In Jasnaja Poljana wurde Leo Nikolajewitsch Tolstoi am 9. September 1828 geboren: er machte dieses verlorene, im Gouvernement Tula gelegene Landgut weltberühmt. Das Adeslgeschlecht, dem er entstammte, soll vor vielen Jahrhunderten aus Deutschland eingewandert sein und in seinen ersten Mitgliedern den Namen Dick oder Dickmann geführt haben, der dann in wörtlicher Übersetzung zu Tolstoi geworden sei.
Früh verlor der Knabe seine Eltern, die Mutter, als er zwei, den Vater, als er neun Jahr alt war.
Weibliche Verwandte erzogen ihn; schon mit 15 Jahren besuchte er die Universität Kasan, studierte erst orientalische Sprachen, dann die Rechte und ging 1848 auf sein Gut zurück - wie er selbst sagt, ein junger Mann mit grobem, hässlichem, bäurischem Gesicht und ebensolchen Händen und Füßen, der sich deshalb von den Frauen fern hielt.
Die nächsten Jahre verschwärmte und vertrödelte er als vornehmer Müßiggänger, machte Spielschulden, reiste und trat 1851 als Artilleriefähnrich in ein kaukasisches Regiment. Beim Ausbruch des Krimkrieges ließ er sich zur Donau-Armee versetzen, nahm an Schlachten und Belagerungen teil und war vom November 1854 bis zum August 1855 im belagerten Sebastopol, vielfach in der gefährlichen "vierten Bastion". Er weigerte sich auch hartnäckig, Stabsoffizier zu werden und seinen von allen Schrecknissen des Krieges umtobten Posten zu verlassen. Nach dem Friedensschluss nahm er seinen Abschied, schrieb während der nächsten 15 Jahre seine großen Romane und beschäftigte sich dazwischen mit Volkspädagogik.
Um 1877 trat die große religiöse Krisis in seinem Leben ein, und seitdem wirkte er, als einfacher Bauer lebend und arbeitend, durch Mahnrufe, Bekenntnisse und Tendenzliteratur aller Art im Sinne seiner schon geschilderten neuen Anschauungen.
Den ihm zugedachten Nobelpreis lehnte er folgerichtig ab. Die Exkommunizierung seitens der griechisch-orthodoxen Kirche (März 1901) beirrte ihn nicht. Im November 1910 verließ der Zweiundachtzigjährige in heimlicher Flucht Haus und Familie. Er starb kurz darauf, unversöhnt mit der Kirche, am 20. November 1910.
Seit Jean Jacques Rousseau, der ein priesterlich wilder Vorbote und Feldprediger der großen Revolution des 18. Jahrhunderts gewesen ist, hat kein dichterischer und denkerischer Schreiber eine so in das lebendige Tun gehende Wirkung auf die Völker geübt wie Lew Nikolajewitsch Tolstoi, der jetzt im Alter von zweiundachtzig Jahren mächtig gestorben ist. Wir denken an die Gesamtheit der Wirkung, die Goethe getan hat: in ruhiger Haltung des Körpers sitzen wir da, über das Gesicht legt es sich wie Schönheit und verklärte Heiterkeit, die Muskeln entspannen sich und groß schauen unsere erweiterten Augen gerade hin über das Land.Wir denken an Ibsen: die Stirne kraust sich, die Augen blicken schärfer und wie in bösem Zweifel, um den Mund zuckt es, der Kopf wiegt sich in Unsicherheit und der Finger legt sich an die Nase. Wer aber diesen wilden Mann Tolstoi erlebt hat, der ist mit dem ganzen Leibe sein geworden: die Arme haben sich in starkem Schwung nach oben und rückwärts geworfen, Kopf und Nacken haben sich bohrend, stoßend nach vorne geschoben, die Bewegtheit unserer Seele ist zum Aufruhr, zum Nicht mehr stillhalten können, zur Erschütterung, zum Bäumen und wahrhaft zum Schreiten geworden. Tolstoi war wie Rousseau eine Einheit von Rationalismus und inbrünstiger Mystik. Dieser Russe war der verkörperte gesunde Menschenverstand; er war so auf den Sinn und die Nützlichkeit aus wie nur je ein Bauer, und er hat sich in keinem Augenblick seines Denkens mit einer Lehre zufrieden gegeben, die nicht seiner Vernunft volles Genüge tat. Nur daß er, als er auf seiner Höhe angelangt war, die Vernunft eines Propheten und eines Heiligen hatte; daß ihn das nicht mehr nützlich dünkte, was der Rost und die Motten fressen, sondern nur das, was der Seele ein Heil und dem Geiste die ewige Wahrheit ist.Er hat auch auf seiner Höhe, in den letzten fünfundzwanzig Jahren, nicht gerastet. Er ist da durchaus nicht der gleiche geblieben; er ist gewachsen bis zuletzt. Er nahm wohl da seinen Ausgang, wo ihm selber am meisten Anfechtung geworden war: von dem, was er damals, in den Zeiten der »Kreutzersonate«, etwa die Sündhaftigkeit der Wollust genannt hat. Er ist spottschlecht verstanden worden; schon in diesem Beginn kam es ihm auf die im Leben zu verwirklichende Erkenntnis im Sinne Piatons, des Christen, Spinozas und Buddhas an. Die Menschheit stirbt dabei aus? Nun, was weiter? Die Welt bleibt, was sie ist; sie kann sich nicht ändern. Aber sie stirbt ja schon nicht aus, sagt er uns gleich damals deutlich genug; habt doch ja keine Sorge, daß die Vielen auf mich hören; um derentwillen braucht ihr, zu denen ich eigentlich rede, euch nicht vom Heil abbringen zu lassen. Ihr, merket doch ihr, daß es in der Welt nicht auf den Genuß ankommt, sondern auf die Verwirklichung Gottes, der nicht draußen, sondern der in euch drinnen ist. Warum gebt ihr euch mit diesen unaufhörlichen, unendlichen Wandlungen ab, mit der Gier, die Welt in euch hineinzufressen? Glaubt ihr denn, die Welt würde davon besser, daß sie recht massenhaft in euch komme? gerade in euch? Oder ihr würdet besser, wenn ihr das und jenes gewännet? Die Welt ist in euch, das Ganze seid ihr; ihr findet es, wenn ihr euch von allem leiblich abkehrt und mit allem geistig und liebend vereint. Ihr findet den göttlichen Schatz eurer Seele, Wenn ihr euch leiblich arm machet. Das war schon damals seine Lehre und sie wurde unverkennbar und deutlich gesprochen. Die Liebe im Sinne Piatons, im Sinne Jesu, im Sinne Spinozas, die himmlische Liebe des in sich einigen Geistes zu sich, die ihr irdisches Bild und ihre Lebendigkeit im Gefühl und Tun erhält durch deine Liebe zu allem Lebendigen, setzte er der Körperlust entgegen, die sich auch Liebe nennt, für ihn aber auch in ihrer höchsten Gestalt eine Ausschließlichkeit, eine Bevorzugung und darum nicht Liebe, sondern eitler Wahn hieß. Mehr und mehr kam von dieser Liebe her das große Verlangen über ihn, aus der Philosophie, die ihm Religion war, eine Erfüllung nicht blos für das in seine Isoliertheit zurückgezogene geistige Individuum; sondern für die Gesellschaft der Menschen zu machen. Er machte keine Konzessionen; er war immer der Mann, der bis zur äußersten Konsequenz ging; aber sein Ziel war jetzt nicht mehr bloß die Heiligkeit der Person, sondern die Heiligkeit der Gesellschaft durch die Vereinigung schwacher und in die Welt verstrickter, aber stark und ehrlich nach Reinheit strebender Menschen, die dem Beispiel ihrer Besten nachgehen wollen.Was Tolstoi wie die Pest gehaßt hat, war durchaus nicht die Schwäche, des Widerstands gegen die Lebenstriebe. Er hatte eine bis zur Zärtlichkeit gehende Liebe zu den starken Naturen, die ihrer Triebe und Lüste nicht Meister werden, zu den Sündern und Verbrechern. Was er haßte, war die Schwäche der Vernunft und die geschwächte Aufrichtigkeit. Mit allen Waffen der Demaskierung, mit den Keulenschlägen seiner geraden Volkssprache und seiner bauernharten Logik und mit den Witzen seiner feinen Zivilisation bekämpfte er Lüge, Heuchelei, Aberglauben in den Kirchen der Konfessionen und der Wissenschaften. Für ihn war Glaube und Vernunft so ein und dasselbe, wie Religion ihm zusammenfiel mit der Liebespraxis der Milde und der Anerkennung alles Lebendigen.Wer ihn verstehen will, muß wissen, daß seine Genialität Nüchternheit war. Er war so nüchtern und klug, wie es nur je ein Kaufmann oder Politiker gewesen ist. Nur war er nüchtern und ein Handelsgenie nicht in den Dingen des Marktens, sondern in den Dingen des wahren Lebens. Das war seine Macht, die er über uns alle hatte: daß er seine Besonnenheit, seine Geradheit und Ehrlichkeit, seine Klarheit und seinen Wirklichkeitssinn in die Tiefen des Gemüts geworfen hatte und daß er nur auf jenem Markte stand, auf dem um unser ewiges Teil gehandelt wird.Da war endlich einmal ein jugendlich feuriges Herz, ein Geist mit der Tapferkeit und Rücksichtslosigkeit des Knaben, der ein Greis war und nichts anderes mehr vom Leben wollte als seine tiefste Schönheit und Göttlichkeit. An dem Anblick dieser mannhaften Gestalt, die unbeugsam, starr, heftig, wild, leidenschaftlich das Rapier schwang für die Dinge, die sonst in unseren Zeiten nur ein papierenes oder öliges Dasein führen, ihm aber glühendes Leben waren, haben wir uns Jahre und Jahre gelabt; und ein Labsal war uns auch seine letzte Wanderung; seine kriegerische Pilgerschaft in den Tod. Wir haben ihm alle den Tod in diesem hohen Moment von Herzen gegönnt; und doch wissen wir, es wäre nichts Kleines gewesen, was er uns weiter gelebt hätte, wenn die Kraft des Körpers gereicht hätte.Man muß bis auf die Propheten des alten Bundes zurückgehen, um Männer zu treffen, die so wie er zornige, wutentbrannte Streiter für Güte, Sanftmut, Verzicht und Brüderlichkeit gewesen sind; aber ganz ohnegleichen war er in seiner Vereinigung von grober Wahrheit und dolchscharfer Logik. Wie er das Elend auf die Regierung, wie er die Regierung auf die kriegsmäßige Gewalt, wie er dieses Soldatentum auf die durch Schule und Kirche gezüchtete Dummheit, wie er die Seelenverfassung der Mächtigen auf ihre Herzensödigkeit zurückgeführt hat, wie er schließlich demonstriert hat, daß das Ziel, die Gewaltlosigkeit, zugleich schon das Mittel ist, um dieses Ziel zu erreichen, daß alle Gewaltherrschaft zusammenbricht und alle Unrechtsqual erlischt, wenn die Knechte aufhören, Gewalt zu üben, Gewalt gegen sich selbst: das hat keiner wie er mit solcher Kraft und solcher unwiderlegbaren Einfachheit einmalig und selbstverständlich in die Köpfe gehämmert; auch sein großer Vorgänger Etienne de la Boëtie, den er, als er schon in seinem gleichartigen Wirken stand, freudig kennen gelernt hat, besaß keine solche Ungebrochenheit und heilige Macht der Rede. Tolstoi war nie vorher ein solcher Sprachkünstler gewesen wie jetzt, da er in der Sprache des Volkes zu allem Volke vom rechten Leben sprach.Von geradezu hygienischer und gymnastischer Bedeutung für ihn, für die Erhaltung seiner geschmeidigen Kraft und seiner stählernen Jugend, und ein inständig schönes Bild für uns war die immer, von Jahr zu Jahr steigende Übereinstimmung seines Lebens mit der Lehre. Er ist, soviel er auch von sich abtat, und so bewunderungswürdig er Gewohnheiten ablegte, die er verächtlich oder überflüssig fand, nie mit sich zufrieden gewesen und konnte sich nie genug tun. Viele haben es gewußt, daß er von einem Teil seiner Familie wie mit einem Wall umgeben war und daß er Jahre lang nach außen und innen gekämpft hat, um sich von dieser Umgebung und Vormundschaft der Gewöhnlichkeit, die er in menschlich-natürlicher Art lieb hatte und doch durchschaute, freizumachen. In den »Gesprächen mit Tolstoi«, die sein Freund Teneromo gerade jetzt in deutscher Sprache herausgegeben hat, wird erzählt, und keiner erfährt es ohne innige Erschütterung, wie Tolstoi sich vor Jahren schon darüber geäußert hat. »Lew Nikolajewitsch«, heißt es da, »kehrte eines Tags sehr traurig von einem Spaziergang zurück«. Er war auf der Landstraße zwei alten Bauern begegnet, die von weither gewandert waren, um den Märchenerzähler, ihn selbst nämlich, zu besuchen. Sie gehen plaudernd mit ihm dahin und wie er sich ihnen offenbart, daß er selbst der Geschichtenerzähler sei, sagen sie: »Wahrhaftig? Es könnte schon sein. Du hast ein verhärmtes Gesicht, grämst dich wohl viel. Komm her, Lew, laß dich küssen.«Wie sie sich nun aber dem Schloß Jasnaja Poljana nähern, wie die Straße in den Park einbiegt, wie eine feine Gesellschaft in einer Equipage an der Rampe vorfährt und es gar zu Tisch läutet, da bleiben sie stehen und lehnen es ab, mit ihm ins Haus zu kommen. Und der eine, eben der, der, ihn geküßt hatte, erzählt ihm die Geschichte von der Wahrheit und dem Unrecht; von der Wahrheit, die schweigen muß, weil sie mit dem Unrecht Tee getrunken hat. »So geht es auch dir«, fügt er hart hinzu: die beiden Greise aus dem Volk gehen und lassen ihn den feinen Leutchen, die er selber verachtet. »Glauben Sie mir«, sagte Tolstoi zu dem Freunde, dem er von dieser furchtbaren Begegnung berichtete, »dieses Wort traf mich wie ein zischender Stachel ins Herz ... Und jetzt, wenn ich dieses Schieben der Stühle oben höre, wenn ich dieses Hin- und Herlaufen der Lakaien, die die Herrschaften bei Tisch bedienen, sehe, quält und drückt es mich so schwer ... Ich trinke ja wirklich mit ihnen Tee. Und dieser Greis hat recht, tausendmal recht, daß ich die Wahrheit nicht sagen kann ... Ich reiße mich aber mit ganzer Seele von dem da los und bin überzeugt, daß ich es noch durchführen werde ...«Wir wissen alle, wie der Zweiundachtzigjährige es durchgeführt hat, wie er aus Gewissensnot die alte Frau und die Kinder geflohen ist, deren Tisch und Lebensführung er längst nicht mehr teilte, die er nur noch als seine Umgebung bei sich duldete, während sie, die armen Reichen, wohl wähnten, daß sie ihn, den in ihrem Reichtum freiwillig Armen, bei sich geduldet und beinahe gefangen gehalten hätten; wie er, ein umgekehrter Faust, mit der Kraft des Sterbenden in die Welt rannte, um die Welt zu fliehen; wie er, ein umgekehrter Prometheus, in die Wüste floh, weil er das Leben, sein wahres Leben liebte; wie er, ein anderer König Lear, in die Nacht stürmte und auf der Haide das Haar lieber den Winden und die Brust dem Unwetter preisgab, ehe er in das Haus der Seinen, die von ihm abgefallen waren, weil sie nie die Seinen gewesen, zurückkehrte; wie er unterwegs in einem kleinen Dorfbahnhof zusammenbrach und noch auf dem Totenbett einen Jähzornsanfall bekam, weil er sein gewohntes weiches Kissen unter dem Kopfe fand, das ihm die Tochter Cordelia untergeschoben hatte.Heiliges Rußland! Dein Lew Nikolajewitsch ist kein Selbstgerechter gewesen! Er war ein Mann und ein Kämpfer, der mit größerer Kraft und innigerer Sehnsucht, als wir alle sie vermögen, nach der Reinheit und der Einheit des Lebens begehrt hat und der ein Erbe der alten Weisheit der großen Einsamen aller Zeiten gewesen ist; mild und schrecklich ist er gewesen und gegen keinen so streng wie gegen sich selbst. Als ein Milder und Schrecklicher ist er nun in die Geschichte eingegangen und ist für uns nicht mehr der Verfasser seiner Werke, sondern die Gestalt Lew Nikolajewitsch Tolstoi. Großes, weites, unergründliches, wildes und inniges Rußland! Wenn je Propheten und heilige Männer waren, dann ist der aus ihrer Zahl, der jetzt von uns gegangen ist. Wir, die Heiden und die Völker, wir danken dir, daß du uns seinen köstlichen Anblick geschenkt hast! Wir danken dir, daß Tolstoi in uns lebt, in uns und unsern Kindern, in den Großen und in den Kleinen, wenn wir das unsere tun, um ein Leben der Ganzheit zu schaffen.
Eine Betrachtung Leo Tolstois und seiner anarchistischen Lehre wie Weltanschauung im gegenwärtigen Zeitpunkt einer von bedeutenden, politischen und sozialen Revolutionsetappen erschütterten Welt anzustellen, kommt einer grundsätzlichen und entscheidenden Prüfung seiner Auffassungen, aber auch einer Überprüfung der eigenen Zielerkenntnis und praktischen Betätigung gleich. Der Weltkrieg und die ihm nachfolgende Periode hat sehr viel gestürzt und beseitigt, was früher noch unerprobt war, dessen Anerkennung oder Ablehnung beiderseitig Theorie gewesen. Soziale und ökonomische Entwicklungsgesetze, Weltanschauungspostulate, die Arbeiterbewegung in ihren mannigfachen Formen, Bestrebungen und Erwartungen, sie haben die Möglichkeit einer Offenbarung gehabt, und es ist nicht mehr schwierig, ihre Zweckdienlichkeit auf ihre Richtigkeit zu ermessen. Aber auch die Haltung der einzelnen Individuen, die sie aufrichtenden oder niederdrückenden Prinzipien und Gedanken wie Willenselemente, kurz alle jene eigenartigen Bewußtseinsvorgänge, die sich im Individuum in den Momenten größter Tragweite kundgeben, auch sie hatten und haben heute die Gelegenheit einer Manifestation.Inwieweit haben Sie dem ungeheuren Ereignis des Weltkrieges, diesem Prüfstein für Völker und Weltteile in ihrer soziologischen, politischen wie ökonomischen Beschaffenheit standgehalten: inwieweit haben sich die den (...) Lehren anschließenden Aktionsmittel- und Methoden als wirksam erwiesen; und inwieweit bekundet sich Wirksamkeit und Betätigung der sozialen Idee und ihrer Verkörperungen in der Gesellschaft, Neues schaffend, das Alte verdrängend und Mensch wie Gesellschaft befreiend, beglückend?Wenn wir heute, zehn Jahre nach Tolstois Todestag, seit welchem sich so viel ereignet und nie wieder gutzumachendes vollzogen hat, seine Lehre im Lichte der Geschehnisse betrachten, eine Bilanz seines Wollens und Strebens zugleich mit den stattgehabten Ereignissen Ziehen, dann erhebt sich die Gestalt des großen Geistesführers von Jasnaja Poljana in solch gigantischen Dimensionen, daß wir, wenn wir Leo Tolstois Bedeutung für die Menschheitskultur zu würdigen vermögen, uns fast überwältigt findein angesichts' der immensen Konturen am Geisteshinmel, die Tolstoi auf ihm inne hat.Es soll nicht als banale Übertreibung gewertet werden, wenn ich sage: Tolstoi allein haben wir es zu verdanken, daß der Anarchismus als leuchtender Turm der Menschheitskultur noch emporragt, allen Geknechteten, allen Ausgebeuteten und allen von politischer, klerikal-theologischer und ökonomischer Ausbeutung Getretenen ein Rettungsziel, ein befreiendes Ideal und eine beglückende Gegenwartserfüllung darbietend. Nur den Lehren Tolstois haben wir die Unüberwindlichkeit und nach wie vor flammende Sieghaftigkeit der Idee der Anarchie über Staat, Militarismus, Krieg und Revolutionsphrase zu verdanken.Aus dem Schoße der modernen Arbeiterbewegung sind zwei Flügel hervorgegangen, die sich die Beseitigung des bestehenden Systems zum Ziele setzten. Sozialdemokratie und Anarchismus können, in prägnanten Ausdrücken, diese beiden Richtungen des sozialistischen Gedankens — dessen frühere Evolutionsstadien wir ganz unberücksichtigt lassen — genannt werden.An ihrer Wiege steht Leo Tolstoi, der am 9. September 1828 geboren wurde. Er hat somit die moderne Arbeiterbewegung, die Gedankenentwicklung des Sozialismus und Anarchismus, fast noch mehr miterlebt, als ein anderer herrlicher Leuchtgeist der Menschheit: Peter Kropotkin. In der Blüte der Jahre stehend, hat Tolstoi Proudhon kennen gelernt und als ein Ringender, innerlich von der Glut unablässigen Suchens Gejagter, sind die verschiedenen Metamorphosen der proletarischen Bewegung an ihm vorübergegangen.Heute ist diese Phase der sozialistischen Bewegung, die in den Dreißigerjahren begann, sich zum Vorspann der bürgerlichen Demokratie machen ließ und von ihr naturgemäß schmählich verraten ward, die damals die Macht des Staates vorübergehend in die Hände des Pariser Proletariats und seiner sozialistischen Demokratie legte, 1864 einen neuen Anlauf nahm, sich kristallisierte, aber nur in die alten Fehler neuerdings verfiel. Heute ist diese Phase, die bis 1914 währte, tot und versunken und ihre Nachwirkungen wie Epigonen hinterlassen nur dieselbe Enttäuschung, wie jene sie hinterließ, müssen ebenso unfruchtbar bleiben für die menschliche Befreiung, wie diese ganze Epoche, die im Blutmeer des Weltkrieges und der internationalen Völkerzerfleischung versunken ist.In diesem Meer von Blut, Wahn und nationalistisch-militaristischer Idiotie sind vornehmlich drei Gedanken untergegangen, die in ihrer Gesamtheit am besten ausgedrückt werden können durch die Titulatur: Bankerott, völlige Selbstzersetzung des Marxismus. Aber ganz abgesehen von seinem dogmatischen Lehrgebäude ergibt sich als Besonderheiten des Zusammenbruches der sozialen Bewegung als solcher der Untergang des Glaubens, daß das Proletariat durch die Arbeiterbewegung zu einer internationalen Einheit verbunden werde, der Untergang des Glaubens, daß eine neue Kultur- und Geistesauffassung, die des Sozialismus und der Menschlichkeit, so überwiegend Besitz ergriffen habe von der Psyche des Proletariers, um ihn zum Kriege unfähig zu machen und schließlich der Untergang des Glaubens, daß das Proletariat durch Kapitalismus und Staat, also seine ökonomischen und politischen Wesensbedingungen, dazu gebracht werde, zur Revolution überzugehen, bevor es sich als internationales Schlachtopfer für Kriegszwecke verwenden ließe, lieber die politische oder soziale Revolution zu proklamieren.Im Untergang dieser drei Glaubenspostutale brechen nicht nur diese drei in ihrer besonderen Wesensart zusammen, sondern, wer Idee, Problem und Aufgabe des sozialen Ringens und dessen Bewegung begreift, weiß nur zu gut, daß damit sämtliche Voraussetzungen und Grundlagen der Arbeiterbewegung, ihres zukünftigen Sieges auf den bisherigen Bahnen zusammengebrochen sind. Gestehen das, was ist, ist heutzutage das wichtigste: die bisherige Arbeiterbewegung, mehr als das: die soziale Bewegung aller Richtungen, soweit sie auf den üblichen Pfaden von politischen Parteien, gewerkschaftlichen Lohnkämpfen — auch in der Form des Syndikalismus, denn leider ist dieser in Frankreich nicht weniger zur Enttäuschung geworden, wie die Sozialdemokratie als Partei für den Friedensgeist der Menschheit — und marxistisch-revolutionären Kothurnen einherstelzt, ist ein Kadaver. Und sie wird in der diesem eigenartig gewesenen Lebensform niemals zu einer Umgestaltung, Beseitigung der bestehenden autoritären und monopolistischen Weltordnung führen. Das steht heute unerschütterlich fest.Leo Tolstois gewaltige kulturbefreiende Mission ist darin gelegen, die hauptsächlichsten Materialien zu einer Befreiung des Menschengeistes zusammengetragen zu haben, wie sie im Anarchismus ihre klarste Erfüllung findet, die ihm selbst aber erst dann zuteil wird, wenn er sie in sich aufgenommen, verarbeitet und weiterentwickelt hat. Tolstoi ist der größte Revolutionär des Sozialismus, und in der Läuterung, die er ihm angedeihen läßt, schafft Tolstoi jene ethischen, intellektuellen, aber auch sozial Sprengenden und neuvereinenden Glieder, die den Sozialismus zur Verwirklichung bringen und im Anarchismus ihm seine Grundlage, wie seinen Ausbau darbringen.Sein, Tolstois, größtes Verdienst ist es, Sozialismus, Anarchismus und Revolution aus den Regionen vager Schwärmerei und Zukunftsvertagung gerissen und auf den realen Boden des Kampfels gestellt zu haben. Für ihn gibt es keine Zwischenstufen, keine ökonomischen Vorbedingungen und menschlichen Massenquantitäten in der Herbeiführung des sozialen Menschlichkeitsideals. Er weiß mit Recht, daß sie dann und dort überall vorhanden sind, wo der Geist des Begreifens und Erkennens weilt und lebt — und er weiß noch mehr: nämlich, daß dieser Geist geschaffen wird durch die rücksichtslose Tat der Verwirklichung und ein kompromißloses Leben. Um es kurz zu sagen, was ich fühle und durch Tolstoi erkennen gelernt habe: Es ist die größte Täuschung, zu vermeinen, die soziale Revolution werde zum Kapitalismus und Anarchismus führen; im Gegenteil: die Verwirklichung von Sozialismus und Anarchismus durch den Einzelnen, die kleine und immer größer werdende Minoritätsgrupppe — diese Verwirklichung führt zur sozialen Revolution, die notwendigerweise ein kurzes Endstadium der Beendigung eines allmählich immer größer werdenden und gewordenen Verwirklichungsprozesses der Befreiung ist.In einer Zeit, da die kreischende Agonie des Marxismus die Allversklavung und Selbstverknechtung des Volkes durch die gewaltigste Staatsautokratie erzwingt, durch geistestötende, kapitalistische Disiziplin und Arbeitsfrohn, durch macchiavellistische Hinschlachtung des Volkes in nationalistisch-staatlichen Kriegsinteressen, all dies unter dem infamsten Jesuitismus der Lüge: solches wäre nötig, um zur Befreiung zu gelangen; wo also der Bolschewismus die Jahrtausende alte Schurkerei aller Priester und Staatskanaillen zu seinem Schiboleth gemacht hat: das Dasein auf Erden, das Leben der Menschen, ihr Ich und ihre Persönlichkeit und ihr eigenstes Lebensinteresse müsse zum Heil eines mystischen Zukünftigen, eines erst nach ihrem irdischen Wandel Entstehenden zurücktreten, diesem geopfert werden, während eben diese Priester, Pfaffen und Staatsmänner, die so sprechen, selbst so wenig daran denken, sich in der Gegenwart für die Zukunft aufzuopfern, wie etwa der Papst von Rom daran denkt sein irdisches Leben um der Herrlichkeiten willen im himmlischen Jenseits zu verkürzen in dieser Zeit, da das Wort "Kommunismus" gleichbedeutend geworden ist mit ehrlosestem marxistischem Staatsbetrug, verübt an dem irregeführten Volke, da ist Leo Tolstoi unser einziger Führer und Wegweiser, der hellste Stern geworden, dem die Menschheit folgen muß, wenn sie in Wahrheit ihre Erlösung finden will!Worin bestehen die Grundgedanken Leo Tolstois, wie sie das unvergleichlich lebensschöpferische Prinzip und Ideal des Anarchismus bereichern und es zu einer aktuellen Wirklichkeitsform im Menschen- und Gesellschaftsleben gestalten?Erst in Tolstoi wird der Anarchismus wohl weniger ein soziologisches System, dafür aber desto mehr ein Kulturbegriff des geistigen Lebens für die Gegenwart und der sie mit jenen real erfüllenden, selbstbefreienden Tat, Aktion. Dies geschieht vor allem dadurch, daß Tolstoi die Sache der Neugestaltung des gesellschaftlichen Zustandes aus den Umgrenzungen der nur soziologischen Auffassung hebt und zu der höchsten Geistessphäre des Lebenssinnes und all dessen, was dem Menschen wertvoll und wesentlich dünkt, emporträgt: Tolstoi hat diejenige Anschauung der Menschen revolutioniert, innerhalb welcher der größte Teil der europäisch-amerikanischen Kulturmenschheit aufwächst und erzogen wird.Das, was man Weltanschauung, Philosophie, Wissenschaft nennt, wird nur von einem kleinen, größtenteils privilegierten Häuflein Menschen besessen, von deren, auf Grund ihrer wissenschaftlichen oder philosophischen Ausbildung, nur eine winzig kleine Absplitterung zu einer individuell wie sozial befreienden Lebensführung und Auffassung gelangt. Sogar sehr bedetutende, liberale Gelehrte wie z.B. Häckel — gelangen auf Grund ihrer wissenschaftlichen Überzeugung keineswegs zu freiheitlichen Gesichtspunkten. Doch ganz abgesehen davon — alle diese Geisteselemente der schulmäßigen Philosophie und wissenschaftlichen Bildung leben außerhalb des wirklichen Volkes. Nicht nur, daß sie in ihren Fundamenten wie im Wesensgehalt keineswegs positive Axiome sind, sie bieten nicht einmal die moralische und ethische Gewähr für eine wirkliche ideale Erhebung des Menschengeistes und seines sozialen Milieus. Das eigentliche Volk kennt sie überhaupt nicht, und es gehört zu den unglücklichsten Begleiterscheinungen des Sozialismus, als "wissenschaftlich" gelten zu wollen, wodurch er sich von vornherein