft auf Kreta flohen. Als Ikarus jedoch übermütig der Sonne zu nah kam, schmolz das Wachs, das die Federn zusammenhielt, und er stürzte in den Tod. Der Dichter Ovid beschreibt dies in seinen Metamorphosen (VIII, 183–235) und der Ars amatoria (II, 21–96).

Vor seiner Verbannung nach Kreta warf Dädalus aus Missgunst seinen zwölfjährigen Schüler Perdix von der Akropolis, da dieser trotz seiner Jugend Säge und Zirkel erfunden hatte. Athene fing den Buben jedoch auf und verwandelte ihn in ein Rebhuhn, das nahe dem Boden fliegt und seine Nester in Hecken baut, denn es „fürchtet die Höhe, des einstigen Sturzes gedenkend“. Der Vogel sitzt in dem Gemälde links vom Angler auf einem Ast. Im Mythos fliegt er zur Beerdigung Ikarus’ herbei.

Bezeichnend ist, dass der Maler den verunglückten Ikarus nur nebensächlich darstellt: Rechts unten sieht man ihn ins Wasser stürzen, mit seinen nackten, strampelnden Beinen macht er dabei eine eher lächerliche Figur. Über ihm sind noch einige fliegende Federn zu erkennen. Dädalus, immerhin eine der Hauptpersonen, fehlt sogar im Bild. Bedeutung gibt das Gemälde dagegen Nebenpersonen wie Bauer, Hirte und Fischer.

Der Angler sitzt jedoch unten am Wasser, der Hirte ist in der Mitte platziert, der Bauer bestellt seinen Acker und allen gemeinsam ist, dass sie dem Sturz des Ikarus kein Interesse entgegenbringen. So bedeuten das Schwert im Geldbeutel und der Getreidesack im Vordergrund die flämischen Sprichwörter: „Geld und Schwert brauchen gute Hände“ und „Auf Felsen Gesätes wächst nicht“. Es sind Anspielungen auf die Nutzlosigkeit von Ikarus’ Handeln. Der Aphorismus zu der halb versteckten Leiche im Unterholz heißt: „Kein Pflug hält wegen eines Sterbenden an“. Bauer, Hirte und Fischer gehorchen stoisch den Gesetzen der Natur und des Kosmos. Selbst das Rebhuhn Perdix, das sich im Mythos über Ikarus’ Tod freut, ignoriert den Verunglückten und das (bei Ovid nicht erwähnte) Schiff entfernt sich mit geblähten Segeln von der Unfallstelle.

Bruegel hat die Sage von Ikarus ganz in seine Zeit gesetzt, dafür sprechen die Landschaft und die für das 16. Jahrhundert typischen Mittelmeer-Karacken. Diese Schiffe wurden damals in niederländischen Werften gebaut und der Maler hält sie mit großer Genauigkeit fest. Entgegen der Sage, in der Ikarus der Sonne zu nah kam, stürzt er in diesem Bild an fast entgegengesetzter Stelle ab, die Sonne hingegen geht entweder auf oder unter.

Nach Jacques van Lennep ist folgende Deutung möglich: Der Bauer im Vordergrund wäre eine Anspielung auf die alchemistische Kunst. Alchemisten verglichen ihr Handwerk mit dem Ackerbau und hielten Metalle für Organismen, die wachsen und sich vermehren können. Der auf dem Stab gestützte Schäfer stellt den Gott Hermes dar, der in seiner Jugend mit seinem Bruder Apollo die Herden des Admetos hütete. Das Schiff soll auf einen Kompostbehälter anspielen und das Meer auf Quecksilber. Dies deshalb, weil eine lange gefährliche Prozedur nötig ist, bis Quecksilber eine chemische Verbindung eingeht und man dies mit den Gefahren einer Schiffsreise verglich. Die aufgehende Sonne kann auch die Erneuerung der Welt durch Alchemie bedeuten, demnach wäre Ikarus ein gescheiterter Alchemist.

In der als Kupferstich verbreiteten Zeichnung Kriegsschiff mit dem Fall des Icarus hält sich Bruegel scheinbar enger an das Thema: So steht dort die Sonne hoch am Himmel und der Vater fliegt unter dem stürzenden Sohn. Dennoch interessiert sich der Künstler wesentlich mehr für das detailgetreu dargestellte Schiff.

Das Interesse an Landschaftsbildern ging einher mit einer grundsätzlichen Tendenz zum Beobachten und Erforschen der Natur, dem Aufblühen der Kartografie, für die durch das Wachsen des holländischen Überseehandels ein starker Bedarf bestand, der sicheren Beherrschung perspektivischer Darstellung und mit Fortschritten in Naturwissenschaften und Technik, durch die neue Hilfsmittel bereitstanden. Im Bereich der Kartografie und Landesvermessung arbeiteten Mathematiker und Geodäten (Landvermesser), Kartografen, Maler und Kupferstecher Hand in Hand. So sind Landkarten der Zeit häufig am Rand mit Veduten eingefasst, berühmtes Beispiel Jan Vermeers Allegorie der Malerei. Land- und Seekarten wurden von den gleichen Druckern publiziert wie Reproduktionen von Landschaftsgemälden in Kupferstichen oder Radierungen. Der Handel mit Reproduktionen war entscheidend für die rasche Verbreitung niederländischer Landschaftsmalerei in ganz Europa.

Das Genre fächerte sich bald eine Reihe von Themen auf, auf die sich die einzelnen Maler konzentrierten. Es gab Spezialisten für Phantasielandschaften, italianisierende Landschaften, Gebirgs-, Wald-, Küsten- und Flusslandschaften, Seestücke, topografische Landschaften, Winterszenen usw. Die thematisch oft wenig spektakulären Bilder zeichnen sind durch eine reiche Skala von Farbabstufungen, eine feine Luftperspektive und differenzierte Lichteffekte aus, die die Grundstimmung des Bildes bestimmen. Eine den Stillleben der Zeit vergleichbare Aufladung mit allegorischen Bedeutungen ist in den Landschaften schwieriger nachzuweisen, kann aber nicht ausgeschlossen werden.

Anfänge einer Landschaftsmalerei als unabhängiges Genre kann man in Flandern mit den Weltlandschaften Patiniers datieren, in denen Landschaft das Hauptthema ist und nicht die Figuren. Pieter Brueghel fertigte neben Gemälden wie den Jahreszeiten oder dem Fall des Ikarus auch Zeichnungen nach der Natur, sowohl während seiner Italienreise als auch von der Stadt Brabant. Neben dem von Flandern ausgehende Impuls wurden Einflüsse aus Italien wirksam über die Reproduktion der Bilder Adam Elsheimers durch den Utrechter Kupferstecher Hendrick Goudt.

Mit Esaias van de Velde, Pieter Moleyn, Jan van Goyen und Salomon van Ruisdael verstärkte sich eine naturalistische Bildauffassung zusammen mit einer Vorliebe für einfachere Motive, einheitliche Komposition und einer verstärkten Aufmerksamkeit für das Erscheinungsbild des Wolkenhimmels und die wechselnden Beleuchtungen auf dem Land. In der Farbwahl gab es zwischen 1625 und 1650 eine Vorliebe für monochrome Bilder in Blau-, Grün- und Erdtönen.

Die großen Landschaftsmaler des späten 17. Jahrhunderts, Jacob van Ruisdael und Aelbert Cuyp lassen italienische Einflüsse sowohl in der Komposition als auch in der Lichtführung der Bilder erkennen. Ruisdaels oft düstere und schwermütig wirkende Landschaften mit ihren dramatischen Wolkenformationen, absterbenden Bäumen und sich herabstürzenden Wasserfällen werden zu Ausdrucksträgern subjektiver Empfindung, ein Grund für die hohe Wertschätzung seiner Bildern durch die Romantiker. Cuyps idealisierte Bilder dagegen sind erfüllt von einer heiteren, pastoralen Stimmung, einer Fülle von warmem Licht. Sie zeigen oft kleine ländliche Szenen. Schüler Ruisdaels war Meindert Hobbema, der auf Waldszenen und Wassermühlen spezialisiert war. Eins der berühmtesten und oft reproduzierten Bilder niederländischer Landschaftsmalerei ist seine Allee von Middelharnis von 1689.

Maler in den südlichen Niederlanden wie Rubens und Rembrandt malten Landschaften in warmen und lebhaften Farben. Rembrandt widmete sich seit 1640 intensiv in seinen Radierungen der Landschaftsdarstellung, und Rubens schuf in seinen letzten Lebensjahren eine Reihe brillanter Landschaften.

Mit dem 18. Jahrhundert ließ zwar das Interesse an der Landschaftsmalerei bei Sammlern und Liebhabern nach, es wuchs aber die Nachfrage nach topografisch genauen Darstellungen bestimmter Orte. Guardi pflegte als Landschaftsmaler das Genre des Capriccios, Landschaften, die aus erfundenen und realen Partien zu einer Idealkomposition zusammengesetzt sind. Charakteristisch für die französische Malerei der Zeit sind die zarten und luftigen Landschaftshintergründe in den Bildern Watteaus und Fragonards. Romantische Landschaften zielen auf die Auslösung emotionaler Prozesse, auf eine Bildmagie, die einen inneren Dialog zwischen Betrachter und Bild bewirken soll. Zur gleichen Zeit malten Künstler wie Koch, Reinhart, Hackert oder Wolf, die einem Klassizismus verpflichtet waren. Sie orientierten sich an den alten Vorbildern Poussin und Claude Lorrain, da aus der Antike selbst keine Landschaftsbilder bekannt waren. Diese Maler sahen in ihren Bildern die Aufgabe, einen idealen Weltentwurf sichtbar zu machen im Sinne einer Wiederbelebung des antiken Geistes.

Jacob van Ruisdael war der einzige Sohn des Landschaftsmalers und Rahmenbauers Isaack van Ruisdael, bei dem er wahrscheinlich auch seine Ausbildung machte, sowie der Neffe von Salomon van Ruysdael und der Vetter von Jacob Salomonsz. van Ruysdael. Die Landschaftsmalerei hatte sich um 1600 unter anderem durch Adam Elsheimer und Paul Bril als eigenständige Gattung der niederländischen Malerei etabliert und wurde im wohlhabenden Haarlem besonders gepflegt.

Zunächst noch abhängig von der Manier seines Onkels und dessen Haarlemer Altersgenossen, z. B. Cornelis Vroom oder Pieter de Molijn, findet Ruisdael schnell zu einem eigenen Stil. Ihn kennzeichnen dramatische Akzente durch kontrastreiche Lichtführung, kraftvolle Bildmotive und die differenzierte Wiedergabe von Naturformen. Genaue Naturbeobachtungen in der Wald- und Dünenlandschaft rund um Haarlem spiegeln sich in den erhaltenen Handzeichnungen, die, vor dem Motiv ausgeführt, zur Grundlage der malerischen Ausführung im Atelier dienten. 1648 trat er in die Malergilde seiner Heimatstadt ein. Mit seinem Haarlemer Freund Nicolaes Berchem unternahm er um 1650 eine Reise nach Bentheim, dessen Schloss in der Folgezeit auf zwölf seiner Landschaften auftaucht. Seit den Reisen dieser Jahre, die ihn auch durch die Niederlande und an den Mittelrhein führten, wird der Bildaufbau in den Landschaften Ruisdaels nochmals kraftvoller: majestätische Baumpartien und imposante Wolkengebilde werden zu erhabenen Kompositionen gefügt. Um 1655 ging Ruisdael nach Amsterdam, wo er 1657 Mitglied der reformierten Kirche wurde. Am 15. Januar 1659 erwarb er das Bürgerrecht von Amsterdam, das poorterrecht.

In den 1650er und mehr noch 1660er Jahren zeigt er sich stark beeinflusst von den Wasserfall-Motiven, die Allart van Everdingen (auch er ging in den 1650er Jahren von Haarlem nach Amsterdam) aus Norwegen mitgebracht und in seinen dramatischen, oft hochformatigen Landschaften verarbeitet hatte. Andere Bilder der späten Jahre bieten weite Sichten ins flache Land, wobei starke Lichtkontraste und aufgetürmte Wolken eine Stadtansicht inszenieren und die Vorstellung eines schönen, in die Natur eingebetteten, aber arbeitsamen Gemeinwesens (in den verschiedenen Ansichten der Bleichwiesen vor Haarlem) hervorrufen können. Mehrere Fassungen eines düsteren Waldsumpfs oder des Judenfriedhofs zeigen auch einen melancholischeren Aspekt in der reichen Skala der Ausdrucksmöglichkeiten des Malers.

Der Bedeutungsgehalt seiner Motive geht immer wieder über das Gegenständliche hinaus, doch sind die möglichen Erklärungen (z. B. Wege als Lebenspfade, Mühlenflügel als Kreuzsymbole, patriotische Konnotation der kultivierten Landschaft), die etwa aus der zeitgenössischen Emblematik erschlossen werden können, wie häufig in der niederländischen Malerei, eher variable Optionen als eindeutig determinierte Festlegungen.

Einer seiner Auftraggeber war der Amsterdamer Regent Cornelis de Graeff, welchen Ruisdael beim Einzug auf sein Landgut Soestdijk zeigt. Am 8. Juli 1660 gab Ruisdael an, der Maler Meindert Hobbema sei einige Jahre sein Lehrling gewesen, 1668 war er dessen Trauzeuge. Ruisdaels Werk wurde zunächst in Kupferstichen reproduziert und verbreitet; einige Blätter hat Ruisdael selbst radiert, auch sie dürften zum Nachruhm des Malers beigetragen haben, dessen Motive und Kompositionen die Landschaftsmalerei bis zum Ende des 19. Jahrhunderts einzigartig beeinflusst haben.

Meindert Hobbema (1638-1709) war neben Jacob van Ruisdael der bedeutendste niederländische Landschaftsmaler in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.

Zunächst stand das Werk Hobbemas unter dem Einfluss von Cornelis Vroom und Anthonie van Borssom. Um 1656 nahm er ersten Kunstunterricht bei Jacob van Ruisdael, der gerade von Haarlem nach Amsterdam gezogen war. Hobbemas Lehrzeit bei Ruisdael scheint nicht sehr lang gedauert zu haben, da seine erste signierte Arbeit aus dem Jahr 1657 zeigt, dass er sich bis dahin als unabhängiger Meister etabliert hatte. Hobbema blieb auch nach seiner Lehrzeit mit Ruisdael freundschaftlich verbunden. Zusammen reisten sie durch die niederländischen Provinzen bis in die Region von Twente und über die Grenze nach Bentheim. Vermutungen, Hobbema hätte nach seiner Bestellung zum Eichmeister die Malerei nur als Liebhaberei fortgesetzt, gilt angesichts des umfangreichen Werkes als unwahrscheinlich. Zudem ist sein als Hauptwerk geltendes Gemälde Die Allee von Middleharnis erst 1689 entstanden. Das stark von Ruisdael beeinflusste Werk ist thematisch beschränkt auf Waldszenen, Flussläufe und vereinzelt Ansichten holländischer Städte. Häufig ist in seinen Bildern eine ansprechende helle Farbgebung vorherrschend, wobei funkelndes Tageslicht seine Landschaften durchdringt und der Himmel im intensiven Weiß und Blau leuchtet. Die Farbpalette der Landschaften geht von einem olivgrünen Ton bis hin zum Grau und Rotgelb. Variantenreich und meisterlich in der Ausführung sind die Darstellungen des Laubwerks. Mit erstaunlicher Feinheit durchdringt das Licht die Wolken und belichtet den Boden, oder aber es scheint durch die Blätter auf andere Teile des Blattwerkes und vervielfacht so die Lichtdurchlässigkeit des Bildes. In einigen Bildern werden diese Effekte noch durch Lichtspiegelungen auf Flussläufen oder Teichen verstärkt. Vorausgegangen ist der Malerei eine intensive Naturbeobachtung in der Umgebung von Amsterdam und auf Reisen bis an die westfälische Grenze. Die wiederkehrenden Motive wurden facettenreich bei verschiedenen Lichtverhältnissen, mit verschiedenen Farbtönen und zu allen Jahreszeiten variiert. Das Werkverzeichnis von Georges Broulhiet aus dem Jahr 1938 weist über 500 Werke des Künstlers auf.

Diese Überzahl von Künstlern innerhalb einer regelrechten Bilderindustrie führte zur Entwicklung eines Kunstproletariats. Viele, heute hochgeschätzte Maler mussten ihren Lebensunterhalt anderweitig finanzieren, die wenigsten konnten allein von der Malerei leben. Jan Steen betrieb ein Wirtshaus, Jakob Ruisdael war Arzt, Jan van Goyen handelte mit Tulpen, Meindert Hobbema war Steuereintreiber, die Malerfamilie van de Velde betrieb ein Leinwandhaus. Viele Künstler nahmen auch Tätigkeiten als sogenannte Grobmaler an, wenn die Aufträge als Feinmaler ausblieben.

Singuläre Spitzenkräfte wie Rembrandt oder Vermeer waren keineswegs zeittypisch und wurden in ihrer Genialität damals von nur wenigen erkannt. Im Gegensatz zu ihren hoch spezialisierten Kollegen machten sie sich verschiedene Genres zu Eigen und hinterließen ein vielseitiges Œuvre. Das große Geld hingegen verdienten andere, wie zum Beispiel Gerard Dou und Gerrit van Honthorst: Maler, die für die Hofhaltung des Statthalters arbeiteten oder – wie Rubens – sich gleich im feudal und klerikal gebliebenen Flandern niederließen beziehungsweise Hofmaler in Italien, Frankreich oder Spanien wurden.

Mit dem breiten Interesse am Gemälde und dem Beginn der Kommerzialisierung der Kunst entwickelte sich ein anderes Verhältnis zwischen Maler und Auftraggeber; der Beruf des Kunsthändlers beziehungsweise Bildermaklers entstand. Gehandelt wurden ausschließlich Staffeleibilder mit vorwiegend profanen Themen, eine Nachfrage nach Altarbildern oder anderen großformatigen religiösen Gemälden bestand wegen des protestantischen Bekenntnisses nicht. Da die meist kleinformatigen und dementsprechend mobilen Bilder oft nicht auf Bestellung, sondern für den freien Markt und einen sich beständig erweiternden Kreis an bürgerlichen Sammlern geschaffen wurden, entwickelte sich sowohl ein reger Kunsthandel als auch das Ausstellungswesen.

El Greco

El Greco war ein Maler griechischer Herkunft und Hauptmeister des spanischen Manierismus und der ausklingenden Renaissance. Er war auch als Bildhauer und Architekt tätig. Seine künstlerische Arbeit begann auf Kreta mit der Ausbildung zum Ikonenmaler in der byzantinischen Tradition. Er siedelte nach Venedig über und kam mit der Kunst Tizians in Berührung, bevor er sich in Rom niederließ. Anschließend gelangte El Greco auf ungeklärte Weise nach Spanien und zog nach Toledo. Trotz einiger Konflikte konnte er sich dort durchsetzen und blieb bis zu seinem Lebensende.

El Greco malte hauptsächlich Bilder mit religiösen Themen und Porträts. Hinzu kommen einige wenige Landschaften und Genrebilder. In Venedig und Rom adaptierte er westliche Bildthemen und künstlerische Techniken. So wandte er sich der Ölmalerei und Leinwänden als Malgrund zu. Gegen Ende seines Italienaufenthaltes fand El Greco zu einer starken Körperlichkeit seiner Figuren, was sich in Spanien fortsetzte. Dort arbeitete er an großen Altarprojekten und fertigte Porträts einflussreicher Personen an. Für seine Altarbilder entwarf El Greco oft auch das architektonische Rahmenwerk. Seine Malerei entwickelte sich weg vom Naturalismus hin zu einem Individualstil, indem er versuchte, einen neuen Ausdruck für spirituelle Phänomene zu suchen, und sich in seinem Spätwerk zunehmend auch wieder auf seine Herkunft als Ikonenmaler bezog. El Greco bereicherte die katholische Bilderwelt um neue Themen und um eine Neuinterpretation bekannter Ikonographien. Seine Kunst wurde weniger vom Adel gefördert, sondern von Intellektuellen, Geistlichen und Humanisten unterstützt.

Die Rezeption El Grecos fiel über die Zeit sehr unterschiedlich aus. Mit seinem Individualstil ging er einen sehr eigenen Weg, der von der Entwicklung der Malerei in Spanien weitestgehend unabhängig war. Nach seinem Tod wurde seiner Kunst wenig Wertschätzung zuteil und sie wurde zum Teil gar nicht beachtet. Eine langsame Wiederentdeckung El Grecos setzte im 19. Jahrhundert ein, um 1900 hatte er dann seinen Durchbruch. Dieser war weniger von der Kunstwissenschaft getragen, sondern von Schriftstellern, der Kunstkritik und der künstlerischen Avantgarde. Er wurde von Künstlern der Moderne, besonders des Expressionismus, als ein wichtiger Bezugspunkt gesehen und in Werken rezipiert. Zudem wurde er von spanischen Künstlern und Intellektuellen zur Stärkung der nationalen Identität herangezogen.

Das früheste heute noch bekannte und von El Greco mit seinem bürgerlichen Namen signierte Werk ist ein Motiv der Entschlafung Mariens. Das 1567 gemalte Bild hängt seit etwa 1850 in der gleichnamigen Kirche von Ermoupoli auf der Insel Syros.

1568 war El Greco in Venedig anwesend, was durch einen Brief vom 18. August 1568 belegt ist. In ihm teilt er mit, dass er Zeichnungen an den griechischen Kartographen Giorgio Sideris, genannt Calapodas, geschickt habe. Sideris gehörte zu jenen Intellektuellen, die den langsamen Aufstieg El Grecos unterstützt hatten. Es ist möglich, dass der Kartograph sogar den Anstoß für die Übersiedlung nach Venedig gegeben hat. In der Forschung wird angenommen, dass El Greco bereits im Frühjahr oder Sommer des Jahres 1567 nach Venedig aufgebrochen war.

Er hielt sich in Venedig drei Jahre lang auf und malte dort zahlreiche Bilder. Sie verbindet vor allem, dass El Greco sich in ihnen den einheimischen Künstlern wie Jacopo Bassano, Jacopo Tintoretto und Tizian annäherte. An die Stelle des Goldgrundes setzte El Greco nun einen perspektivischen Raum, wobei er etwa auf Architekturtraktate wie das von Sebastiano Serlio zurückgriff. Zudem gab er die Temperamalerei auf, wandte sich der im Westen seit Jan van Eyck verbreiteten Ölmalerei zu und begann, Leinwände als Bildträger zu verwenden. Dennoch legte er bis zu seinem Lebensende viele seiner Gemälde noch mit Temperafarben an, vollendete sie dann jedoch mit Ölfarben. Für die Lichtgestaltung und Farbwahl El Grecos war der Aufenthalt in Venedig prägend.

Im Jahre 1570 wies der Miniaturmaler Giulio Clovio seinen Mäzen Alessandro Farnese in Rom auf ein heute verlorenes Selbstporträt El Grecos hin, das die römischen Künstler erstaunt hätte, und empfahl, den Künstler in der Villa Farnese aufzunehmen. Er legte El Greco seinem Mäzen als Schüler Tizians ans Herz. Dieser malte daraufhin ein Porträt Clovios, das vielleicht als Gegenleistung für die Empfehlung gedacht war. Im Palazzo Farnese lernte er etwa den bedeutenden Humanisten und Bibliothekar Fulvio Orsini kennen, in dessen Sammlung sich später sieben Werke El Grecos befanden. Möglicherweise lernte er über Orsinis Freund Pedro Chacón zudem den kirchlichen Würdenträger Luis de Castilla aus Spanien kennen, mit dem El Greco in der Folge eine enge Freundschaft verband.

Im Haus der Farnese war El Greco wenig beansprucht, da dort vor allem Freskomaler gebraucht wurden. Zwar wurde die Mitarbeit eines griechischen Malers an den Fresken überliefert, es lässt sich ihm aber kein Werk zuordnen. El Greco suchte sich mit seinem verlorenen Selbstporträt, dem Porträt Clovios und weiteren Werken seine eigene Marktnische als Bildnismaler. Mit innovativen Bildnissen und anderen Bildexperimenten wie dem Genrebild eines eine Kerze entzündenden Jungen machte er sich einen Namen in den Kreisen römischer Gelehrter und Intellektueller. Auch suchte er in anderen Gattungen nach Anerkennung, musste sich in Rom jedoch der Konkurrenz vieler hochrangiger Maler stellen, die in der Tradition Michelangelos wirkten. Um sich abzusetzen und seine Fremdheit als Stärke zur Geltung zu bringen, berief sich El Greco auf Tizian. In diesem Kontext steht auch die von Mancini überlieferte Anekdote, nach der El Greco dem Papst angeboten habe, das kritisierte Jüngste Gericht von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle zu übermalen. Daraufhin habe er aufgrund der Kritik der römischen Maler die Stadt verlassen müssen.

El Greco wurde aus dem Haus Farnese entlassen und beschloss, eigene Wege in Rom zu gehen. Am 18. September 1572 entrichtete er die zwei Scudi Aufnahmegebühr und trat somit der römischen Lukasgilde unter dem Namen Dominico Greco bei. Er eröffnete in der Folge eine eigene Werkstatt in Rom, wobei er zuerst von dem Sieneser Maler Lattanzio Bonastri da Lucignano unterstützt wurde. Etwas später trat Francesco Prevoste, der El Greco auch später nach Spanien begleitete, der Werkstatt bei. Über die Zeit von September 1572 bis zum Oktober 1576 liegen keine Dokumente vor, die Hinweise geben könnten, was El Greco in dieser Zeitspanne tat. Auch weshalb er Italien verließ, ist nicht bekannt.

Für den Oktober 1576 ist die Anwesenheit El Grecos in Spanien nachgewiesen – wie er dorthin gelangte, ist nicht bekannt. Zwischen Rom und Spanien bestanden damals enge Kontakte. In Rom hielten sich viele Spanier auf, und zahlreiche italienische Künstler zog es auf die Iberische Halbinsel. Während seines Aufenthaltes bei den Farneses konnte El Greco Kontakte zu Spaniern wie zum Beispiel Luis de Castilla knüpfen. Über de Castilla erhielt El Greco mehrere Aufträge in Toledo, vor allem in der Anfangszeit seines Spanienaufenthaltes. Auf Vermittlung von Diego de Castilla, dem Vater seines Freundes und Dekan der Kathedrale, schuf er einen Altar für das Kloster des hl. Dominikus von Silos in Toledo. Er gestaltete nicht nur das Bildprogramm, das mit der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel als zentralem Bild zur Begräbniskapelle passte, sondern entwarf auch die Architektur des Retabels, seines plastischen Schmucks und des Tabernakels.

Ebenfalls auf Vermittlung Diego de Castillas hin, der aber in diesem Fall nicht allein verantwortlich war, malte El Greco Christus wird seiner Kleider beraubt für die Kathedrale von Toledo. Dabei kam es zum Konflikt um den Preis und die Gestaltung des Gemäldes, wie es ihn in der Folge auch bei weiteren Gemälden gab. Der Gemäldepreis wurde in Spanien zu dieser Zeit nach Vollendung des Gemäldes durch vom Künstler und vom Auftraggeber beauftragte Gutachter festgesetzt. El Grecos Vertreter schlug den hohen Preis von 900 Dukaten vor, während die Vertreter der Kathedrale nur 227 Dukaten zahlen wollten. Die große Abweichung wurde damit erklärt, dass es Kritik am Bild gegeben habe. Üblicherweise hätte El Greco die Kritik nacharbeiten müssen, er weigerte sich jedoch, weil er sich als Schöpfer seiner Werke und nicht als bloßes ausführendes Organ seiner Auftraggeber sah. Der Konflikt ergab sich somit aus der unterschiedlichen sozialen Stellung des Malers in Italien und Spanien. Im September 1579 gab es in diesem Streitfall eine erste Einigung auf 317 Dukaten, die jedoch nicht lange hielt. 1585 gab es einen weiteren Kompromiss, nach dem El Greco auch den Rahmen gestalten sollte. Dass der Rahmen in diesem Zusammenhang höher bewertet wurde als das Gemälde, lag in dem gegenüber der Malerei höheren Status der Skulptur im Spanien dieser Zeit. An der Ikonographie des Bildes veränderte El Greco im Laufe dieser Zeit nichts, obwohl das Bild weiterhin in der Hauptkirche des Bistums hing.

Zwischen 1577 und 1579 malte El Greco die Anbetung des Namen Jesu, mit der er sich bei König Philipp II. empfehlen wollte. In diesem Bild brachte er den König auch direkt als Figur ein.

In den Jahren 1580 bis 1582 malte El Greco Das Martyrium des heiligen Mauritius als Probebild für die Kirche des Escorial, um nach seinen Erfolgen in Toledo auch in Madrid bei Hofe Fuß zu fassen. In dieser Situation vollzog El Greco einen Stilwechsel vom Naturalismus hin zu einer Malerei, in der er nach gestalterischen Ausdrucksmöglichkeiten für Spiritualismus suchte. Der König verfolgte mit dem Bau des Escorial die Absicht, die Ideen des von ihm mitgeprägten Konzils von Trient umzusetzen. Zu diesem Zweck wollte er eigentlich Juan Fernández de Navarrete mit der Gestaltung sämtlicher Altäre betrauen. Navarrete starb jedoch, so dass neue Maler gesucht werden mussten. Vielleicht aufgrund des ersten Bildes, mit dem sich El Greco am Hof empfehlen wollte, der Anbetung des Namen Jesu, fasste der König dann den Griechen als möglichen Ersatz ins Auge. El Greco lieferte zwar ein kunstvolles Bild, doch es widersprach in seiner Wendung gegen den Naturalismus den Idealen des Konzils.

Dieses Werk wurde zwar gut bezahlt und es kam nicht zu Korrekturen, dennoch erhielt El Greco keine weiteren königlichen Aufträge, da Philipp II. das Bild als für den Bestimmungsort ungeeignet empfand. Statt an dem geplanten Ausstellungsort auf dem Altar der Escorialkirche wurde das Bild an einem weniger prominenten Ort in der Kirche aufgehängt. Philipp II. erteilte Romulo Cincinato den Auftrag, ein Bild zum gleichen Thema anzufertigen. Dieser orientierte sich an der Komposition El Grecos, veränderte jedoch deren Schwerpunktsetzung. Das Verhalten des Königs zeigte die aufkommende Unterscheidung zwischen Altar- und Sammlerbild. Insgesamt steht dieses Vorgehen den Anekdoten und Berichten über den starken Einfluss der Inquisition auf die Kunstproduktion in Spanien entgegen. Gerade mit Unterstützung aufgeschlossener Kirchenkreise konnte der Grieche El Greco in Spanien barocke Bildideen entwickeln, die sich andernorts erst im 17. Jahrhundert durchsetzen konnten.

El Greco hatte zweimal Kontakt mit der Inquisition. Im ersten Fall arbeitete er an neun Terminen zwischen Mai und Dezember 1582 als Übersetzer bei einem Verfahren gegen einen griechischen Diener, der wegen Häresie angeklagt, jedoch freigesprochen wurde. Der zweite Kontakt hatte direkt mit El Greco und seiner Kunst zu tun. Nach dem Fehlschlag am Hof suchte der Maler unter der Geistlichkeit von Toledo neue Mäzene. Sein Probebild war das Porträt eines Kardinales, das Fernando Niño de Guevara zeigte, der um 1600 Großinquisitor in Toledo war.

Die Zurückweisung in Madrid verstärkte El Grecos Bindung an Toledo. Im Jahre 1589 wurde El Greco in einem Dokument als Bürger der Stadt bezeichnet. Am 18. März 1586 erteilte der Priester seiner eigenen Pfarrei den Auftrag für das Gemälde Das Begräbnis des Grafen von Orgaz. Zwischen 1596 und 1600 malte El Greco das Retabel für das Augustinerkolleg der Doña María de Aragón in Madrid. Für dieses Werk erhielt er mit 6000 Dukaten den höchsten Preis, den er je für ein Gemälde erzielen konnte.

Am 9. November 1597 erhielt El Greco den Großauftrag, die Capilla de San José in Toledo auszugestalten, seinen bedeutendsten Auftrag in Toledo nach Santo Domingo el Antiguo. Der Vertrag umfasste die beiden Altargemälde sowie die Gestaltung und Vergoldung des Rahmens. Sein Sohn, der für ihn in diesem Jahr zu arbeiten begann, tauchte als Name in einem Dokument auf, in dem er sich verpflichtete, im Falle des Todes seines Vaters ein Werk zu vollenden. Ab 1603 findet sich der Sohn häufiger in Dokumenten zum Werkstattbetrieb.