dem eigentlichen Volksverständnis entrückt, ja sogar vor diesem verschließt, eine Kaste von "Wissenden", sogenannten "Theoretikern" und eine Kaste der unendlichen Mehrheit von "Unwissenden" schafft.Durch Leo Tolstoi erst gelangen wir — und zwar in ganz unvergleichlich anderer und unendlich tieferer Form als durch St. Simon, Lamennais oder Weitling — dazu, den Anarchismus und seine kommunistische Wirtschaftsform dem Bewußtsein des Volkes näher zu bringen, in der Tat diesem entfließen zu lassen. Tolstoi hat dies dadurch erreicht, daß er, statt sich in Abstraktionen pseudowissenschaftlicher Dispute zu verlieren, die Volksphilosophie — die Religion, also insbesondere das Christentum von alledem reinigte, was für Kirche und Staat unerläßlich ist, um die Menschen in Knechtschaft erhalten zu können. Unendlich mehr als Luther ist Tolstoi ein Zertrümmerer aller kirchlichen Dogmatik und Theologie, und in gewisser Beziehung ist sein Auftreten in dessen Reinheit und Unerbittlichkeit nur mit dem der alten jüdischen Propheten, die sich gegen den Wortsinn des Judentums und seiner Gebote auflehnten, noch mehr aber nur mit der Lichtgestalt Christus zu vergleichen, von der es herzlich gleichgültig ist, ob dieser je gelebt hat oder nicht, solange wir nur seine antistaatlichen, antimammonistischen, antipfäffischen Lehren der Liebe besitzen, die das Göttliche in das Gute der menschlichen Verstandeskräfte verlegen und somit die menschliche Vernunft als das souveränste und einzige Gotteselement erklären.Hier hat Tolstoi eine Anknüpfung an das Volksbewußtsein, den Volksgeist, wie er ist, geschaffen, die grandioser nicht vollbracht werden kann; und wer die Kraft religiös-intuitiv geschauter Lehensideale aus der Geschichte des Volkes kennt, wird auch begreifen, welche todessicheren Waffen hier gegen jegliche Macht, Autorität, Gewalt und Unterdrückung des Staates und der Kirche für uns geschmiedet worden sind!Zugleich bieten sie dasjenige dar, was sonst nirgends zu finden ist: die positive Gewähr, daß neue Menschen und damit neue Zustände, neue Verhältnisse geschaffen werden. Das Christentum der Bergpredigt, wie es Tolstoi lehrt, verwandelt das einfachste, wie das geistig höchstkultivierte Individuum in einen gleichwertigen neuen Menschen. In ihm finden Bauer und Geistiger sich, beide haben ihr inneres Menschtum, ihre Göttlichkeit, zu entdecken und — zu leben! Und beide werden durch dieses wahre Christentum auf eine gemeinschaftliche Aktionsgrundlage des Kampfes und der Befreiung hingeführt: beide müssen sich gegen die Institution von, Staat und Kirche als solche wenden und ihre völlige Beseitigung nicht erst für die Zukunft, sondern schon im täglichen Lebenswandel durchzusetzen trachten, was unvermeidlich zum Zusammenbruch dieser vor allen Dingen nur durch innere Unterwerfung aufrechterhaltenen Institutionen der Allversklavung und Allvertierung geleiten muß. Wie aber ist dieser Zusammenbruch durchzuführen? Wahrscheinlich nur auf den bisher üblichen und uns leider allein bekannt gewordenen Wegen der politischen Revolution? Also durch Gewalt in kriegerisch-militärischem Sinn?Wieder begegnen wir hier der geradezu erhaben einheitlich geschlossenen Weltanschauung Tolstois, die aus Lebensführung im Sinne wahrer Lebensreligion eine Lebensumwälzung bereitet und bewirkt. Wir gelangen nun zum archimedischen Punkt des gesamten Sozialen Problems, und es ist ein Unglück für das internationale Proletariat, daß dieses geistig so verstrickt ist — durch Erziehung, wie äußere Einflüsse — in das Gewebe der Gewalt, daß das Proletariat die Wesensart der Gewalt weder erkennt noch durchschaut.Die alte Theorie des Sozialismus hat irriger Weise den Bestand des bestehenden Systems entweder in ökonomische Gesetze oder in den Staat und seine Institutionen verlegt. In Wahrheit sind sie nur Folge, Wirkung; das bestehende System der Gewalt beruht in der Gewaltbetätigung der Massen auf allen individuellen und sozialen Gebieten, und diese Betätigung entstammt der irrigen, geistlosen Gewaltverehrung des Proletariats, die künstlich gezüchtet wird durch Staat, Schule, Militarismus, Kirche, Partei und demagogenhafte Machtgier. Im Augenblick, wo das Proletariat die Betätigung der von ihm geforderten Gewalt auf allen Gebieten der bestehenden Gewaltordnung verweigert — und darin besteht der Wesenskern des Christentums, wie Tolstoi es lehrt — bricht diese ganze Gewaltordnung ohnmächtig zusammen und, was vielleicht das allerwichtigste: es entsteht keine neue — Mensch wie Gesellschaft sind endlich befreit, frei.Zu diesem Kampf einer heroischen Lebensführung, welche die soziale Revolution für jeden Einzelnen, der sich zu ihr bekennt, als eröffnet, als durch ihn begonnen erklärt — zu diesem Kampf der Selbst- und Allbefreiung hat Leo Tolstoi bis zu seinem letzten Atemzuge aufgefordert. Es ist die groteskeste Unkenntnis seines Wollens, wenn man sein Wort vom Nichtwiderstreben so ausdeutet, als hätte er Unterwerfung unter das Übel gepredigt, während er in Wirklichkeit darunter die Abkehr von jeglicher gesetzlicher und politischer Quacksalberei, wie Militärgewalt, verstand — er schrieb im zaristischen Rußland! — und zugleich das Nichtwiderstreben mittels der Waffengewalt, weil diese nie Revolution, immer nur Krieg und neue Macht herbeiführt. Und weil er verstand, daß es Narretei ist, die Arbeiter zur Waffengewalt aufzufordern, während die Arbeiter dieselben Waffen erzeugen, die sich gegen sie kehren; dieweil sie viel leichter, menschlicher und gewisser siegen können durch die Zerstörung aller Waffen und Nichterzeugung - das begriff Tolstoi unter seinetm Nichtwiderstreben; denkt nur ein bischen darüber nach, Maulhelden der Pseudorevolution! — derselben, wodurch mit einem Schlage die Gesellschaft befreit ist vom Staat, Klerikalismus, Kapitalismus und Monopoleigentum und der kommunistische Anarchismus sich als die einzige mögliche Lebensform eines natürlichen Menschenwandels in Freiheit ergibt.Das hat Leo Tolstoi uns gelehrt, und mehr als je ist er heute und für den Kampf in Gegenwart und Zukunft der bahnbrechendste Revolutionär, der einzige, der strenge fordert: Setze das, woran du glaubst, sofort in Wirklichkeit um! Lebe es! In der Aufstellung dieser strengen Forderung ist er aber auch der genialste Bahnbrecher für eine freie Menschtheitsgemeinde. Darum leuchtet uns sein Name als Inspiration voran, darum danken wir ihm, indem wir in seinem Sinne zu wirken trachten.
So wollen und müssen wir seiner gedenken an diesem, seinem Jubeltage des achtzigsten Geburtstagsfestes. Obwohl, wir müssen es rasch hinzufügen, es einem ziemlich schwer gemacht wird, wenn man bedenkt, wie viel armseliges Klein- und Zwerg-volk, wie viele gemein-journalistische Federreißerei, wie viele gierige, parteischmutzige Hände sich an dieser hellodernden Flamme einer erhabenen Geistesanschauung wärmten. In diesen Tagen wird es einem wahrlich verleidet, an Tolstoi anders als im Gefühl des Bedauerns zu denken, darüber, daß dieser große Mensch gewissermaßen zum Opfertier für alle die Wanzeriche der Tagespresse und der interessierten Meinungsverfälschungen der Parteien gemacht wird; es wird einem verleidet, überhaupt an ihn zu denken, wenn man es fühlt, daß man gezwungen ist, in einen Chor von Ehrungen zu stimmen, mit dem wir nichts gemein haben wollen, weil wir seine Urheber verabscheuen und verachten. Denn wir, die wir heute unserem Tolstoi unsere Ehrungen darbringen, haben mit jenem Chor gar nichts zu tun, unsere Ehrgefühle entstammen ganz anderem Herzen und Geiste — und wie ein Trost mutet es uns an, wenn wir bedenken, daß unsere Feier dieses Tolstoischen Geburtstages ganz außerhalb des Rahmens der übrigen Feiern gelegen ist, ja selbst verboten wurde; wir aber wollen ihn nur so feiern, wie es dem ganzen Klüngel- und Kliquentum nicht genehm, wie es aber dem Manne selbst mit dem großen Menschheitsherzen wohlig berühren mag durch diese unsere Ausnahme: — wir feiern Leo Tolstoi heute nur als Anarchist. Allerdings ist er auch ein herrlicher, ein genialer Künstler, und wir wissen das Unrecht, das er sich zufügt, wenn er seine großartige Künstlerarbeit als Produkt der Eitelkeit ausgiebt, wohl zu würdigen, können ihm darin niemals zustimmen. Aber in dieser Verhöhnung seines Genius liegt ebenfalls schon sein Wunsch, wie aufgefaßt zu werden. Große Dichter gab es zu allen Zeiten; große Denker und Menschen nicht immer. Und Tolstoi, der ein Russe ist in jenem schönsten Sinn, den uns ein Fr. Meyer (von Waldeck) in seinen Schilderungen so überaus gewinnend und wahrheitsgetreu zugeführt hat, Tolstoi weiß als Russe, daß es nicht sein Volk ist, das in Rußland seine Kunstwerke liest und ästhetisch genießt. Rußlands Analphabetentum, der Muschik, der den Namen Tolstoi kennt, der Angehörige einer städtischen Artel (Arbeiter-Genossenschaft), der nicht lesen kann, liebt Tolstoi, verehrt den Menschen nicht wegen des herrlichen Romans »Anna Karenina«, nicht wegen der »Kreutzersonate«, »Auferstehung« und »Krieg und Frieden« oder gar wegen seiner frühesten, kristallklaren, ruhige Ideale darbietenden Novellen. Dies alles ist für uns geschrieben, die wir gewöhnt sind, die Menschen aus Büchern auferstehen zu lassen; ist für die Bourgeoisie und jenen Teil der Gesellschaft geschrieben, dem es in vielem geglückt ist, seine Lebenshaltung mit jener der Bourgeoisie annähernd konform zu gestalten. Tolstoi weiß dies ganz genau und ist viel zu streng gegen sich selbst, um dies nicht zu bekennen.Der Tolstoi, der wirklich dem Volke bekannt, von diesem geehrt und geliebt wird, also vom Volk der Arbeit, der Erde und Maschine, das ist der Tolstoi, dessen Propaganda- und Aufklärungsworte in lausenden von kaum leserlichen hektographischen Abzügen von edelmütigen Vorkämpfern aus oftmals den höchsten Gesellschaftsschichten ins russische Volk hineingetragen, dort ihm vorgelesen und unter dem Volke wieder weiter kolportiert werden. Und so wie diese Vorkämpfer, um ihrer großen, heiligen Lebensmission willen, die sie über kurz oder lang ins Gefängnis oder in den Tod führt, sich aller Freude des Lebens entledigen, ihren eleganten, weltmännischen Anzug gegen die Volkstracht, das feine Damenkleid gegen den Bäuerinnenkittel umtauschen müssen, somit das, was dem Leben des Volkes eine zukünftige Auferstehung bereiten soll, über ihr eigenes Leben stellen, so liebt Tolstoi diese seine unkünstlerische, aber sozial und geistig aufrüttelnde Propagandawirksamkeit mehr als alle seine Kunstwerke zusammen. Seine gesellschaftskritischen, seine staats- und kirchenfeindlichen, einfachen Wahrheitsgedanken, die er im Volke verbreitet sieht und die ihn bis heute wirklich und einzig mit dem Volke intim zu verbinden ver- mögen, sie gehen ihm mit einem gewissen Recht über alles andere und weitere. Be- greift man nun, woher Tolstois herbes Urteil über seine eigene und die künstlerische Produktivität anderer weltbewegender Genialnaturen stammt?Aus seinem Herzensverständnis, aus seiner Geistestiefe, die sich über das eine große Faktum nicht hinwegtäuschen können, daß alle heutige Kunst eine Afterkunst ist, die nicht nach dem künstlerischen Gefühl des Volkes fragen kann, da sie nach Angebot und Nachfrage arbeitet und die dort, wo sie sich nicht beugt vor den unverrückbaren ökonomischen Gesetzen des heutigen Gesellschaftsunwesens die tiefste Tragik alles künstlerischen Seins erfährt: vom Volke nicht verstanden werden zu können , da diesem Volke von den Herrschaftselementen des Bestehenden der Geistesausblick in das Lichtreich hoher Gedanken und der Schönheit brutal verwehrt ist durch seine soziale Versklavung.Wenden wir uns zu Tolstois Anarchismus. Es ist ein gewaltiger Schritt nach vorwärts, den wir ihn machen sehen, diesen ehemaligen Kaukasusoffizier, der anläßlich der pfäffischen Einsegnung der Waffen zur Zeit des russisch-türkischen Krieges, der gleichzeitigen Einsegnung auf beiden Seiten und der Herabflehung des himmlischen Gottessegens zum Heile der Mordzwecke des einen wider den anderen Potentaten — der anläßlich dieser erbärmlichen Lügenkomödie unserer offiziellen Zeit sehend ward. Von da an kannte Tolstoi kein Bleiben mehr beim Militär. Er nahm seinen Abschied und der bisher flott verschwendende Lebemann und Graf hielt Einkehr mit sich selbst, warf sich mit rätselhafter Energie auf das Studium der altgriechischen und hebräischen Sprachen, nur um in den wahren Geist der Bibelevangelien eindringen und die schwindelhaften Kirchenübersetzungen, mit ihren unzähligen theologischen Variationen entwirren zu können. Was Tolstoi auf diesem, für einen Russen vollständig begreiflichen Drangeswege fand, war etwas Großes: er fand, ähnlich wie Buddha, in der Entsagung sich selbst und entdeckte auch ein Vorbild, das ihm bisher als Gottessohn vorgestellt geworden: er entdeckte den herrlichen Menschen Rabbi Jeschua, den die Römer Jesus nannten und erst Paulus zu einem Jesus Christus stempelte. Er sah das Geistesbild eines Menschen vor sich, der im edlen Streben nach Abschüttelung des römischen Joches unendlich viel gelitten haben soll, der uns heute eine vorbildliche Idealgestalt sein könnte, wenn nicht über fünfzehn Jahrhunderte pfäffischer Verdummungstheologie und pfäffischen Betruges uns aus dieser Menschengestalt eine göttliche Figur gemacht hätten, damit dieselbe jeder menschlich höheren Bedeutung beraubend.Denn was ist das Leid, das Jesus ertragen haben soll, für einen Gott, wenn derselbe existiert? Kein Leid. Nur als Mensch kann uns Jesus groß, verehrungswürdig erscheinen, niemals als Gott, und es gehört zur Ironie der Weltgeschichte, daß die fanatischesten Anhänger dieses Mannes ihn, im verblendeten Ringen um seine Göttlichkeit, gerade sein Größtes, sein Allmenschliches entreißen wollten und wohl auch entrissen haben. Diese Persönlichkeit lehrte Tolstoi ein einziges Gesetz: Die Liebe zum Nebenmenschen.Und vor der grandiosen Wucht dieses Gesetzes tritt für uns, wie auch für Tolstoi, wieder die ganze große Lichtgestalt des Rabbi Jeschua in den Hintergrund. Um so mehr, als wir mit dem großen Russen es wissen, daß dieses »goldene Gesetz des Lebens« nicht von Jeschua zuerst erdacht ward, daß wir es in allen und weit älteren Religionen als das Christentum vorfinden, daß die Stoiker, besonders Seneca, es uns weit umfassender lehrten. Doch dies ist schließlich Nebensache, und Prophet bleibt dennoch nurderjenige, dem es gelang, die Heilslehre bleibend und dauernd zu machen. Darin ist die Gestalt des Rabbi allerdings ehern und unerschütterlich durch fast zwei Jahrtausende, ist seine Bergpredigt der Inhalt der Bibel, neben dem all die anderen, so auffallend widerspruchsvollen Evangelien ebenso hinfällig werden, wie alle die Bücher Mosis. Aber diese Bergpredigt genügt, denn sie kann eben nur in einem Sinne ihre Auslegung finden, im Sinne des humanistischen Idealismus, und selbst die Gewaltsstützen aller Vergangenheit und Gegenwart haben es nicht anders getan.Es war somit nichts als eine geistige Konsequenz, wenn Tolstoi, der tiefinnerlich nur an die Regenerationsfähigkeit des Volkes glaubt, seinen Anarchismus an den religiösen Vorstellungen des russischen Volkes weiterbaute. Und mit großem Recht; denn die Entwicklung Rußlands hat es mit sich gebracht, daß der Geist des naturwissenschaftlichen Materialismus, der zur reinen Auffassung des Universums geleitet, nur in den höheren Schichten der Gesellschaft Einzug halten konnte. Das Volk selbst ist religiös, aber glücklicherweise nicht kirchlich-religiös. Das beweisen die hunderte von religiösen Sekten, die in Rußland bestehen und sich wie ein riesiges Netz miteinander vereinigen, wenn es den Widerstand gegen die griechisch-katholische Kirche gilt. Und alle diese Sekten wenden sich gegen die Kirche, weil sie die wesentlichsten Bestandteile des Urchristentums in sich aufgenommen haben und hochschätzen, sind gegen die Kirche, weil sie in ihr den Geist der Herrschaft, Autorität und Unterdrückung, den Geist des Eigennutzes und des gleisnerischen Reichtums erblicken, ihrerseits den Brudersinn der religiösen Gemeinsamkeit, des Kommunismus und das Gefühl des intimen, persönlichen In-Beziehungtretens mit »Gott«, also für sie des Guten, ein Gefühl, das alle Priester und Kirchen ausschaltet, hegen und pflegen.Mit dieser Grundlage des Geisteslebens seines Volkes hatte Tolstoi zu rechnen, und darauf mußte er bauen, wollte er jemals Eingang finden in dessen Seele und Sehnsucht. Mögen diese notgedrungenen knappen Erklärungen uns einen klareren Begriff von der durch- aus notwendigen Art des Tolstoischen Anarchismus bringen. Im Kerne seines Wesens unterscheidet sich dieser Anarchismus als einziges Strebensideal der Menschheit gar nicht von jenem anderer Vorkämpfer dieses größten Menschengedankens der Freiheit. Tolstoi ist für die Abschaffung des Staates, er ist Gegner jeder Gesetzgebung durch Menschen über Menschen, ist Gegner des Monopoleigentums an Grund und Boden, wie überhaupt jedes Monopols im produktiven Gesellschaftsleben. Er vertritt den durchaus richtigen Standpunkt, daß unsere heutige Fabrikstechnik, unsere städtische Hyperkultur, unsere ganzen nationalökonomischen Berechnungen zu Gunsten des Profitfaktors und zu gräßlichstem Ungunsten des Menschen nichts sind als Eigennutzinteressen, die zu weichen haben gegenüber dem einfachen, natürlichen Leben des Bauern, der physischen Arbeit, die uns in intime Berührung treten läßt mit Mutter Erde, der wirklich produktiven Arbeit für die eigenen Bedürfnisse, statt der unproduktiven heutigen, für die Gelüste und Luxusbedürfnisse des Reichtums. Tolstoi haßt und verachtet die Vertreter des modernen Gesellschaftslebens, aber sein Haß ist freilich nicht der wildlodernde des alten Revolutionärs vom Typus etwa eines Karl Heinzen, sondern der Unwille über den Schaden, den unentwickelte Kinder an anderen, wehrlosen Kindern anrichten, das Leid, das sie ihnen zufügen.Denn Tolstois Anarchismus geht immer an Hand des Zauber wortes Liebe , ist immer eine neue Bergpredigt. Sein Anarchismus besitzt aber auch etwas ungemein Konstruktives, wie wir sofort sehen werden. Leo Tolstoi ist Religion nicht ein bildlich wahrnehmbarer Gottesbegriff, auch nicht die Verehrung irgend einer Jesugestalt, eines Bibelwortes, einer Reliquie. Alles dies sind ihre Äußerlichkeiten, die die Kirche geschäftlich ausbreitet. Für Tolstoi ist Religion: ein wahres Leben im Dienste des Wohles deines Nebenmenschen, im Dienste der Erfüllung einer höheren Pflicht, sich und sein ganzes einzusetzen für die Verwirklichung des Guten. Was ihm dieses ist, weiß man, wenn man das Ideal des Anarchismus kennt; es ist auch das seine, und nur in einem Sinne wird er von vielen nicht anerkannt und verkannt; im Sinne einer rein taktischen Auffassung des Werdeprozesses der neuen Gesellschaft und des neuen Lebens und des neuen Menschen.Ich habe aus Raummangel keine Gelegenheit, mich hier über Tolstois ethisch-sexuelle Anschauungen zu äußern; es ist im Bereiche dieser Skizze überflüssig, in bezug auf seine diesbezüglich anders gearteten Ansichten von den unseren, die geformt wurden und sich mehr oder minder im Einklang finden mit jenen eines Ibsen oder Meredith oder Morris und Carpenter, Worte zu verlieren. Was aber nicht überflüssig sein kann, ist die Frage, ob wir, die wir, mit Tolstoi, kommunistische Anarchisten in der heute theoretisch geläuterten Auffassung dieses Namens sind, ob wir, die wir aber auch Anhänger der sozialen Revolution, als der befreienden Humanitätsaktion der nach Freiheit ringenden und für sie geistig gereiften Massen sind — ob wir auch unter letzterem Gesichtswinkel berechtigt sind, ihn zu feiern, ihn anzuerkennen? Ist doch Tolstoi bekannt als einer, der angeblich das Nichtwiderstreben, das Böse zu ertragen lehrt und der mit seinem Hohn »auch die Freiheitsbestrebungen trifft«, wie ein gewisser Wortmacher in der »Arbeiter-Zeitung« recht unsauber-unwahr orakelt.Ob wir ihn ehren sollen? Kameraden, leset Krapotkins Buch über »Ideale und Wirklichkeiten der russischen Literatur«, und ihr werdet nicht mehr fragen. Ebenso wie Tolstois Christentum, das doch nichts mit dem bestehenden zu tun hat, ist Tolstois Taktik falsch aufgefaßt und beurteilt worden. Es klingt wie ein Hohn, wenn Leute, die ihn ganz wie die Repräsentanten des Bestehenden fürchten, wenn z. B. die Sozialdemokraten, diese notorischen Nichtstuer für das Volk, die von dessen instinktivem Klargefühl, daß ihm ein Unrecht durch das bestehende System geschieht und daß ein neues organisiert werden muß, recht flott und angenehm leben, wenn solche Leute es einem Tolstoi vorzuwerfen wagen, er predige das Nichtstun gegenüber dem Feind des Staates und der Unterdrückung!Seien wir aufrichtig: es gibt keine konservativere Kraft in der Gegenwart, die mehr das Volk zur vollständigen Lethargie «entwickelt» hat, mehr zur Passivität niedergezwungen hat, als die Sozialdemokratie. Tolstoi aber lehrt nie und nirgends Tatenlosigkeit, wie diese Herren es den Anschein geben möchten. Der Mann, der Soldaten und Bauern, an ihr Menschtum appellierend, zum aktiven Widerstand aufruft; der wohl das Komödienspiel der Duma und den mordenden Schwindel geißelte, den die russische Bourgeoisie mit dem Volke aus politischem Eigennutz während der Jahre 1905 bis 1907 getrieben; den Bauern in Georgia aber, die ihre Herren nach der Stadt gefahren und dann gemeinschaftlich sich Grund und Boden in freier Bestellung aneigneten, eine Glückwunschdepesche sandte — dieser Mann ein Prediger der Tatenlosigkeit? Welcher Unsinn!Was Tolstoi wirklich lehrt, das ist: die Vermeidung des gewaltsamen Widerstandes durch die unmittelbare Verwirklichung des Ideals. Tolstoi ist gegen die blutige Gewalt und erklärt als seine Waffe den passiven Widerstand. Das ist der Widerstand, der darin besteht, daß, nach seiner Lehre, Hunderte und Tausende von Soldaten den Dienst, die Millionen von Muschiks alle Steuern an den Staat, ihre Arbeitskraft an die Gutsbesitzer verweigern, ihre Arbeit für sich verwerten sollen. Tolstoi vertritt den Grundsatz: Lebe das neue Leben der Gemeinschaft, gehorche nicht mehr den Staatsmännern, füge dich nicht mehr der Herrschaft der Kirche, achte nicht mehr das Unrecht des Bodenwuchers und seines Monopols durch den Grundbesitzer - kurz, lasse dich nicht mehr von Herrschern und Ausbeutern gebrauchen, weil dies stets nur Mißbrauch mit dir ist.Man wird ehrlicherweise zugeben, daß dies ein machtvoller Kampfesruf ist, der das Ziel immer als erstes und einziges vor Augen hat und jeden Kompromiß verschmäht. Und wer vermöchte es zu leugnen, daß Tolstoi vollkommen Recht hat, wenn er sich gegen die bisherige Form der russischen Revolution kehrte? Für einen jeden Anarchisten ist das Problem so: das russische Proletariat opferte sich bisher für die Interessen der nach politischer Karriere gierenden Bourgeoisie und wurde von dieser ihren Streber- und Machtinteressen geopfert, dann fallen gelassen. Wie anders wäre der Kampf ausgefallen, wenn statt den einigen hunderttausend Stadtproletariern nur ein bis zwei Millionen Bauern aus den übrigen neunzig Millionen Dienst und Gehorsam und Abgabe gegenüber dem Staate und, dem Gutsherrn einfach verweigert hätten, indem sie sich des Landes durch den Anbau für sich selbst bemächtigt hätten?! Zwei Millionen Menschen kann man nicht in die Gefängnisse werfen, unmöglich töten. An dem passiven Widerstande in dieser Form wäre das russische Zarentum und ökonomische Aussaugertum bankerott geworden, unweigerlich zu Grunde gegangen und säße heute nicht im Sattel oder mit parlamentarisch-ministeriellen Mitschmausern an reich bedeckter Tafel.Weshalb wir dennoch nicht allein an den passiven Widerstand im Sinne der endgültigen Befreiung glauben? Aus zwei Gründen: Erstens, weil Tolstoi selbst nicht an ihn als ein endgültiges Befreiungsmittel glaubt, zweitens, und dies ist das wichtigste Moment, weil wir daran verzweifeln, daß es in unserer heutigen Welt je möglich sein wird, viele Millionen zu einheitlichem, idealen Kampfe — und Millionen Menschen sind zum passiven Widerstand im Tolstoi-Sinn nötig! — empor zu läutern. Die kapitalistische Welt ist mit ihren drückenden Verelendungstendenzen übermächtig. Der befreiende Endkampf des Volkes wird wohl nur hunderttausende Idealisten, wirklich durchdrungener Freiheitskämpfer im Todeskampfe mit den bestehenden Verhältnissen finden — niemals aber so viele, daß durch ihre bloße Passivität die Herrscher und Ausbeuteran und für sich ohnmächtig und überwunden wären.Doch dies sind taktische Probleme und Fragen, die am entschiedensten die Zukunft lösen wird. Vielleicht trifft jener den richtigen Durchschnitt, der es mit einer Synthese des passiven Widerstandes eines Tolstois und der sozialen Revolution eines Krapotkin — zwei Idealgestalten der Menschheit — gedanklich versucht. Und die Zeitereignisse, wie sie machtvoll nach Auslösung und Erlösung drängen, scheinen die Annahme zu bestätigen, daß die soziale Revolution der Zukunft wohl eine glückliche Vereinigung von passivem und gewaltsamen Widerstand sein wird; hauptsächlich aber doch der erstere, der letztere meistens nur dorten, wo das sich etwa abermals reckende Alte der Reaktion das kaum errichtete Neue der sozialen Freiheit der Anarchie und ihres ökonomischen Grundgebietes, die Gleichheit, wird zu erschüttern versuchen.Immerhin erzeugen beide taktischen Propagandaformen, jene des passiven und aktiven Widerstandes, zwei Kämpfertypen, von denen man keinen vermissen möchte, wenn man sie beide gekannt und beobachtet hat. Wir fühlen uns vollkommen frei von allen Übertreibungen des Tolstoischen Gedankenganges, doch dies wissen wir, daß ohne die tiefinnerst und mächtig die Menschen erfassende Überzeugungsreligion eines Tolstoi diejenige Regeneration und geistige Wiedergeburt der Menschen nicht stattfinden kann, deren gerade die Kämpen der sozialen Revolution im Krapotkinschen Sinne bedürfen, um stählerne Ausdauer und unerschütterlichen Kampfesmut- und Glauben zu haben. Innenrevolutionen im Menschen sind unerläßlich für den Anarchismus, um Wirklichkeit und Vollendung zu werden.Leo Tolstoi selbst ist uns einer der größten und edelsten Vorkämpfer des zukünftigen Menschheitsglückes. Er, der Anarchist und Bauernkommunist, der für das Reich des Ideals in ihm die Zukunft seines Lebensganges als Adelssprosse und Machthaber dahin gegeben, freudig dahingab für das edel Menschliche, dessen endlichen Sieg er fühlt und vorbereitet, er gehört unserer Idee, unserem großartigen Weltanschauungsbilde der Herrschaftslosigkeit an — diese Idee, die den Achtzigjährigen noch stählt im Kampf gegen die heutige Welt der Tücke, dieser erhabene Gedanke, der alles echt Lebende durchdringt und dadurch immerwährend neues und reicheres Leben zeugt.