Trotz zahlreicher gut dotierter Aufträge befand sich El Greco oft in ökonomischen Schwierigkeiten, da er einen sehr gehobenen Lebensstil pflegte. So beschäftigte er zeitweise Musikanten, die ihn während der Mahlzeiten unterhielten. Zwischen 1603 und 1607 gab es Konflikte um das Bildprogramm für das Hospital de la Caridad in Illescas. Der Vertrag enthielt für El Greco ungünstige Konditionen, so dass ihm kaum seine Kosten erstattet wurden und ein Prozess notwendig wurde. Kritik rief unter anderem hervor, dass unter dem Schutzmantel der Madonna reiche Bürger anstatt arme gezeigt wurden. Nach dem Tod El Grecos wurden aus diesem Grund die Halskrausen übermalt. In dieser Zeit bildete er Luis Tristán aus, der nach El Grecos Tod zum bedeutendsten Maler von Toledo wurde und zwischen 1603 und 1606 als Schüler in El Grecos Atelier nachweisbar ist. 1607 übernahm El Grecos Sohn an Stelle des verstorbenen Prevoste eine leitende Position im Atelier. Vater und Sohn erhielten von der Erzdiözese Toledo Aufträge, die Ausstattung von Kirchen auf die Orthodoxie ihrer Bildprogramme zu untersuchen. Im Anschluss konnten sie sich mehrmals lukrative Aufträge sichern.

Im folgenden Jahr übernahm El Greco von Pedro Salazar de Mendoza den Auftrag für drei Altarbilder für das Hospital de Tavera. Dieses Werk blieb jedoch unvollendet. 1611 besuchte Francisco Pacheco El Greco in Toledo. Er fertigte sowohl ein Porträt des Malers als auch eine Biographie an, die in seinem Buch über berühmte Maler erschien. Beide Zeugnisse sind heute verschollen. In seinem 1649 erschienenen Buch El arte de la pintura veröffentlichte Pacheco Informationen über die Arbeitsweise und künstlerischen Ideen El Grecos. Von ihm wurde überliefert, dass El Greco auch als Theoretiker arbeitete. Am 7. April 1614 starb El Greco. Luis de Castilla regelte in der Folge seinen Nachlass. Zum Zeitpunkt seines Todes war El Greco hoch verschuldet. Er hinterließ kein Testament, was zur damaligen Zeit ungewöhnlich war.

El Greco wurde zunächst im Kloster des hl. Dominikus von Silos bestattet, wo er 1612 die Einrichtung einer Begräbniskapelle mit Altar und dem Altarbild der Anbetung der Hirten vereinbart hatte. 1618 starb Luis de Castilla, der Patron des Klosters, und in der Folge kam es mit den Nonnen zum Streit über den Preis. Deshalb ließ der Sohn El Grecos dessen Leichnam 1619 nach San Torcuato umbetten. Diese Kirche wurde später abgerissen, wobei die sterblichen Überreste El Grecos verlorengingen.

Jorge Manuel Greco erstellte ein Inventar des Besitzes seines Vaters, worunter sich 143 meist fertige Gemälde, unter anderem drei Laokoon-Versionen, 15 Gipsmodelle, 30 Tonmodelle, 150 Zeichnungen, 30 Pläne, 200 Druckgrafiken und über 100 Bücher befanden.

El Greco malte viele religiöse Bilder und Porträts. Hinzu kamen einige wenige Genrebilder und Landschaften. Von seinen Zeichnungen haben sich nur wenige Exemplare erhalten. Sein Werk lässt sich in drei geographisch definierte Phasen unterteilen. Seine Anfänge auf Kreta waren in der Forschung lange umstritten. Heute ist es kunsthistorischer Konsens, dass El Greco dort seine künstlerische Laufbahn als Ikonenmaler begann. Die zweite Phase ist seine Zeit in Italien, wo er westliche Techniken und Kompositionen adaptierte. Er arbeitete in Venedig und Rom, bevor er nach Spanien übersiedelte. Dort fand er zu seinem eigenständigen Stil und schuf seine Hauptwerke.

El Greco war ein technisch versierter Künstler, der hochwertige Materialien verwendete. Deshalb befinden sich seine Werke in der Regel in einem guten Erhaltungszustand. Er behielt von jedem Bild eine kleinformatige Ölreproduktion in seiner Werkstatt und griff Motive zu verschiedenen Zeiten erneut auf. Sein Beitrag zur künstlerischen Reform der katholischen Bilderwelt lag vor allem in der Formulierung neuer Bildthemen und Ikonographie und in der Abwandlung bereits bekannter Motive. Zudem experimentierte er mit einer neuen Bildsprache. Für sie besann er sich im hohen Alter erneut auf seine Wurzeln in der östlichen Ikonenmalerei und verknüpfte diese mit seinen westlichen Erfahrungen zu einem erfolgreichen Individualstil. El Greco maß der Zeichnung im Arbeitsprozess wohl eine wichtige Bedeutung zu. So ist es nicht verwunderlich, dass sich 1614 im Inventar seines Nachlasses 150 Zeichnungen befanden. Jedoch haben sich nur sehr wenige Zeichnungen El Grecos erhalten, da diesem Medium auf der Iberischen Halbinsel keine Bedeutung zugemessen und somit keine große Aufmerksamkeit geschenkt worden war.

Das früheste bekannte Gemälde El Grecos ist ein Marientod, den er um 1567 gemalt hat und der heute in der Kirche der Entschlafung Mariens in Ermoupoli auf der Insel Syros zu sehen ist. Er signierte das Gemälde mit Domenikos Theotokopoulos. Der Marientod lässt in seiner Konzeption erkennen, dass El Greco als Ikonenmaler ausgebildet worden war, jedoch löste er sich bereits von den typisierten Vorbildern, den zweidimensionalen und gleichen Formen folgenden Figuren samt Kleidung und dem aus dem Inneren der Form kommenden Licht. Die vom Heiligen Geist ausstrahlende Lichtaureole, in deren Zentrum sich eine Taube befindet, verbindet die schlafende mit der thronenden Madonna. Zudem neigt sich Christus in einer zärtlichen Geste. Ein weiteres auffälliges Detail sind die drei Kandelaber, die sich im Vordergrund befinden. Der mittlere weist an seiner Basis Karyatiden auf, die auf eine druckgraphische Vorlage verweist. Diese Bildelemente waren eigene künstlerische Beiträge des Malers, die über den bestehenden Bildtypus hinausgingen. Dass er das Bild signierte, war zudem ungewöhnlich, da Ikonen in der Regel nicht signiert wurden. Damit unterstrich er seinen humanistischen Anspruch und seine weiter gehenden künstlerischen Ambitionen.

Ein weiteres Bild aus seiner kretischen Phase ist Der Heilige Lukas malt eine Ikone der Jungfrau mit dem Kind, das zwar stark beschädigt ist, aber immer noch Teile seiner Signatur trägt. Das zentrale Motiv des Evangelisten Lukas und der Maria in der Form einer Hodegetria malte El Greco in traditioneller byzantinischer Weise, während er in den Randmotiven neue Motive einführte wie etwa Malerwerkzeug, Renaissancestuhl und malerisch umgesetzte Engel. Die bekannten Werke, die El Greco auf Kreta schuf, weisen alle eine hohe künstlerische Qualität auf mit ihrer Lichtführung und dem starken Ausdruck. Zudem haben sie alle freihändige Vorzeichnungen.

Die erste Werkphase war lange Zeit umstritten, da El Greco als Ikonenmaler nicht in den westlichen Kunstkanon passte. Zudem gab es auf Kreta zwei weitere Maler namens Domenikos. Erst als der Marientod gefunden wurde, der auch den Nachnamen Theotokopoulos trug, gab es ein eindeutiges Referenzwerk, das stilistische Vergleiche zweifelsfrei zuließ. In der aktuellen Forschung ist der Beginn der künstlerischen Laufbahn auf Kreta allgemein anerkannt.

In Venedig wandte El Greco sich der Ölmalerei zu und verwendete Leinwände als Bildträger. Wie dort üblich nutzte er grobe Leinwände, die mit ihrer plastischen Textur expressive Wirkungen unterstützten. Zuerst trug er eine dünne weiße Grundierung auf, über die er nochmals eine zweite Grundierung auftrug, die rosa bis dunkelrot gefärbt war. Dann trug er mit einem Pinsel und schwarzer Farbe die Konturen der Figuren als Vorzeichnung auf und setzte zudem mit Weiß Lichtpunkte und mit Schwarz und Karmin die dunkelsten Stellen über die ganze Bildfläche. Erst in einem weiteren Schritt wurde in einem komplexen Verfahren der eigentliche Farbauftrag vorgenommen. Die Formate blieben aber weiterhin eher klein, was auch der Auftragslage El Grecos geschuldet gewesen sein kann. Technisch blieb El Greco venezianisch geprägt.

Am Übergang zwischen seiner byzantinischen und venezianischen Malweise steht der als Modena-Triptychon bekannte Tragealtar, dessen Auftraggeber wahrscheinlich aus einer kreto-venezianischen Familie stammte. Der Objekttypus mit den vergoldeten Rahmenteilen war im 16. Jahrhundert auf Kreta üblich, die Ikonographie ist jedoch deutlich westlich geprägt. Der Altar trägt die Signatur El Grecos und ist somit ein wichtiges Referenzwerk für die Beurteilung von Werken aus dieser Zeit.

El Greco malte im Laufe seines Lebens mehrmals dasselbe Thema zu verschiedenen Zeiten. An diesen Bildern ist seine künstlerische Entwicklung nachvollziehbar. So malte er die erste Version der Blindenheilung in Venedig noch auf Holz. In ihr bezog er sich auf Bilder Tintorettos, aus denen er die Aufteilung in zwei Figurengruppen, den Fernblick und den in venezianischen Bildern beliebten Hund im Vordergrund entlehnte. Die Posen der Figuren beziehen sich auf verschiedene Druckgraphiken, die El Greco als Vorlagen nutzte. Die zweite Version entstand wahrscheinlich bereits in Rom und wurde auf Leinwand gemalt. Im Hintergrund ergänzte El Greco Ruinen, die Figuren ähnelten mehr antiken Skulpturen und Michelangelos Akten. Der nur leicht mit einem Tuch bekleidete Mann ähnelt dem Herkules Farnese.

Zwar blieb El Greco in seinem Schaffen zeit seines Lebens venezianischen Einflüssen treu; er nahm jedoch zum Ende seines Romaufenthaltes und zu Beginn seines Aufenthaltes in Spanien Bezüge zu Michelangelo auf. So malte er in den frühen 1570er-Jahren eine Pieta auf Holz, die sich auf Michelangelos um 1550 entstandene Skulpturengruppe Pieta di Palestrina in Florenz bezog. Im Gegensatz zum Vorbild stellte El Greco an die Spitze der Komposition Maria. Er verlieh dem Bild eine Dramatik, die sich bis dahin nicht in seinen Werken fand und schon stärker in Richtung Barock wies. Die Christusfigur hatte für El Grecos Werke eine ungewöhnliche Körperlichkeit. Eine weitere Version der Pieta malte er auf Leinwand. Sie wirkt noch monumentaler und die Gewänder stärker ausgearbeitet, auch wenn sie am rechten Arm noch Probleme mit den Proportionen erkennen lässt. Formal hat das Gemälde bereits Parallelen zu den frühen in Spanien entstandenen Werken. Dass es aber dort entstanden sein soll, wird jedoch in der Forschung abgelehnt.

Diese Entwicklung zur Körperlichkeit setzte El Greco in seinen ersten Aufträgen in Toledo fort. Dies ist am Altar für das Monasterio Santo Domingo el Antiguo in Toledo nachvollziehbar. Passend zur Aufstellung in der Begräbniskapelle ist das zentrale Bild eine Himmelfahrt Marias, das von den ganzfigurigen Bildern Johannes der Täufer und Johannes der Evangelist eingefasst wird, sowie den Brustbildern Heiliger Bernhardt und Heiliger Benedikt. Im Giebelfeld befindet sich ein Bild des Schweißtuchs der Veronika und im folgenden Stockwerk mit der Heiligen Dreifaltigkeit ein weiteres großformatiges Bild. Der Hauptaltar wird von einer Anbetung der Hirten und der Auferstehung Christi als kleineren seitlichen Retabeln gerahmt. Dieser Altar war ein deutlich größerer Auftrag als seine von Kreta oder aus Italien bekannten Gemälde.

El Greco bereitete die Arbeiten gründlich mit Vorzeichnungen vor. Eine Vorzeichnung von Johannes dem Täufer und zwei von Johannes dem Evangelisten haben sich erhalten. In den ersten Entwürfen positionierte er die beiden in Nischen und der Evangelist war im Profil dargestellt und blickte auf die Himmelfahrt. In der zweiten Zeichnung positionierte der Künstler ihn bereits so, wie er auch gemalt wurde. Bei der endgültigen Ausführung verzichtete El Greco jedoch auf den in der Zeichnung als Symboltier beigefügten Adler.

Unter dem Einfluss Michelangelos fand El Greco zu einem sehr naturalistischen Stil mit monumentalen Figuren. Zudem folgte seine Farbwahl der römischen Schule und verlieh etwa der Himmelfahrt Marias eine große Leuchtkraft, während er bei der Heiligen Dreifaltigkeit die kontraststarken kalten Farbtöne Grün, Gelb und Blau verwendete und zudem Weiß in einer dominierenden Rolle im Bildzentrum einsetzte. Das architektonische Rahmenwerk, das El Greco entwarf, weist klare klassizistische Formen auf.

Mit dem Martyrium des Heiligen Mauritius aus den Jahren 1580 bis 1582 vollzog El Greco den Wechsel vom Naturalismus hin zu einer Malerei, in der er nach einem gestalterischen Ausdruck für spirituelle Phänomene suchte. In den 1580er-Jahren wandte er sich immer mehr von den Regeln der Renaissance für Proportion und Perspektive ab. Statt lebende Modelle zu studieren, begann El Greco wie Tintoretto mit Tonmodellen zu arbeiten. Er ließ dem Licht eine deutlich stärkere symbolische Funktion zukommen, statt es bloß in natürlicher Weise zu verwenden. So entstanden starke Hell-Dunkel-Kontraste. Die verwendeten Farben wurden deutlich expressiver. Statt wie üblich den Fokus der Darstellung auf das Martyrium zu legen, zeigte El Greco vor allem das von rhetorischen Gesten begleitete Gespräch in Anlehnung an eine Sacra Conversazione. Der Stilwechsel wurde von El Greco auch in anderen Werken dieser Zeit vollzogen.

Eines seiner bekanntesten Gemälde schuf El Greco mit dem Begräbnis des Grafen von Orgaz, das er 1586 bis 1588 malte und das später zu einem Hauptwerk zum Studium des Malers wurde. Das Bild ist in zwei Zonen aufgeteilt. Im unteren Teil stellte El Greco die Begräbnisfeier dar, die einem Begräbnis wie zu dieser Zeit in Toledo üblich nachempfunden worden war. Der Adelige wird von den Heiligen Stephanus und Augustinus in das Grab gelegt, womit sich der Künstler auf die Legende zum Begräbnis bezog. Rechts liest wahrscheinlich der Auftraggeber das Requiem. Die obere Zone zeigt den Himmel, in den die Seele des Verstorbenen als Kind von einem Engel eingeführt wird, die dem Weltenrichter sowie Johannes und Maria als seine Fürsprecher und weiteren Heiligen gegenübertritt. In diesem Bild verwendete El Greco Licht nur noch als symbolisches Element. Im Himmel malte er ein unruhig erscheinendes Streiflicht. Die untere Hälfte ist dagegen gut ausgeleuchtet wie eine Bühne, die dortigen Fackeln haben keine reale Lichtwirkung. Das Gemälde nimmt zum einen auf eine historische Begebenheit, die religiös verklärt wurde, Bezug, ist zum anderen aber auch ein Gruppenporträt.

Ein Beispiel für ein von El Greco entwickeltes neues ikonographisches Thema ist die reuige Heilige in Halbfigur, das bereits in den folgenden Barock verweist. Eine einzelne Heiligenfigur wurde isoliert und monumental dargestellt und bot dem Betrachter die Möglichkeit, die Figur als gefühlsmäßigen Ansprechpartner zu sehen. Diese Bilderfindung kann als revolutionär eingeschätzt werden. Beispiele sind etwa Die büßende Magdalena, die im Gegensatz zu dem gleichnamigen Bild Tizians jedoch ohne erotische Bezüge auskommt, oder Der reuige Heilige Petrus. Ebenso populär waren Bilder des Heiligen Franziskus. El Greco malte Franziskus nicht wie bis dahin üblich beim Empfang der Wundmale Christi, sondern bei der Reflexion mit einem Totenkopf. Von dieser Bildidee gibt es noch etwa 40 erhaltene Versionen. Pacheco lobte, dass El Greco die in den Chroniken überlieferte Gestalt des Ordensgründers besonders gut dargestellt habe. Die Vielzahl der Bilder dieses Themas lag in der Popularität des Franziskus in Spanien begründet. Zudem setzte El Greco, wie er es aus Italien kannte, auf die druckgraphische Verbreitung, um seine Komposition zu popularisieren. Er ließ das Franziskus-Gemälde von seinem Schüler Diego de Astor nachstechen.

Neben neuen Bildideen erneuerte El Greco die katholische Bilderwelt mit stilistischen Innovationen. Zum einen bezog er sich auf seine Wurzeln als kretischer Ikonenmaler wie beim Das Begräbnis des Grafen von Orgaz, das sich etwa in der Komposition auf den frühen Marientod bezog. Auf der anderen Seite zeigt sich bei einer späten Version der Tempelreinigung von 1610 bis 1614 eine hohe Abstrahierung von der Naturbeobachtung. Die Bewegung und das Licht sind in solchem Maße gesteigert, dass sie teils als „expressionistisch“ charakterisiert wurden. Das Visionäre von El Grecos Kunst lässt sich auch in dem Gemälde Die Öffnung des fünften Siegels, das die Vision des Evangelisten Johannes zum Thema hat und ein Fragment eines späten Altarprojekts war, entdecken. Im Gegensatz zu anderen Bildern, die diese Vision thematisieren, integrierte El Greco den Heiligen in das Bild und verschob somit die Bedeutung von der Darstellung des erschienenen Ereignisses hin zum Moment der Erscheinung selbst.

In diesem Bild erreichte die Entmaterialisierung der Form bei El Greco ihren Höhepunkt. Erst 1908 wurde die Thematik des Bildes erkannt und hat sich in seiner Bestimmung durchgesetzt. Zuvor existierten zahlreiche Interpretationen. Der obere Teil des Gemäldes ist verloren und die Stellung im geplanten Gesamtensemble ist nicht zu rekonstruieren. Visionen, wie hier eine von El Greco gemalt wurde, sind ein häufiges Thema in der spanischen Barockmalerei. Deshalb ist dieses Gemälde kein isoliertes Werk, sondern steht im Kontext der spanischen Malereientwicklung und verwies auf sie voraus.

Zwischen 1610 und 1614 malte El Greco drei Versionen des Laokoon, die sein Atelier nicht verließen und nach seinem Tod im Inventar verzeichnet wurden. Nur eine Version ist erhalten geblieben. Es handelt sich um das einzige mythologische Werk El Grecos und steht in einer reichen Bildtradition, die auf Vergils Aeneis und auf der 1506 in Rom entdeckten Plastik des Laokoon basierte. Das Bild konnte der Künstler vor seinem Tod nicht mehr fertigstellen, weshalb die Figuren am rechten Bildrand nicht vollständig ausgeführt wurden. Bei einer Restaurierung wurden 1955 die Pentimenti freigelegt, so dass nun ein dritter Kopf und ein fünftes Bein in der rechten Figurengruppe zu sehen sind. Diese Figuren wurden unterschiedlich interpretiert, unter anderem als Adam und Eva, womit El Greco eine Synthese von Mythos und Religion geschaffen hätte. An Stelle Trojas setzte der Maler seine Heimatstadt Toledo ins Bild.

El Greco war ein anerkannter Porträtmaler. Seit seinem Aufenthalt in Italien bis in seine letzten Lebensjahre fertigte er Bildnisse an, die ihm ein regelmäßiges Einkommen sicherten. Kurz nach seiner Übersiedlung nach Rom um 1570 malte er das Porträt von Giulio Clovio, das den anerkannten Miniaturmaler als Halbfigur mit dem Stundenbuch der Farnese in seiner Hand zeigt. Das Fenster am rechten Bildrand zeigt einen Ausblick auf eine Landschaft mit stürmischem Himmel. Das Querformat dieses Porträts ist ungewöhnlich für ein Porträt.

Eines der herausragendsten Beispiele für El Grecos Bildnismalerei ist das Ganzfigurenporträt des Malteserritters Vincenzo Anastagi, das 1571–1576 entstanden ist. Der Ritter ist mit samtener Pluderhose und Brustpanzer vor einem dunklen Vorhang dargestellt. Der Raum, in dem ein Helm auf dem Boden liegt, ist sehr kahl und durch das Licht modelliert. Ein weiteres Porträt aus dieser Zeit, das El Greco zugeschrieben wird, ist das Bildnis von Charles de Guise, Kardinal von Lothringen aus dem Jahr 1572. Der sitzende Kardinal hält mit seiner rechten Hand ein Buch offen, in dem das Entstehungsjahr und das Alter des Dargestellten angegeben sind. Der Papagei im Fenster soll die Ambition des Kardinals auf das Amt des Papstes aufzeigen. In Toledo malte El Greco um 1600 mit Ein Kardinal (der Großinquisitor Fernando Niño de Guevara) ein sehr ähnliches Gemälde. Der Porträtierte trägt eine Bügelbrille, die zu der Zeit sehr modern und noch umstritten war. Dieses Attribut weist den Kardinal als dem Neuen aufgeschlossen aus, ebenso wie seine Wahl, El Greco als Künstler zu engagieren.

In Toledo war El Greco ein bedeutender Porträtmaler, der künstlerisch herausragend arbeitete. Das Bildnis eines Edelmannes mit der Hand auf der Brust aus den Jahren 1583 bis 1585 hat eine in der venezianischen Tradition stehende sehr reiche Farbigkeit des Hintergrundes und der Kleidung. El Greco nutzte für das Bild im Gegensatz zu den Madrider Hofmalern eine offene Malweise in der Tradition von Tizian, bei der im vollendeten Bild der Pinselstrich noch immer erkennbar ist. Die Haltung des Dargestellten mit seiner Schwurgeste ist streng. El Greco verzichtete abgesehen vom goldenen Knauf des Degens gänzlich auf Symbolik. Er porträtierte wichtige Persönlichkeiten Toledos wie den Mönch Hortensio Félix Paravicino y Arteaga, Antonio de Covarrubias und Jerónimo de Cevallos. In seinem Spätwerk findet sich zudem das Porträt des Kardinal Tavera, der unter Karl V. Großinquisitor und Regierungschef von Kastilien und zum Zeitpunkt des Malens bereits über ein halbes Jahrhundert tot war.

In seinem Spätwerk fertigte El Greco einige wenige Landschaftsgemälde an und ließ Elemente aus ihnen in andere Werke einfließen. So malte er in den Jahren 1597 bis 1599 die Ansicht von Toledo, in der er zum einen auf die bedeutende Geschichte der Stadt und die zu dieser Zeit erfolgten städtebaulichen Neuerungen Bezug nahm. Er schuf eine eigenwillige Sicht auf die Stadt, die sich stark von anderen Darstellungen unterschied und sich nicht um historische Treue bemühte.

El Greco malte eine Sicht auf den östlichen Teil der Stadt mit dem Palast, der Alcántara-Brücke, der Burg von San Servando und dem nach rechts versetzten Glockenturm der Kathedrale. Damit steigerte er den Anstieg des Stadtberges in dramatischer Weise. Er ließ zudem die Stadtmauer weg und veränderte im Bild den Flusslauf im Vordergrund. Das höchstgelegene Gebäude auf der rechten Seite ist der Alcázar, das Gebäude unter ihm mit dem Arkadengeschoss als Abschluss entspricht keinem realen Gebäude in Toledo. Es wurde als symbolischer Verweis auf die vielen Stadtpaläste reicher Bürger gedeutet. In einem weiteren Gemälde Ansicht und Plan von Toledo, das zwischen 1610 und 1614 entstand, verlieh der Maler der Stadt eine innere Leuchtkraft, die sie von ihrer realen Existenz in die Richtung des Himmlischen Jerusalem entrückte. Auch in dem Altargemälde Der Heilige Joseph mit dem Christuskind, das zwischen 1597 und 1599 gemalt wurde, und in weiteren Heiligenbildern nahm El Greco in der Landschaft Bezug auf Toledo. Auch im Hintergrund seines Laokoons ist eine Ansicht von Toledo zu sehen.

El Greco entwarf für viele seiner Altargemälde zudem das architektonische Rahmenwerk und den Skulpturenschmuck. Damit verschaffte er sich zusätzliche Einnahmen, vor allem den Umstand nutzend, dass damals die Skulptur in Spanien höher geschätzt und besser entlohnt wurde als die Malerei. Jedoch führte er diese Skulpturen meist nicht persönlich aus, sondern beauftragte andere Bildhauer. Dennoch stellte er wohl vor allem kleinere Skulpturen in verschiedenen Techniken her, die er meist als Modelle nutzte, wie er es bei Jacopo Tintoretto kennengelernt hatte. Diese Figuren aus Gips, Wachs oder Ton waren jedoch nicht sehr haltbar und gingen im Laufe der Zeit verloren. Daneben gab es eine Holzfigur, die sich im Besitz des Sohnes befand und zu Andachtszwecken genutzt wurde.

Es sind nur wenige Skulpturen El Grecos erhalten geblieben, zu denen zudem nur wenige Erkenntnisse vorliegen. Sie bezeugen vielfältige Einflüsse und sind damit für das Werk des Künstlers charakteristisch. Zu den heute noch erhaltenen Skulpturen zählen Epimetheus und Pandora, die zwischen 1600 und 1610 geschaffen wurden. Als Aktfiguren sind sie für die spanische Kunst der Renaissance ungewöhnlich. Zudem war das mythologische Thema nicht üblich, entsprach jedoch der humanistischen Bildung des Künstlers und seines Umfeldes in Toledo. Zudem wurde der Mythos von Epimetheus und Pandora zu dieser Zeit als heidnische Version von Adam und Eva interpretiert. Technisch führte El Greco sie in spanischer Tradition in polychromatischem Holz aus. Von der Gestaltung her ähneln die Figuren dem Manierismus von Alonso Berruguete, jedoch ist die Darstellung der Körper zugleich eine individuelle Gestaltungsweise El Grecos, die sich auch in seiner Malerei findet. Eine weitere erhalten gebliebene Skulptur ist ein Auferstandener Christus, den El Greco um 1595/1598 schuf. Sie war Teil des Tabernakels des Hauptaltars im Hospital de San Juan Bautista in Toledo. Die Haltung ähnelt gemalten Christusfiguren El Grecos dieser Zeit. Der männliche Akt war für das Spanien des 16. Jahrhunderts ein ungewöhnliches Sujet, wie etwa Harold E. Wethey betonte. Somit ging El Greco auch in der Skulptur seinen eigenen künstlerischen Weg.

Neben seiner künstlerischen Tätigkeit setzte sich El Greco auch mit der Kunst- und Architekturtheorie auseinander. Seine Überlegungen sind aber nur in Fragmenten als Annotationen in Büchern aus seiner Bibliothek überliefert. Sie zählen zu den wertvollsten handschriftlichen Dokumenten El Grecos. Im 17. Jahrhundert kursierte in Spanien ein Traktat El Grecos mit seinen theoretischen Überlegungen, welches der Künstler dem König präsentiert hatte. Diese Schrift ist jedoch verlorengegangen.

Die heute bekannten Überlegungen finden sich als Anmerkungen in einer Ausgabe von Giorgio Vasaris Viten und Vitruvs De architettura aus der Bibliothek des Künstlers. Insgesamt umfassen die Äußerungen El Grecos 18.000 Wörter, 7.000 zu Vasari, 11.000 zu Vitruv. Im Hinblick auf seine Position in Spanien ist bemerkenswert, dass er die religiöse Funktion der Kunst in den bekannten Äußerungen nicht behandelte. Hingegen stellte El Greco die Autonomie des Künstlers in Bezug auf die Gestaltung des Bildes heraus. Er betonte die Erkenntnisabsicht der Malerei in Hinblick auf Philosophie und Naturalismus. In seinen Anmerkungen setzte er sich von der mathematisch-theoretischen Richtung ab, die stark auf ein Studium der Proportionen abzielte. Außerdem wandte sich El Greco gegen den Klassizismus, der in der Tradition Michelangelos in Spanien populär geworden war. Die Viten forderten den Maler zur Stellungnahme heraus. Er lobte Tizian, während er Michelangelos Farbbehandlung und Raffaels starke Antikenrezeption kritisierte. Zudem lehnte El Greco Vasaris Modell des Verlaufs der Kunstgeschichte ab, das die byzantinische Kunst, aus deren Tradition El Greco selbst stammte, als plump und der italienischen Kunst unterlegen.

Die Rezeption El Grecos fiel im Laufe der Zeit sehr unterschiedlich aus. Er wurde nicht vom Adel gefördert, sondern stützte sich vor allem auf Intellektuelle, Geistliche, Humanisten und andere Künstler. Nach seinem Tod wurde seiner Kunst wenig Wertschätzung zuteil und sie wurde zum Teil gar nicht beachtet. Seine langsame Wiederentdeckung setzte im 19. Jahrhundert ein, um 1900 hatte El Greco dann seinen Durchbruch. Dieser war weniger von der Kunstwissenschaft getragen, sondern von Schriftstellern, der Kunstkritik und der künstlerischen Avantgarde.

El Greco war die herausragende Künstlerpersönlichkeit im Spanien von Philipp II. und Philipp III. Sowohl künstlerisch als auch mit seinem Auftreten, mit dem er sich als Künstler ins Zentrum seines Schaffens rückte, wirkte er revolutionär, was bei seinen Zeitgenossen zum einen Bewunderung, zum anderen aber auch Ablehnung hervorrief. Er suchte nach neuen Ausdrucksformen und reformierte die Ikonographie und die Bildthemen der religiösen Malerei. Zu seinem Lebensende hin wandte er sich in seiner Kunst wieder seinen Anfängen als kretischer Ikonenmaler zu und ließ sich damit insgesamt nur schwer in die spanische Kunst des beginnenden 17. Jahrhunderts einordnen. Selbst sein Sohn setzte seinen Individualstil nicht fort. Dennoch wirkte sein Werk als Vorbereitung des Barock.

Aufgrund seines Werkes und Auftretens war El Greco zu Lebzeiten bereits eine Berühmtheit, ihm wurde jedoch abseits seiner Porträts und seiner koloristischen und naturalistischen Werke wenig Wertschätzung zuteil. Zeitgenössische Zeugnisse stammten etwa von Alonso de Villegas, Francisco de Pisa und dem Italiener Giulio Mancini, dessen um 1615 entstandene Aufzeichnungen jedoch erst 1956 publiziert wurden. Auch Pacheco hatte El Greco in Toledo besucht. Er malte ein Porträt von ihm und schrieb eine Biographie, die jedoch beide verloren gingen. Der Mönch Hortensio Félix Paravicino y Arteaga lobte El Greco in seinem 1641 erschienenen Werk Obras postumas, divinas y humanas. In ihm befand sich ein Sonett, in dem er das von ihm geschaffene Porträt seiner selbst pries. In vier weiteren Sonetten lobte er zudem allgemein die Kunst El Grecos.

El Greco wurde bereits im 17. Jahrhundert in geringem Umfang künstlerisch in Spanien rezipiert, auch wenn sich keine Nachfolge in seinem Individualstil ausbildete. Diego Velázquez besaß drei Porträts von El Greco und lehnte sich in seiner Modellierung durch Licht an dessen Malweise an. Die römische Barockkunst nahm die Existenz der Kunst El Grecos jedoch kaum zur Kenntnis. In Spanien wurden besonders während des Klassizismus und der Aufklärung um 1800 die Werke El Grecos abgelehnt und der Künstler etwa aus dem Umfeld Goyas heraus kritisiert.

Der erste Schritt zur Aufwertung des Schaffens El Grecos war 1838 die Eröffnung der Spanischen Galerie im Louvre durch König Louis-Philippe I. In ihr wurden neun Gemälde des Künstlers präsentiert. Aber erst um 1900 wurde El Greco durch spanische Intellektuelle und Künstler, die auf der Suche nach einer nationalen Identität waren, als für Spanien typischer Maler rezipiert. Dabei nahm Ignacio Zuloaga eine führende Rolle ein. Er kopierte 1887 erste Werke El Grecos im Museo del Prado und adaptierte dann einige seiner Motive in eigenen Werken. 1905 erwarb er Die Öffnung des fünften Siegels, das er als „Vorbote der Moderne“ bezeichnete, und verwendete es als Hintergrund in seinem Bild Mis amigos, in dem er einige der wichtigsten Schriftsteller seiner Zeit porträtierte. Pablo Picasso hatte diese Wiederentdeckung El Grecos in Barcelona und Madrid selber erfahren. In seiner ersten wichtigen Arbeitsphase, der Blauen Periode, verwies sein Bild Das Begräbnis von Casagemas auf Das Begräbnis des Grafen Orgaz. Eine Zeichnung Picassos trug sogar den Titel Yo El Greco („Ich El Greco“). In der Rosa Periode griff er in seinem als Skandal aufgenommenen Gemälde Les Demoiselles d’Avignon Motive aus Die Öffnung des fünften Siegels auf. Auch in den 1950er Jahren setzte sich Picasso in seiner Kunst noch mit El Greco auseinander.