Die Revolutionäre von heute hätten sich um Leo Tolstois hundertsten Geburtstag nicht bekümmert, wenn er in dem Augenblick gestorben wäre, als er sein dichterisches Werk abgeschlossen sah und die Zeit und die Mühe, die es ihn gekostet hatte, verfluchte, da er sie der Arbeit für die Wahrheit und für die Freiheit der Menschen gestohlen meinte. Die Literaten, Kunstschwätzer und Schöngeister von heute hätten die Gelegenheit des hundertsten Geburtstages Leo Tolstois zum Ausschwitzen von Gedenkartikeln erst recht verpaßt, wenn er sein niedergeschriebenes Lebenswerk nicht mit der Kreutzersonate und Anna Karenina, sondern gleich mit dem Aufruf an die Menschheit begonnen hätte; denn sie hätten von solchem Lebenswerk eines prophetenhaften Riesengeistes nie erfahren, wäre ihnen dieser Geist nicht zuvor in ihren Fachbezirken begegnet. Die Philosophen von heute halten sich ohnehin nicht für bemüßigt, vom hundertsten Geburtstag Leo Tolstois anders als mit dem Hinweis Akt zu nehmen, daß sein Vermächtnis in ein anderes Ressort gehöre, nämlich in das der schönen Literatur, der religiösen Sektiererei und der Politik. Die historischen Materialisten haben es, wie bei allen Gelegenheiten so auch beim hundertsten Geburtstag Leo Tolstois am leichtesten, die richtige Einordnung seiner Persönlichkeit, seiner geistigen Kraft und der Wirkung seines Schaffens auf das Geschehen seiner Zeit und das Verhalten seiner Zeitgenossen und Nachfahren zu treffen, da sie über den Vorteil der marxistischen Patentlösung verfügen: man betrachte den Stand der kapitalistischen Produktionsweise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vergleiche damit das Lebenswerk Leo Tolstois und erkenne, daß seine Romane und Dramen, seine Lehren und Mahnungen, seine Entwicklung vom genießerischen Offizier zum asketischen Weltverneiner, seine Familienkonflikte und seine Verbrüderung mit seinen bäuerlichen Schloßnachbarn, seine künstlerische Meisterschaft und seine Verdammung der Künste, der Weltsitten, des Staates, der Ausbeutung, der Autorität und der Sinnenlust und endlich seine Flucht in die Einsamkeit die natürlichsten Begleiterscheinungen der ökonomischen Zustände seiner Zeit waren. Zwar waren Dostojewski und Turgenjeff, Zola und Ibsen, Hebbel und Keller, selbst noch Strindberg und Wedekind seine Zeitgenossen, um nur solche zu nennen, die über das dichterische Vermächtnis hinaus Gesellschaftskritik und soziale Ermahnungen ihrem Werke nachklingen ließen, und sie alle haben von Tolstoi gänzlich verschieden gelebt, gewirkt, gesehen, gedichtet, gesprochen, geurteilt und prophezeit, - macht nichts: wenn ihr die Dinge nur richtig historisch-materialistisch anschaut und dabei nicht versäumt, handfest dialektisch zu denken, werdet ihr begreifen, daß sie alle nur Kinder ihrer zeitgebundenen Wirtschaftsform waren und somit in ihrer aller Erscheinen und Aeußern nichts war, was den Marxisten vor Rätsel steilen könnte.Es sei gestattet, den Eindruck beim Namen zu nennen, den die Festartikel der bürgerlichen und proletarischen, der literarischen und ethischen, der religiösen und atheistischen Gedenkschreiber zum hundertsten Geburtstage Leo Tolstois auf mich gemacht haben: ich erinnere mich nicht, jemals, wenn ein Kalenderzufall die Hirntätigkeit aller Meinungsmacher zur Behandlung eines bestimmten Gegenstandes beanspruchte, in sämtlichen Dialekten der Geistesverrenkung ein so hilfloses Geschwafel, ein so jammerwürdiges Vorbeireden an der wirklichen Erscheinung des Gefeierten vernommen zu haben. Man zerbröckelt das Lebenswerk der weitaus mächtigsten Persönlichkeit einer ganzen Geschichtsepoche in seine einzelnen Bestandteile, hält sorgfältig die Erzeugnisse einer dichterischen Kraft, die Denken, Leben, Verhalten, Urteilen, Aussehen, wechselseitige Beziehungen der Menschen mit unerhörter sachlicher Schärfe und mit der Unerbittlichkeit leidenschaftlicher Wahrheit zu lebendiger Wirklichkeit zu gestalten weiß, getrennt von den erschütternden Aufschreien einer seherischen Natur, die den klarsten Verstand eines Jahrtausends mit dem Reichtum seiner glutvollsten Seele nährte. Man beeifert sich, aus der gigantischen Wildheit schöpferischer Urgewalt eines unfaßbar großen menschlichen Geistes allgemeine Lebensregeln herauszudestillieren und bemißt an der Lebensführung der Privatperson Tolstoi die Richtigkeit oder Verkehrtheit seiner Weltanschauung und seiner Lehren. Ja, es gibt sogar „Tolstoianer“. Das sind Leute, die glauben, wenn sie statt Schweinekoteletten Radieschen essen, statt Doppelkorn Orangeade trinken, Gott und Heiland aus den Klerikerkirchen zu den ernsten Bibelforschern verfrachten, die Revolutionäre händeringend beschwören, sie möchten doch, wenn sie die Welt umkrempeln wollen, dabei vor allen Dingen keine gefährlichen Werkzeuge verwenden, damit niemand zu Schaden komme, und, da Tolstoi ja leider auch die fleischliche Lust des Geschlechtsbetriebs verpönt, sich manchmal durch kalte Wasserumschläge gegen den Überschwang unkeuscher Begierden schützen, - dann werden sie ihres Meisters würdig leben und alle Zeitgenossen beschulmeistern dürfen, die ohne Angst, Darm und Gemüt zu vergiften, ihre Zigarre qualmen und selbst um des Kusses eines frischen Mädels willen mal eine Stunde weisen Geschwätzes über die wahre Tugend verabsäumen.Tolstoi selber war alles andere als ein Tolstoianer. Diese Gestalt überhaupt auf eine Formel bringen wollen, heißt von ihrer Größe und Weltbedeutung unberührt geblieben sein. So vorsichtig man im allgemeinen mit der Bezeichnung eines Menschen als Genie sein sollte, hier ist gar kein anderer Begriff anwendbar. Hier wirkt ein Riese, dessen Maße in kein noch so schlau ausgedachtes System passen: ein Riese im Schauen, Horchen, Denken und Fühlen, ein Riese im sprachlichen Ausdruck und im seelischen Erfassen der Weit, ein Riese in der Klarheit seines Wollens und in der Wahrheit vor sich selbst, ein Riese in den Anforderungen an die eigene sittliche Kraft und an den Erkenntniswillen der anderen, ein Riese in der Folgerichtigkeit der Logik und ein Riese sogar in den Widersprüchen seiner Daseinsäußerungen. Wer aber von diesen Widersprüchen aus das Wesen Tolstois erklären will, wie das Lenin in seinem erstaunlich oberflächlichen Aufsatz zum 80. Geburtstag versucht hat, der jetzt von der kommunistischen Presse als aller Weisheit letzter Schluß ausgegraben worden ist, der beweist nur, daß ihn die Gewöhnung an schematisches Urteilen der Gabe beraubt hat, das Wirkliche als Synthese der Mannigfaltigkeit zu erleben. Für einen Mann wie Lenin, der nie müde wurde, für alle Kritik die Methode des dialektischen Urteilens zu empfehlen und der übrigens selbst aus hunderterlei Widersprüchen zusammengesetzt war, war die versimpelnde Charakteristik der überragenden Figur unseres ganzen Zeitalters mit der Aussortierung von lauter Einerseits-Andererseits schon eine bedenklich armselige Leistung. Nur langweilige Naturen sind frei von Widersprüchen; nur Spießbürger pochen mit Stolz darauf, daß sie sich in 30 Jahren oder länger niemals von einer Ansicht zu einer anderen haben überzeugen lassen, niemals vor entscheidenden Entschlüssen gezögert haben, das Schubfach aufzuziehen, in dem für alle Fälle und für alle Dinge des Lebens das unfehlbare Rezept jederzeit zur Hand liegt; nur kümmerliche Wachtmeisterseelen durchschnüffeln unentwegt die Vergangenheit des Nachbarn, um ihm im Handeln oder Denken triumphierend einen Fehltritt oder eine Inkonsequenz nachzuweisen. Mit solchen Albernheiten einem Genie wie Tolstoi beikommen wollen, bedeutet trostloses Unvermögen, über den Horizont einer beschränkten Lehrmeinung hinwegzusehen.Leo Tolstoi muß, will man seiner ungeheuren Erscheinung nahe kommen, als einheitliche elementare Persönlichkeit, dabei zugleich als lebendiger und von Leidenschaften bewegter Mensch wie als revolutionäre, an den Grundfesten der Gesellschaft rüttelnde Naturgewalt erkannt werden. Seine Herkunft aus dem russischen Hochadel, seine Frühzeit als leichtlebiger Offizier, seine Zeitgebundenheit - nennt sie meinetwegen Verwurzelung in den ökonomischen Entwicklungszuständen -, seine Behinderungen durch enge Familienverhältnisse, die besonderen geistigen Bewegungskräfte seiner Umwelt, dies alles hat selbstverständlich auf sein Schaffen und Verhalten eingewirkt, insofern als alles Denken und Handeln mit zahlreichen Fäden an das unmittelbar Nahe in Zeit und Raum geknüpft ist und nicht in der leeren Atmosphäre hängen kann. Aber dies bezieht sich doch nur auf das Thema des Erlebens und Wirkens, nicht auf den seelisch-geistigen Inhalt und die Art eines weltbewegenden Genies. Wer sich von Tolstois reißender Urkraft umbranden läßt, der wird nie die Frage stellen, ob er denn eigentlich mit seiner Auffassung über Sinn und Gestaltung des Lebens recht hatte oder nicht, ob sein Urteil über die Kunst, über sein eigenes Kunstschaffen dauernde Geltung habe oder nicht, ob der religiöse Mystizismus, aus dem seine Verwerfung des Lebensgenusses in jeder Form kam, unsere Haltung zu beeinflussen habe oder nicht, sondern der wird die Gesamtheit des Menschen Tolstoi zu erfassen suchen und die Wirkung seines Werkes und seines Wesens auf Gegenwart und Zukunft zum Wertmesser machen.Wirkung! Alles andere in der Welt ist eitel. Tolstoi war ein Wirkender, wollte nichts anderes sein und sein Leben und Schaffen war ein unausgesetztes Ringen um Wirkung, das heißt um Verstandenwerden. Seht seine Romane, Novellen, Theaterdichtungen durch. (Bei dieser Gelegenheit sei eindringlich aufmerksam gemacht auf die 14 bändige schöne und preiswerte Ausgabe des dichterischen Werks Leo Tolstois, das der Malik-Verlag zum 100. Geburtstage veranstaltet.) Die unvergleichliche Darstellungskraft auch schon in den Schöpfungen, in denen der Dichter mit dem Willen zu wirken noch nicht unmittelbar den Willen zu werben verband, wie in der Kreutzersonate und in Auferstehung, sagen wir in Anna Karenina und Krieg und Frieden, beruht auf der Fähigkeit, immer und überall nur Wahrheit deutlich zu machen. Will man Tolstois Charakter im ganzen auf eine Formel bringen, so kann sie nur die sein, daß alles, was er tat, sagte, dachte, schrieb, wollte und predigte, von dem unwiderstehlichen Drang nach Wahrheit und Bekennertum bestimmt war. So wahr wie seine überwältigenden Kriegsschilderungen in Krieg und Frieden, ist seine spätere Verdammung der eigenen Werke wie der Kunst insgesamt. Denn die Wahrheit, die Tolstoi zur Umkehr vom früheren Wege bewog, war die Einsicht, daß die Wirkung durch die Kunst nicht einfach, nicht unmittelbar genug sei, daß sie gehemmt sei durch den Ehrgeiz des Künstlers, verzierte Wahrheit zu geben statt wirkender Klarheit. Das Wahrheitsbedürfnis des Mannes ließ ihn seine philosophischen Betrachtungen über die Pflicht des Menschen bis zu völlig lebensverneinenden Folgerungen treiben, bis zur Forderung der widerstandslosen Hinnahme körperlicher Gewalt und bis zur Verdammung des geschlechtlichen Verkehrs. Zugleich aber konnte diese leidenschaftliche Natur wutpolternd mit den Fäusten zuschlagen, wenn der Augenblick es so von der Wahrhaftigkeit verlangte, und der Keuschheitsprediger konnte noch mit über 70 Jahren von der Arbeit aufspringen, weil er der Lockung der drallen Wade einer Stallmagd nicht widerstehen konnte, ohne vor sich selbst eine Unwahrhaftigkeit zu begehen. Dann wieder verlangte sein Bekennerdrang die Anklage gegen die Schwachheit des Fleisches im Tagebuch. Wahrheitseifer läßt Tolstoi die christlichen Sittenlehren in sich aufnehmen, die den Bauern geläufig sind, mit denen er sich verständigen will, die er zur Anwendung ihrer sozialen Verpflichtungen bewegen will. Aber Wahrheitseifer läßt ihn auch gegen den Aberglauben der religiösen Dogmen donnern, die eine Gottheit außerhalb der menschlichen Seele behaupten, und derselbe Mann, der sich mit seinem Innern auseinandersetzt, indem er darin den Gott und Vater zum Zeugen seiner seelischen Kämpfe anruft, schreibt das Geständnis nieder: „Wenn ich mit eigenen Augen die Auferstehung und Himmelfahrt Christi gesehen hätte, würde ich nicht nur nicht daran glauben, ich würde einen Gott, der imstande wäre, solche Gemeinheiten zu begehen, verfluchen.“Alle Bekenntnisse solcher Art, mögen sie einander vollständig entgegengesetzt sein, entspringen dem unbedingten Wahrheitswillen Tolstois, und es ist kein Widerspruch seiner Natur, sondern die notwendige Ergänzung der verschiedenartigen Kundgebungen einer genialen Mannigfaltigkeit, wenn, wie Maxim-Gorki erzählt, Tolstoi im Gespräch über sexuelle Dinge die krassesten Soldatenausdrücke benutzte und bei dem Bericht über eine Begegnung mit einer Frau grob die Frage zwischenwarf, warum der andere sie denn nicht gleich genommen habe.Dieser gewitternde Geist, dem sich die ewigen Fragen der Moral und Religion in immer verschiedener Form zur Beantwortung vor den Wahrheitswillen stellten, erkannte die von Menschen getroffenen Veranstaltungen und Einrichtungen mit der nie getrübten kritischen Helligkeit eines Sehers in ihrer Faulheit, Abgeschmacktheit und verbrecherischen Unnatur. Hier gab es keine Gegensätze zwischen Erkenntnis und Temperament, hier folgte auf die erkannte Wahrheit unmittelbar die eindeutige Anklage und ihre Nutzanwendung. Mit einer sachlichen Logik, mit einer Deutlichkeit und Gründlichkeit im Ausdruck, die nur dem größten Sprachkünstler und dem uneigennützigsten Wahrheitssucher möglich ist, enthüllte Tolstoi das Wesen der staatlichen Gesellschaft, die Ungerechtigkeit aller menschlichen Beziehungen in der kapitalistischen Wirtschaftsgestaltung, die Tollheit des Kriegsdrills, der gegenseitigen Ausbeutung, des Nationalismus, der Machtausübung von Menschen über Menschen in jeder Form. Hier aber genügte Tolstoi zum Wirken unter den Menschen nicht die Darstellung ihres Elends; hier verlangte er Abwehr, Maßnahmen der menschlichen Würde gegen ihre Entwürdigung. Hier ist Tolstois Vermächtnis an unsere Gegenwart, sein Wirken durch uns Gegenwärtige in die Zukunft; hier erhebt sich der Tolstoi, dessen hundersten Geburtstag gelöbnishaft zu begehen unsere Verpflichtung ist, der Revolutionär Tolstoi.Es ist völlig gleichgültig, ob Tolstoi seine revolutionären Ratschläge auf Worte der Bergpredigt und sonstige Evangeliensätze stützt oder sich ohne Umweg an das Gewissen der Menschen wendet. Von ungeheurer Bedeutung sind die Ratschläge selbst, die sich zusammenfassen lassen in den einen, der die Formel des revolutionären Widerstandes selbst ist: Wollt ihr ein Übel los werden, so beteiligt euch nicht daran. Wollt ihr keinen Krieg, so führt ihn nicht, wollt ihr keine Panzerkreuzer, so baut keine; wollt ihr keine Ausbeutung, so verweigert den Ausbeutern eure Arbeitskraft; wollt ihr keine Autorität, so verlernt den Respekt vor den Autoritäten; wollt ihr keinen Staat, so habt keine Angst vor ihm, vor seinen Gesetzen und Strafen; wollt ihr keine Sklaven sein, so duldet keine Herren, und wollt ihr nicht unwürdig leben, so lebt würdig oder sterbt würdig.Die autoritären Kritiker versichern uns, Tolstoi sei kein Revolutionär gewesen, denn er habe jede Gewalt verneint. Auch gibt es vermeintliche Tolstoianer, die versichern uns, Tolstoi sei der allein richtige Revolutionär gewesen, daher sei niemand Revolutionär, der die Gewalt unter gewissen Bedingungen bejahe. Herrschaften. Tolstoi hat in allem, was er verkündet hat, um der Deutlichkeit willen absolut gesprochen. Da er den Krieg gehaßt hat, hat er die Kriegsgewalt verworfen, geächtet. Tolstoi wußte so gut wie einer, daß niemals das Absolute über die Lebendigkeit des Augenblicks herrschen kann. Tolstoi verwarf die Gewalt, um das Einfache, was er gegen den Krieg zu sagen hatte, nicht zu verwirren mit der Einschränkung durch Ausnahmen, wie sie das Leben schon selber schaffen wird. Tolstoi sagt in seinem Tagebuch: „Alles ist bedeutungslos außer dem, was wir in diesem Augenblick tun.“ Aus dieser Einsicht erklären sich alle scheinbaren Widersprüche in seinen eigenen Daseinsäußerungen; in ihr aber liegt die richtige Lehre enthalten, daß wir in strenger Wahrung unserer grundsätzlichen Erkenntnis dem Augenblick die Entscheidung über die Notwendigkeiten des revolutionären Kampfes überlassen sollen. Es hat Menschen gegeben, Schüler Tolstois, die dem Staate ihr Leben als Soldat verweigert haben, die es aber der Revolution mit der Waffe in der Hand zur Verfügung stellten. Leo Tolstoi hätte sie leuchtenden Auges als die wahren Versteher seiner Lehre gegrüßt. Unsere Pflicht ist es, diejenigen zu grüßen, die dem Staate die Gewalt für den Staat versagt haben, und die ihr Leben der Rache des Staates für diese revolutionäre Weigerung preisgaben. Der Zarismus hat diejenigen hingeschlachtet, die Tolstois anarchistische Lehren befolgt haben; da die russische Revolution anstatt der Freiheit einem neuen Staat den Weg freigab, sind die Befolger der Tolstoischen Ratschläge noch heute dort die Opfer autoritärer Machtansprüche einer Obrigkeit. Mögen die Bolschewisten den hundertsten Geburtstag Tolstois mit all dem lärmenden Jubel feiern, der bei ihnen seit langem das Fortbestehen abgedrosselter revolutionärer Freiheiten vortäuschen und den Jammer enttäuschter revolutionärer Begeisterung übertönen muß: die Tatsache, daß Tolstois nächster Mitarbeiter Tschetkoff zu dieser Feier nicht ins Land gelassen wird, daß die Jünger Tolstois, die auch dem bolschewistischen Staat das Recht zum Militärzwang absprachen, die Feier in Gefängniszellen oder in Sibirien begehen müssen und daß grundsätzliche Staatsgegner, wie Leo Tolstoi einer war, dort verfolgt und finster brutalisiert werden, zeigt, mit wie wenig Recht die herrschenden Kreise des heutigen Rußlands den großen Denker, Dichter und Mahner als einen der ihrigen in Anspruch nehmen. Tolstoi litt namenlos unter dem Luxus und den falschen Freuden in seinem eigenen Hause. Mit 82 Jahren brach er auf, um in der Armut zu sterben, in der er die Arbeitenden des Landes leben wußte. Fern von verlogenen Konventionen, aber befreit vom Zwange jeglicher peinigenden Bevormundung schloß er die Augen. Er war einer der gewaltigsten Geister der Menschengeschichte, ein Fackelträger der Revolution und der Freiheit, eine treibende Kraft der russischen Revolution, deren strahlenden Glanz er nicht mehr sah, deren Verlöschen in Staatlichkeit und Klüngeldiktatur er nicht mehr zu erleben brauchte. Doch sie ist noch nicht tot, die russische Revolution. Die Arbeiter und Bauern des Landes wissen noch um die Freiheit, für die sie ihren herrlichen Kampf geführt haben; die großen Verkünder der russischen Befreiung, deren Leo Tolstoi einer der größten war, werden wieder auferstehen in den Herzen des Volks - und das Licht leuchtet in der Finsternis.
Am 7.11. bzw. 20. 11. jährte sich - je nach Benützung des julianischen oder des gregorianischen Kalenders - zum hundertsten Mal Tolstois Todestag. Klar, dass Buchverlage und Buchhandlungen mit Tolstois literarischem Werk, vor allem seinen Bestsellern "Anna Karenina" und "Krieg und Frieden", ihr großes vorgezogenes Weihnachtsgeschäft wittern. Auch in den bürgerlichen Medien ist Leo Tolstoi seit Wochen unterschiedlich präsent.Das Geburtshaus im russischen Jasnaja Poljana, dem ehemaligen Landsitz der Adelsfamilie Tolstoi, das schon vor etlichen Jahrzehnten zum Museum gemacht wurde, erfährt - Nachrichten zufolge - ungewöhnlich hohe Besucherzahlen. Und ein Familientreffen der weltweit verstreut lebenden Tolstois soll es auf Jasnaja Poljana auch geben. Zuviel Rummel, dem sich Tolstoi zu Lebzeiten entzogen hätte.Tolstoi-Biographien nennen unterschiedliche Lebensdaten, was der Tatsache geschuldet ist, dass zu Tolstois Lebzeiten und noch lange Jahre danach in Russland der julianische Kalender in Gebrauch war, im westlichen Europa jedoch durchgängig schon der gregorianische, nach dem heute das Kalenderjahr eingeteilt ist (so hat beispielsweise die russische Februarrevolution nach gregorianischem Kalender am 8. März stattgefunden, jener "Oktoberrevolution" genannte und von den Bolschewiki zwecks Machterlangung inszenierte Putsch fand nach gregorianischem Kalender am 7. Novemer 1917 statt). Verschiedene Schriften über Tolstoi nennen seine Lebensdaten sowohl nach julianischem als auch nach gregorianischem Kalender nebeneinander. Andere Biographen wiederum entschieden sich ausschließlich entweder für den einen oder den anderen Kalender, was natürlich zu Irritationen führen kann.Geboren wurde Lew ("Leo") Nikolàjewitsch Graf Tolstoi nach julianischem Kalender am 28. August, nach gregorianischem am 9. September 1828 als zweitjüngstes von fünf Kindern einer Familie des russischen Hochadels auf Gut Jasnaja Poljana im Bezirk Tula. Nachdem er früh zum Vollwaisen geworden war (die Mutter starb 1830, der Vater 1837), wuchs er mit seinen vier Geschwistern bei einer vermögenden Tante in Kasan auf. Tolstoi verlebte eine sehr glückliche Kindheit, wie wir aus seinem Erstlingsroman - "Kindheit" betitelt - entnehmen können, jenem erfolgreichen Buch, mit dem er nach mehreren literarischen Gehversuchen den Durchbruch in die Welt der Literatur schaffte.Im Jahr 1844 begann er an der vierzig Jahre zuvor gegründeten Universität in Kasan orientalische Sprachen zu studieren, wechselte aber bald über zur Jurisprudenz, brach 1847 sein Studium ab und ging ein Jahr später zurück auf sein ererbtes Landgut Jasnaja Poljana, um dieses zu verwalten und die soziale Lage seiner mitgeerbten 350 Leibeigenen zu bessern, für die er schon als Kind Sympathien empfand. Hier sei ein kurzer Rückblick auf Tolstois Kindheit gestattet: Zwei Ereignisse, die später ausschlaggebend für sein soziales Engagement gewesen sein sollen, prägten sich schon dem siebenjährigen Knaben besonders ein. Diese waren zum einen eine an einem bei ihm und seinen Geschwistern besonders beliebten Kutscher vollzogene Prügelstrafe und zum anderen der Verkauf eines bei den Tolstoi-Kindern beliebten Hausdieners an einen anderen Gutsherren. Auch ähnliche Ereignisse, wie sie auf Nachbargüter geschahen, deren Gutsherren eigentlich als gütig und sozial galten, brannten sich in seiner kindlichen Seele unauslöschlich ein. Der Knabe Lew Nikolàjewitsch erlebte so aus eigener Anschauung, dass Menschen, die er liebte und hochachtete, anderen Menschen schweres Unrecht und Leid zufügen konnten, ohne dass sie überhaupt je begriffen, was sie da taten. Er selber lernte, als er kaum 20-jährig das väterliche Erbe angetreten und zu verwalten begonnen hatte, zu begreifen, dass das, was sich ihm in seiner Kindheit so negativ eingeprägt hatte, gerade in der seit Jahrhunderten bestehenden Einrichtung der Leibeigenschaft begründet lag, und in die er selber als künftiger Gutsbesitzer hineingeboren und hineinerzogen worden war. Und er musste noch ein anderes Phänomen erkennen, nämlich dass es sogar schwierig war, seinen Hörigen die Freiheit zu geben, weil sie unverbrüchlich an das System der bedingungslosen Abhängigkeit gekettet zu sein schienen, auch wenn der Gedanke ihm schon als Jugendlichem innewohnte, einst seinen Bauern die Freiheit zu schenken (erst 1861 - nach mehr als 250 Jahren - wurde die Leibeigenschaft durch Zar Alexander II. offiziell aufgehoben. Die Bauern wurden zwar rechtlich Freie, blieben aber besitzlos, mussten sich verschulden und verarmten noch mehr). Dem jungen Gutsbesitzer Tolstoi gelang es trotz allen guten Willens nicht, seine Bauern vor 1861 aus der Leibeigenschaft zu entlassen. Deshalb suchte er nach Wegen, den sozialen Status seiner Leibeigenen etwas zu heben; und dies suchte er über das Mittel der Bildung zu erreichen. Es darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass das damals im Zarenreich weitverbreitete Analphabetentum nicht zuletzt mit dem System der Leibeigenschaft zusammenhing. Wenn es nun schier unmöglich war, den erwachsenen Leibeigenen das Lesen und Schreiben beizubringen, so war es naheliegend, dieses und anderes Allgemeinwissen deren Nachkommenschaft zu vermitteln. Und aus dieser Erkenntnis heraus gründete er bereits 1849 seine erste Schule für die Kinder der Bauern auf seinem Landgut. Sein reformpädagogischer Ansatz lag darin, die Kinder nicht als Erziehungsobjekte zu betrachten, sondern als gleichwertige Menschen - ein geradezu revolutionärer Standpunkt in der Pädagogik der damaligen Zeit. So ließ er sich von den Kindern nicht mit "Graf", sondern mit seinem zweiten Vornamen, Nikolàjewitsch, anreden und vertrat in seinem pädagogischen Konzept, das alle spätere Reformpädagogik (über Francisco Ferrer, Montesori bis hin zum Schulprojekt Summerhill) stark beeinflusst hat, das Freiheitsprinzip: "Die Erziehung verdirbt die Menschen und bessert sie nicht. Je verderbter ein Kind ist, desto weniger darf es erzogen werden, desto mehr bedarf es der Freiheit." Tolstoi war der Überzeugung, dass das Kind sich geistig und vielseitig zu entwickeln imstande ist, wenn ihm der Erwachsene, der Lehrer also, das entsprechende geistige Material an die Hand gibt. Seiner ersten "Alternativschule" war allerdings kein Erfolg beschieden. Nach dem Scheitern seiner ersten Reformversuche zog es ihn resigniert nach Moskau und Sankt Petersburg, um in standesgemäßen Kreisen Zerstreuung zu suchen, wobei Spielschulden nicht ausblieben, weshalb er sich 1851 entschloss, dem Miitär beizutreten, um seinen Gläubigern zu entfliehen. Er tat zunächst Dienst im Kaukasus, wo bereits sein Bruder Nicolai stationiert war, dann bis 1856 auf der Halbinsel Krim, wo er als Fähnrich der Artillerie zunächst begeistert von 1854 bis 1855 am sogenannten Krimkrieg teilnahm, der bereits 1853 als russisch-türkischer Krieg entbrannt war. Hindergrund dieses Krieges war, dass Russland sein Herrschaftsgebiet auf Kosten des allmählich auseinanderfallenen Osmanischen Reiches zu erweitern suchte, was durch den Eintritt Frankreichs und Großbritanniens (ab 1855 auch Sardiniens) vereitelt wurde. Dieser Krieg war für alle beteiligten Parteien sehr verlustreich. Über seine Erlebnisse in den Schlachten um Sevastopol im Krimkrieg veröffentlichte er 1855 und 1856 in der von Alexander Puschkin mitgegründeten Zeitschrift "Der Zeitgenosse" drei Erzählungen. In der letzten dieser Erzählungen ließ Tolstoi bereits seine Wandlung zum Militär- und Kriegsgegner erkennen. Während seiner Militärdienstzeit, die er 1856 beendete, schrieb er seine bereits erwähnte autobiographische Skizze "Kindheit", der sehr bald als Fortsetzung das Werk "Knabenjahre" und 1857 zur Abrundung die "Jünglingsjahre" folgten. In jenem Jahr 1857 unternahm er auch eine Reise in die Schweiz, nach Frankreich, Italien und Deutschland. In Baden-Baden verjubelte er im Spielkasino beim Roulette eine nicht unerhebliche Summe Geldes (in sein Tagebuch trug er ein, bis sechs Uhr in der Frühe gespielt und alles verloren zu haben). Nach seiner Rückkehr gründete er 1859 auf seinem Gut erneut nach Kriterien antiautoritärer Pädagogik eine Schule für Bauernkinder. Zugleich gab er eine eigene pädagogische Zeitschrift heraus, die er nach seinem Landgut Jasnaja Poljana benannte. Die Schule wurde 1862 durch das zaristische Unterrichtsministerium geschlossen. Zwar unterlag Tolstoi offiziell noch keiner polizeilichen Überwachung, aber die Furcht des Zaren vor einer Revolution, die seine Geheimpolzei in Tolstois Reformpädagogik aufkeimen sah, führte zur Indizierung der erwähnten Zeitung: sie verbreite Ideen, die schädlich seien. Zudem wurde Tolstoi der Verschwörung gegen den Zaren beschuldigt, was 1863 dazu führte, dass sein Haus und seine Schule durchsucht und verwüstet wurden. In der Zeit von 1860 bis 1861 bereiste er für die Dauer von neun Monaten erneut das Ausland. Bei dieser Gelegenheit lernte er in Dresden den Schriftsteller Berthold Auerbach, der als Student 1837 auf der Festung Hohenasperg wegen "staatsgefährdender Umtriebe" eingesessen hatte, in London den russischen Schriftsteller, Revolutionär und Freund Bakunins, Alexander Herzen, in Brüssel den französischen Anarchisten Pierre Joseph Proudhon, in Berlin den Pädagogen Adolf Diesterweg kennen. Anders als bei seiner ersten Auslandsreise besuchte er etwas weniger die Spielkasinos, stattdessen besichtigte er mehrere französische und deutsche Schulen, um deren pädagogische Arbeit kennenzulernen. Von der schulischen Erziehungsmethode in Deutschland war er ziemlich geschockt, während ihm das Rousseau'sche Modell in Frankreich, über das er jedoch bald hinausging, positivere Impulse mit nach Hause gab. Nach den Rückschlägen von 1862 und 1863 zog er sich zunächst aus der Pädagogik zurück, und widmete sich auch auf Drängen seiner Frau Sophia Behr, einer Arzttochter, die er 1862 ehelichte, verstärkt seinem literarischen Schaffen, vor allem seinem großen Romanwerk "Krieg und Frieden", an dem er einschließlich der Recherchen etwa sieben Jahre lang arbeitete und 1869 abschloss. Dieser Roman wird allgemein als ein Geschichtsroman bezeichnet, obwohl ihm ein Wesensmerkmal für historische Romane eigentlich fehlt: Er macht sich nicht ausschließlich an einem bestimmten historischen Ereignis fest, auch wenn die Napoleonischen Kriege von 1805 bis 1812 den Rahmen abgeben. Im Mittelpunkt stehen nämlich drei fiktive russische Adelsfamilien unterschiedlicher Charaktere mit ihren gesellschaftlichen Verstrickungen und ihren Liebschaften. "Krieg und Frieden" war der Titel eines umfangreichen philosophischen Werkes, das Proudhon schon fast beendet hatte, als er von Tolstoi in Brüssel aufgesucht wurde. Tolstoi war von diesem Buch so stark beeindruckt, dass er nicht nur den Titel für seinen Roman, sondern auch wesentliche - vor allem psychologische - Aussagen dieser Schrift übernahm. Neben der Anleihen bei Proudhon machte er für seinen voluminösen Roman auch solche bei Puschkin, zog aber auch historische Dokumente verschiedener Art hinzu (Tagebücher, Briefe, Kriegsberichte, mündliche Überlieferungen und diverses Archivmaterial), flocht Autobiographisches (aus seiner Kindheit und Jugendzeit sowie aus seinen eigenen Kriegserlebnissen als Artillerieoffizier), Eigenfamiliäres und vieles hinein, was nicht in die Epoche von 1805/1812 gehört, beispielsweise den Besuch einer Oper, die erst frühestens vierzig Jahre nach den napoleonischen Kriegen zur Aufführung gekommen sein kann. So ist "Krieg und Frieden" zum einen wohl historisch zu nennen, aber auch als (realistischer) Gesellschaftsroman und sozialkristischer Roman zu lesen, in dem Tolstoi keineswegs seine Kriegskritik außen vor läßt. Er verlangt von seiner Leserschaft schon ein gehöriges Quantum an Konzentration ab. Mit Fug und Recht aber darf "Krieg und Frieden" als ein Jahrthundertwerk bezeichnet werden, das erstmals 1956 auch verfilmt wurde.Nach Beendigung der Arbeiten an dem besagten Roman sowie an seinem zweiten großen Roman, "Anna Karenina", wandte er sich wieder Fragen pädagogischer Art zu und verfasste eine Fibel für die Grundschule, die 1872 unter dem Titel "Das Alphabet" erschien und drei Jahre später in einer erweiterten und überarbeiteten Fassung als "Das Neue Alphabet" herauskam und im damaligen Russland große Verbreitung fand. Ebenfalls 1872 richtete Tolstoi zum dritten Mal auf seinem Gut eine Schule ein (ein weiterer Schulversuch erfolgte wenige Jahre vor seinem Tod).Neben seiner pädagogischen und literarischen Tätigkeit engagierte sich Tolstoi auch umfassend im sozialen Bereich und zuweilen politisch. So half er bei der Durchführung der sogenannten Bauernreform der Jahre 1873 und 1891-1893, organisierte Hilfen für von Missernten betroffenen Bauern und wandte sich - wie bereits erwähnt - sehr früh gegen die Leibeigenschaft. Er kritisierte Staat, Kirche und Gesellschaft, forderte offensiv die Gewaltfreiheit in der Politik (vornehmlich die Vermeidung von Kriegen) und war erklärter Gegner der Todesstrafe, nachdem er bei seiner ersten Europareise 1857 in Paris Zeuge einer öffentlichen Hinrichtung durch die Guillotine geworden war und die in ihm eine noch größere Abscheu hervorgerufen habe als alle im Krieg erlebten Greueltaten, wie er einem Freund brieflich mitteilte. Die Guillotine wurde für ihn zugleich zum Symbol der Brutalität des Staates; der Anarchismus keimte in ihm auf: "Fortan werde ich nie mehr irgendwo irgendeiner Regierung dienen." Menschen zu töten empfand er als unmoralisch und unnatürlich. Wenn jemand für die Hinrichtung eintrete, dann solle er - so Tolstois verblüffende Argumentation - , anstatt dies andere tun zu lassen, selbst hingehen und die Hinrichtung vornehmen. Das gemahnt an die biblische Story über die Ehebrecherin im Johannesevangelium: Kap. 8, Vers 7b soll Jesus zu jenen gesagt haben, die gemäß dem mosaischen Gesetz (Lev 20, 10) eine von ihnen des Ehebruchs beschuldigte Frau zu steinigen gedachten: "Wer ohne Fehl Fehl ist, der werfe den ersten Stein!" Verse 9ff. heißt es weiter: "Als sie aber das hörten, gingen sie, einer nach dem andern, (...) hinaus. Jesus aber ward gelassen allein und das Weib in der Mitte stehend. Jesus (...) sprach zu ihr: Weib, wo sind sie, deine Verkläger? Hat dich niemand verdammt? Sie aber sprach: Herr, niemand. (...)." Im Alter begann Tolstoi sogar für ein Verbot der Jagd und für vegetarische Ernährung einzutreten, obgleich er selber in jüngeren Jahren begeisterter Jäger war.Wohl als Folge seines enormen Engagements im pädagogischen, literarischen und sozialen Bereich sowie infolge staatlicher Repression und Willkür (so etwa durch eine Hausdurchsuchung 1908, bei der alle auffindbaren Texte beschlagnahmt wurden) gestaltete sich seine Ehe immer schwieriger, trotz des Kinderreichtums (er hatte mit seiner Frau 13 Kinder), und führte ihn mehr und mehr in eine tiefe innere Krise, die schließlich 1879 voll zum Ausbruch kam und er in einer "Beichte", wie er diese Schrift betitelte, Rechenschaft über sein bisheriges Leben ablegte (diese "Beichte", die auch Ansätze seiner [späteren] anarchistischen Gedanken aufweist, wurde in Rußland zunächst in einigen handschriflichen Exemplaren verbreitet und 1882 gedruckt). Gleichzeitig mit dieser Krise kam es zur Hinwendung oder vielmehr zur Rückkehr zur Religion. Sein intensives Studium des biblischen Neuen Testaments, vor allem der Bergpredigt aus dem Matthäusevangelium (Matth 5-7), führte ihn dauerhaft in einen Konflikt mit der orthodoxen Staatskirche und - was nicht ausbleiben konnte - auch mit dem Staat selbst und der Gesellschaft, die ihm zunehmend zuwider wurde. Seit 1881 entwickelte er daher eine regelrechte Abneigung gegenüber der von den Kirchen praktizierten rituellen Form der Religiosität. Er erkannte darin eine Verlogenheit in einer solchen den Kriegsdienst bejahenden Religionsausübung, der er das schlichte Leben Jesu entgegenstellte und die Nächstenliebe betonte. In diesem Sinne erschienen 1881 seine "Kritik an der dogmatischen Religion", 1883 "Was ich glaube", 1887 "Über das Leben", 1889 die "Kreutzersonate", 1893 "Das Himmelreich ist in euch" und schließlich 1899 sein Roman "Auferstehung". Diese Schriften, die sofort kirchlichen und staatlichen Widerspruch hervorriefen und prompt verboten wurden, zeugen von einem Vernunftchristentum, zu dem sich Tolstoi durchgerungen hat. Er propagierte ein nichtkirchengebundenes, also freies, Christentum, was kirchlicherseits mit Tolstois Exkommunikation im Jahr 1901 beantwortet wurde, was ihn aber nicht im geringsten scherte. Den ihm 1901 zugedachten Nobelpreis lehnte er aus Überzeugung ab. Wegen seiner propagandistischen Schriften wurde er 1882 unter geheime Polizeibeobachtung gestellt. 1901 publizierte er seinen "Aufruf an die Menschheit", 1904 folgte die Schrift "Kommt zur Besinnung" und 1908 "Ich kann nicht schweigen" - allesamt gegen die Staatlichkeit gerichtete Streitschriften.Was den Anarchismus Tolstois betrifft, so ist er eng verbunden mit seiner Beschäftigung mit religiösen Themen. Er selber bezeichnete sich nie als einen Anarchisten, was mit seiner Haltung der anarchistischen Bewegung gegenüber beziehungsweise umgekehrt zusammenhing. Trotzdem ließ er es gewähren, wenn seine auf Nächstenliebe, Freiheit und Gewaltlosigkeit beruhenden Ideen als eigenständige anarchistische Gedanken gewertet wurden. Es ist ein urchristlich inspirierter Anarchismus, den Tolstoi vertrat, und dessen Kern die intensive Beschäftigung mit der Bergpredigt ab Ende der 1870er Jahre bildete. Seine Bergpredigt-Exegese wirkte - da war Tolstoi schon lange tot - in die religiös-sozialistische Bewegung nach dem Ende des 1. Weltkrieges hinein. Bei seiner Beschäftigung mit dem neutestamentlichen Schriftgut löste Tolstoi den Christus von seinem Messianismus und seiner Erlöserfunktion, weil Erlösung nicht mittels des Glaubens, sondern nur durch Erkenntnis geschehen könne. Er bestritt auch eine Gottessohnschaft Jesu und stellte sich dadurch bewusst in Gegensatz zu den Dogmen der christlichen Kirchen, verlangte nach individueller Vervollkommnung und hatte die Vision eines Gottesreiches (eines Paradieses) nicht im Jenseitigen, sondern im Diesseits, das nicht durch Anwendung von Gewalt, sondern durch Verweigerung von Gewalt und Negierung des Bestehenden zu erreichen sei. Revolution soll nach Tolstoi nicht durch Waffengewalt geschehen, sondern durch Aufklärung und gewaltfreien Widerstand. So stand Tolstoi Ende des 19. Jahrhunderts terroristischen Akten einer von verschiedenen Anarchisten befürworteten "Propaganda der Tat" ablehnend gegenüber. Auch die bei vielen Anarchisten vorherrschende Weigerung, sich von revolutionärer Gewalt zu distanzieren, machten es Tolstoi nicht leicht, sich mit seiner absoluten Gewaltfreiheit in die anarchistische Bewegung hineinzufinden, obwohl er durchaus Kontakte zu Anarchisten pflegte (so korrespondierte er u. a. sehr rege mit Kropotkin). Ihm war an der Schaffung einer lebendigen Menschengemeinschaft gelegen. In der Frage der Gewaltfreiheit sah sich übrigens Erich Mühsam 1912, also zwei Jahre nach Tolstois Tod, in seiner Zeitschrift "Kain" zu folgender Erklärung veranlasst: "Daß ich - aus ähnlichen Gründen wie der Anarchist Tolstoi - die aggressive Gewalt im Prinzip verwerfe, berechtigt niemanden, meinen Charakter als Anarchisten in irgendeiner Form anzuzweifeln, umsoweniger als meine Ablehnung der Gewalt engstens in meiner anarchistischen Gesinnung begründet ist." Trotz unterschiedlicher Auffassung in der Gewaltfrage wusste sich Tolstoi mit allen Anarchisten darin einig, dass es einen Sozialismus im Sinne der marx'schen Diktatur des Proletariats nicht geben kann: "Bislang haben die Kapitalisten geherrscht, dann würden Arbeiterfunktionäre herrschen." In seinem Kampf gegen Kirche und Staat forderte er, unter Berufung auf das Urchristentum, zum Verzicht auf jedwedes Eigentum auf, in dessen Existenz er den Urgrund allen gesellschaftlichen Übels sah. Hier ging er völlig konform mit Proudhon, dessen Schrift über das Eigentum er bereits kannte, bevor er ihn auf seiner zweiten Europareise persönlich kennenlernen sollte. In seiner schon 1863 verfassten, aber erst 1885 veröffentlichten Parabel "Der Leinwandmesser - Die Geschichte eines Pferdes" verspottete er aus der Sicht eines alten gescheckten Wallachhengstes menschliches Besitzstreben: "Es gibt Menschen, die ein Stück Land "Mein" nennen, und dieses Land nie gesehen und betreten haben. Die Menschen trachten im Leben nicht danach zu tun, was sie für gut halten, sondern danach, möglichst viele Dinge "Mein" zu nennen." Auch in seiner gleichfalls 1885 erschienenen Novelle "Wieviel Erde braucht der Mensch?" ging es ihm um eine Kritik am Besitzstreben und Besitzdenken: Wieviel Erde braucht der Mensch? Gerade soviel, wie der Aushub eines Grabes ergibt!Tolstois Plan, allem Besitz zu entsagen, um künftig mit seiner Familie als einfache Leute unter einfachen Leuten zu leben, wurde von seiner Frau mißbilligt. Es gab auf seiner Seite wiederholte Versuche, den aristokratischen Lebenswandel seiner Familie aufzugeben, der - dessen war er sich völlig bewusst - einzig und allein auf der Ausbeutung der Arbeitskraft der Bauern beruhte. Daher strebte er danach, sich seinen Lebensunterhalt selber als Handwerker oder Bauer zu verdienen. Seine Familie hielt ihn deswegen für verrückt und war entsetzt, als er 1895 ein Testament niederschrieb, in welchem er seine Werke und seinen gesamten Besitz dem russischen Volk zu vermachen gedachte. Das Testament zog er zwar wieder zurück, erneuerte es aber 1901 wieder. Doch der Notar erklärte es für ungültig, weil es nach geltendem Gesetz nicht möglich war, Eigentum der Allgemeinheit zu verschreiben. So setzte er schließlich seine jüngste Tochter Alexandra ("Sascha"), die im September 1979 hochbetagt im Alter von 95 Jahren in Valley Cottage bei New York, wo sie eine Farm bewirtschaftete, starb, als Alleinerbin ein, was wiederum seine Frau erzürnte. In den Jahren 1896 bis 1899 quälten ihn verschiedene Krankheiten und "Anfälle äußerer Verzweiflung", wie er in sein Tagebuch notierte. Nach julianischem Kalender verließ er am 28.10.1910 beziehungsweise nach gregorianischem Kalender am 10.11.1910 zweiundachtzigjährig, gemeinsam mit seinem Arzt und seiner jüngsten Tochter, die Familie in Richtung Süden, angeblich um sich in ein Kloster zu begeben. Der Hintergrund aber ist eher der, dass er es überdrüssig war, bis zu seinem Lebensende ein Schräubchen in einem Gesellschaftssystem sein zu sollen, das er zutiefst verachtete. Insofern ist seine Flucht aus der Familie eine Flucht in die Freiheit. Doch während der Bahnfahrt bekam er eine Lungenentzündung, der er am 7.11.1910 (nach julianischem Kalender) beziehungsweise am 20.11.1910 (nach gregorianischem Kalender) auf der Bahnstation Astapowo (heute Lew Tolstoi) erlag. Zwei Tage später wurde er auf seinem Gut bestattet, weil er wegen seiner Exkommunikation auf keinem Friedhof beerdigt werden durfte (Friedhöfe waren nicht nur in Russland, sondern auch im westlichen Europa [mit Ausnahme Frankreichs] Eigentum der Kirchen). Seine Frau unternahm, weil es nicht mehr zu einer Versöhnung zwischen ihr und ihm kommen konnte, nach Tolstois Tod aus Verzweiflung einen Suizidversuch, wurde aber gerettet und überlebte Tolstoi um zehn Jahre.