In Frankreich kopierte zudem etwa Paul Cézanne Die Dame mit dem Hermelin nach einer Reproduktion, als diese noch eindeutig El Greco zugeschrieben wurde. Julius Meier-Graefe schrieb außerdem von einer inneren Verwandtschaft zwischen Cézanne und El Greco, was in der Folge etwa von Rilke oder von Franz Marc in Der Blaue Reiter aufgegriffen wurde. Das Interesse der französischen Künstler an El Greco war insgesamt groß. Édouard Manet reiste zusammen mit Théodore Duret 1865 nach Toledo. Jean-François Millet und dann Edgar Degas besaß das Porträt Kniender Domingo. Bei Eugène Delacroix findet sich unter anderem eine Pieta, die an El Grecos Komposition angelehnt ist und die wiederum von Vincent van Gogh aufgegriffen wurde. Auch Marcel Duchamp setzte sich zum Ende seines malerischen Werkes etwa mit den Bildern Portrait (Dulcinée) und Le Printemps (Jeune homme et jeune fille dans le printemps) aus dem Jahr 1911 mit El Greco auseinander.

In Deutschland hatte Julius Meier-Graefes Buch Spanische Reise bedeutenden Einfluss auf die El-Greco-Begeisterung und beeinflusste die Künstler der Moderne. Im unter anderem von Franz Marc verantworteten Almanach Der Blaue Reiter wurde dann auch El Grecos Heiliger Johannes auf einer Doppelseite mit dem Tour Eiffel von Robert Delaunay gezeigt. Marc betont zudem den Zusammenhang zwischen der Wertschätzung für El Greco und dem Aufstieg der zeitgenössischen Kunst. Dieser ideelle Einfluss ist bei Marc deutlich stärker als ein künstlerischer Niederschlag, was auch für August Macke gilt. Die Gegenüberstellung von Delaunay und El Greco ist einschlägig, da dieser den Spanier als einen Einfluss benennt. Sein Gemälde La Ville de Paris greift die rechte Figurengruppe des Bildes Die Öffnung des fünften Siegels auf.

Im Jahre 1912 setzte sich die Befruchtung der Moderne durch El Greco im Rheinland fort. In Köln fand die Sonderbundausstellung statt, die eine besondere Bedeutung für die Avantgarde hatte, und war mit einer Hommage an El Greco verbunden. Wie viele und welche Bilder dort gezeigt wurden, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Wahrscheinlich waren es zwei im Kontext einer retrospektiven Schau mit Werken von für die Moderne wichtigen Künstlern. Zugleich wurde in der Kunsthalle in Düsseldorf die Sammlung Nemes gezeigt, in der auch die zehn Grecos ausgestellt wurden. Bei Walter Ophey, Wilhelm Lehmbruck und Heinrich Nauen, die an der Sonderbundausstellung teilnahmen, ist die Auseinandersetzung mit El Greco nachgewiesen.

Die Rezeption El Grecos setzte sich auch abseits der klassischen Moderne fort. Das Frühwerk von Jackson Pollock war von seiner Beschäftigung mit der Kunst der Renaissance beeinflusst. In den beiden umfangreichsten Zeichenbüchern aus dieser Zeit finden sich einige Skizzen nach Kompositionen von El Greco. Hinzu kommen mehr als 60 lose Blätter mit Zeichnungen nach Werken des spanischen Künstlers. Dabei verwendete er zwei verschiedene Techniken. Zum einen überführte er Kompositionen El Grecos in reduzierte Darstellungen, die die Körper in wenigen dominanten Strichen übertrugen, zum anderen fertigte er detaillierte Studien nach einzelnen Figuren an, wobei Pollock in beiden Fällen individuelle Details wie Hände und Füße wegließ. Neben den Zeichnungen fertigte Jackson Pollock zudem auch Gemälde an, die sich etwa in der Gestaltung von Licht und Schatten an El Greco anlehnten. Zugleich lehnte er aber die Bedeutung der symbolischen Komponenten der Werke El Grecos ab. Bis in die Gegenwart hinein wurde El Greco künstlerisch bearbeitet. So malte Michael Mathias Prechtl in den 1980ern Bilder, die sich mit dem Spanier auseinandersetzen. Dabei schuf er etwa das ironische Werk Das Leben des Lazarillo von Tormes, das sich auf das Porträt Ein Kardinal (der Großinquisitor Fernando Niño de Guevara) bezog, dem er eine vollbusige Frau auf den Schoß setzte. Mit Der Traum Toledo – El Grecos Begräbnis schuf Prechtl ein Bild, das er der Ansicht Toledos des Spaniers nachempfunden hatte.

Beeinflusst von Zuloaga reiste Rainer Maria Rilke 1912 nach Toledo, um dort Werke El Grecos zu sehen. Er schrieb in seinen Briefen dieser Zeit viel über El Greco, etwa an Auguste Rodin oder an die Fürstin von Taxis. Dabei beschrieb er die Begegnung mit dessen Werk als eines der größten Ereignisse dieser Jahre; seine Beweggründe für die Reise sei die Absicht gewesen, den Künstler in El Greco ohne großen Publikumsrummel in dessen Heimatstadt erfahren zu können. Der Schriftsteller Stefan Andres schildert in seiner 1936 erschienenen Novelle El Greco malt den Großinquisitor die Bedingungen von Kunst in einer Diktatur anhand des Porträts des Großinquisitors Fernando Niño de Guevara, das El Greco um 1600 malte.

Hieronymus Bosch (1450-1516) hat ein bis heute faszinierendes und nachwirkendes Gesamtwerk hinterlassen, das sich in der Interpretation jeder einfachen Deutung entzieht. Es gibt einige plausible Deutungen seiner Bilder; viele Darstellungen sind jedoch rätselhaft geblieben. Bosch selbst hat keine schriftlichen Aufzeichnungen zu seinen Werken hinterlassen.

Hieronymus und seine beiden Brüder folgten alle der Familientradition und erhielten ihre Malerausbildung zumindest zeitweise in der väterlichen Werkstatt. Außerdem arbeiteten hier noch zwei Söhne Goessens. Nach dem Tod des Vaters führte Goessen als ältester Sohn die Werkstatt weiter.

Hieronymus benannte sich nach seiner Heimatstadt, die auch Den Bosch genannt wird. In Spanien, wo einige seiner bedeutendsten Gemälde im Museo del Prado ausgestellt sind, spricht man von El Bosco.

1488 trat er der religiösen Bruderschaft Unserer Lieben Frau bei, erst als äußeres, dann als geschworenes Mitglied des elitären inneren Zirkels (etwa 60 Personen). Diese geschworenen Brüder kamen in der Regel aus der höchsten (aristokratischen beziehungsweise patrizischen) städtischen Schicht und waren alle Geistliche verschiedenen Weihegrads. Fast die Hälfte davon waren (meist weltliche) Priester, die teilweise zugleich Notare waren. Ferner gab es unter ihnen Ärzte und Apotheker sowie einige wenige Künstler (Musiker, einen Architekten und nur einen Maler: Bosch). Die Bruderschaft pflegte Kontakt zu den höchsten Kreisen des Adels, der Geistlichkeit und der städtischen Eliten in den Niederlanden. Neben dieser politisch-gesellschaftlichen Seite waren sie gleichermaßen religiös ausgerichtet und wurden von den Dominikanern betreut. In den Reihen der Brüder und durch ihre Kontakte zum Hof fand Bosch seine Auftraggeber.

Erhalten geblieben sind von Boschs Werken nur die Gemälde auf Holztafeln (wenngleich zu jener Zeit bereits auch textile Bildträger benutzt wurden) und einige Zeichnungen auf Papier. Neben der Liebfrauenbruderschaft arbeitete er für die städtische Elite und den niederländischen Hochadel. Zu seinen bedeutendsten Auftraggebern gehörten der regierende Fürst der Niederlande Erzherzog Philipp der Schöne und sein Hof. Triptychen wie Der Heuwagen und Der Garten der Lüste waren mit ihren Motiven eindeutig nicht für einen Altar gedacht, sondern zur Beeindruckung und Unterhaltung eines höfischen Publikums.

Der Garten der Lüste ist ein Triptychon. Er ist heute im Museo del Prado, Madrid zu besichtigen. Es gibt keine konkreten Hinweise auf seine Entstehungszeit; die Forschung geht davon aus, dass „Der Garten der Lüste“ um 1500 gemalt wurde.

In zugeklapptem Zustand erscheint auf der Frontseite (Außenflügel) das Bild einer durchsichtigen Weltkugel. Sie stellt den dritten Tag der Schöpfungsgeschichte dar: Gott hat Wasser und Erde voneinander getrennt und die ersten Pflanzen geschaffen. Die Innenansicht des Triptychons bietet den Blick auf den „Garten Eden“ (linker Innenflügel), den „Garten der Lüste“ (Mittelteil) und die „musikalische Hölle“ (rechter Innenflügel). Ausgeklappt misst der Triptychon 220 × 390 cm.

Im unteren Bildteil des linken Flügels hat Bosch die Erschaffung Evas nach dem biblischen Schöpfungsbericht in Szene gesetzt. Die drei Figuren Adam, Gott - allerdings in Gestalt Jesu - und Eva sind durch Berührungen miteinander verbunden. Die Schlange, Inbegriff für den Sündenfall ist entfernt am rechten mittleren Bildrand sich um einen Baum schlängelnd dargestellt.

Daneben präsentiert das Bild eine Reihe fantastischer Einfälle: Ein Berg im Hintergrund scheint Unterschlupf für zahllose Vögel zu sein, die aus ihm herausfliegen, in die Ferne schweifen und zurückkehren – der Wechsel von Geburt, Tod und Wiederkehr. In der Mitte befindet sich in einem klaren Teich ein bizarrer Brunnen, der Lebensbrunnen, in dessen Innern eine Eule sitzt. Um den Teich herum sind zahlreiche Tiere gemalt, die meisten von ihnen friedlich. Vorlage für die Darstellungen waren möglicherweise Bestiarien, exotische Tiere wie Giraffe und Elefanten waren Bosch wahrscheinlich nicht aus eigener Anschauung bekannt. Auch fantastische Wesen wie das Einhorn und drachenähnliche Wesen haben Eingang in diese Kompendien gefunden und wurden ebenso ernst genommen wie reale Tiere. Eine Missgeburt von einem Hund (er hat nur zwei Beine) ist zu sehen. Unheil deutet sich schon im Paradies an: einem Pfuhl mit trübem Wasser am unteren Rand entschlüpfen hässliche Kreaturen.

Der lange Zeit anhaltenden Interpretation der Mitteltafel als Warnung gegen die Todsünde Wollust setzte erstmals der Kunsthistoriker Wilhelm Fraenger eine völlig neue Sicht entgegen: Er deutete die Darstellung als utopisches Traumbild eines Liebes-Paradieses. In der Tat zeigt Bosch auf der Mitteltafel ein fried- und freudvolles Beisammensein von Mensch und Tier. Um einen kreisförmigen Teich, in welchem Menschen baden, zieht eine Prozession von Reitern auf Pferden und Lasttieren herum; am linken Rand des Bildes sitzen zwischen den Menschen übergroße Vögel (Eisvogel, Wiedehopf, Grünspecht, Rotkehlchen und Stieglitz). Neben skurrilen Bildelementen dominiert eine unaggressive, harmonische Stimmung. Sexualität wird als von positiven Emotionen getragenes, behutsames Spiel betrachtet, sogar Dämonen, die im oberen Teil des Bildes neben dem Lebensbrunnen (sein Unterbau ist eine große Waldbeere) planschen, geben sich der positiven Stimmung hin. Überall sind überdimensionale Früchte, vornehmlich Erdbeeren, Vogel-Kirsche, Himbeeren und Brombeeren platziert, Zeichen der Lebensfülle und der Erotik.

Am Rande des unteren Bildabschnitts steht eine kleine Gruppe von Frauen, deren Äußeres darauf schließen lässt, dass es sich um Nonnen handelt. Das Haupthaar ist am Schädel vorn wegrasiert (wie es bei Nonnen üblich war, damit es nicht unter der Kopfbedeckung herauslugt), eine von ihnen hat den Flagellationsriemen locker um die Oberschenkel gewunden. Die Darstellung der Nonnen in der Szene ist – trotz ihrer Nacktheit – nicht als Provokation gedacht, sondern von dem Wunsch getragen, die Kirche in diese friedvolle, harmonische Welt einzubeziehen. Im rechten Bildhintergrund hebt ein beflügelter Mensch, eine Frucht über sich tragend, ab und steigt zum Himmel auf.

Fraengers Beitrag wurde als originelle Anregung oft aufgegriffen, von Seiten der Kunsthistoriker aber fast durchweg abgelehnt. Zum einen wurde auf die vielen Momente der Belächelung in Boschs Bild verwiesen, die einer ernsthaften Vorstellung von einer „heilen Welt“ entgegenstünden. Zum anderen sei Fraenger unhistorisch vorgegangen, da die Idee einer unterdrückten Sexualität, die befreit werden könne, vorwiegend aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stamme (Sigmund Freud, Wilhelm Reich, etc.) und zu Boschs Zeiten völlig fremd gewesen sei.

Der Kunsthistoriker Erwin Pokorny verweist in seiner Analyse darauf, dass zu Boschs Zeiten das „Paradies im Jenseits“ eine Glaubensrealität war wie die „Hölle im Jenseits“. Er führt Belege dafür an, dass Bosch sich von einer auf Fantasie gegründeten Sehnsucht nach einem jenseitigen Paradies distanziert. Nichts-Tun, die naive Vermischung oder gar Gleichsetzung von menschlichen Körperteilen mit überdimensionalen Früchten, Akrobatik, soziales Schaulaufen und Langeweile würden von Bosch ironisch ausgebreitet. Nach Pokorny zeigt Bosch also, wie leicht eine Sehnsucht vor allem eines werden kann: ein Spiegel der Kurzsichtigkeiten der Sehnsüchtigen.

Im unteren, helleren Bildteil ist ein Schreckensszenario dargestellt. Man sieht eine wehrloses Person in die Saiten einer Harfe eingespannt, eine andere wird von einer großen Flöte niedergedrückt, eine weitere liegt unter der Laute gefangen, auf ihr Hinterteil sind Noten geschrieben, nach der die Umstehenden unter Anleitung eines Monsters singen müssen. Neben der Szene sitzt ein vogelähnliches Wesen, es trägt einen Kessel auf dem Kopf (Symbol, sich gegen den Himmel und göttliche Einflüsse abzuschirmen) und verschlingt Menschen. Diese werden wieder ausgeschieden und fallen in eine Sickergrube, die allerlei Ekel bietet: Abgesehen davon, dass eine Person dorthinein Goldmünzen ausscheidet, wird eine andere gezwungen, sich in diesen Pfuhl zu erbrechen. Das Chaos am umgestürzten Tisch im unteren Bereich des Bildes prangert auf den ersten Blick Spielsucht und Falschspiel an. Versteckt wird in der linken Ecke die Enthauptung eines Menschen angedeutet. In der rechten Ecke versucht ein Mensch, sich gegen ein mit der Oberbekleidung einer Nonne bedecktes Schwein zur Wehr zu setzen. Ein Schriftstück liegt ihm auf den Knien; ein Wesen, das seine Gesichtszüge hinter dem heruntergelassenen Visier eines Helmes verbirgt, reicht Tinte und Feder. Der bedrängte Mann soll anscheinend etwas unterschreiben. Rechts hiervon ist die einzig komplett bekleidete Person des Werkes abgebildet.

In der Bildmitte zieht eine helle Figur - halb Baum, halb Mensch - den Blick auf sich. Sie fußt auf zwei kleinen Booten, die im Eis festgefroren sind. Sein dem Betrachter zugewandtes, leicht ironisches Gesicht ist auf einem Korpus montiert, der an ein geborstenes Ei erinnert. Auf seiner Kopfbedeckung, einem Mühlstein, steht mittig ein hellroter Dudelsack, Symbol für sexuelle Begierde. Um diesen herum führen vier Wesen Menschen an ihren Händen: Der „Spottvogel“, die „Hoffart“ (Hochmut), der Bär (Symbol für „Zorn“) und eine dickliche Figur, die in eine abweisende Hülle eingebunden ist, möglicherweise ein Geldsack, der Habgier symbolisiere. In dem geborstenen Ei-Körper tummeln sich einige Personen in einer Wirtshausszene.