Stefan Zweig nannte Tolstoi einmal "den leidenschaftlichsten Anarchisten und Anti-Kollektivisten unserer Zeit". Über die Entschiedenheit dieser Feststellung läßt sich streiten, aber eine Betrachtung der Gedanken und Lehren Tolstois während der letzten dreißig Jahre seines Lebens und der Absichten, die in seinen großen Romanen aus der Zeit vor seiner Wandlung verborgen liegen, hinterläßt wenig Zweifel an der generellen Richtigkeit von Zweigs Urteil. Tolstoi nannte sich selbst nicht Anarchist, weil er diese Bezeichnung für diejenigen gebrauchte, die die Gesellschaft mit gewaltsamen Mitteln zu verändern suchten; er zog es vor, sich als einen Christen im wörtlichen Sinne zu sehen. Aber dennoch hatte er nichts dagegen, als der deutsche Philosoph Paul Eitzbacher [0] im Jahre 1900 in seiner bahnbrechenden Studie über die verschiedenen Strömungen der anarchistischen Theorie seine Ideen dazurechnete und nachwies, daß, obwohl er alle Gewalt verwarf, sich seine Lehre - und besonders seine kategorische Ablehnung von Staat und Eigentum - in ihren Grundzügen unzweideutig in das allgemeine Muster anarchistischer Theorie einfügte. Tolstois Beziehungen zu Anarchisten anderen Typs waren nur gering, aber von großer Bedeutung. 1857 las er ein nicht näher bestimmbares Buch von Proudhon (möglicherweise "Was ist das Eigentum?"), und die Notizen, die er zu dieser Zeit niederschrieb, legen nahe, daß der französische Anarchist ihn bereits damals grundlegend beeinflußte. "Der Nationalismus ist die eine und einzige Schranke gegen die Entwicklung der Freiheit", merkte er an. Und noch bezeichnender fügte er hinzu: "Alle Regierungen sind im gleichen Maße gut und böse. Das beste Ideal ist die Anarchie. " [1]Anfang 1862 wich Tolstoi auf einer Reise nach Westeuropa von seiner geplanten Route ab, um in Brüssel Proudhon [2] zu besuchen. Sie sprachen über Erziehung - womit er sich damals sehr beschäftigte [3] -, und Tolstoi erinnerte sich später, daß Proudhon "der einzige Mensch war, der in unserer Zeit die Bedeutung des öffentlichen Erziehungswesens und der Presse verstand". Sie unterhielten sich auch über Proudhons Buch „La guerre et la paix“ , das bei Tolstois Besuch kurz vor der Vollendung stand; es besteht wenig Zweifel, daß Tolstoi wesentlich mehr als nur den Titel seines größten Romans von dieser Abhandlung übernahm, in der argumentiert wird, daß die Entstehung und die Entwicklung des Krieges eher in der Psyche der Gesellschaft zu suchen seien als in den Entscheidungen politischer und militärischer Führer. Bakunins Pan-Destruktionismus fand bei Tolstoi zweifellos keinen Anklang, aber dennoch hatten diese beiden rebellischen aber autokratischen Barins [4] mehr miteinander gemeinsam, als sie selbst wahrscheinlich zuzugeben bereit gewesen wären. Denn Tolstoi war ein Bilderstürmer und Zerstörer eigener Art, der danach strebte, der ganzen künstlichen Welt der Adelsgesellschaft und ihrer Adelspolitik ein Ende zu setzen – wenngleich dies mit moralischen und friedlichen Mitteln erreicht werden müsse. Für Kropotkin allerdings, dem er nie begegnete, hatte Tolstoi den höchsten persönlichen Respekt. Es ist sogar zu vermuten, daß Tolstoi in diesem Fürsten, der seinen ganzen Reichtum und seine gesellschaftliche Stellung für die Sache des Volkes aufgegeben hatte, ein lebendiges Beispiel für den Verzicht erblickte, den er selbst nur in seinen Gedanken und Schriften erreicht hatte. Mit Sicherheit bewunderte Tolstoi Kropotkins „Memoiren eines Revolutionärs“ und erkannte - ähnlich wie Lewis Mumford in unseren Tagen - die großartige Originalität und Praktikabilität von „Landwirtschaft, Industrie und Handwerk“ , dem Werk, von dem er glaubte, daß es zu einem Handbuch für die Reform der russischen Landwirtschaft werden könnte [5]. Sein Schüler Wladimir Tschertkow [6], der im englischen Exil lebte, diente als Vermittler, über den Tolstoi und Kropotkin miteinander in Kontakt kamen. Ein Austausch von Botschaften zwischen den beiden ist dabei besonders interessant. Tolstoi kam mit ziemlichem Scharfsinn zu dem Ergebnis, daß Kropotkins Verteidigung der Gewalt dessen wirklichem Charakter widerstrebte und entgegenstand. "Seine Argumente für die Gewalt", so bemerkte er zu Tschertkow "erscheinen mir nicht als der Ausdruck seiner Meinung, sondern lediglich als Treue gegenüber der Fahne, unter der er sein Leben lang so ehrenhaft gedient hat."Kropotkin, der seinerseits den größten Respekt für Tolstoi [7] hegte und ihn als "den am engsten geliebten Menschen auf der Welt" bezeichnete, war diese Auffassung offenbar nicht gleichgültig, wenn er zu Tschertkow bemerkte: "Um zu verstehen, wie sehr ich mit den Ideen Tolstois sympathisiere, genügt es zu erwähnen, daß ich ein ganzes Buch geschrieben habe, um zu zeigen, daß das Leben nicht durch einen Kampf ums Dasein, sondern durch Gegenseitige Hilfe geschaffen wird. "Was Kropotkin mit "Gegenseitiger Hilfe" meinte, war nicht weit entfernt von dem, was Tolstoi unter "Liebe" [8] verstand, und wenn wir die Entwicklung von Tolstois Gesellschaftstheorie verfolgen und sie mit der anderer Anarchisten vergleichen, stellen wir fest, wie eng sich seine Lehren in die libertäre Tradition einfügen. Tolstois Anarchismus entwickelte sich ebenso wie sein rationales Christentum durch eine Reihe entscheidender Erfahrungen. Seine Jahre als Offizier im Kaukasus [9], wo er mit Bergstämmen und Kosaken in Berührung kam, die ihre ursprüngliche Lebensweise bewahrt hatten, lehrten ihn die Tugenden einfacher Gesellschaften, die in enger Verbindung zur Natur und weit entfernt von städtischer Entartung lebten; die Lehren, die er aus dieser Erfahrung zog, kamen denen sehr nahe, die Kropotkin aus ähnlichen Begegnungen in Sibirien kannte. Seine Anwesenheit bei der Belagerung von Sewastopol während des Krimkrieges [10] bereitete ihn auf seinen späteren Pazifismus vor. Aber die vielleicht entscheidenste Erfahrung in Tolstois Leben war eine öffentliche Hinrichtung durch die Guillotine, die er 1857 in Paris miterlebte. Die kalte, unmenschliche Wirkung dieses Vorgangs rief in ihm eine noch größere Abscheu hervor als alle Erlebnisse des Krieges es zuvor vermocht hatten, und die Guillotine wurde für ihn zu einem Symbol der Brutalität des Staates, der sie gebrauchte. Von diesem Tag an begann er politisch - oder antipolitisch - mit der Stimme eines Anarchisten zu sprechen:"Der moderne Staat" [11], schrieb er an seinen Freund Botkin, "ist nichts anderes als eine Verschwörung, um seine Bürger auszubeuten, vor allem aber, um sie zu demoralisieren ... Ich habe Verständnis für moralische und religiöse Gesetze, die nicht für alle bindend sind, aber vorwärts weisen und eine harmonische Zukunft verheißen; ich fühle die Gesetze der Kunst, die stets Glück bringen. Aber politische Gesetze erscheinen mir als derart ungeheure Lügen, daß ich nicht sehe, wie eines von ihnen besser oder schlechter sein kann als ein anderes ... Fortan werde ich nie mehr irgendeiner Regierung irgendwo dienen."Während des Restes seines Lebens arbeitete Tolstoi diese Doktrin in vielen Formen und sehr viel ausführlicher aus, aber ihr Kern blieb unverändert. Aus den Schriften seines letzten Jahrzehnts [12] lassen sich Erklärungen entnehmen, die dem sehr ähnlich sind, was er bereits vierzig Jahre vorher gesagt hatte, als ihn die Erinnerung an die Guillotine in seinen Träumen verfolgte und seine Menschlichkeit empörte."Ich betrachte alle Regierungen", sagte er kurz vor seinem Tod "nicht nur die russische, als verworrene Institutionen, geheiligt durch Überlieferung und Gewohnheit, mit der Absicht, gewalttätig und ungestraft die empörendsten Verbrechen zu verüben. Und ich glaube, daß die Anstrengungen derjenigen, die unser gesellschaftliches Leben zu verbessern suchen, auf die Befreiung ihrer selbst von nationalen Regierungen gerichtet werden sollten, deren Übel - und vor allem deren Sinnlosigkeit - in unserer Zeit mehr und mehr offensichtlich werden."Die Kontinuität der anarchistischen Einstellung Tolstois von seiner frühen Jugend bis hin zu seinem Tod zu erkennen, ist sehr wichtig, denn noch immer behauptet sich eine hartnäckige Ansicht, die Tolstoi als zwei verschiedene und sogar gegensätzliche Wesen beschreibt. [13] Die Periode schrecklicher Zweifel und geistiger Qualen, welche die Vollendung von „Anna Karenina“ [14] begleitete und weitgehend in den Schlußkapiteln festgehalten ist, die Periode, welche Tolstoi selber als die Zeit seiner Wandlung betrachtete, wird demnach als die große Wasserscheide gesehen, die sein Leben in zwei Teile trennt. Auf der einen Seite liegt das Land der lebenssprühenden Sonne und der taubedeckten Wälder seiner großen Romane. Auf der anderen Seite liegt die Wüste geistiger Anstrengungen, in der sich Tolstoi wie ein moderner Johannes der Täufer auf die Suche nach den Heuschrecken des Moralismus und nach dem wilder Honig geistiger Freuden begibt. Auf der einen Seite steht der Künstler, auf der anderen Seite der Heilige und Anarchist, und jeder pickt sich je nach Geschmack seinen eigenen Tolstoi heraus. Mir scheint, daß diese Ansicht, die auch ich einmal vertrat und verteidigte, eine falsche ist und daß sie die vielen Fäden außer Acht läßt, die den späten und den frühen Tolstoi miteinander verbinden. Charaktere ändern sich ebenso wie sich die Gesichtszüge eines Menschen mit zunehmendem Alter verändern; aber das Gesicht bleibt stets dasselbe, Spielfeld des Strebens nach Recht und Liebe, und stets getragen vom Zauber der natürlichen Welt in ihrer ganzen Schönheit. Beide, der Künstler und der Anarchist, leben in diesem Gesicht, ebenso wie sie in Tolstois Leben miteinander vereint waren. Denn es gab nie einen Zeitpunkt, zu dem Tolstoi die Kunst der Schriftstellerei wirklich aufgab. Selbst in seinen propagandistischen Phasen war er nie frei von dem Wunsch nach künstlerischem Ausdruck, und gegen Ende seines Lebens war sein Kopf voll mit Plänen und Ideen für Romane, Novellen und Dramen, wie seine Tagebücher aus den 80er und 90er Jahren belegen; vieles davon wurde begonnen und wieder aufgegeben, einiges aber vermochte er zu beenden. Schließlich vollendete Tolstoi eine seiner schönsten Novellen, Hadji Murad, erst 1904 in einer plötzlichen und heftigen Stimmung gemischter Freude über seine Leistungen und gleichzeitigem Schuldgefühl wegen seiner Selbstgefälligkeit. Die besten seiner späten Werke - Erzählungen wie Herr und Knecht [15] und Der Tod des Iwan Iljitsch [16] - zeigen keinen wirklichen Rückgang seiner einzigartigen Fähigkeit, dem Leben in der Kunst Ausdruck zu verleihen und gleichzeitig seine Frische ungetrübt beizubehalten. Wozu es vielmehr kam, war ein Abklingen der Fähigkeit, längere Werke auf einem durchgehend hohen künstlerischen Niveau zu halten, denn der einzige Roman, den Tolstoi in dieser Periode schrieb, Auferstehung [18], ist - obwohl teilweise ausgezeichnet - insgesamt gesehen nicht gelungen. Vielfach ist vermutet worden, das Mißlingen von „Auferstehung“ sei dem Überwiegen von Tolstois Moralismus zu dieser Zeit zuzuschreiben; ich hingegen gehe davon aus - obwohl der Moralismus in der Tat überwiegt - daß das Mißlingen in erster Linie künstlerischer Natur ist, ein Mißlingen in Form und Gefühl infolge emotionaler Katastrophen. Es ist die Tatsache hervorzuheben, daß Tolstoi bis zum Ende seines Leben nie das Interesse an der literarischen Arbeit als solcher verlor und daß er in den letzten zehn Jahren seines Lebens Werke verfaßte, die jedem Schriftsteller mit siebzig Lebensjahren zur Ehre gereichten. Tolstois Wandlung richtete ihn also keineswegs al Künstler zugrunde. Auch machte sie ihn nicht zum christlich-anarchistischen Weltreformer, denn es war für ihn nichts Neues, sich von der literarischen Arbeit ab- und anderen, ihn voll ausfüllenden Tätigkeiten zuzuwenden. Die meiste Zeit seines Lebens mißtraute er allen Ansichten, die die Schriftstellerei als ein Ziel in sich hinstellten. [17] In diesem Punkt war er voll anderer Meinung als Turgenew [19], und gute zwanzig Jahre vor seiner Wandlung, in den 50er Jahren, vertrat er sogar die Meinung, daß die hauptsächlichen Tätigkeiten im Leben eines Menschen außerhalb der Schriftstellerei liegen sollten. Zu manchen Zeiten, selbst in seiner früheren Periode, sprach er sogar davon, die Schriftstellerei ganz aufzugeben. Er tat es nicht, jedenfalls nicht mehr als er es in seinem späteren Leben tat; allerdings schienen ihm über lange Perioden hinweg seine Anstrengungen, ein guter Bauer zu werden oder die Lebensbedingungen der Landbevölkerung zu verbessern oder den Opfern von Hungersnöten zu helfen oder ein fortschrittliches Erziehungssystem zu entwickeln, wichtiger und dringender als die Schriftstellerei. In solchen Bemühungen zeigte er ein Interesse an praktischen Fähigkeiten und Tätigkeiten, in dem sich die extreme Konkretheit seiner literarischen Vision widerspiegelt. Selbst mitten in der Arbeit an „Anna Karenina“ , in der Mitte der 70er Jahre, wurde er von seinen erzieherischen Experimenten derart in Anspruch genommen [20], daß er die Arbeit an dem Roman vorübergehend einstellte und einem Verwandten gegenüber voller Ungeduld äußerte: "Ich kann mich nicht von lebenden Geschöpfen losreißen, um mich mit künstlichen herumzuschlagen." Seine Unterrichtsmethoden wiesen übrigens höchst libertären Charakter auf, und die Art der freien Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Schülern, die er in der Praxis zu verwirklichen suchte, kam den Methoden sehr nahe, die William Godwin in seiner fundamentalen Arbeit über anarchistische Erziehungstheorie, „The Enquirer“ [21], befürwortete.Es muß festgestellt werden, daß Tolstois konstanter Widerwille gegen eine ihn voll in Anspruch nehmende schriftstellerische Arbeit und seine Neigung, den aktuellen Beruf des Schriftstellers für eine Art von Prostitution zu halten, nicht allein von moralischen Skrupeln herrührten. Sie entstanden hauptsächlich aus einer aristokratischen Sicht der literarischen Arbeit als der Errungenschaft eines Adeligen. Der Sinn für 'noblesse oblige' war bei Tolstoi stark entwickelt. Selbst sein Radikalismus basierte ebenso wie derjenige der beiden anderen großen russischen Anarchisten, Kropotkin und Bakunin, auf einer traditionellen Beziehung zwischen Adeligem und Bauern. Alle drei wollten diese Beziehung umkehren, aber sie blieb dennoch ein wichtiges Element in ihrem Denken und Handeln. Es geht mir hier darum zu zeigen, daß in Tolstoi die Spannung zwischen dem Romanautor und dem Reformer immer vorhanden war und in der Regel beide Seiten seines Lebens stimulierte; destruktiv wurde sie erst gegen Ende seines Lebens, als seine künstlerischen Impulse im Abklingen begriffen waren. In seinen fruchtbarsten Jahren als Schriftsteller unterstützten sich seine literarischen Talente und sein Gespür für moralische Zielsetzungen gegenseitig, anstatt miteinander zu konkurrieren. Seinen frühen Romane – „Krieg und Frieden“ [22], „Anna Karenina“ , selbst Die Kosaken [23] - ist jener mühelose Didaktizismus zueigen, der so oft große Literatur auszeichnet. Sie präsentieren seine Ansichten zu den Themen, die ihn am leidenschaftlichsten beschäftigten, ohne daß er dabei die künstlerische Ausgewogenheit verletzte. Keines dieser Werke ist in gleicher Weise wie „Auferstehung“ bewußt propagandistisch, und man müßte schon sämtliche Augen zudrücken, um sie in vollem Sinne anarchistische Romane nennen zu können. Dennoch enthüllen sie ebenso kraftvoll wie alle seine Romane eine ganze Reihe von Einstellungen, die wir als typisch anarchistisch identifizieren können.Da ist zunächst der - sowohl moralische als auch wörtliche – Naturalismus [24], der sich durch all diese Werke zieht, und zwar in dem Sinne, daß der Mensch am besten, oder zumindest besser ist, wenn er die künstlichen Erscheinungen der Zivilisation zurückweist und als natürliches Wesen in einer organischen Beziehung mit der Welt der Natur, also selbst als natürliches Wesen lebt. Eine derartige Existenz bezieht sich auf den Begriff des "wirklichen Lebens", der für Tolstoi in „Krieg und Frieden“ eine so große Rolle spielte:"Inzwischen ging das Leben - das wirkliche Leben mit seinen zwangsläufigen Eigenarten wie Gesundheit und Krankheit, Arbeit und Ruhe, und seinen intellektuellen Ansprüchen wie Gedanken, Wissenschaft, Dichtung, Musik, Liebe, Freundschaft, Haß und Leidenschaften - weiter wie üblich, unabhängig und getrennt von politischer Freundschaft oder Feindschaft mit Napoleon Bonaparte und von allen Wiederaufbauplänen."Durch all seine frühen Romane zieht sich Tolstois Ansicht, das Leben sei um so "realer", je näher es zur Natur gelebt werde. Als Olenin, der Held in „Die Kosaken“ , als Offizier vorübergehend in einem Dorf halbzivilisierter Bauern in der kaukasischen Wildnis lebt, erscheint ihm sein Leben weitaus sinnvoller als das seiner früheren Freunde in St. Petersburg:"Oh, wie erbärmlich und bedauernswert erscheint Ihr mir alle", schrieb er an einen von ihnen in einem Brief, den er dann aber nicht abschickte, weil er befürchtete, er werde mißverstanden. "Ihr wißt nicht, was Glück bedeutet, Ihr wißt nicht, was Leben heißt. Man muß das Leben in seiner ganzen natürlichen Schönheit kosten, muß beobachten und begreifen, was ich jeden Tag mit meinen Augen erlebe - der ewige, unerreichbare Schnee auf den Berggipfeln, und eine Frau, ausgestattet mit der ganzen Würde und ursprünglichen Schönheit, mit der die erste Frau aus der Hand des Schöpfers gekommen sein muß -, und dann wird ersichtlich, wer von uns, Ihr oder ich, sich ruiniert, wer von uns wahrhaft lebt, wer falsch... Glück bedeutet, mit der Natur leben, die Natur sehen und sich mit ihr unterhalten."Was hier fast naiv in „Die Kosaken“ zum Ausdruck kommt, wird weitaus kunstvoller und eingehender in „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ ausgeführt. Ein Leben in enger Anlehnung an die Natur, mahnte Tolstoi immer wieder, bringt uns näher an die Wahrheit heran als ein Leben, das an die verwickelten Ketten von Gesetz und Mode gebunden ist. Dies deutet er mit bewußtem sozialem Nachdruck in „Anna Karenina“ an. Durch den Roman zieht sich kontinuierlich die Trennung zwischen Stadt und Land, zwischen künstlicher Stadtzivilisation, die stets zum Bösen führt, und natürlichem Landleben, das stets zum Guten führt, wenn ihm nur freigestellt bleibt, seinen eigenen Lauf selbst zu bestimmen. „Anna Karenina“ - beherrscht von der Stadt und verdorben durch deren unnatürliche Lebensformen - geht moralisch und schließlich auch psychisch zugrunde; Levin, ein Mann vom Lande, besteht viele Prüfungen der Liebe und des Glaubens, schließt am Ende eine glückliche Ehe und erfährt nach einer Reihe geistiger Qualen die Erleuchtung. Allerdings, so erkennt Levin, ist es der Bauer - der Mann des Volkes -, der der Natur am nächsten steht und dank der Einfachheit seines Lebens auch der Wahrheit am nächsten ist. Bereits in „Krieg und Frieden“ wird dieses Thema des natürlichen Menschen in der Gestalt des Piaton Karataev eingeführt, jenem Bauernsoldaten, den Pierre unter seinen Gefängniskameraden trifft, als er von den Franzosen in Moskau verhaftet wird. Karataev ist für Pierre „eine unergründliche, abgerundete, ewige Personifizierung des Geistes der Einfachheit und der Wahrheit“ , und zwar deswegen, weil er natürlich und ohne bewußten Intellektualismus lebt. „Seine Worte und Taten fließen aus ihm so ebenmäßig, unausweichlich und so unmittelbar wie der Duft aus einer Blume strömt.“ In ähnlicher Weise wird Levines Wandlung in „Anna Karenina“ herbeigeführt, als er von einem Bauern hört, der ebenfalls Piaton heißt und „für seine Seele lebt, rechtschaffen, nach Gottes Willen“. Verbunden mit dieser Suche nach dem natürlichen Leben ist der Drang nach weltweiter Brüderlichkeit, der sich durch all diese Romane zieht und einen Traum widerspiegelt, den Tolstoi mit seinen Brüdern in früher Kindheit teilte, als sie glaubten, ihr eigener kleiner Kreis ließe sich unbegrenzt in eine Bruderschaft der ganzen Menschheit ausweiten. In „Die Kosaken“ sehnt sich Olenin nach der Kameradschaft mit den einfachen Bewohnern des Kaukasus; den selben Wunsch verfolgt Pierre in „Krieg und Frieden“, und er ist auch verknüpft mit Tolstois Christentum in „Anna Karenina“, als Levin zu sich selbst spricht: „Ich bin nicht so sehr eins mit mir selbst wie ich, ob ich will oder nicht, eins bin mit anderen Menschen in einer Gesellschaft von Gläubigen.“Wenn derart viele Parallelen zwischen generellen Einstellungen in Tolstois Romanen - dem Naturalismus, dem Populismus, dem Traum von der weltweiten Bruderschaft, dem Mißtrauen gegen den Fortschrittsmythos - und denen der anarchistischen Tradition verlaufen, so findet man in ihnen auch viele spezifisch libertäre Ideen vor. Der rohe Egalitarismus der Kosaken wird der hierarchischen Struktur der russischen Armee gegenübergestellt; bewußt wird der Führerkult in „Krieg und Frieden“ kritisiert; die moralischen Verfehlungen eines zentralisierten politischen Systems und die Täuschungen des Patriotismus werden in „Anna Karenina“ offengelegt. Wenden wir uns nach den Vorschlägen in Tolstois Romanen den ausdrücklichen Erklärungen in seinen Sachbüchern zu, so werden wir feststellen, daß sein Anarchismus der äußere, im Verhalten zum Ausdruck kommende Aspekt seines Christentums ist.[25] Daß es zwischen beiden nicht zum Konflikt kommt, liegt daran, daß seine Religion eine Religion ohne Mystizismus ist, eine Religion selbst ohne Glauben. Denn ähnlich wie Gerrard Winstanley gründete er seine Überzeugung auf die Vernunft und unterwarf sie den Prüfungen der Wahrheit. Christus war für ihn der Lehrer, nicht der Mensch gewordene Gott; seine Lehre war die "Vernunft an sich", und was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist eben seine Fähigkeit, aufgrund dieser Vernunft zu leben.Hier tritt eine humanisierte Religion zutage; wir suchen das Reich Gottes nicht außerhalb, sondern in uns selbst. Und aus diesem Grunde schlug Tolstoi ein Verhalten vor, das zweifelsfrei in das Reich anarchistischer Theorie gehört: seine Vorstellung vom immanenten Reich Gottes war eng verwandt mit Proudhons Vorstellung einer natürlichen Gerechtigkeit, und seine Auffassung von der Religion als von der Vernunft abhängig brachte ihn in die enge Verwandtschaft sowohl Godwins als auch Winstanleys[26]. Und selbst in seiner religiösen Phase lehnte er nicht die natürliche Welt ab; er stellte sich ein Leben nach dem Tod vor, das - sollte es existieren -, sich in einem Reich abspielt, das nichts anderes ist als die verklärte Natur. In Tolstois Welt der Vernunft und Natur verlangsamt sich die Zeit wie an jenem langen Sommernachmittag der Freiheit in William Morris Traum „Kunde von Nirgendwo“[27]. Fortschritt als Ideal wird verworfen; Freiheit, Bruderschaft und die Kultivierung der moralischen Natur des Menschen sind wichtiger, und ihnen muß der Fortschritt untergeordnet sein. Es ist richtig, daß sich Tolstoi ebenso wie Morris gegen eine Interpretation seiner Lehren verwahrte, die ihn als Feind allen Fortschritts hinstellte: in „Die Sklaverei unserer Zeit“[28] nahm er für sich in Anspruch, nur gegen solchen Fortschritt zu sein, der auf Kosten der menschlichen Freiheit und von menschlichem Leben erreicht werde. "Wahrhaft erleuchtete Menschen werden immer einverstanden sein, lieber zum Reiten auf Pferden und zum Gebrauch von Packpferden oder gar zum Bepflügen des Bodens mit Stöcken und mit den eigenen Händen zurückzukehren als mit der Eisenbahn zu reisen, die in der Regel viele Menschen wie in Chicago umbringt, und zwar allein aus dem Grunde, weil die Besitzer der Eisenbahnen es rentabler finden, die Familien der Umgekommenen zu entschädigen als die Linien so auszubauen, daß keine Menschen getötet werden. Der Leitspruch lautet für wahrhaft erleuchtete Menschen nicht 'fiat cultura, pereat justicia', sondern 'fiat justicia, pereat cultura'."„Aber die Kultur, nützliche Kultur, wird nicht zugrunde gehen. Nicht umsonst hat die Menschheit in der Zeit ihrer Sklaverei einen so großen Fortschritt in technischen Dingen erreicht. Nur wenn begriffen wird, daß wir das Leben unserer Mitmenschen nicht um unseres eigenen Vergnügens willen opfern dürfen, dann wird es möglich sein, technische Verbesserungen anzuwenden ohne Menschenleben zu vernichten.“Ungeachtet solcher Proteste sah Tolstoi jedoch nicht einem reicheren Leben in körperlicher Hinsicht entgegen. Für ihn war - wie für die Bauern-Anarchisten Andalusiens [29] - das moralische Ideal ein einfaches und asketisches Leben, in dem jeder so wenig wie möglich von der Arbeit des anderen abhängig ist. Die Ähnlichkeiten mit Proudhon sind bezeichnend; Tolstoi muß die lyrischen Loblieder dieses Philosophen auf die Herrlichkeiten einer würdevollen Armut mit Zustimmung gelesen haben. Es ist der Haß auf den Luxus, der Wunsch, daß die Kultur den Menschen dienen solle statt umgekehrt, die seine außerordentliche Ablehnung jener Kunstwerke erklären, die bei den "Glücklichen Wenigen" Anklang finden; für ihn wurde Kunst erst zur wahren Kunst, wenn sie ihre Botschaft allen Menschen mitteilte und ihnen Hoffnung gab.Im Mittelpunkt von Tolstois Gesellschaftslehre steht seine Ablehnung des Staates; aber ebenso wichtig ist seine Absage an das Eigentum. In der Tat sind für ihn beide voneinander abhängig. Eigentum ist eine Form der Herrschaft einiger Menschen über andere; der Staat existiert zu dem Zweck, den Fortbestand dieser Eigentumsverhältnisse auf ewig zu sichern. Deshalb müssen beide, Staat und Eigentum, beseitigt werden, damit die Menschen in Freiheit und ohne Herrschaft leben können - im Staate der Gemeinschaft und des gegenseitigen Friedens, im Reich Gottes auf Erden.Einwendungen, daß die positiven Funktionen der Gesellschaft nicht ohne den Staat existieren könnten, entgegnete Tolstoi mit Worten, die an Kropotkins Argumente in „Gegenseitiger Hilfe“ und „Die Eroberung des Brotes“ [30] erinnern: „Warum glauben, daß nichtbeamtete Menschen ihr Leben nicht genauso für sich selbst gestalten könnten wie es Regierungsbeamte zwar nicht für sich, wohl aber für andere tun können?“„Wir sehen im Gegenteil, daß die Menschen in unserer Zeit in den verschiedensten Angelegenheiten ihr Leben unvergleichlich besser gestalten können als diejenigen, die die Dinge für sie regeln. Ohne die geringste Hilfe von Seiten der Regierung und oft trotz Behinderung durch die Regierung organisieren die Menschen alle Arten gesellschaftlicher Unternehmungen: Gewerkschaften, Genossenschaften, Eisenbahngesellschaften, Artels [31] und Verbände. Wenn Kollekten für öffentliche Arbeiten benötigt werden: warum sollten wir in solchen Fällen annehmen, daß freie Menschen nicht ohne Gewalt und freiwillig die notwendigen Mittel sammeln und all das ausführen können, was heute mit Hilfe von Steuern ausgeführt wird - wenn die fraglichen Unternehmungen nur wirklich nützlich für jedermann sind? Warum annehmen, daß es keine Gerichtsverhandlungen ohne Gewalt geben kann? Gerichte durch das Volk, die das Vertrauen der Streitenden genießen, hat es immer gegeben und wird es geben, und sie sind auf Gewalt nicht angewiesen... Und in gleicher Weise gibt es keinen Grund zu der Annahme, daß die Menschen nicht in gemeinsamer Übereinstimmung darüber entscheiden könnten, wie das Land zur Bewirtschaftung zu verteilen sei. Tolstoi zögerte ebenso wie andere Anarchisten, Utopien in die Welt zu setzen und den exakten Plan einer Gesellschaft zu entwerfen, die einmal existieren könnte, wenn die Menschen nicht länger Regierungen unterworfen wären.„Die Einzelheiten einer neuen Lebensordnung können uns nicht bekannt sein. Wir müssen sie selbst formen. Das Leben besteht allein in der Suche nach dem Unbekannten und in unserem Bemühen, unser Handeln mit der neuen Wahrheit in Einklang zu bringen.“Dennoch stellte er sich eine Gesellschaft vor, in der Staat, Gesetz und Eigentum beseitigt sind und in der genossenschaftliche Produktionsverhältnisse an deren Stelle treten;die Verteilung der Arbeitserzeugnisse wird in einer solchen Gesellschaft einem kommunistischen Prinzip folgen, so daß die Menschen alles erhalten werden, was sie brauchen, jedoch - sowohl um ihrer selbst willen als auch anderer Menschen wegen - ohne Überfluß.Um diese Gesellschaft zu verwirklichen, trat Tolstoi - wie Godwin und zu einem großen Teil wie Proudhon - für eine moralische statt für eine politische Revolution ein. Eine politische Revolution, so vermutete er, bekämpft Staat und Eigentum von außen; eine moralische Revolution arbeitet innerhalb der schlechten Gesellschaft und nagt an ihren eigentlichen Fundamenten. Tolstoi machte sehr wohl einen Unterschied zwischen der von einer Regierung ausgeübten Gewalt, die für ihn ganz und gar schlecht ist, weil sie vorsätzlich gehandhabt wird und aufgrund einer Perversion der Vernunft wirkt, und der Gewalt eines empörten Volkes, die für ihn nur zum Teil schlecht ist, weil sie aus Unwissenheit entsteht. Dennoch sah er die einzige Möglichkeit zur Veränderung der Gesellschaft in der Vernunft und letzten Endes in der Überzeugung und in der Kraft des Beispiels. Wer den Staat beseitigen will, muß Militärdienst, Polizeidienst, Gerichtsdienst und Steuern verweigern. Mit anderen Worten: die Verweigerung des Gehorsams ist Tolstois schärfste Waffe. Ich denke, ich habe genug gesagt, um zu zeigen, daß Tolstois Gesellschaftslehren in ihrem Wesensgehalt echter Anarchismus sind, indem sie die autoritäre Ordnung der bestehenden Gesellschaft verurteilen, eine neue libertäre Ordnung vorschlagen und die Mittel nennen, mit denen sie verwirklicht werden könnte. Da seine Religion eine natürliche und rationale Religion ist, die ihr Reich in der Herrschaft von Gerechtigkeit und Liebe auf dieser Erde sieht, geht sie nicht über seine anarchistische Lehre hinaus, sondern vervollkommnet sie. Tolstois Einfluß war und ist beträchtlich und vielseitig. Tausende von Menschen innerhalb und außerhalb Rußlands wurden seine leidenschaftlichen Schüler und gründeten Tolstoi-Siedlungen, die auf einem kommunalen Wirtschaften und einem asketischen Leben beruhten. Mir ist nie eine umfassende Aufzählung all dieser Gemeinschaften zu Gesicht gekommen, aber diejenigen, die ich aufspüren konnte, scheiterten innerhalb relativ kurzer Zeit entweder infolge der persönlichen Gegensätze zwischen den Teilnehmern oder infolge des Mangels an praktischer Erfahrung in der Landwirtschaft. Dennoch hielt sich in Rußland bis in die 20er Jahre dieses Jahrhunderts hinein eine aktive Tolstoi-Bewegung bis sie schließlich von den Bolschewisten zerschlagen wurde. Außerhalb Rußlands beeinflußte Tolstoi mit Sicherheit die anarchistischen Pazifisten in den Niederlanden, Großbritannien und den Vereinigten Staaten [32]. Viele britische Pazifisten des Zweiten Weltkrieges nahmen an neo-tolstoianischen Gemeinschaften teil, von denen allerdings nur wenige das Ende des Krieges erlebten. Das vielleicht eindrucksvollste Beispiel tolstoianischen Einflusses in der heutigen westlichen Welt ist - angesichts von Tolstois Mißtrauen gegenüber organisierten Kirchen nicht ohne Ironie - die römisch-katholische Gruppe in den USA, die sich um die Zeitschrift „The Catholic Worker“ und besonders um jene fromme Vertreterin des christlichen Anarchismus unserer Zeit, Dorothy Day [33], scharte. Aber die bedeutendste von Tolstoi beeinflußte Persönlichkeit war ohne Zweifel Mahatma Gandhi [34]. Gandhis Errungenschaft, das indische Volk aufzuwecken und es durch eine nahezu unblutige nationale Revolution gegen die Fremdherrschaft zu führen, liegt zwar nur am Rande unseres Themas, aber es ist an dieser Stelle angebracht, daran zu erinnern, daß Gandhi von verschiedenen der großen libertären Theoretiker beeinflußt wurde. Seine gewaltfreien Techniken entwickelte er zum größten Teil unter dem Einfluß Thoreaus [35] und Tolstois, und die eifrige Lektüre von Werken Kropotkins bestärkte ihn in seiner Vorstellung von einem Land, das aus Dorfkommunen besteht. In Rußland selbst ging Tolstois Einfluß weit über die engeren Kreise seiner Schüler hinaus, die ihn oft durch die merkwürdige Radikalität ihres Verhaltens in Verlegenheit brachten. Die Rolle, in der Tolstoi in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens hervortrat, war eher die eines leidenschaftlich inoffiziellen und unorthodoxen Gewissens Rußlands als die des Führers einer Bewegung. Sein weltweites Ansehen ausnützend, das ihn vor einer direkten Verfolgung schützte, griff er die zaristische Regierung immer wieder wegen ihrer Verstöße gegen die rationale Moral und die christlichen Lehren an. Er sprach ohne Furcht und ließ sich nie zum Schweigen bringen. Rebellen aller Art fühlten, daß sie in dem riesigen Polizeistaat Rußland nicht allein standen, solange Tolstoi da war und so redete, wie sein Sinn für Gerechtigkeit es ihm eingab. Seine schonungslose Kritik trug ohne Zweifel ihren Teil dazu bei, in den verhängnisvollen Jahren zwischen 1905 und 1917 die Fundamente des Romanoff-Reiches zu untergraben [36]. Und wiederum erteilte er damit eine Lektion, die Anarchisten lieb und teuer ist: daß nämlich die moralische Kraft eines einzigen Menschen, der auf seiner Freiheit besteht, größer ist als die einer Vielzahl schweigender Sklaven.