Oberhalb des Baummenschen ist ein Messer in zwei überdimensionale Ohren eingespannt. Die Ohren sind von einem Pfeil durchbohrt, ihre Bedeutung ist nicht eindeutig, es kann sich um einen Hinweis darauf handeln, dass den Geboten Gottes nicht gehorcht wurde. Dämonen zerren Menschen unter die Klinge und legen sie zurecht, damit diese von der Schneide erfasst werden. Im rechten Teil des Bildes – auch hier ist ein überdimensionales Messer in Szene gesetzt – werden Menschen in Ritterrüstung gequält und von Höllenhunden zerfleischt, darunter nackte Personen zu Reittieren abgerichtet.

Der obere Bildteil zeigt eine ruinenartige Stadtlandschaft. Im Dunkel der Nacht erhellen Feuerschein und andere Lichtquellen auf gespenstische Weise die Szenerie. In ihr bewegen sich einzelne schemenhafte Gestalten.

Neuere kunsthistorische Beiträge heben den ironischen Charakter der drei Teilbilder des „Gartens der Lüste“ hervor. So sind im linken Bild „Adam und Eva im Paradies“, nicht nur Tiere einer verkehrten Welt zu sehen, wie ein großer Vogel mit drei Köpfen und ein Fisch mit gefiederten Flügeln, sondern auch ein schriller Anachronismus. Unten rechts, im Teich, steht eine Person mit einem großen Entenschnabel statt Nase und mit ihrer unteren Körperhälfte durch einen Fisch verdeckt. Sie ist bekleidet mit einer kurzärmeligen Jacke mit Kapuze. Vor sich in ihren Händen hält sie ein geöffnetes dickes Buch, in dem sie anscheinend liest. Durch das Zeigen dieses weiteren, wenn auch nur halben, Menschen mit Kleidung und Buch beseitigt Bosch die übliche Distanz zwischen Bild und Betrachter. Mit dem Kontrast zwischen der gedachten Welt des Paradieses und der realen Welt der Bücher ermöglicht Bosch dem Betrachter eine Position des aufgeklärten Beobachters. Mit dem Mittel der Ironie wird daran erinnert, dass das Bild des Paradieses schließlich seinen Ursprung in einem Buch hat, der Genesis.

Ein vergleichbarer Anachronismus befindet sich auch im Hauptbild „Garten der Lüste“, und zwar wieder unten rechts. Hier sieht man die einzige bekleidete Person des Hauptbildes, wie sie aus einer Höhle heraus direkt auf den Betrachter zurückblickt und dabei mit ironischem Gesichtsausdruck und ausgestrecktem Zeigefinger auf die nackte Frau vor ihm hinweist. Auch hier wird also ein Kontrast zwischen Traumwelt und Gegenwart angedeutet, und dem Betrachter die Möglichkeit eines kritischen Beobachters dieser Fantasie-Welt geboten.

Im rechten Bild, der „Hölle“, befindet sich zum dritten Mal unten rechts ein Anachronismus. Papierdokumente mit Siegelabdrücken und eine Schreibfeder sind Gegenstände der irdischen Geschäftswelt. Außerdem drängelt das Schwein mit der Schreibfeder durch Schmeichelei (Lutschen am Ohrläppchen) und nicht durch Drohung. Zum dritten Mal sieht also der Betrachter seine reale Gegenwart in ein Fantasiebild hineingemalt.

Hieronymus Bosch verwendete in vielen seiner Bilder immer wieder dieselben Symbole, deren Bedeutung heute teils durch Texte überliefert ist, teils sich durch das Vergleichen seiner Werke mit anderen ergibt. Über diese Symbolik bzw. Ikonographie gibt es eine Vielzahl von teilweise sehr umfangreichen philologischen und kunsthistorischen Untersuchungen.

Faszinierend und erschreckend zugleich sind bei vielen Bildern Boschs die eingearbeiteten dämonischen Figuren und Fabelwesen. Immer wieder sind menschliche Wesen mit Tierköpfen von Fischen, Vögeln, Schweinen oder Raubtieren ausgestattet, hässliche Gnome und Monster bevölkern die Bilder. Ihnen gemein ist, dass sie zu denen gehören, die wehrlose Menschen quälen oder sie der Verdammnis zuführen.

Die Abbildung von Fabelwesen war im Mittelalter nichts Ungewöhnliches, sie kam in den sogenannten Bestiarien vor. Das Bestiarium entwickelte sich aus dem Physiologus, einem aus Alexandria (Ägypten) stammenden mythologischen „Tierkundebuch“, das im frühen Mittelalter seinen Weg nach Europa fand und übersetzt wurde. Bestiarien sind allegorische Tierbücher, die wirkliche und fantastische Tiere beschreiben und ihre tatsächlichen oder vermeintlichen Eigenheiten typologisch herauszustellen suchen. Sie dienten als didaktische Medien für Belehrungen in Moral und Religion und waren sehr beliebt, da die Menschen exotische Tiere von anderen Kontinenten nur über diese Bücher kennenlernen konnten. Aber es fanden auch mythische Tiere wie das Einhorn oder der Drache Eingang in solche Werke.

Dass Bosch Bestiarien kannte und schätzte, spiegeln einige seiner Bilder wider. Immer wieder tauchen dort reale, in Europa bekannte oder aus exotischen Lebensräumen stammende Tiere auf. Die Weiterentwicklung von Fabelwesen zu furchterregenden Kreaturen geht aber im Wesentlichen auf Bosch zurück. Er wollte das Böse in den Menschen sichtbar machen.

Er griff dabei die Traditionen der Marginalien aus der Buchmalerei seiner Zeit auf, die Fabelwesen, aber auch andere Themen wie das Topos der „verkehrten Welt“ oder reine Ornamentik kannten.

Auf den Massenbildern, wie dem Garten der Lüste, sind die Gesichtszüge stark vereinfacht oder karikaturenhaft. Es gibt jedoch auch äußerst präzise, naturalistische Gesichtsabbildungen, wie sie kennzeichnend sind für einen Maler der Renaissance. Ein Beispiel hierfür ist die Dornenkrönung Christi in London Auch die beiden Gesichter der Wanderer gehören dazu. Interessanterweise taucht in manchen Bildern und Triptychen immer wieder ein Gesicht auf, das für Bosch offenbar eine Bedeutung hatte: Es ist auf der oktogonalen Tafel in Rotterdam Der Wanderer (auch Der Landstreicher genannt) sowie Der verlorene Sohn/Der Pilger auf dem Außenflügel des Heuwagen-Triptychons in Madrid zu sehen. Ähnlichkeiten werden zwischen diesem und dem Gesicht des „Baummenschen“ ausgemacht. Die Abbildung spiegelt eine ebenmäßige Gesichtsform mit einer langen Nase wider. Der Blick scheint nachdenklich, abgeklärt. Auf dem linken Flügel des Triptychons Die Versuchung des Heiligen Antonius hilft (neben zwei Mönchen) eine weltlich gekleidete Person Antonius über eine Brücke – es ist dasselbe Gesicht, nur etwas älter. Und schließlich: Auf dem Bild Johannes auf Patmos sitzt neben dem Heiligen ein echsenähnliches Tier, und dieses trägt, ebenso wie ein kleiner geflügelter Dämon am unteren Rand des Bildes Tod eines Geizhalses, die beschriebenen Gesichtszüge.

Ungeklärt ist, um wen es sich dabei handelt. Manche vermuten darin eine Selbstdarstellung Hieronymus Boschs, andere einen Auftraggeber. Fraenger sieht hier und in zahlreichen ähnlichen wiederkehrenden Porträt-Köpfen auf Bildern von Bosch den 1496 konvertierten Juden Jacop van Almaengin dargestellt, der so etwas wie Mäzen und Großmeister von Boschs Loge in s‘Hertogenbosch gewesen sei, geistiges Vorbild und Auftraggeber des Malers. Letztere Vermutung erscheint allerdings wegen der negativen Anmutung durch die Kombination des Gesichts mit monsterähnlichen Körperteilen, beispielsweise bei Johannes auf Patmos, als unwahrscheinlich. Ansonsten gibt es von Hieronymus Bosch nur ein einziges, oft kopiertes, "Porträt", eine posthume Zeichnung von ca. 1550 mit ungeklärter Herkunft und Authentizität. Seine dort ausgewiesenen Gesichtszüge entsprechen nicht der von ihm so oft gemalten Person.

Da die überlieferten Abbildungen des Malers nicht als authentisch gesichert gelten, ließe sich darüber spekulieren, ob es vielleicht doch er selbst ist, der sich in seinen Bildern verewigt hat. Möglicherweise handelt es sich auch um sein „zweites Ich“, so, wie er sich innerlich sieht, nachdenklich und abgeklärt. Es könnte sich auch um einen Freund handeln, der ihm bei der Abfassung seiner Bilder und Triptychen beratend zur Seite gestanden hat.

Die Maler des nördlichen Manierismus Jan Wellens de Cock (um 1475/80–1527/28), Jan Mandyn (um 1500–1560), Herri met de Bles (um 1500/10–1555/60) und Pieter Huys (um 1519/20–1581/84) werden einer Gruppe von niederländischen/flämischen Malern zugeordnet, die die Tradition von Hieronymus Bosch und seiner fantastischen Malerei, besonders seiner Antoniusversuchungen, fortführten.

Der Einfluss Boschs auf den modernen Surrealismus wurde von Salvador Dalí zurückgewiesen. Laut Dalí sind „Boschs Monster (…) Produkt des nebelverhangenen Nordens und der schrecklichen Verdauungsstörungen des Mittelalters. Das Ergebnis sind symbolische Charaktere, und die Satire hat ihren Vorteil aus dieser gigantischen Diarrhoe gezogen. An diesem Universum bin ich nicht interessiert. Wir haben hier das genaue Gegenteil von Monstern, die auf andere Weise geboren werden und die im Gegensatz dazu von einem Überschuss an mediterranem Licht leben.“

Nelly Sachs schrieb ein Gedicht mit dem Titel Hieronymus Bosch. Es findet sich im Band Fahrt ins Staublose (1961) im Zyklus Dornengekrönt. In Arno Schmidts Dialogroman Abend mit Goldrand (1975) ist Der Garten der Lüste das vielfach und vieldeutig referenzierte Hauptkunstwerk. Der Komponist Horst Lohse schrieb ein Triptychon zur Madrider Tafel: Die sieben Todsünden (1989) – Die vier letzten Dinge (1996/97) – Cave cave Dominus videt (2011/12).

Leon Battista Alberti

Leon Battista Alberti war ein italienischer Humanist, Schriftsteller, Mathematiker, Kunst- und Architekturtheoretiker sowie Architekt und Medailleur des Humanismus.

Alberti gehört zu den erstaunlichsten und widersprüchlichsten Gestalten der italienischen humanistischen Kultur. Begabt mit außergewöhnlich vielen Talenten trat er als Autor von diversen Fachbüchern, kunsttheoretischen Traktaten, mathematischen Abhandlungen sowie von Büchern über gesellschaftliche Themen wie "Della famiglia“ oder von großangelegten Satiren wie „Momus“ hervor. Darüber hinaus beherrschte er alle sieben „artes liberales“Einzigartig in seiner Zeit aber wurde er als Theoretiker der Malerei, Skulptur und Architektur.

Als Kleriker und langjähriger Angestellter der päpstlichen Kanzlei entwickelte er sich darüber hinaus durch sein theoretisches und praktisches Studium der römischen Antike und durch seinen Zugang zu den führenden Humanistenkreisen des 15. Jahrhunderts zum größten Fachmann seiner Zeit für die antike Baukunst.

In seinem umfangreichen Werk Über die Familie schreibt er über die Ökonomie des familiären Haushalts, über die Ehe, die Kindererziehung und über die Freundschaft. Seine Methode zur Verschlüsselung von Texten wurde über mehrere Jahrhunderte nicht verbessert, und sein Orgelspiel im Dom von Florenz wurde allgemein gelobt. Allein in der Kunst der Malerei soll er, wie Giorgio Vasari bemängelt, kein Meister gewesen sein.

1434 begleitete er Papst Eugen IV. ins Exil nach Florenz. Er begründete oder erneuerte seine Freundschaft mit den Florentiner Künstlern Brunelleschi, Donatello, Ghiberti und anderen und verfasste bald darauf seine berühmten kunsttheoretischen Traktate "De Statua" und "De pictura". In dieser Zeit malte er auch selbst und legte sich seinen zweiten Vornamen Leo oder Leone zu. 1438 nahm er als Mitglied der päpstlichen Delegation am Konzil von Ferrara teil. In Ferrara lernte er Leonello d’Este kennen und bemühte sich dort um eine Anstellung als Höfling. Außerdem beriet er ihn in künstlerischen Angelegenheiten. 1443 kehrte er zusammen mit Papst Eugen IV. nach Rom zurück und begann seine Studien der baulichen Überreste der Antike. In dieser Zeit verfasste er eine kartographische Aufnahme Roms, "Descriptio urbis Romae". 1447 erhielt er von Kardinal Prospero Colonna den Auftrag, zwei römische Schiffe vom Grund des Nemisees zu bergen, der Versuch blieb jedoch erfolglos.

1447 bestieg mit Tommaso Parentucelli ein führender Humanist als Nikolaus V. den päpstlichen Thron. Nikolaus begann neben dem Aufbau der vatikanischen Bibliothek sofort mit einer umfangreichen Bautätigkeit. Eine Mitarbeit Albertis an den päpstlichen Maßnahmen zur Verschönerung und Erneuerung Roms ist jedoch nicht nachgewiesen, obwohl er dem Papst 1452 sein inzwischen weitgehend fertig gestelltes Werk über das Bauwesen "De re aedificatoria" präsentierte. Belegt ist hingegen in dieser Zeit (ab ca. 1452) sein Entwurf für die neue Fassade von San Francesco in Rimini, den so genannten "Tempio Malatesta". Zwischen 1455 und 1458 fertigte er Entwürfe für die Fassade von Santa Maria Novella in Florenz und für den Palazzo Rucellai, beides im Auftrag des Kaufmanns Giovanni Rucellai. 1459 hielt er sich in Begleitung von Papst Pius II. in Mantua auf und machte die Bekanntschaft des Markgrafen Luigi Gonzaga. Dieser beauftragte ihn 1460 mit dem Entwurf für die Kirche San Sebastiano, die zu seinen Lebzeiten ein Torso blieb und später vielfach umgebaut wurde.

1470 wurde er mit der Planung der Kirche Sant’Andrea betraut, deren Grundsteinlegung am 12. Juni 1472 er nicht mehr miterlebte. Alberti starb am 25. April 1472 in Rom, in seinen letzten Jahren gesuchter Gesprächspartner der Herrscher und Fürsten Oberitaliens, hoch angesehen bei den jungen Humanisten der platonischen Akademie in Florenz und weithin geschätzt und gefragt als Mathematiker, Ingenieur und Fachmann für Architektur.

In seinen kunsttheoretischen Schriften strebt Alberti danach, die von ihm beobachtete, in seiner Zeit übliche künstlerische Praxis zu verändern, nämlich die Unwissenheit (ignorantia) der Künstler zu beseitigen und Vernunft und Erkenntnis zu notwendigen Grundlagen der Kunst zu erklären. Sein Verdienst liegt auch darin, dem Diskurs über Kunst eine Sprache und eine rationale und literarische Grundlage gegeben zu haben.

Ziel des Traktats über die Malkunst ist weder eine Geschichte der Malerei noch eine handwerkliche Anleitung in der Art des Cennino Cennini, vielmehr soll die Malerei auf eine wissenschaftliche Basis gestellt werden. Im ersten Buch geht es um die Geometrie des Euklid, die Optik und deren Anwendung in der perspektivischen Malerei. Die Beweglichkeit des Sehens ist nur schwer mit der starren Sehpyramide, dem in seiner Zeit üblichen optischen Modell für den Sehvorgang, in Einklang zu bringen. Das führt ihn zu einer Neudefinition des Bildes als einer der möglichen Schnittebenen durch die Sehpyramide und deren Projektion, die er Fenster nennt. Mit seinen Ausführungen beschreibt er die theoretischen Grundlagen perspektivischer Darstellung. Praktische Hilfsmittel für den Maler sind das Fadengitter oder velum und der Guckkasten, die camera ottica. In der Übertragung der Dreidimensionalität der Welt in die Zweidimensionalität der Bildfläche sah er eine Demonstration der Macht des menschlichen Geistes. Eine genaue mathematische Beschreibung perspektivischer Darstellung liefert allerdings erst Piero della Francesca in seinem Buch De Prospettiva Pigendi um 1470.

Im zweiten und dritten Buch geht es um die handwerklichen und geistigen Fähigkeiten des Malers. Mit ingenium bezeichnet Alberti die schöpferischen und geistigen Fähigkeiten der Erfindung (inventio), der Urteilskraft und des Auswahlvermögens (iudicium) sowie die Angemessenheit in Bezug auf den ausgewählten Gegenstand (aptum): Diese Begriffe sind aus der antiken Rhetorik entlehnt und werden hier als kunsttheoretische Begriffe eingeführt. Das auszuführende Werk, das die bildliche Darstellung von handelnden und leidenden Personen umfasst, die historia, ist durch sorgfältige Studien vorzubereiten. Der Begriff historia ist bei ihm allgemeiner gefasst, erst später wurde die Bedeutung auf die Historienmalerei eingeschränkt.

Oberstes Ziel der Malkunst ist die Wirkung des Gemäldes auf den Betrachter. Die anschauliche Darstellung von Affekten soll im Betrachter bestimmte Gemütsbewegungen, Stimmungen, sinnliche Empfindungen und geistige Erkenntnisse anregen bzw. auslösen. Unerschöpfliche Quelle und Vorbild für den Künstler ist die Natur. Zum Studium der Natur müssen aber notwendigerweise Tugenden, (virtus), wie Fleiß, Geschicklichkeit sowie Willenskraft und Ausdauer des Künstlers kommen, um ein vollkommenes Werk zu schaffen.

De Statua ist keine – wie man dem Titel nach annehmen könnte – „Abhandlung über die Skulptur oder die Plastik, sondern ein Vorschlag zur Lösung einiger Probleme wie der Messung von Längen und Durchmessern von Körpern und Statuen, der proportionalen Vergrößerung bzw. Verkleinerung eines Modells und der idealen Proportionen des menschlichen Körpers. Alberti unterscheidet dabei die drei Bereiche: Bildner (fictores), die aus Lehm oder Ton Figuren aufbauen oder Material hinzufügen, Bildhauer (sculptores), die Material entfernen, um die Figur zu erzeugen, und schließlich z.B. Gold- oder Silberschmiede (argentarii), die Hohlformen aus geschmiedetem Metall erzeugen. Für die Zwecke der Vermessung entwickelt Alberti drei Instrumente: die Hexempeda, eine proportionale Messlatte, die Normae zur Ermittlung von Durchmessern, und das Finitorium, ein kompliziertes Gerät mit einer runden, in Grade eingeteilten Scheibe plus beweglichem Zeiger, die auf dem Kopf der auszumessenden Figur befestigt wurde. Mit diesem Gerät konnte er die Koordinaten eines jeden Punktes im Raum oder an der Figur bestimmen und in einer Tabelle festhalten. Die Proportionstabelle des menschlichen Körpers am Ende von "De Statua" (Tabulae dimensionum hominis) berücksichtigt neben Länge und Breite des Körpers und seiner Teile auch deren dritte Dimension.

Albertis groß angelegtes Lehrbuch über das Bauwesen entstand wahrscheinlich zwischen 1443 und 1452 in Rom, eventuell auf Anregung des Fürsten von Ferrara, Leonello d’Este. In klassischem Latein geschrieben, richtete es sich nicht an Architekten, sondern vorrangig an gebildete Bauherren und an die akademische Welt der Humanisten. Im Mittelpunkt des Werkes steht die Architektur der römischen Antike, die Alberti als Vorbild und Anregung für seine Gegenwart ansah. Dabei ist sein archäologisch-denkmalpflegerischer Ansatz, der eine untergegangene Epoche rekonstruieren und vor dem gänzlichen Verfall retten wollte, von seinem idealistischen Ansatz, der diese in sich abgeschlossene Periode der römischen Antike mit neuem Leben füllen und für seine Gegenwart fruchtbar machen wollte, zu unterscheiden.

Alberti orientiert sich zunächst stark an dem einzigen aus der Antike überlieferten Werk über Architektur, Vitruvs De architectura libri decem aus der Zeit um 30 – 20 vor Chr. Er übernimmt nicht nur die Anzahl der Bücher (zehn), sondern auch Teile des Stoffes aus den Bereichen Baustoffkunde, Baukonstruktion, Gebäudetypologie und aus dem ganzen Komplex der Tempelformen und Säulenordnungen. Außerdem legt er der Großgliederung seines Traktats (genauer: den Büchern II-IX) die berühmten Vitruvschen Kategorien firmitas (Festigkeit), utilitas (Nützlichkeit) und venustas (Schönheit) zugrunde. Folgerichtig behandeln die Bücher II und III die Themen Baustoffkunde (De materia und Baukonstruktion (De opere), die Bücher IV und V die typologischen Beschreibungen sowohl der öffentlichen Anlagen (De universorum opere) wie auch der einzelnen sakralen, öffentlichen und privaten Gebäude (De singulorum opere), während es in den Büchern VI-IX um den Schmuck im Allgemeinen (De ornamento) wie auch um den Schmuck der Tempel und Basiliken, der sonstigen öffentlichen Gebäude und der Privathäuser geht. Das Buch I handelt von der Planung allgemein (De lineamentis), das Buch X von der Instandsetzung der Gebäude (Qui operum instauratio inscribitur).

Während Alberti jedoch in den Fragen der antiken Baupraxis weitgehend von Vitruv und anderen Autoren abhängig bleibt, löst er sich auf dem Gebiet der Architekturtheorie fast vollständig von seinem antiken Vorgänger. Z.B. verändert er die erforderliche Qualifikation des Architekten, die sich bei Vitruv noch gleichrangig aus handwerklicher Praxis (fabrica) und theoretischen Kenntnissen (ratiocinatio) zusammensetzte, zu Gunsten des reinen Planers, der sich für die Arbeit vor Ort eines Bauleiters bedient. Auch die sechs zentralen Vitruvschen Grundbegriffe ordinatio, dispositio, eurythmia, symmetria, decor und distributio ersetzt er vollständig durch seine eigenen sechs Kategorien regio, area, partitio, paries, tectum, apertio (Gegend, Grundstück, Einteilung, Wand, Dach und Öffnung).

Vor allem aber beschreitet er auf dem Gebiet der ästhetischen Theorie Neuland, indem er weit über Vitruvs Ausgangsthese vom „Wegnehmen“ und „Hinzufügen“, das bewirkt, das ein Gebäude „gehörig gestaltet zu sein scheint und beim Anblick nichts vermisst wird“, hinausgeht und zu einer umfassenden Definition der Schönheit voranschreitet. Die Schönheit sei eine Art Übereinstimmung (consensus) und Einklang (conspiratio) der zugehörigen Teile in Bezug auf eine bestimmte Anzahl (numerus), Beziehung (finitio) und Anordnung (collocatio), so wie es die Harmonie (concinnitas), das vollkommene und ursprüngliche Naturgesetz, verlange.

Auffallend an der Architekturtheorie Albertis ist vor allem ihre erstaunliche Modernität. Ob es um die neue Rolle des Architekten als reiner Planer mit eigenem, nicht mehr handwerklich geprägtem Ausbildungsgang geht oder um das neue Bild der Stadt mit seiner Gleichrangigkeit von Öffentlichem Raum und Gebäuden; ob es die originelle Skelettbautheorie und das Konzept von Knochen und Haut, Skelett und Hülle ist oder die Relativierung des Schönheitsbegriffs und das Einbeziehen der subjektiven Wahrnehmung in die ästhetische Diskussion – immer weisen die Konzepte weit in die Zukunft, im mindesten Fall dreihundert Jahre bis über den Absolutismus hinaus in das Zeitalter der Aufklärung, im weitesten Fall bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein. Damit ist "De re aedificatoria" nicht nur die erste Abhandlung der Neuzeit über das Bauwesen, sondern bleibt auch über einen langen Zeitraum hinweg die bedeutendste Schrift zur Architekturtheorie.

Für den reichen Florentiner Kaufmann Giovanni Rucellai entwarf Alberti die Fassade der Gebäude an der Via della Vigna, die mehrheitlich im Besitz der Familie waren. Die Rucellai, die durch großen Reichtum und die Heirat mit einer Medici in die höchste Florentiner Gesellschaft aufgestiegen waren, sollten angemessen repräsentiert werden. Zu dem städtebaulichen Komplex gehören der Palast, die Loggia und die Piazza.

Insgesamt acht kleinere Gebäude wurden zu einem repräsentativen Palast mit zunächst fünf, später sieben Achsen zusammengefasst. Laut Vasari entwarf Alberti die Fassade und wendete bei ihrer Gliederung zum ersten Mal in der neueren Architekturgeschichte die Fassadeneinteilung des römischen Theaters mittels übereinander gestellter Säulenordnungen an. Die Fassade aus feiner Rustika wird durch flache Pilaster und Gebälkstreifen gegliedert, die Kapitelle der Pilaster orientieren sich im Erdgeschoss an der dorischen, im ersten Obergeschoss an der ionischen, im zweiten Obergeschoss an der korinthischen Ordnung. Bauleiter war vielleicht Bernardo Rossellino, der auch als Architekt des Innenausbaus vermutet wird.

Die einzige Quelle dafür, dass der Entwurf von Alberti stammt, ist die Aussage von Vasari. Das am Heiligen Grab in Jerusalem orientierte Grabmal ist mit Marmorfeldern verkleidet und wird durch korinthische Pilaster gegliedert. Zwei Pilaster fassen jeweils drei Quadrate aus weißem Marmor ein, in die jeweils ein kreisförmiges Ornament eingelassen ist. Neben variierten Sternformen enthalten diese Tondi die Embleme der Medici und der Rucellai.

Alberti hatte bei seinem Entwurf die Gliederung des Erdgeschosses, das große Rundfenster im ersten Obergeschoss der Basilika sowie die Pultdächer der Seitenschiffe zu berücksichtigen. Unter Respektierung der vorhandenen Teile entwickelte er die alte Konzeption in seinem Sinne weiter. Die neuen Partien wurden regelmäßiger und großzügiger angelegt, die geometrischen Linien klarer herausgearbeitet. Dreiviertelsäulen als Rahmung des Portals und der Gebäudeecken sowie kolossale Pilaster an den Seiten der Fassade geben dem Erdgeschoss eine geschlossene Form. Darüber hinaus wird das Erdgeschoss durch eine hohe Attikazone über dem Gebälk zusammengefasst. Der durch flache Pilaster gegliederte Aufsatz im Obergeschoss fasst den Okulus ein und wird durch einen klassischen Tempelgiebel bekrönt. Die für Santa Maria Novella gefundene Lösung, die Pultdächer der Seitenschiffe durch zwei Voluten abzudecken, wurde in der Folge von vielen Architekten, vor allem im Barock, nachgeahmt.

Von Sigismondo Malatesta erhielt Alberti den Auftrag einer externen Umgestaltung von S. Francesco (seit dem 19. Jh. Dom) von Rimini zu einer angemessenen Grabstätte für ihn und seine dritte Frau Isotta degli Atti. San Francesco war seit 1312 die Grablege der Malatesta. 1452 entwarf Alberti für die Kirche eine neue Fassadenverkleidung aus Marmor, die den Bau an drei Seiten umschließt. Die Frontfassade zeigt eine freie Interpretation des römischen Triumphbogenmotivs, wahrscheinlich inspiriert vom nahegelegenen Augustusbogen in Rimini.

Die Seiten wurden als Arkaden ausgebildet, deren Bogenöffnungen Sarkophage enthielten. Alberti lieferte für den Bau nur Pläne und ein Modell und gab schriftliche Anweisungen von Rom aus. Ausgeführt wurde das Projekt von den Baumeistern Matteo de'Pasti und Agostino di Duccio. Die Fassade blieb unvollendet, ihr geplantes Aussehen lässt sich nur skizzenhaft an einer Medaille erkennen, die zum Anlass des Baubeginns geprägt wurde.

Von besonderer Bedeutung für die Architekturgeschichte sind die für Ludovico Gonzaga in Mantua erbauten Kirchen San Sebastiano und Sant'Andrea, die den Kirchenbau revolutionierten. Es sind die einzigen Bauten, die Alberti vollständig entworfen hat. Sie wurden beide zu seinen Lebzeiten nicht vollendet, Sant'Andrea erst kurz nach seinem Tode begonnen. Bei beiden Bauten geht Alberti frei und schöpferisch mit den antiken Vorgaben um.

San Sebastiano ist ein Zentralbau auf dem Grundriss eines griechischen Kreuzes. Der Bau besitzt einen ungewöhnlich hohen Sockel (eventuell wegen Gründungs- und Feuchtigkeitsproblemen), die Fassade wird durch Pilaster gegliedert und mit einem Tempelgiebel abgeschlossen. Der Bau wurde in der Folge mehrfach verändert, so dass das ursprüngliche Konzept Albertis nicht mehr genau zu ermitteln ist.

In Sant'Andrea ersetzt Alberti die Seitenschiffe des normalen Basilikagrundrisses durch eine Reihe von Kapellen, eine für den Kirchenbau der Spätrenaissance und des Barock folgenreiche Erneuerung. In der Fassade kombiniert er die antike Tempelfront mit einem Triumphbogenmotiv mit flachen Pilastern anstelle der sonst üblichen Säulen oder Halbsäulen.

Alberti orientierte sich offenbar auch an einem biblischen Text, wo im ersten Buch Könige ( 6,7 ) der Salomonische Tempelbau beschrieben wird, dessen Proportionen von Länge, Breite und Höhe er aufnimmt. Die endgültige Fertigstellung von Sant' Andrea währte rund 300 Jahre, mit starken Veränderungen im Entwurf und Konzept. Bei Alberti war die Kirche noch auf das Hauptschiff und die Seitenkapellen begrenzt. Später wurden eine Vierung, die mit einer Kuppel gekrönt wird, ferner ein Chor und zwei Konchen angehängt.

Alberti schuf die architektonischen Voraussetzungen für die Weiterentwicklung in Italien. Im 15. Jahrhundert wurden die verschiedenen Höfe in Italien zu Zentren, die für die Ausbreitung der Renaissance-Philosophie, Kunst und Architektur sorgten. In Mantua entwarf Alberti zwei bedeutende Kirchenbauten für die Familie Gonzaga: Sant Andrea und San Sebastiano. Urbino war ein Machtzentrum, weithin sichtbar mit dem neuen Herzogspalast. In Ferrara, unter der Familie Este, entstanden mehrere neue Paläste wie der Palazzo die Diamati und der Palazzo Schifanoia für Borso d’Este. In Mailand schufen die Visconti die Certosa di Pavia, ehe sie von den Sforza vertrieben wurden, die das Castello Sforzesco errichten ließen.

In Venedig erhielt San Zaccaria seine Renaissancefassade unter der Leitung von Antonio Gambello und Mauro Codussi, begonnen um 1480. Giovanni Maria Falconetto, der Veroneser Architekt und Bildhauer, führte die Renaissance-Architektur in Padua mit der Loggia Cornaro im Garten von Alvis Cornaro  ein. In Süditalien rief Alfons V. von Aragon, nachdem er das Königreich Neapel eroberte, Renaissancebaumeister zu sich. Die bedeutendsten Beispiele der Renaissance-Architektur sind die Cappella Caracciolo, Bramante gewidmet, und der Palazzo Orsini di Gravina, erbaut von Gabriele d’Angelo zwischen 1513 und 1549.

Im ausgehenden 15. und dem frühen 16. Jahrhundert zeigen Architekten wie Bramante, Antonio da Sangallo der Jüngere und andere ihre Meisterschaft darin, den neuen Stil für Kirchen und Stadtpaläste anzuwenden, die sich von ähnlichen Bauwerken der altrömischen Zeit deutlich unterschieden. Der Stil wurde dekorativer, mit aufwändigen Ornamenten versehen, Kuppeln wurden bedeutsam. Diese Phase, als Hochrenaissance bezeichnet, fiel mit dem Wirken so bedeutender Künstler wie Leonardo, Michelangelo und Raphael zusammen.

Bramantes bedeutendstes Werk in Mailand ist der Anbau der Vierung, des Chors und des Querhauses für die Abteikirche Santa Maria delle Grazie. Der Backsteinbau folgt ganz der Tradition Norditaliens und wurde 1465 als gotischer Bau begonnen. Bramante beendete ihn 1492 im Renaissancestil. Die Bauteile, die Bramante zugeschrieben werden können (in der Literatur teilweise strittig), sind die Kuppel mit seinem Durchmesser von gut 20 Metern, das Eingangsportal und der Chorraum. Die Kuppel erscheint von außen als Kreis und von innen als ein oktogonales Gewölbe.

Poggio Bracciolini und die Antiqua

Poggio Bracciolini war einer der wichtigsten Humanisten der italienischen Renaissance. Er wurde zu einem ihrer Wegbereiter, da er einige der bedeutendsten Werke der Antike wiederentdeckte und der europäischen Geisteswelt erneut zugänglich machte. Überaus bedeutend ist auch sein Beitrag zur Geschichte der lateinischen Schrift, namentlich der humanistischen Schrift, als deren eigentlicher Erfinder er gilt.