George Woodcock wurde 1912 in Winnipeg/Kanada geboren. In den 40er Jahren lebte er in London, wo er die Literaturzeitschrift „N0W“ herausgab, zusammen mit Herbert Read und George Orwell für die BBC arbeitete und von 1941 bis 1949 Mitarbeiter des traditionsreichen anarchistischen Verlages „Freedom Press“ war. Nach seiner Rückkehr nach Amerika lehrte er in den 50er und 60er-Jahren englische Literatur an verschiedenen Universitäten und gab bis in die 70er Jabre das von ihm 1959 begründete angesehene Magazin „Canadian Literature“ heraus.In seinen über 40 Büchern beschäftigt er sich unter anderem mit Poesie, Literaturkritik, Geschichte (z.B. Geschichte des Anarchismus), Reisebeschreibungen (z.B. Indien und China) und Biographien (z.B. M. Gandhi, P. -J. Proudhon, G. Orwell, A. Huxley). In deutscher Sprache erschien sein biographischer Essay "Mahatma Gandhi" (erstmals engl. 1972; München 1975, Kassel 1983, München 1986) sowie in der Zeitschrift „Trafik - Internationales Journal zur libertären Kultur und Politik“ (Mülheim) sein Aufsatz über "Anarchistische Kritik" (Nr. 17/1985) und in zwei Teilen sein Essay "Paul Goodman. Der Anarchist als Bewahrer" (Nr. 23/1986 und Nr. 24/1986).
Unter den politischen Revolutionären verstehe ich jene Leute, die — beginnend mit der friedlichsten Konstitutionalisten und sich erstreckend bis zu den radikalsten Revolutionären — bestrebt sind, die gegenwärtige Regierungsgewalt durch eine andere Regierungsgewalt zu ersetzen, welch letztere anders organisiert und aus anderen Menschen bestehen würde a-s die gewesene.Revolutionäre aller politischen Schattierungen und Bezeichnungen: Ihr erachtet die gegenwartige Regierung als schädlich und versuchet auf verschiedene Art, mittels von der Regierung gestatteten oder verbotenen — Massenbewegungen, revolutionären Aktionsplänen, Proklamationen und Demonstrationen und schließlich — als natürliche und unvermeidliche Grundlage und Folge aller dieser Betätigungen — durch Mord, Hinrichtungen und bewaffnete Aufstände, die bestehenden Staatsgewalten durch andere, neue zu ersetzen.Obwohl Ihr alle unter einander darin uneinig seid, worin diese neue Autorität bestehen, wie sie beschaffen sein soll, so haltet Ihr dennoch; um die von jeder Eurer Gruppen vorgeschlagenen Maßnahmen herbeizuführen, vor keinerlei Verbrechen inne, verübt Ihr, wenn nötig, Mord, Explosionen, Hinrichtungen, entfesselt Ihr den Bürgerkrieg.Ihr kennt keine Worte, die stark genug wären, um Eure Verurteilung und Verachtung für jene offiziellen Personen zum Ausdruck zu bringen, die das Volk bedrücken. Aber Ihr solltet nicht vergessen, daß alle, wirklich grausamen und grauenhaften Handlungen, die die Mitglieder der Regierung in ihrem Kampf gegen Euch vollführen, in ihren Augen gerechtfertigt sind, weil sie, vom Zaren bis herab zum letzten Polizisten, erzogen worden sind in unbegrenzter Ehrfurcht vor der bestehenden Gesellschaftsordnung, geheiligt durch Alter und Tradition; und die, wenn sie diese Ordnung verteidigen, vollkommen davon überzeugt sind, daß sie etwas tun, was von Millionen Menschen von ihnen verlangt wird, da alle diese die Rechtmäßigkeit der bestehenden Ordnung und ihrer Position in derselben anerkennen. So, daß sie glauben, die moralische Verantwortung für ihre grausamen Handlungen nicht allein tragen zu müssen, sondern mit vielen Leuten teilen zu können.Anderseits seid Ihr: Leute aller möglichen Berufe — Ärzte, Lehrer, Ingenieure, Studenten, Professoren, Journalisten, Studentinnen, Arbeiter, Rechtsanwälte, Kaufleute, Gutsbesitzer oder Leute in Berufen, die in ihren besonderen Obliegenheiten bisher nichts mit der Regierung zu tun gehabt haben — Ihr seid keineswegs außerhalb Eures eigenen Kreises anerkannt, noch genießt Ihr außerhalb Eurer eigenen Bewegung Vertrauen. Dennoch fühlt Ihr, daß Ihr plötzlich, über allem und jedem Zweifel erhaben, Euch allein dessen bewußt seid, welche Art von besonderer politischer und staatlicher Verfassung alle Menschen benötigen und im Namen dieser Verfassung — die dereinst, in der Zukunft, erst vollreif und ideal verwirklicht werden soll und deren Einzelheiten ein jeder von Euch auf seine eigene Art und Weise auffaßt — nehmt Ihr die ganze Verantwortung für eben diese schrecklichen Taten auf Euch, die Ihr verübet. Ihr fühlt Euch berechtigt, zu zerstören, zu morden und hinzurichten. Tausende sind getötet worden; alle sind zur Verzweiflung getrieben, verbittert und brutalisiert. Und wofür ist all das geschehen?Es ist alles getan worden, weil innerhalb einer Gruppe von Leuten, kaum der zehntausendste Teil der gesamten Nation, einige dahin entschieden haben, daß für die beste politische Verfassung des Reiches diejenige erwählte parlamentarische Körperschaft nötig sei, die zuletzt einberufen worden war; dieweil andere sagen, was wirklich vonnöten, sei eine durch das allgemeine, geheime und gleiche Wahlrecht erwählte Nationalversammlung; eine dritte Partei sagt, was nötig, sei eine Republik; und eine vierte Partei erklärt, was nötig, sei keine gewöhnliche Republik, sondern eine sozialdemokratische Republik. Und wegen dieser Streitfragen wird ein Bürgerkrieg entfesselt.Ihr Sagt, Ihr tut es um des Volkes willen, und daß Euer Hauptziel die Volkswohlfahrt sei. Aber die Millionen Menschen, für die Ihr all dies tut, haben Euch nicht aufgefordert, für sie zu handeln und wollen alle diese staatlichen Dinge nicht, die Ihr durch solche schlechte Mittel zu erreichen suchet. Die Masse des Volkes braucht Euch nicht, sondern hat Euch immer als nutzlöse Raupen angesehen, sieht Euch als Politiker noch als solche an und kann Euch als nichts anderes ansehen, weil Ihr in der einen oder anderen Weise, die Früchte ihrer Arbeit verzehrt und eine Bürde für die Masse des Volkes seid. Vergegenwärtigt Euch nur deutlich, das Leben dieser Millionen ackerbautreibender Bauern, die, streng genommen, die wesentlichsten Teile des Körpers einer jeden Nation konstituieren; und verstehet doch dann, daß Ihr alle in den Städten: — Intellektuelle oder Fabriksarbeiter zur Erzeugung nutzloser, weil nur dem Luxus oder dem Gewaltsystem dienender Waren — daß just die, die sich angeblich so viel bemühen um des Volkes Wohlfahrt, größtenteils schädliche Schmarotzer auf dessen Körper sind, dessen Blut und Kraft aussaugen, auf ihm verfaulen und ihm nur die eigene Korruption zutragen.Stellet Euch nur lebhaft vor, wie die Millionen von Bauern und Landarbeiter, die geduldig und schwer sich abmühen müssen, um des Lebens Notdurft zu stillen, auch noch Euer unnatürliches und künstliches Leben auf ihren Schultern tragen müssen, stellet Euch einmal vor, daß sie alle diese Reformen besitzen, die Ihr ihnen zu erringen trachtet — und Ihr werdet leicht einsehen, wie fremd all das, was angeblich zu ihrem Wohle, das ihr angeblich zu verwirklichen sucht, diesen Leuten ist! Sie haben andere Lebensaufgaben und erkennen tiefer und deutlicher das Ziel ihres Lebens, und sie drücken dieses Bewußtsein ihrer Bestimmung nicht in politischen Manifesten aus, sondern durch das ganze Leben eines Millionen umfassenden, aber werktätigen Teiles des Volkes.Allein nein — Ihr könnet dies nicht verstehen! Ihr seid fest davon überzeugt, daß das rauhe Bauerntum keine eigenen Lebenswurzeln besitzt und daß es für dasselbe ein großer Segen sein würde, wenn Ihr den Bauer erleuchtet mit Eurem oberflächlichen Scheinwissen, während Ihr, indem Ihr so handelt, ihn nur eben so bemitleidenswert, hilflos und verderbt macht, wie Ihr selbst es vielfach seid.Revolutionäre, Ihr sagt, Ihr wollt eine gerechte Organisation des Lebens, aber Ihr könnt tatsächlich nur unter einer ungeregelten, ungerechten Organisation existieren. Sollte man daran schreiten, eine wahrhaft gerechte Organisation zu etablieren, die keinen Raum denen gewährt, die von der Arbeit anderer leben, so würdet Ihr Alle — sowohl Ihr: Land- und Hausbesitzer, Geschäftsmänner, Nurintellektuelle und Advokaten, ebenso wie Ihr: Luxusarbeiter, Fabrikanten, Werkstättenbesitzer, Nurgeistesarbeiter, Arbeiter in der Munitions-, Tabak-, Alkohol-, Samt- und Seidenindustrie usw., zusammen mit sämtlichen Mitgliedern der Regierung — Ihr alle, die Ihr oft zu gleicher Zeit Revolutionäre seid, würdet in einer gerechten Organisation des Lebens Eure Lebensweise aufgeben müssen, oder Ihr würdet verhungern. Was Ihr darum wollt, ist eigentlich keine gerechte Organisation des Lebens, denn nichts könnte für Euch alle gefährlicher sein, als eine Ordnung, in welcher jedermann eine Arbeit zu verrichten hätte, die für alle nötig und nützlich ist.Hört nur auf, Euch zu täuschen! Überleget Euch gut, welchen Platz Ihr innerhalb des Volkes einnehmet und was Ihr tut, und bald wird es Euch klar werden, daß Euer Kampf gegen die Regierung auf beiden Seiten nur ein Machtkampf ist, also der Kampf zweier Schmarotzer auf einem gesunden Körper und daß beide einander bekämpfenden Parteien in gleicher Weise schädlich sind für das Volk.Sprechet daher von Euren eigenen Interessen, aber sprechet nicht für das Volk. Lügt dasselbe nicht an, versprechet ihm nichts, laßt es in Frieden. Bekämpfet die Regierung, wenn Ihr nicht anders könnt aber wisset, daß Ihr für Euch selbst und Eure Machteroberung kämpfet, nicht für das Volk, und daß in diesem Gewaltkampf es nichts Edles oder Gutes gibt, sondern daß Euer Kampf eine durchaus unsinnige, schädliche und, da er nur zu neuer Machtherrschaft führt, vor allem unmoralische Angelegenheit ist.Eure Aktivität erstrebt, so sagt Ihr, die allgemeine Lage des Volkes zu heben. Aber auf daß die Lage des Volkes eine bessere werde, dazu ist nötig, daß die Menschen selber besser werden. Dies ist so seht eine augenscheinliche Wahrheit, wie die, daß um einen Kessel Wasser zu erwärmen, alle Tropfen in demselben erwärmt werden müssen. Damit die Menschen besser werden, dazu ist nötig, daß sie immer mehr ihre Aufmerksamkeit auf sie selbst, auf ihre eigene Lebensführung, Handlungsweise, auf ihr Innenleben richten. Aber die öffentliche Parteipolitik und besonders der öffentliche Parteienkampf lenkt den Geist der Menschen von ihrem inneren Leben ab. Und dadurch wird das Volk nur verdorben, der Grad seiner allgemeinen Moralität wird durch jene Methoden, wie wir es überall beobachten können, stets und unvermeidlich gesenkt.Dieses Sinken des Grades der allgemeinen Ethik und Rechtlichkeit verursacht es, daß die unmoralischesten Teile der Gesellschaft mehr und mehr nach oben, zur Macht gelangen. Und sie bilden dann eine ihnen entsprechende, verworfene, öffentliche Meinung, die ihnen nicht nur gestattet, sondern sogar gutheißt all die Verbrechen derer, die zu Macht gekommen sind, ihre Räubereien, Verwüstungen und Vergeudungen und selbst den Mord gutheißt. Auf diese Weise entsteht ein bösartiger Kreis: Die üblen Elemente der Gesellschaft, hervorgerufen durch den sozialen Krieg, werfen sich leidenschaftlich in eine politische Tätigkeit, die dem tiefen Niveau Ihres Charakters entspricht und diese, ihre Tätigkeit lockt immer verworfenere Elemente der Gesellschaft an sich heran. Der allgemeine moralische Charaktergrad senkt sich mehr und mehr, und die Scheußlichsten der Menschen — wie ein Napoleon, Bismarck oder Ihresgleichen — werden zu Helden des Tages. So daß die Beteiligung an den Machtkämpfen des politischen Lebens nicht nur keine erhabene, nützliche und gute Sache ist — wie es gewohnheitsmäßig angenommen wird, und von denjenigen gelehrt wird, denen diese politischen Kämpfe ein Beruf sind —, sondern im Gegenteil, sie ist eine ganz fraglos stupide, harmvolle und schlechte Sache.Überleget Euch dies, besonders Ihr, junge Menschen, die Ihr noch nicht untergetaucht seid in dem klebrigen Schlamm der Parteipolitik!Schüttelt den schrecklichen hypnotischen Bann von Euch ab, unter dem Ihr Euch befindet. Befreiet Euch von der Lüge dieses Scheindienstes zu Gunsten des Volkes, in dessen Namen Ihr Alles als Euch gestattet erachtet, während es nur dazu dient, Euch über das Volk emporzuschwingen. Vor allem gedenket der höchsten Eigenschaften Eurer Seele, welche weder das gleiche und geheime Wahlrecht noch den bewaffneten Aufstand oder eine gesetzgebende Nationalversammlung oder ähnliche Unsinnigkeiten und Grausamkeiten beanspruchen, sondern nur das Eine von Euch fordern: daß Ihr ein gutes, gerechtes und wahrhaftes Leben führen sollt!Was zu einem solchen guten und aufrichtigen Leben nötig ist, ist vor allem dies: Betrüget Euch nicht in der Annahme, Ihr dientet mit Eurem politischen Machtstreben dem Volke, wenn Ihr in Wirklichkeit nur Euren kleinlichen Leidenschaften nachgebet und dient: Der Eitelkeit, dem Ehrgeiz, der Machtgier, Euch in anmaßender Bedrohung bloß deshalb ergeht, weil Ihr wünschet, zur Verausgabung Eurer überschüssigen Energie einen Ausfluß zu haben
Gegenüber dem Hause in Moskau, in welchem ich lebe, befindet sich eine Seidenfabrik, ausgestattet mit den neuesten technischen Einrichtungen. Ungefähr dreitausend Frauen, dazu etwa siebenhundert männliche Arbeiter, arbeiten in den Räumen. Wenn ich in meiner Stube sitze, höre ich den unausgesetzten Lärm der Maschinerie und weiss — denn ich war dort — was es mit diesem Lärm auf sich hat. Dreitausend Frauen stehen bei den Webstühlen, zwölf Stunden den Tag, inmitten eines betäubenden Gerassels; aufwindend, abwindend, die Seidenfäden ordnend zur Herstellung der Seidenstoffes. Alle diese Frauen (ausgenommen jene, die gerade erst von den Dörfern hereingekommen sind) haben ein ungesundes Aussehen.Fast alle, ob verheiratet oder unverheiratet, wenn ein Kind geboren wird, senden sie es so schnell wie möglich nach einem Dorf, oder in eine Anstalt für Findlinge, wo achtzig Prozent dieser Kinder sterben. Aus Furcht, den Arbeitsplatz zu verlieren, nimmt so eine Frau die Arbeit den nächsten oder den dritten Tag nach ihrer Niederkunft wieder auf.Ich kenne diese Fabrik seit zwanzig Jahren. Während dieser Zeit haben zehntausend junge gesunde Frauen, ihr Leben und das ihrer Kinder ruiniert in Erfüllung ihrer Aufgabe, Samt- und Seidenstoffe herzustellen. Gestern traf ich einen Bettler; ein junger Mann auf Krücken, kräftig gebaut aber verkrüppelt. Er arbeitete früher als Karrenschieber, Kanalarbeiter, rutschte mit einer Last aus und zog sich innere Verletzungen zu, was er hatte floss den Doktoren und Bauernfrauen zu, von welchen einzelne im Rufe stehen, grosse Heilkünstlerinnen zu sein. Nun war er seit acht Jahren ohne Heim und Obdach, murrte gegen Gott, dass der ihm nicht den Tod schickte. Wie viele solcher Opfer gibt es doch. Von den meisten wissen wir nichts, und über jene, die wir kennen, halten wir es kaum der Mühe für wert, nachzudenken; sie erscheinen uns als unabwendbar.Ich kenne Männer, die vor den Hochöfen der Tula-Eisengiesserei arbeiten. Um einen Sonntag in vierzehn Tagen frei zu haben, arbeiten sie achtund vierzig Stunden ohne auszusetzen. Das heisst, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Ich habe diese Männer gesehen; sie trinken alle Schnaps, um die Energie aufrecht zu erhalten, Sie verzehren nicht nur schnell die Zinsen ihres Lebenskapitals, sie verbrauchen dieses Kapital selbst.Und wie wird erst menschliches Leben verwüstet unter jenen Menschen, die zur Verrichtung ihnen schädlicher, gefährlicher Arbeit verurteilt sind. In Spiegel-, Patronen-, Streichholz - Fabriken, in Gaswerken und Bergwerken. Es giebt englische Statistiken, die zeigen, dass die Durchschnittsdauer des Lebens der Angehörigen der oberen Klassen fünfundfünfzig Jahre beträgt, dagegen die Lebensdauer der Arbeiter in ungesunden Industriezweigen nur neunundzwanzig Jahre.Dies alles wissend (wir können es uns unmöglich verheimlichen), sollte man meinen, wir würden keinen Augenblick Frieden haben, bei dem Gedanken, dass wir von den Vorteilen von Arbeiten leben, die so vielen Menschen das Leben kosten. Aber Tatsache ist, dass wir wohlhabenden Leute, Liberale und Humanitarier, äusserst sensitiv nicht nur den Leiden von Menschen, sondern auch den Leiden der Tiere gegenüber, unaufhörlich den Nutzen aus solcher Arbeit ziehen. Ja, wir versuchen es, trachten aufs Eifrigste danach, durch solche Arbeit immer reicher und reicher zu werden. Aber es lässt uns kalt und gleichgültig.Wir wissen, dass die Frauen und Mädchen der Seidenfabrik, von ihren Familien entfernt, ihr Leben ruinieren und dazu das ihrer Kinder, dass die grosse Hälfte der Waschfrauen, die unsere Oberhemden plätten, ein grosser Teil der Schriftsetzer, die unsere Zeitungen und Bücher herstellen, welche uns die Zeit vertreiben, die Schwindsucht bekommen. Wir zucken nur die Schultern, bemerken, es sei sehr traurig, dass die Dinge so liegen, ändern können wir aber nichts daran. So fahren wir mit ruhigstem Gewissen fort, Seidenstoffe zu tragen, Plätthemden anzuziehen, die Morgenzeitung zu lesen.Wir sind so human! Es ist verboten, den Pferden zu schwere Lasten aufzuladen; wir organisieren sogar das Töten des Viehes in den Schlachthäusern, damit die Tiere so wenig leiden wie möglich. Aber wie blind werden wir, sobald die Millionen Arbeiter in Frage kommen, die langsam, oft unter Pein und Schmerzen, dahinsterben infolge von Arbeit, deren Früchte wir zur Erhöhung unserer Bequemlichkeit und unseres Vergnügens verwenden!Diese Blindheit, von der die wohlhabenden Leute befallen werden, lässt sich nur mit der Beobachtung erklären, dass Menschen, welche schlecht handeln, immer eine Philosophie erfinden, mit der bewiesen wird, diese, schlechten Handlungen seien nicht schlecht, vielmehr nur Resultate unabänderlicher Natur- oder Sozial-Gesetze jenseits der menschlichen Kontrolle.In früheren Zeiten wurde die Begründung einer solchen Betrachtungsweise in der Lehre gefunden, dass ein unergründlicher, unabänderlicher Wille Gottes vorhanden sei, der gleich von vorn herein bestimmte, es müsse Menschen geben in untergeordneter Stellung, mit harter Arbeit belastet, und andere Menschen in erhabener Position, sich ergötzend an den guten Dingen des Lebens.Über dieses Thema sind eine enorme Menge Bücher geschrieben und unzählige Predigten gehalten worden. Von jeder nur möglichen Seite aus wurde es betrachtet. Im Ganzen ergab sich, dass Gott menschliche Wesen verschiedener Art schuf, Sklaven und Herren, und dass beide mit ihrer Position zufrieden sein sollten. Es wnrde ferner gelehrt, für die Sklaven stehe nach dem Tode im Jenseits eine schönere Welt bereit. Später argumentierte man, die Sklaven müssten zwar Sklaven bleiben, doch könnte ihr Los freundlicher gestaltet werden durch gütige Herren.Dann kam die letzte Erklärung, hervorgerufen durch die Freisetzung der Leibeigenen und der Sklaven. Nun hiess es, der Reichtum sei einigen Leuten von Gott vertrauensvoll überantwortet worden, damit er in ihren Händen für gute, menschenfreundliche Zwecke Verwendung finde. War also ganz in der Ordnung, dass es Reiche und Arme gab. Diese Erklärung befriedigte die Reichen und die Armen (besonders die Reichen) eine lange Zeit hindurch. Aber der Tag kam, an welchem sie unzulänglich wurde, besonders für die Armen, welche allmählich ihre Lage zu verstehen begannen. Jetzt wurden neue Erklärungen gebraucht und richtig, sie stellten sich zur rechten Zeit ein.Diese neuen Erklärungen erschienen in wissenschaftlicher Form, als politische Ökonomie. Sie erklärte, die Gesetze entdeckt zu haben, welche die Verteilung der Produkte und die Teilung der Arbeit unter den Menschen regelten. Nach diesen Gesetzen hängen die Teilung der Arbeit und der Genuss ihrer Produkte ab von dem Warenvorrat und der Nachfrage danach, von Kapital, Rente, Arbeitslöhnen, Wert, Profit usw.; im Allgemeinen — von unabänderlichen Gesetzen, die das ökonomische Leben der Menschen regieren.Bald wurden dieser Theorie eine schwere Menge Bücher und Broschüren gewidmet, soviele Reden darüber gehalten, wie früher über den unveränderlichen Willen Gottes, und noch immer türmen sich die Pamphlete und Vorlesungen darüber zu ganzen Bergen auf. Und sie sind ebenso dunkel und unverständlich, wie es die theologischen Traktate waren. Auch erfüllen sie vollkommen den gleichen Zweck; das heisst, sie geben für die bestehende Ordnung der Dinge eine Erklärung an, aus welcher jene Leute die Berechtigung ihrer Lebensweise herleiten können, die sich die Arbeit anderer nutzbar machen, sich selbst aber von der Arbeit fern halten.Die Tatsache, dass die Feststellungen dieser Pseudo-Wissenschaft nicht von der Lage aller Völker der historischen Zeiten ausgehen, um die allgemeine Ordnung der Dinge zu konstatieren, dass sie nur auf die Bewohner eines kleinen Landes — England am Ende des achtzehnten und zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts — Bezug nahmen, die unter besonderen Verhältnissen lebten —, diese Tatsache selbst konnte es nicht hindern, dass die Resultate dieser Pseudo-Wissenschaft als gültig und beweiskräftig aufgenommen wurden. Obgleich noch hinzukommt, dass die Leute, welche solches Studium betreiben, endlose Dispute mit einander führen, sehr selten mit einander übereinstimmen, sich nicht darüber verständigen können, was eigentlich unter Rente, Mehrwert, Profit usw. zu verstehen sei.Nur ein Fundamentalsatz wird anerkannt von allen, nämlich, dass die Verhältnisse unter den Menschen nicht festgestellt werden durch das, was als Recht und Unrecht betrachtet wird, sondern durch das, was vorteilhaft ist für jene, die vorteilhafte Stellungen in der Gesellschaft einnehmen. Es wird als eine unbezweifelte Wahrheit zugegeben, dass, wenn in der Gesellschaft Diebe und Räuber aufstanden, die den Arbeitenden die Früchte ihrer Arbeit nahmen, dieses nicht ans dem Grunde geschah, weil die Räuber räuberisch, die Diebe diebisch waren.Es geschah, weil die unabänderlichen ökonomischen Gesetze erfüllt werden mussten. Und deswegen, gemäss dieser Wissenschaft, mögen die Leute, welche zu der Klasse der Räuber und Diebe gehören, ruhig fortfahren, sich die Dinge nutzbar zu machen, die ihre Räuberei ihnen verschafft.Zwar, die Majorität der Menschen kennt nicht die Details dieser beruhigenden wissenschaftlichen Erklärungen. Sie kennt sie ebenso wenig, wie sie früher die Einzelheiten der theologischen Rechtfertigungen des Bestehenden kannte. Doch alle wissen, dass eine Erklärung besteht, dass wissenschaftliche Männer, weise Männer überzeugend nachwiesen und fortfahren nachzuweisen, diese Ordnung der Dinge sei was sie sein solle, weswegen wir ruhig in dieser Ordnung zu leben haben, ohne den Versuch zu machen, an ihrer Grundlage etwas zu ändern.Nur in dieser Weise kann ich die erstaunliche Blindheit der guten Menschen unserer Gesellschaft erklären. Sie wünschen sicherlich, dass den Tieren so wenig Leid wie möglich zugefügt werde. Und doch, mit ruhigem Gewissen zerreissen und saugen sie das Leben ihrer Mitmenschen aus.