Die Antiqua bildete sich in der Epoche des Humanismus in Italien als zunächst handgeschriebene Buchschrift heraus. Die Bezeichnung Antiqua beruht dabei auf einem Irrtum. Die Humanisten der Renaissance kannten die antiken Texte nur in Form von Handschriften, die in der karolingischen Minuskel geschrieben waren, und nahmen an, dass diese wie die Capitalis aus der Antike stammten. Daher schrieben sie in der von der karolingischen Minuskel abgeleiteten humanistischen Minuskel, die sie mit den Versalien der römischen Capitalis monumentalis kombinierten. Aus diesen beiden entstanden dann die ersten Renaissance-Antiqua-Schriften.

Adolf Rusch gebrauchte 1464 die erste bekannte Antiqua-Druckschrift. Danach schnitten die Deutschen Konrad Sweynheym und Arnold Pannartz, die in Subiaco bei Rom (1465) tätig waren, eine frühe Form der Antiqua für eine Ausgabe von Ciceros De oratore. Diese war aber noch sehr stark der gotischen Tradition verhaftet und von der Gotico-Antiqua nicht deutlich zu unterscheiden. 1469 entwickelten Johann und Wendelin da Spira, ursprünglich aus Speyer, aber in Venedig tätig, eine formalere Form der Antiqua. Diese wurde für den Druck der Epistulae ad familiares von Cicero verwendet. Dank dieser Schrift erhielt Venedig den Ruf des wichtigsten Zentrums für die Antiqua.

Die erste qualitativ überzeugende Antiqua entwickelte der in Venedig lebende Franzose Nicolas Jenson 1470. Die Merkmale dieser Schrift waren der aus der Tradition der Handschrift kommende schräg nach oben verlaufende Querstrich der Minuskel e, sowie die oberen Endungen der Majuskel M. Sie hatte noch einige Ähnlichkeiten mit der Handschrift (z. B. die Beibehaltung von Abbreviaturen und Ligaturen), ohne aber diese imitieren zu wollen. Diese Schrift wurde in ganz Italien nachgeahmt und blieb bis zur Weiterentwicklung durch Aldus Manutius die am häufigsten verwendete Type des Landes.

Mit dem Druck von Pietro Bembos De Aetna 1495 durch Aldus Manutius entstand eine neue Form der Antiqua. Diese Schrift entfernte sich mehr als die Type Jensons von der handschriftlichen Vorlage und wurde bei der Gestaltung der Majuskeln sehr von den römischen Inschriften beeinflusst. Ein weiteres Merkmal dieser Schrift ist der Kontrast zwischen stärkeren und feineren Strichen.

Die humanistische Kursive wurde kurz vor 1500 als Druckschrift ebenfalls in Venedig rezipiert. 1501 erschien ein Buch in einer Antiquakursive bei Aldus Manutius in Venedig; diese Schrift erhielt den Namen Vergil. Mit dieser Type begann Aldus Manutius eine preiswerte Edition von Klassikern, den sogenannten Aldinen. Für dieses Projekt war eine Platz sparende Type der zeitgenössischen Antiqua notwendig, und das gelang mit der Antiquakursiven. Diese Schrift wurde über die Grenzen Italiens bekannt.

Bis dahin war Venedig und damit Italien das Zentrum der neuen Antiquadruckschriftentwicklung der Renaissance gewesen. Nach der politischen Unterteilung Italiens wurde jedoch Frankreich das neue Zentrum. Der französische Schriftschneider Claude Garamond entwickelte die vollendete Antiquaschrift der Renaissance. Sie zeichnete sich durch eine stärkere Betonung von fetten Grund- und feinen Haarstrichen aus und wirkte heller als die vorherigen Schriften. Eine besondere Charakteristik dieser Schrift war zum einen die kleine Punze des e, die sich im oberen Teil der Rundung nach rechts neigte und zum anderen, dass die einzelnen Typen eine unterschiedliche Achsenstellung hatten.

Claude Garamond spielte auch für die Entwicklung der Antiquakursive eine bedeutende Rolle. Das Besondere war, dass Garamond gleichzeitig eine Antiquaschrift und als Auszeichnungsschrift die passende Kursive fertigte. Die Schrifttypen Garamonds wurden dann von vielen Druckern im 16. Jahrhundert nicht nur in Frankreich benutzt, sondern sie verbreiteten sich in Antwerpen, Basel und Frankfurt. Dieser Erfolg beruhte auch auf der Veränderung der gesamten Konzeption des Buches.

Im 17. und im 18. Jahrhundert kamen neue Impulse aus den Niederlanden: wie beispielsweise von Dirk und Bartholomeus Vosken aus Amsterdam oder Johann Michael Fleischmann und Christoffel van Dyck aus Haarlem. Die Unterschiede zwischen dieser Schrift und der von Garamond lagen u.a. in der größeren Punze des e, in der Höhe der Minuskel n, sie wurde größer und die Serifen stärker verfeinert. Während die Versalien kaum noch einen schrägen Duktus haben, erkennt man bei den Minuskeln noch deutlich ihre Herkunft aus der mit der Feder geschriebenen Humanistenhandschrift.

Die in England weiterentwickelte Antiquaschrift hat ein weicheres Schriftbild und die Versalien sind breiter gegenüber den niederländischen Typen. William Caslon ist einer der Hauptvertreter der englischen Schriftentwicklung. Er orientierte sich an den Schriften von van Dyck, legte aber bei der neuen Gestaltung weniger Wert auf die Ausformung der Buchstaben und mehr auf die Wirkung des gesamten Schriftbildes. Die bedeutendste Stellung in England nimmt aber John Baskerville ein: Die Typen, die er entwickelte, sind dem Barock zuzuordnen und sehr gut lesbar. Das Schriftbild wirkt breiter, die einzelnen Buchstaben weisen starke Gegensätze der Strichstärken auf, die Majuskeln haben sehr stark betonte Serifen, die Minuskeln haben schräge Anstriche und die Schriftachse ist fast immer senkrecht.

Zur Zeit Ludwigs XIV. wurde Frankreich das Führungsland für die Schriftgestaltung. Als die Imprimerie Royale gegründet wurde, wollte man eine neue Schrift entwickeln, die nicht von jeder Druckerei verwendet werden konnte: Diese Schrift erhielt den Namen „Romain du Roi“ und war ausschließlich für die königliche Druckerei vorgesehen. Es handelte sich bei ihr um die erste Type im Barockstil, die auf mathematischer Berechnung und einem genauen Konstruktionsplan basierte. Die „Romain du Roi“ wurde 1702 für das Drucken von „Médailles sur les principeaux évènements du règne de Louis le Grand“ verwendet. Die Merkmale sind eine konsequent senkrecht ausgeformte Schattenachse und Serifen ohne eine starke Kehlung. Trotz des Verbots der Nachahmung dieser Type beeinflusste sie sehr die Entwicklung der Typographie in Frankreich. Pierre Simon Fournier entwickelte 1737 eine Nachbildung dieser Schrift.

Als Nachfolger von Fournier kam Francois Ambroise Didot (1730-1804). Diese neue Entwicklung ist durch einen verstärkten Kontrast zwischen Grundstrichen und feinen Linien gekennzeichnet, die Haarstriche der Schraffuren sind noch zarter. Wollte Gutenberg noch eine größtmögliche Ähnlichkeit zwischen Druckschriften und Handschriften, so fand nun der Kupferstich immer mehr Eingang in die Gestaltung der Schrift. Die Druckschriften sollten nun wie Kupferstich wirken. Für die Versalien und die Minuskeln galten nun bei dieser klassizistischen Form der Antiqua die gleichen Prinzipien.

Giambattista Bodoni vollendete diese klassizistische Schrift in Italien. Er orientierte sich am Anfang stark an der Type Fourniers, bis er 1791 „Q.Honoratii Flacci Opera“ herausgab und darin eine Schrift verwendete, die eine eigene Prägung hatte. Nachdem er sich in das klassizistische Kunstgeschehen vertieft hatte, entwickelte er eine Schrift mit einer individuellen Ausgestaltung, die sich stark von der Handschriftentradition entfernte. Das Schriftbild ist charakterisiert durch den Kontrast der unterschiedlichen Strichstärken, die Serifen sind dünn und heben sind von den Grundstrichen ab.

Die Antiquaschriften Venedigs verbreiteten sich in Italien, Deutschland, Frankreich und Spanien. Bis 1480 gab es in Deutschland nur zehn Antiquatypen; mit dem Interesse für den Humanismus nahm auch der Gebrauch dieser Schriften zu. Der erste, der eine Antiquaschrift in deutschsprachigem Gebiet benutzte, war Adolf Rusch. Der Drucker und Verleger Johann Amerbach aus Basel verbreitete die Antiquaschriften in Deutschland und in der Schweiz mit dem Druck von u. a. scholastischen Texten, Wörterbüchern und Bibeln. Er besaß 6 Antiquatypen. Basel wurde das Zentrum der Herstellung von Antiquaschriften nördlich der Alpen, aber auch in Augsburg oder in Nürnberg wurden die Antiquaschriften verwendet.

1525 begann man sich auch theoretisch mit der Antiqua zu beschäftigen. Albrecht Duerer schrieb „Underweysung der messung mit dem Zirckel und richtscheyt“, das erste deutschsprachige Buch über die Konstruktion von Antiquabuchstaben. Frühere theoretische Anleitungen zur Gestaltung der Antiqua waren schon in Italien herausgekommen: diese Bücher handelten ausschließlich von den Versalien, die bereits durch ihren Ursprung aus den römischen Inschriften geometrisch ausgeformt waren. Die Minuskeln der Antiqua stammten dagegen aus der handschriftlichen Tradition. Alle diese Veröffentlichungen beschäftigten sich sehr mit dem geometrischen Aufbau der Buchstaben ohne jedoch die optische Wirkung zu behandeln. Wichtige Vertreter der Antiquaschriften waren der Drucker Johann Froben oder die Schriftgießerei Egelnolff-Luther (17. Jahrhundert).

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden die gotischen Schriften vor allem im Buchdruck verwendet. Italien war das erste Land, wo die Antiquatypen allgemeineren Gebrauch fanden. Danach folgten Frankreich sowie Spanien (erste Hälfte 16. Jahrhundert), England (um 1700), Schweden und die Niederlande (im 18. Jahrhundert). Deutschland spielte eine besondere Rolle in dieser typographischen Tradition. Johannes Gutenberg entwickelte die erste deutsche Satzschrift, die Textura, eine gebrochene Schrift. Über die Schwabacher entwickelte sie sich zur Fraktur, die in Deutschland bis 1941 neben der Antiqua als Gebrauchsschrift genutzt wurde.

Im Herbst 1403 ging Poggio auf Anstoß seines zehn Jahre älteren Freundes Leonardo Bruni nach Rom, wo er zunächst als Privatsekretär des Bischofs von Bari Landolfo Maramoldo unterkam. Bald darauf erlangte er den gutbezahlten Posten eines Schreibers der apostolischen Kurie bei Papst Bonifatius IX. Diese Position bekleidete er auch unter den Päpsten Innozenz VII. († 1406) und Gregor XII. (abgedankt 1415) sowie den Gegenpäpsten Alexander V. († 1410) und Johannes XXIII. (abgesetzt im Mai 1415). Unter letzterem wurde er zum apostolischen Sekretär befördert.

Poggio nahm am Konzil von Konstanz teil, wo er den Häresieprozess gegen Hieronymus von Prag miterlebte, der mit dessen Verurteilung und Hinrichtung endete. Über dieses Geschehen berichtete er in einem bewegenden Brief an Leonardo Bruni. Entgegen einer weitverbreiteten, aber falschen Meinung schrieb Poggio kein Buch über die Verurteilung von Jan Hus. Richard G. Salomon wies nach, dass es sich bei dem vielzitierten Text um eine Fälschung handelt. Das Konzil zog sich über Jahre hin – vom 5. November 1414 bis zum 22. April 1418 – und Poggio war nach der in Konstanz erfolgten Absetzung seines Dienstherrn Johannes XXIII. ohne Anstellung. Daher nutzte er die Zeit, um in Bibliotheken und Klöstern Deutschlands und Frankreichs nach antiken Texten zu suchen, deren Existenz den frühen Humanisten zwar bekannt war, die aber in Italien nicht mehr auffindbar waren. So entdeckte er lange verschollene Texte von Cicero, Tacitus, Quintilian, Vegetius, Marcus Manilius, Ammianus Marcellinus, Vitruv, Caecilius Statius, Lukrez und Petronius. Zudem spezialisierte sich Poggio darauf, einzelne Fragmente anhand des Schreibstils einem bestimmten Autor zuzuordnen und verlorene Werke so zu rekonstruieren.

Die Jahre 1418–1422 verbrachte Poggio auf Einladung des Bischofs Henry Beaufort in England, wurde dort aber nicht glücklich. Im Februar 1423 kehrte er nach Rom zurück und arbeitete ab Mai wieder in seiner früheren Stellung als apostolischer Sekretär für die Kurie, zunächst unter Papst Martin V. (bis 1431), dann unter Eugen IV. (1431–1447) und schließlich unter Nikolaus V. Von Juni 1453 bis 1458 war er Leiter der florentinischen Kanzlei unter den Medici.

Wie viele Humanisten seiner Zeit schrieb auch Poggio ausschließlich auf Latein und übersetzte auch griechische Werke in diese Sprache. Er hinterließ einen umfangreichen Briefwechsel privaten und politischen Inhalts und verfasste eine Geschichte der Stadt Florenz.

Im 2011 erschienenen Buch des amerikanischen Autors Stephen Greenblatt Die Wende: Wie die Renaissance begann geht es um die Wiederentdeckung des Meisterwerks De rerum natura des antiken Dichters Lukrez durch Poggio Bracciolini im Jahre 1417. Der Autor erzählt und erklärt, wie sich der Fund dieses antiken Werkes in einem deutschen Kloster stark auf die geistesgeschichtliche Entwicklung der damaligen Zeit auswirkte. Erst die Wiederentdeckung durch Bracciolini habe dem antiken Werk in der Renaissance zu seiner tatsächlichen geistesgeschichtlichen Bedeutung und Wirksamkeit als wesentlicher Impuls zur Moderne verholfen.

Die langjährige Tätigkeit Poggio Bracciolinis als apostolischer Sekretär und als obsessiver Kopist antiker Literatur war immer auch mit einer ästhetisch anspruchsvollen Gestaltung von Schriftstücken verschiedenster Art verbunden. Das trug zur Weiterentwicklung seiner Schrift bei. In diesem Kontext führte Poggio die von Petrarca und Salutati begonnenen Bemühungen um die Entwicklung einer klaren, gut lesbaren Schrift fort. Auf der Grundlage der karolingischen Minuskel, der littera antiqua, kristallisierte sich bei ihm gleichsam als Gegenentwurf zur gotischen Buchschrift eine besondere Form der humanistischen Minuskel heraus. Diese wurde nicht nur den Anforderungen an Klarheit und gute Lesbarkeit besser gerecht, sondern zeichnete sich durch die Ausgewogenheit des Stils und durch Eleganz aus. Als ältestes erhaltenes Schriftbeispiel von Poggio gilt das Traktat De verecundia („Über die Scham“) von Salutati. Es ist zwischen 1402 und November 1403 entstanden.

Poggio befasste sich bei seinem Aufenthalt in Rom intensiv mit den römischen Inschriften. Deren Schriftformen (Capitalis monumentalis) fanden zunehmend als Auszeichnungsschrift Eingang in die Gestaltung seiner handgeschriebenen Buchseiten und Manuskripte in humanistischer Minuskel. Seine Schrift war nicht nur beispielgebend für seine Zeitgenossen. Wenige Zeit später diente diese Version von humanistischer Schrift als Vorbild für die erste Drucktype, in der das Alphabet der Großbuchstaben (Capitalis monumentalis) mit dem Alphabet der Kleinbuchstaben (humanistische Minuskel) zur Antiqua vereint wurde. Poggios Schrift hatte damit nicht nur einen grundlegenden Wandel von der gebrochenen gotischen Schrift zur runden lateinischen Form der Buchschrift gefördert, sondern zugleich elementare Voraussetzungen für die Entwicklung der Groß- und Kleinschreibung geschaffen.

Conrad Ferdinand Meyer macht Poggio zur Hauptfigur seiner Novelle Plautus im Nonnenkloster, deren erste Fassung 1881 unter dem Titel Das Brigittchen von Trogen erschien und die der Autor selbst für eines seiner eher unbedeutenden Werke hielt. In ihr erscheint Poggio, gebrochen durch den historistischen Relativismus des späten 19. Jahrhunderts, als eine beinahe tragische Gestalt, als Skeptiker, dem keine anderen als ästhetische Werte geblieben sind und der doch ahnt, dass damit das Fundament der menschlichen Gesellschaft unterminiert wird.