Die Erziehung des Volkes war und ist mir überall und immer eine unbegreifliche Erscheinung. Das Volk verlangt nach Bildung, und jeder einzelne strebt unbewußt nach ihr. Die gebildeteren Klassen, die Gesellschaft, die Regierung usw., haben den Willen, den weniger gebildeten Volksklassen ihr Wissen und ihre Kenntnisse mitzuteilen und sie auf eine höhere Bildungsstufe zu erheben. Man sollte meinen, ein solches Zusammentreffen der Bedürfnisse müßte beide Klassen - die nach Bildung strebende, wie die die Bildung vermittelnde - in gleicher Weise zufriedenstellen. Statt dessen aber trifft gerade das Gegenteil zu. Das Volk setzt den Anstrengungen der Gesellschaft, der Regierung und den Vertretern der höheren Bildung, es zu erziehen, immer Widerstand entgegen, und diese Anstrengungen bleiben zum größten Teil erfolglos. Dabei denke ich nicht an die Schulen im alten Indien, Ägypten, Griechenland oder selbst in Rom, deren Einrichtungen uns ebenso unbekannt sind, wie die Meinung, die das Volk von ihnen hatte, - diese Erscheinung fordert unsere Verwunderung heraus hinsichtlich der europäischen Schulen seit den Zeiten Luthers bis auf unsere Tage.Deutschland, das Mutterland der Schule, hat in einem beinahe 200jährigen Kampf diesen Widerstand des Volkes gegen die Schule noch nicht ganz überwinden können. Trotz der Besetzung der Lehrerstellen mit ausgedienten Soldaten und Invaliden durch die preußischen Friedriche, trotz der Strenge des Schulgesetzes, das bereits 200 Jahre besteht, trotz der Ausbildung von Lehrern in den Seminaren nach der neuesten Methode und trotz des Respekts, den der Deutsche vor dem Gesetze hat, lastet der Schulzwang noch mit seinem ganzen Gewichte auf dem Volke; die deutschen Regierungen können sich nicht dazu entschließen, das Gesetz, das den Schulbesuch zur Pflicht macht, aufzuheben. Nur nach den statistischen Ergebnissen darf Deutschland auf die Bildung seines Volkes stolz sein, während das Volk selbst nach den eigenen Erfahrungen Widerwillen gegen die Schule nach Hause bringt. Frankreich hat trotz des Übergangs der Bildungsfürsorge aus den Händen des Direktoriums in die der Geistlichkeit in der Sache der Volkserziehung ebensowenig, ja noch weniger als Deutschland erreicht, wie die Historiker der Pädagogik erklären, die nach offiziellen Berichten urteilen. In Frankreich wird noch heute von ernsten Staatsmännern die Anregung gegeben, den gesetzlichen Schulzwang einzuführen, als das einzige Mittel, um den Widerstand des Volkes zu besiegen. Im freien England, wo an die Einführung eines solches Gesetzes gar nicht zu denken ist - was jedoch viele bedauern -, kämpft zwar nicht die Regierung, aber die ganze Gesellschaft seit langer Zeit und bis auf den heutigen Tag mit allen nur möglichen Mitteln gegen den Widerstand des Volkes wider die Schule, der sich hier noch heftiger äußert, als in den anderen Ländern. Die Schulen werden dort zum Teil von der Regierung, zum Teil von privaten Gesellschaften gegründet. Die gewaltige Verbreitung und Tätigkeit dieser religiös-philanthropischen Bildungsvereine in England beweist besser als alles andere, auf wie starken Widerstand dort der Teil des Volkes stößt, der die Verbreitung der Bildung übernommen hat. Selbst ein so junges Reich, wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika, ist dieser Schwierigkeit nicht entgangen und hat die Volksbildung nahezu zwangsmäßig eingeführt. Was soll man erst von unserem Vaterland sagen, wo das Volk noch größtenteils bei dem bloßen Gedanken an die Schule in Erbitterung gerät, wo die gebildetsten Leute auf die Einführung des Schulzwanges nach dem Muster der deutschen Gesetzgebung hoffen, und wo alle Schulen, selbst die für die höheren Stände, nur dadurch bestehen können, daß sie die Berechtigung zur Rangerhöhung und die damit verbundenen Vorteile gewähren. Bisher werden die Kinder noch beinahe allenthalben zum Schulbesuch gezwungen; die Eltern aber werden durch strenge Gesetze oder durch List - durch Gewährung von Vorrechten - dazu gebracht, ihre Kinder in die Schule zu schicken, während das Volk überall von selbst nach Bildung strebt und sie für ein hohes Gut hält.Was kann das bedeuten? Das Bedürfnis nach Bildung liegt in jedem Menschen; das Volk liebt und sucht die Bildung, wie jeder Mensch die Luft liebt und nach ihr verlangt, um atmen zu können. Die Regierung und die Gesellschaft brennen vor Verlangen, das Volk zu bilden, und dennoch gibt das Volk trotz aller Gewalt, List und Hartnäckigkeit, die Regierung und Gesellschaft aufwenden, immer nur seine Unzufriedenheit mit den ihm gebotenen Bildungsmitteln zu erkennen und weicht nur schrittweise der stärkeren Gewalt.Wie bei jedem Zusammenstoß, hätte man auch bei diesem zuerst die Frage lösen müssen: was ist berechtigter, die Gegenwirkung oder die ursprüngliche Wirkung, soll man den Widerstand brechen, oder ist es vielleicht richtiger, die Einwirkung selbst zu ändern?Bisher ist diese Frage, soviel man aus der Geschichte ersehen kann, immer zugunsten der Regierung und der bildungsfreundlichen Gesellschaft entschieden worden. Der Widerstand wurde als unberechtigt angesehen, er wurde als der eigentliche Grund des Übels, das in jedem Menschen steckt, betrachtet, die Gesellschaft ließ sich von der Richtung ihrer Wirksamkeit, d.h. in bezug auf Form und Inhalt der Bildungstätigkeit, über die sie verfügte, nicht abdrängen und fuhr fort, Gewalt und List anzuwenden, um den Widerstand des Volkes zu brechen. Das Volk hat sich bis zum heutigen Tage nur langsam und ungern dieser Einwirkung gefügt. Offenbar hatte die bildungsfreundliche Gesellschaft ihre Gründe, die sie überzeugten, daß die bestimmte Form der Bildung, über die sie verfügte, für ein bestimmtes, in einer bestimmten historischen Epoche lebendes Volk etwas Gutes sei.Wo sind nun diese Gründe? Welche Gründe hat die Schule von heute, gerade dies und nicht ein anderes, gerade so und nicht anders zu lehren?Immer und zu jeder Zeit hat sich die Menschheit bemüht, eine Antwort auf diese Frage zu finden, und sie hat auch jederzeit mehr oder weniger befriedigende Antworten darauf gegeben, heute aber ist eine solche Antwort noch notwendiger geworden, als jemals. Man kann wohl einen chinesischen Mandarin, der Peking nie verlassen hat, dazu zwingen, Aussprüche aus dem Confucius auswendig zu lernen, und Kindern diese Aussprüche mit dem Stocke einbläuen. So etwas konnte man auch noch im Mittelalter tun; woher aber will unsere Zeit den Glauben an die Unfehlbarkeit des Wissens nehmen, die uns das Recht zu einer zwangsmäßigen Einführung der Bildung gäbe! Nehmen wir eine beliebige Schule des Mittelalters, vor oder nach Luther, nehmen wir die ganze mittelalterliche gelehrte Literatur - welch eine Kraft des Glaubens und der festen und unerschütterlichen Überzeugung an Wahres und Falsches tritt uns bei diesen Menschen entgegen! Sie hatten es leicht, zu wissen - daß die griechische Sprache die einzige notwendige Vorbedingung der Bildung sei, weil Aristoteles in dieser Sprache geschrieben hatte, und es zweifelte doch selbst einige Jahrhunderte später noch niemand an der Wahrheit seiner Sätze. Und konnten etwa die Mönche das Studium der Heiligen Schrift nicht fordern, deren Gültigkeit auf so unerschütterlichen Grundlagen ruhte? Auch Luther durfte mit Recht das Studium der hebräischen Sprache zur unbedingten Forderung erheben, weil er ganz sicher war, daß Gott selbst in dieser Sprache den Menschen die Wahrheit offenbart hätte. Es ist begreiflich, daß die Schule dogmatisch sein mußte, solange der kritische Geist in der Menschheit noch nicht erwacht war; unter solchen Umständen war es natürlich, daß Schüler Wahrheiten, die Gott und Aristoteles verkündigt hatten, sowie die schönen Stellen aus Vergil und Cicero auswendig lernten. Noch nach Jahrhunderten konnte niemand eine höhere Wahrheit oder eine erhabenere Schönheit vorstellen. Wie aber ist die Lage der Schule in unserer Zeit, die bei denselben dogmatischen Prinzipien stehen geblieben ist, wo dem Schüler in der einen Stunde die Unsterblichkeit der Seele gelehrt wird, während er in der nächsten Stunde erfährt, daß die Nerven, die der Mensch mit dem Frosche gemein hat, das sind, was man früher die Seele nannte; wo ihm zuerst die Geschichte des Josua ohne alle Erklärungen erzählt wird, und er gleich darauf zu hören bekommt, daß die Sonne sich nie um die Erde gedreht habe; wo er nach der Erklärung der Schönheiten des Vergil im Alexander Dumas, den er sich für 5 Centimes kauft, viel größere Schönheiten entdeckt; wo der einzige Glaube des Lehrers darin besteht, daß es überhaupt nichts Wahres gibt, daß alles Wirkliche vernünftig, daß der Fortschritt das Gute und die Rückständigkeit das Böse sei, und wo niemand weiß, worin dieser allgemeine Glaube an den Fortschritt eigentlich besteht?Vergleichen wir darnach diese dogmatische Schule des Mittelalters, für die jede Wahrheit keinem Zweifel unterlag, mit unserer Schule, wo keiner weiß, worin die Wahrheit eigentlich besteht, und in die man die Schüler dennoch zu gehen, die Eltern ihre Kinder zu schicken zwingt. Aber mehr noch: für die mittelalterliche Schule war es ein leichtes, zu wissen, was sie lehren, was sie zuerst lehren mußte, was weiter und nach welcher Methode, weil es damals eben nur eine Methode gab, und die ganze Wissenschaft sich in der Bibel den Werken des Augustin und des Aristoteles konzentrierte. Was aber sollen wir tun, bei der unendlichen Mannigfaltigkeit der uns von allen Seiten vorgeschlagenen Methoden bei der ungeheuren Anzahl möglicher Wissenschaften und ihrer Unterabteilungen; wie sie sich in unseren Tagen herausgebildet haben, wie sollen wir unter allen Methoden, die uns geboten werden, eine auswählen, einen bestimmten Wissenszweig, und was das schwerste ist, jene Konsequenz im Unterricht in diesen Wissenschaften herauszufinden, die allein vernünftig und richtig ist? Nicht genug: die Entdeckung dieser Grundlagen erscheint heute schon deshalb viel schwerer als für die Schule des Mittelalters, weil damals die Bildung auf eine bestimmte Klasse beschränkt war, die sich darauf vorbereitete, unter einzigartigen, bestimmten Bedingungen zu leben, während es in unserer Zeit, wo das ganze Volk seine Rechte auf Bildung geltend gemacht hat, noch viel schwerer und notwendiger geworden ist, zu wissen, was jeder dieser verschiedenartigen Bevölkerungsklassen vonnöten sei.Was sind das für Gründe? Fragen wir einen beliebigen Pädagogen, warum er das eine lehrt und das andere nicht, und warum er eines früher lehrt als das andere. Und wenn er uns verstehen wird, wird er uns antworten: weil er, die von Gott geoffenbarte Wahrheit kennt und es für seine Pflicht hält, sie dem jungen Geschlechte mitzuteilen, es in den Prinzipien zu erziehen, die ohne allen Zweifel die wahren sind; was aber die übrigen Gegenstände der Bildung außer den religiösen anbetrifft, so wird er uns keine Auskunft geben können ... Ein anderer Pädagoge wird uns die Grundlagen seiner Schule durch die ewigen Vernunftgesetze erklären, die von Kant, Fichte und Hegel aufgezeigt sind; ein dritter wird sein Recht, den Schüler zu zwingen, darauf stützen, daß es immer so gewesen, daß alle Schulen bisher Zwangsschulen gewesen seien, und daß trotzdem der Erfolg dieser Schulerziehung die wahrhafte Bildung sei; ein vierter endlich wird alle diese Gründe zusammen anführen, und wird uns sagen, die Schule müsse gerade so bleiben, wie sie ist, denn in ihrer jetzigen Gestalt sei sie von der Religion, der Philosophie und der Erfahrung herausgearbeitet und alles, was historisch ist, sei vernünftig. Alle diese Gründe, welche auch alle anderen nur möglichen Gründe in sich enthalten, können meiner Ansicht nach in vier Kategorien eingeteilt werden, in religiöse, philosophische, empirische und historische.Die Bildung, die zu ihrer Grundlage die Religion, d.h. die göttliche Offenbarung hat, an deren Wahrheit und Rechtmäßigkeit niemand zweifeln kann, muß dem Volke ohne Zweifel mitgeteilt werden, und in diesem Falle - aber auch nur in diesem Falle - ist es gerechtfertigt, Zwangsmaßregeln anzuwenden. So verfahren denn auch heute noch die Missionare in Afrika und China. So verfährt man heute in den Schulen der ganzen Welt beim Religionsunterricht, ob er nun katholisch, protestantisch, jüdisch, mohammedanisch usw. sei. Aber in unserer Zeit, wo die religiöse Bildung nur einen kleinen Teil der allgemeinen Bildung ausmacht, bleibt die Frage, welches Recht die Schule hat, dem jungen Geschlecht eine bestimmte Methode des Lernens aufzuzwingen, auch vom religiösen Standpunkt aus ungelöst.Vielleicht hat die Philosophie eine Antwort darauf. Hat die Philosophie ebenso feste Grundlagen, wie die Religion? Welches sind die Grundlagen? Wann und durch wen sind sie denn formuliert worden? Wir wissen es nicht. Alle Philosophen suchen nach den Gesetzen des Guten und Bösen; wenn sie diese Gesetze gefunden haben und zur Pädagogik übergehen (und keiner von ihnen hat vermocht, die Pädagogik unberücksichtigt zu lassen), weisen sie uns an, die Menschheit nach diesen Gesetzen zu bilden. Aber eine jede dieser Theorien, die nur eine unter vielen ist, ist unvollständig und bildet nur ein neues Glied in dem Bewußtsein des Guten und Bösen, das in der Menschheit lebt. Jeder Denker bringt nur das zum Ausdruck, was seinem Zeitalter bewußt wird, und daher ist eine Bildung des jungen Geschlechtes im Geiste dieses Bewußtseins etwas sehr Überflüssiges; dieses Bewußtsein existiert schon in dem lebenden Geschlechte.Alle philosophisch-pädagogischen Theorien haben zum Ziel und zur Aufgabe: die Erziehung tugendhafter Menschen. Der Begriff der Tugend aber bleibt entweder immer der gleiche oder aber er entwickelt sich bis ins Unendliche weiter, und trotz aller Theorien hängen die Blüte und der Verfall der Sittlichkeit nicht von der Bildung ab. Ein tugendhafter Chinese, Grieche, Römer oder ein Franzose aus unserer Zeit sind entweder alle gleich tugendhaft oder gleich weit von der Tugend entfernt. Die philosophischen Theorien der Pädagogik beschäftigen sich mit der Lösung der Frage, wie man die besten Menschen nach einer bestimmten ethischen Theorie erziehen könne, die in einem bestimmten Zeitalter ausgearbeitet worden ist und als über allen Zweifel erhaben anerkannt wird. Plato zweifelt nicht an der Wahrheit seiner Ethik und gründet auf sie seine Erziehungslehre, und auf seine Erziehungslehre - seinen Staat. Schleiermacher sagt, die Ethik sei eine noch unvollendete Wissenschaft, und daher müssen Bildung und Erziehung die Erzeugung solcher Menschen zum Ziel haben, die imstande sind, in die Bedingungen einzutreten, die sie im Leben vorfinden, und die zugleich fähig sind, kraftvoll an der ihnen vorschwebenden Vollkommenheit zu arbeiten. Die Bildung, sagt Schleiermacher, hat im allgemeinen die Aufgabe, dem Staate, der Kirche, dem gesellschaftlichen Leben und der Wissenschaft einen fertigen Menschen zu überliefern. Allein die Ethik, obwohl eine unvollendete Wissenschaft, gäbe eine Antwort darauf, welch ein Glied dieser vier Elemente des Lebens ein gebildeter Mensch sein müsse. Wie Plato, so suchen auch alte Philosophen unter den Pädagogen das Ziel und die Aufgabe der Bildung in der Ethik: die einen nehmen sie dabei als schon bekannt an, die anderen als das ewige fortschreitende und werdende Bewußtsein der Menschheit; aber auf die Frage: was und wie man das Volk lehren soll, gibt keine einzige Theorie eine positive Antwort. Der eine sagt das eine, der andere etwas anderes, und je weiter wir kommen, um so widersprechender werden ihre Behauptungen. Es tauchen gleichzeitig ganz verschiedene Theorien auf, die einander völlig entgegengesetzt sind. Die theologische Richtung bekämpft die scholastische, die scholastische die klassische - die realistische; in der Gegenwart existieren alle diese Richtungen nebeneinander, ohne daß die eine die andere überwinden kann, und keiner weiß, was Lüge und was Wahrheit ist. Es tauchen tausend verschiedene höchst seltsame, ganz unbegründete Theorien, wie die von Rousseau, Pestalozzi, Fröbel u.a. auf, und alle möglichen Schulen - realistische, klassische und theologische - existieren nebeneinander. Alle sind mit dem Bestehenden unzufrieden und wissen nicht, welch ein Neues not tut und möglich ist.Wenn wir den Gang der Geschichte der Pädagogik betrachten, so finden wir in ihr kein Kriterium der Bildung, sondern im Gegenteil, nur einen allgemeinen Gedanken, der unbewußt in einem jeden Pädagogen schlummert, trotz der häufigen Meinungsverschiedenheiten unter ihnen - ein Gedanke, der uns von dem Mangel eines solchen Kriteriums überzeugt. Alle, von Plato bis auf Kant, streben nur nach einem Ziel - der Befreiung der Schule von den historischen Banden, die auf ihr lasten; sie suchen zu erraten, was dem Menschen vonnöten ist, und bemühen sich über diesen mehr oder weniger gut erratenen Bedürfnissen ihre neue Schule zu errichten. Luther hält dazu an, daß wir die Heilige Schrift im Original kennenlerrnen und nicht bloß nach den Kommentaren der heiligen Väter. Bacon will, daß wir die Natur aus der Natur selbst studieren und nicht nach den Büchern des Aristoteles. Rousseau will uns durch das Leben selber, wie er es nämlich versteht, leben lehren, und nicht durch frühere Erfahrungen. Jeder Schritt, den die Erziehungsphilosophie vorwärts tut, besteht darin, daß sie die Schule von der Idee befreien will, die jungen Geschlechter müßten in dem unterrichtet werden, was die älteren Generationen für Wissenschaft hielten, um sie für den Gedanken zu gewinnen, die Jugend sei zu den Fertigkeiten zu erziehen, die sie zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nötig hat. Dieser allgemeine und in sich selbst widerspruchsvolle Gedanke ist es allein, der durch die ganze Geschichte der Pädagogik hindurchgeht: er ist allgemein, weil damit die Freiheit eingeschränkt wird.Vielleicht hilft uns die Erfahrung, die mit der Schule in der Vergangenheit und Gegenwart gemacht worden ist, weiter? ... Aber wie kann uns diese Erfahrung die Richtigkeit der bestehenden Methode einer zwangsmäßigen Erziehung beweisen? Wir können ja nicht wissen, ob es nicht eine noch richtigere Methode gibt, da die Schulen bisher noch nie frei gewesen sind. Es ist wahr, wir können es bei den höheren Bildungsanstalten (den Universitäten, den öffentlichen Vorlesungen usw.) beobachten, daß die Bildung die Tendenz hat, immer freier und freier zu werden. Das ist aber nur eine Vermutung. Vielleicht muß die Bildung auf ihren untersten Stufen immer zwangsmäßig sein, und die Erfahrung lehrt uns, daß die Zwangsschule gute Früchte bringt? Sehen wir uns also diese Schulen einmal an, und zwar nicht nach den statistischen Tabellen Deutschlands, sondern betrachten wir diese Schulen und ihren Einfluß auf das Volk, wie sie in Wirklichkeit sind. Ich habe in Wahrheit folgendes Bild gewonnen: Der Vater schickt seine Tochter oder seinen Sohn gegen ihren Wunsch in die Schule, die er verwünscht, weil sie ihn der Arbeit seines Sohnes beraubt, und er zählt die Tage bis zu der Zeit, wo der Sohn »schulfrei« sein wird (dieser Ausdruck allein beweist, wie das Volk von der Schule denkt). Das Kind geht mit der Überzeugung in die Schule, daß die einzige Gewalt, die ihm bekannt ist, die väterliche, die Staatsgewalt, der es sich unterwirft, wenn es in die Schule eintritt, nicht anerkennt. Die Berichte, die es von seinen älteren Kameraden, die schon in diesem Institut waren, erhält, können in ihm den Wunsch, in die Schule zu kommen, nicht lebhafter machen. Die Schule erscheint ihm als eine Einrichtung, die dazu da ist, die Kinder zu quälen - eine Einrichtung, in der das Hauptvergnügen und das stärkste Bedürfnis des kindlichen Alters - das Bedürfnis nach der Bewegungsfreiheit unbefriedigt bleibt, ihm erscheint sie als eine Einrichtung, bei der Gehorsam und Ruhe die ersten Erfordernisse sind, wo es erst um Erlaubnis bitten muß, »hinausgehen« zu dürfen, wo jedes Vergehen, sei es - obwohl die körperliche Züchtigung mit dem Lineal offiziell aufgehoben ist - mit dem Stocke oder durch Fortsetzung der für das Kind so harten Lernzeit über die vorgeschriebene Stundenzahl hinaus bestraft wird. Die Schule erscheint dem Kinde mit Recht als ein Institut, wo ihm Dinge beigebracht werden, die niemand verstehen kann, wo man es gewöhnlich zwingt, nicht seine eigene heimatliche Mundart, sondern eine ihm fremde Sprache zu sprechen, wo der Lehrer in den Schülern meist seine geborenen Feinde sieht, die aus eigener Bosheit oder durch die der Eltern nicht auswendig lernen wollen, was er selbst auswendig weiß, und wo die Schüler ihrerseits auf den Lehrer wie auf einen Feind blicken, der sie nur aus persönlicher Bosheit so schwere Dinge lernen läßt. In solch einem Institut müssen sie sechs Jahre lang und etwa sechs Stunden täglich verbringen. Wie die Resultate sein müssen, sehen wir daraus, wie sie in Wahrheit sind, wiederum nicht nach offiziellen Berichten, sondern nach den wirklichen Tatsachen. In Deutschland bringen 9 /10 der schulpflichtigen Kinder die mechanische Fertigkeit zu lesen und zu schreiben und eine so starke Abneigung gegen die wissenschaftlichen Methoden, die sie kennengelernt haben, aus der Schule mit, daß sie später nie mehr ein Buch in die Hand nehmen. Die nicht mit mir einverstanden sind, mögen mir die Bücher nennen, die das Volk liest; selbst der badische Hebel, sowie die Volkskalender und Volkszeitungen werden nur ausnahmsweise einmal gelesen. Als ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß es im Volke gar keine Bildung gibt, kann die Tatsache dienen, daß keine Volksliteratur existiert und, was die Hauptsache ist, daß man die zehnte Generation ebenso zum Schulbesuch zwingen muß, wie die erste. Eine solche Schule erzeugt aber nicht nur Widerwillen gegen jegliche Bildung, sie gewöhnt den Kindern in diesen sechs Jahren noch das Heucheln und Betrügen an, was nur die Folge des widernatürlichen Zustandes ist, in dem sich die Schüler befinden, und erzeugt jene Verwirrung und Unklarheit der Begriffe, die man Bildung nennt. Während meiner Reise durch Frankreich, Deutschland und die Schweiz wollte ich die Kenntnisse der Schuljugend, ihre Ansicht von der Schule und ihre moralische Entwicklung prüfen und legte daher den Schülern der Volksschulen und solchen Leuten, die die Schule beendigt hatten, folgende Fragen vor: wie heißt die Hauptstadt von Preußen oder Bayern? Wieviel Söhne hatte Jakob? Wie ist die Geschichte Josephs? - in der Schule bekam ich noch hin und wieder aus Büchern auswendig gelernte Tiraden zu hören, jedoch nie begegnete mir das bei Leuten, die die Schule hinter sich hatten. Nie konnte ich eine Antwort bekommen, die nicht auswendig gelernt war. Hinsichtlich der mathematischen Kenntnisse konnte ich keine bestimmte Regel entdecken. Bald waren die Antworten gut, bald waren sie sehr schlecht. Sodann ließ ich Aufsätze über das Thema schreiben: Wie die Schüler den vorigen Sonntag verbracht haben? Und immer schrieben Mädchen und Knaben ohne Ausnahme ein und dasselbe: daß sie am vergangenen Sonntag jede Gelegenheit benutzt, um zu Gott zu beten, und daß sie nicht gespielt hätten. Das als ein Beispiel des moralischen Einflusses der Schule. Als ich erwachsene Männer und Frauen fragte, warum sie nicht fortsetzten, nicht dies oder jenes lesen, antworteten mir alle, sie seien schon konfirmiert, hätten ein Diplom über einen bestimmten Bildungsgrad erhalten - ein Zeugnis, daß sie lesen und schreiben können.Außer der abstumpfenden Wirkung der Schule, für die der Deutsche das schöne Wort »verdummen« hat, und die in einer dauernden Verkrüppelung der geistigen Fähigkeiten besteht, gibt es noch eine andere viel schädlichere Wirkung, die darin besteht, daß das Kind im Laufe von mehreren Stunden, durch das Schulleben stumpf gemacht, täglich während dieser Zeit, die für das Lebensalter so kostbar ist, aus jenen Lebensbedingungen gerissen wird, die die Natur selbst für seine Entwicklung vorherbestimmt hat.Man kann häufig die weitverbreitete Meinung hören und lesen, daß die Verhältnisse in der Familie, die Roheit der Eltern, die vielen Feldarbeiten, die Spiele der Dorfkinder usw. das Haupthindernis für eine gründliche Schulbildung seien. Es ist wohl möglich, daß sie ein Hindernis für jene Art der Schulbildung sind, welche die Pädagogen meinen, aber es ist die höchste Zeit, sich davon zu überzeugen, daß gerade diese Verhältnisse die besten Grundlagen jeder Bildung, daß sie nicht nur keine Feinde und kein Hindernis, sondern die wirksamsten Faktoren der Schule sind. Ein Kind würde nie einen Begriff von der Verschiedenheit der Linien, die den Unterschied der Buchstaben ausmachen, noch von den Zahlen, noch die Fähigkeit gewinnen, seine Gedanken auszudrücken, wenn diese häuslichen Verhältnisse nicht existierten. Wie sollte aber das rohe häusliche Leben einem Kinde so schwere Dinge beibringen können, wenn dies selbe häusliche Leben unfähig wäre, es nicht bloß etwas so Leichtes, wie Lesen und Schreiben zu lehren, sondern wenn es noch zu alledem eine schädliche Wirkung auf den Unterricht ausübte. Der beste Beweis dafür ist die Vergleichung eines Bauernjungen, der nie etwas gelernt hat, mit einem Knaben aus guter Familie, der seit fünf Jahren einen Hauslehrer hat, der ihn unterrichtet. Die Überlegenheit des Geistes und des Wissens ist immer auf der Seite des ersteren. Mehr noch, das Interesse, etwas zu wissen, und die Fragen, die zu beantworten die Aufgabe der Schule ist, werden nur durch diese häuslichen Verhältnisse geweckt. Jede Lehre aber soll nicht mehr als eine Antwort auf die Frage sein, die das Leben selbst in uns entstehen läßt. Dagegen regt die Schule nicht nur keine Fragen an, sie gibt auch keine Antwort auf die, welche das Leben stellt. Sie antwortet nur immer auf ein und dieselben Fragen, die die Menschheit seit vielen Jahrhunderten aufgeworfen hat, und die das Kind noch wenig angehen, nicht aber auf solche, die man im Kindesalter zu stellen gewohnt ist. Das sind Fragen wie etwa die folgenden: Wie wurde die Welt erschaffen? Wer war der erste Mensch? Was war vor 2.000 Jahren? Was für ein Land ist Asien? Was für eine Gestalt hat die Erde? Wie multipliziert man drei- und vierstellige Zahlen? Was geschieht mit uns nach dem Tode? usw. Auf die Fragen jedoch, die das Leben selber stellt, erhält das Kind keine Antwort, und das um so weniger, als es nach dem Polizeireglement der Schule nicht einmal den Mund auftun und um Erlaubnis bitten darf, hinausgehen zu dürfen, sondern sich durch Zeichen verständlich machen muß, um die Ruhe nicht zu stören und die Lehrer nicht zu unterbrechen. Die Schule aber ist so eingerichtet, weil es das Ziel der staatlichen Schulen ist, die von der Regierung gegründet werden, nicht etwa für eine gute Volksbildung zu sorgen, sondern für eine Bildung auf Grund einer bestimmten Methode. Die Hauptsache ist hierbei, daß es überhaupt Schulen und möglichst viele Schulen gibt. Man sagt, es gäbe nicht genug Lehrer, nun dann muß man eben welche schaffen. Und dennoch ist immer Mangel an Lehrern. Dann macht man es eben so, daß ein Lehrer 500 Schüler unterrichten kann, das nennt man mecaniser l'instruction, die Lancaster-Methode, pupil teachers. Auf diese Weise ist die vom Staate gegründete Schule nicht eine Hirtin, die bestellt ist, um die Herde zu hüten, sondern eine Herde, die um der Hirtin willen da ist. Die Schule wird nicht organisiert, damit die Kinder einen guten Unterricht in ihr genießen, sondern damit es der Lehrer beim Unterrichten recht bequem habe. Dem Lehrer paßt es nicht, daß die Kinder miteinander reden, sich bewegen und fröhlich sind, was wiederum für diese die notwendige Vorbedingung eines erfolgreichen Lernens ist, und daher ist es in den Schulen, die wie Gefängnisse gebaut sind, verboten, Fragen zu stellen, sich zu unterhalten und zu bewegen. Statt sich davon zu überzeugen, daß es notwendig ist, ein Objekt gründlich zu studieren, wenn man mit Erfolg darauf einwirken will (in der Erziehung aber ist dieses Objekt das Kind, und zwar so wie es sich in der Freiheit gibt), will man so lehren, wie man es gerade versteht, wie es einem einfällt, und bei einem Mißerfolg glaubt man nicht die Lehrmethode, sondern das Kind ändern zu müssen. Aus dieser Ansicht entstanden und entstehen solche Erziehungssysteme (Pestalozzi), mit deren Hilfe es gelingen soll, - »mecaniser l'instruction« - jene ewigen Bemühungen der Pädagogik, eine Methode zu finden, die auf jeden Lehrer und auf jedes Kind paßt, so verschieden auch beide sein mögen. Man braucht sich jedoch nur dasselbe Kind einmal zu Hause, auf der Straße oder in der Schule anzusehen: hier findet man ein fröhliches, lernbegieriges Wesen, mit einem Lächeln auf Mund und Augen, das überall Belehrung sucht, die eine Lust für es ist, und seine Gedanken klar und häufig kraftvoll in seiner eigenen Sprache ausspricht; dort sehen wir ein gequältes, bedrücktes Geschöpf, mit dem Ausdruck der Ermüdung, der Furcht und der Langeweile im Gesicht, das nur mit den Lippen fremd klingende Worte in einer ihm fremden Sprache wiederholt - ein Wesen, dessen Seele sich gleich einer Schnecke in ihr Gehäuse zurückgezogen hat. Man braucht sich diese beiden Zustände nur näher anzusehen, um zu entscheiden, welcher von beiden für die Entwicklung des Kindes der günstigere ist. Jene seltsame psychologische Verfassung, die ich den »Schulzustand« der Seele nennen möchte, und die wir alle leider nur zu gut kennen, besteht darin, daß alle höheren Fähigkeiten: die Phantasie, das schöpferische Vermögen, die Kombinationsgabe - gewissen anderen, halt tierischen Fertigkeiten, wie die, bestimmte Laute ohne jeden Anteil der Einbildungskraft auszusprechen, die Zahlen 1, 2, 3, 4, 5 der Reihe nach herzusagen, ein Wort sich aufzunehmen, ohne daß die Phantasie ihnen entsprechende Anschauungen unterlegt; mit einem Wort die Fähigkeit, alle höheren Geistesvermögen in sich zu unterdrücken, um nur die zur Ausbildung gelangen zu lassen, die den »Schulzustand« der Seele ausmachen, der in einer Mischung aus Furcht, Anspannung der Gedächtniskraft und der Aufmerksamkeit besteht. Jeder Schüler ist ein Fremder in der Schule solange er sich noch nicht in diesem Zustand befindet. Sowie jedoch ein Kind in diesen Zustand gelangt ist, sein ganzes Unabhängigkeitsgefühl und seine Selbständigkeit verloren hat, sobald sich die verschiedenen Symptome der Schulkrankheit: Heuchelei, zielloses Lügen, Stumpfsinn usw. einzustellen beginnen, dann ist es im rechten Geleise, und der Lehrer beginnt mit ihm zufrieden zu sein. Jetzt zeigt sich auch die sich immer wiederholende und durchaus nicht zufällige Erscheinung, daß die dümmsten Kinder die besten Schüler werden, während die klügsten die schlechtesten sind. Diese Tatsache ist doch wohl bezeichnend genug, um zum Nachdenken zu reizen und eine Erklärung für sie suchen zu lassen.Mir scheint allein diese Tatsache der beste Beweis dafür zu sein, wie falsch das Prinzip der Zwangsschule ist. Aber mehr noch, außer diesem negativen Schaden, der darin besteht, daß die Kinder durch die Schule jener unbewußten Erziehung, die sie zu Hause, bei der Arbeit, auf der Straße erhalten, entzogen werden, ist mit diesen Schulen noch ein rein physischer Nachteil verbunden; sie schaden dem Körper, der in dem jugendlichen Alter eine so innige Beziehung zur Seele hat. Diese schädliche Wirkung äußert sich besonders in der Einförmigkeit der Schulerziehung, selbst wenn diese an sich etwas Gutes wäre. Für den Landmann lassen sich die eigentümlichen Lebensbedingungen, wie die Arbeit auf dem Felde, die Unterhaltung der älteren Leute, unter denen er lebt usw. durch nichts ersetzen; dasselbe gilt für den Handwerker, wie überhaupt für den Stadtbewohner. Es ist kein Zufall, daß die Natur den Landmann in die ländlichen Arbeitsverhältnisse, den Bürger in die Bedingungen des Stadtlebens hineingestellt hat, sondern hier waltet eine höhere Zweckmäßigkeit. Diese Verhältnisse wirken in hohem Grade erzieherisch, und nur in ihnen kann sich der Mensch bilden, während die Schule die Menschen ihren natürlichen Lebensbedingungen entfremdet. Aber das ist noch nicht alles; es genügt der Schule nicht, daß sie die Kinder täglich sechs Stunden lang während der schönsten Zeit des Lebens dem Leben entzieht, sie will auch schon die dreijährigen Kinder dem Einfluß der Mutter entfremden. Zu diesem Zwecke hat man Anstalten erfunden, (Kleinkinderbewahranstalten, Infantschools, Salles d'asile), von denen wir noch ausführlicher sprechen werden. Es fehlt nur noch die Dampfmaschine, welche die Nährmutter ersetzt. Alle sind sich darüber einig, daß die Schulen unvollkommen sind (ich bin sogar überzeugt, daß sie schädlich sind). Alle sind sich einig, daß sie noch sehr der Verbesserung bedürfen, und daß diese Verbesserungen darin bestehen müssen, den Schülern das Lernen zu erleichtern. Jeder gibt zu, daß man zu diesem Zwecke die Bedürfnisse der Kinder im Alter der Schulpflicht studieren muß, sowie überhaupt die Bedürfnisse eines jeglichen Standes im besonderen. Was geschieht aber, um dieses schwere und komplizierte Studium zu ermöglichen? Schon seit vielen Jahrhunderten wird eine jede neue Schule nach dem Muster aller bisherigen Schulen eingerichtet, die ihrerseits wiederum nach dem Muster noch früherer Schulen eingerichtet waren, und in jeder dieser Schulen ist das höchste Gesetz: die Disziplin; es ist den Schülern verboten zu reden, zu fragen, sich den einen oder den andern Lehrgegenstand selbständig zu wählen - mit einem Wort, es sind alle Maßregeln getroffen, damit der Lehrer sich keinen Begriff von den besonderen Bedürfnissen der einzelnen Schüler bilden kann. Die auf dem Prinzip des Zwanges beruhende Einrichtung der Schule schließt jede Möglichkeit eines Fortschritts aus; und wenn man denkt, wieviel Jahrhunderte schon hingegangen sind, seit man sich bemüht, den Kindern Fragen zu beantworten, die sie niemals stellen, und wie weit unser heutiges Geschlecht von der alten Form der Bildung entfernt ist, die man heute noch der Jugend eintrichtert, so kann man kaum begreifen, wie sich unsere Schulen überhaupt noch halten können. Die Schule sollte doch ein Mittel zur Bildung und zugleich eine Stätte sein, die uns neue Erfahrungen über unsere Jugend vermittelt, und zu neuen Erkenntnissen über sie hinleitet. Erst wenn die Erfahrung zur Grundlage der Schule gemacht werden wird, erst wenn die Schule sozusagen ein pädagogisches Laboratorium geworden ist, dann erst wird die Schule nicht hinter dem allgemeinen Fortschritt zurückbleiben und dann wird auch die Beobachtung imstande sein, feste Grundlagen für die Wissenschaft der Erziehung zu schaffen.Aber vielleicht kann uns die Geschichte auf unsere vergebliche Frage eine Antwort geben. Worauf beruht das Recht, Eltern und Kinder zur Bildung zu zwingen? Sie wird uns antworten: die bestehenden Schulen sind geschichtlich entstanden und müssen sich ebenso historisch und je nach den Forderungen der Gesellschaft und der Zeit weiter entwickeln; je weiter wir kommen, desto besser werden unsere Schulen. - Darauf antworte ich erstens: daß die rein philosophischen Gründe ebenso einseitig und falsch sind wie die rein geschichtlichen Erwägungen. Das Bewußtsein der Menschheit bildet das Hauptelement der Geschichte; wenn daher die Menschheit die Unzulänglichkeit ihrer Schulen erkennt, so ist die Tatsache dieser Erkenntnis schon ein genügendes geschichtliches Faktum, das man bei der Gründung neuer Schulen berücksichtigen muß. Und zweitens: der zeitliche Fortschritt bedeutet noch keineswegs einen Fortschritt im Schulwesen, unsere Schulen werden nicht besser sondern - schlechter, schlechter im Verhältnis zu dem Bildungsniveau, das die Gesellschaft erreicht hat. Die Schule ist einer von den organischen Teilen des Staates, der nicht isoliert betrachtet und beurteilt werden kann, denn sie hat insofern einen Wert, als sie mit den anderen Teilen zusammenstimmt. Die Schule ist nur dann gut, wenn sie aus dem Bewußtsein der Grundgesetze hervorgegangen ist, nach denen das Volk lebt. Eine Schule, die den Bedürfnissen eines Dorfes der russischen Steppe angepaßt ist und bei der Dorfjugend die schönsten Erfolge erzielt, ist vielleicht eine ganz schlechte Schule für einen Pariser; und die beste Schule des 17. Jahrhunderts ist vielleicht sehr schlecht für unsere Zeit, während umgekehrt eine sehr schlechte Schule des Mittelalters ganz Vorzügliches in unserer Zeit leisten könnte, wenn sie der Zeit mehr entspräche und auf der Höhe der allgemeinen Bildung stände, oder gar ihr voranschritte, während unsere Schule hinter ihr zurückbleibt. Wenn es nach der allgemeinen Definition die Aufgabe der Schule ist, alles was das Volk sich erarbeitet und in sein Bewußtsein aufgenommen hat, weiter zu geben, und die Fragen zu beantworten, die das Leben dem Menschen aufgibt, so dürfen wir ohne Zweifel behaupten, daß die Schule des Mittelalters auf eine begrenztere Überlieferung zurückblickte und vor Lebensfragen gestellt war, die leichter aufzulösen waren, und daß sie daher ihre Aufgabe besser erfüllte, als die moderne Schule. Es ist leichter, die Überlieferungen Griechenlands und Roms nach ungenügenden und unvollkommen bearbeiteten Quellen weiterzugeben, religiöse Dogmen, die Geometrie und den Teil der Mathematik der damals bekannt war, zu lehren, als all die Traditionen, die seit jener Zeit hinter uns liegen, und die die Erlebnisse der alten Völker soweit zurückgedrängt haben, sowie die Kenntnisse in der Naturwissenschaft, deren wir in unserer Zeit bedürfen, um auf die alltäglichsten Forderungen des Lebens eine Antwort zu haben. Statt dessen ist die Methode des Unterrichts dieselbe geblieben, und daher ist die Schule rückständig und nicht besser, sondern schlechter geworden. Um die Schule auf der alten Höhe zu erhalten, auf der sie stand, und um nicht hinter dem Fortschritt der Bildung zurückzubleiben, hätte man konsequenter sein müssen: man hätte nicht nur Zwangsgesetze in den Schulen einführen, sondern auch das Verbot erlassen sollen, daß die Bildung auf anderen Wegen weiter schreite, d.h. man hätte die Maschinen, die Eisenbahnen und Dampfschiffe und die Buchdruckerkunst verbieten müssen.Soweit es aus der Geschichte bekannt ist, sind bisher nur die Chinesen in dieser Beziehung ganz logisch gewesen. Die Versuche der anderen Völker, den Buchdruck zu verbieten, und überhaupt den Fortschritt der Bildung aufzuhalten, waren nur auf bestimmte Zeiten beschränkt und nicht konsequent genug. Und daher können sich auch allein die Chinesen einer guten Schule rühmen, die dem allgemeinen Bildungsniveau vollkommen entspricht.Wenn man uns sagt, daß sich die Schulen im Verlauf der Geschichte vervollkommnen, so haben wir darauf zu antworten, daß die Vervollkommnung nur einen relativen Sinn hat, und daß umgekehrt in dem Schulwesen die Zwangsmittel nicht nur täglich, sondern geradezu stündlich einen größeren Raum einnehmen, d.h., daß die Schule immer mehr von dem allgemeinen Niveau der Bildung abweicht, denn die Fortentwicklung der Schule hält nicht Schritt mit der der Bildung seit der Erfindung der Buchdruckerkunst.Drittens antworte ich auf den historischen Einwand, nach dem nämlich die Schulen immer so waren und daher gut sein müssen, auch mit einem historischen Grund. Vor einem Jahr war ich in Marseille und besuchte dort alle Arbeiterlehranstalten dieser Stadt. Das Verhältnis der Schulpflichtigen zur Gesamtzahl der Bevölkerung ist so groß, daß, mit geringen Ausnahmen, alle Kinder die Schule besuchen und zwar drei, vier und sechs Jahre. Das Schulprogramm besteht im Auswendiglernen des Katechismus, der biblischen und profanen Geschichte, der vier Spezies der Arithmetik, der französischen Orthographie und der Buchführung. Aus welchem Grunde die Buchführung ein Gegenstand des Unterrichts ist, das blieb mir ganz unverständlich, und keiner der Lehrer vermochte es mir zu erklären. Eine Art Erklärung dafür fand ich, als ich sah, wie die Schüler die den Kursus beendigt hatten, ihre Bücher führten; sie beherrschten nämlich die drei Grundregeln der Arthmetik nicht, sondern konnten nur die Operationen mit den Ziffern auswendig und mußten daher die Buchführung ebenso auswendig lernen. (Ich brauche wohl kaum zu beweisen, daß das sogenannte tenue de livres, die Buchhaltung, wie sie in Deutschland und England gelehrt wird, ein Wissenszweig ist, der einem Schüler in einer Viertelstunde beigebracht werden kann, wenn er die vier Spezies kennt.) Kein Schüler dieser Schulen konnte die einfachste Additions- oder Subtraktionsaufgabe lösen, d.h. ansetzen, wohl aber konnten sie mit abstrakten Zahlen gut operieren, indem sie vierstellige Zahlen leicht und schnell multiplizierten. Auf Fragen aus der Geschichte Frankreichs erhielt ich gut auswendig gelernte Antworten, als ich aber außer der Reihenfolge fragte, bekam ich unter anderem zu hören, daß Heinrich IV. von Julius Caesar ermordet worden sei. Dasselbe gilt für die Geographie und die biblische Geschichte, für die Orthographie und Lesen und Schreiben. Mehr als die Hälfte der Mädchen konnte nur nach Büchern lesen, die sie schon in der Schule durchgenommen hatten. Sechs Jahre Schulzeit reichen nicht aus, um den Kindern eine richtige Orthographie beizubringen. Ich weiß, daß die Tatsachen, die ich hier anführe, so unwahrscheinlich sind, daß viele an ihnen zweifeln werden, aber ich könnte ganze Bände über die Unwissenheit schreiben, die ich in den Schulen Frankreichs, Deutschlands und der Schweiz angetroffen habe. Wem übrigens diese Sache am Herzen liegt, der mag sich die Schulen selber ansehen, nicht nach den Jahresberichten über die abgehaltenen Examina, sondern so wie ich es tat, indem er die Schulen selbst besucht und sich mit den Lehrern und Schülern in und außerhalb der Schule unterhält. Ich habe in Marseille noch eine weltliche und eine Klosterschule für Erwachsene gesehen. Von den 250.000 Einwohnern dieser Stadt besuchen weniger als 1.000 und darunter nur 200 Knaben diese Schulen. Die Methode ist hier dieselbe, die Resultate sind folgende: die Schüler erwerben die Fähigkeit, mechanisch zu lesen, die in einem Jahre oder auch in längerer Zeit von ihnen erlangt wird, eine gewisse Beherrschung der Buchführung, ohne Kenntnis der Arithmetik, sie erhalten geistliche Unterweisungen usw. Ich habe mir dann noch außerdem die täglichen Unterweisungen in der Kirche angehört und mir die Salles d'asile angesehen, in denen vierjährige Kinder, wie Soldaten auf einen Pfiff seltsame Evolutionen um die Bänke herum vollführen, auf Kommando die Hände erheben und zusammenlegen und mit zitternder sonderbarer Stimme Hymnen zum Lobe Gottes und ihrer Wohltäter singen, und ich habe mich davon überzeugt, daß die Lehranstalten der Stadt Marseille außerordentlich schlecht sind. Wenn jemand durch irgend ein Wunder in eine solche Lehranstalt geriete, der das Volk nie auf den Straßen, in den Werkstätten, im Cafe oder im häuslichen Leben gesehen hätte, was für einen Begriff müßte er wohl von einem Volke gewinnen, das in dieser Weise erzogen wird? Er würde wahrscheinlich glauben, daß das ein unwissendes, grobes, heuchlerisches und beinahe wildes Volk, voll merkwürdiger Vorurteile ist. Man braucht indes nur mit einem einfachen Manne aus dem Volke bekannt zu sein, und mit ihm zu reden, um sich von dem geraden Gegenteil zu überzeugen, daß nämlich das französische Volk nahezu alle Eigenschaften hat, die es selber zu besitzen glaubt: es ist aufgeweckt, klug, gesellig, freiheitliebend und wirklich kultiviert. Sehen wir uns einen städtischen Arbeiter von etwa dreißig Jahren an: wenn er einen Brief schreibt, macht er schon nicht mehr so viele Fehler, wie in der Schule, er hat einen Begriff von der Politik und also auch von der neuesten Geschichte und Geographie; er kennt die Geschichte schon aus den Romanen, die er gelesen hat. Er hat einen gewissen Begriff von der Naturgeschichte, oftmals kann er auch ein wenig zeichnen und mathematische Formeln bei seinem Handwerk verwenden. Wo hat er das alles gelernt?Ich fand ohne mein Zutun eine Antwort auf diese Frage, als ich nach meiner Besichtigung der Schulen durch die Straßen, Guingetten, Cafes chantants, durch die Museen, Hafenanlagen und Buchhandlungen schlenderte. Derselbe Junge, der mir die Antwort gab, daß Heinrich IV. von Julius Cäsar ermordet worden sei, kannte die Geschichte von den drei Musketieren und dem Grafen Monte Christo sehr gut. In Marseille fand ich 28 billige illustrierte Buchausgaben, im Preise von 5 bis 10 Centimes. Unter den 250.000 Einwohnern der Stadt sind 30.000 Exemplare dieser Bücher verbreitet; wenn also ein Exemplar von zehn Menschen gelesen wird, so lesen sie alle. Dazu kommen noch die Museen, die öffentlichen Bibliotheken, die Theater, die Cafes, zwei große Cafes chantants, in die jedem der Eintritt frei steht, der dort nur für 50 Centimes verzehrt, und die täglich von 25.000 Personen besucht werden; wobei noch die kleinen Cafes nicht mitgerechnet sind, die zusammen für ebensoviel Menschen Raum haben, - in jedem dieser Cafes werden kleine Stücke, Possen und Szenen aufgeführt und Gedichte vorgetragen. Es ist also schon, niedrig gerechnet, der fünfte Teil der Bevölkerung, der hier in diesen Instituten einen mündlichen Unterricht erhält, so wie die Griechen und Römer sich in ihren Amphitheatern bildeten. Ob diese Art Bildung gut oder schlecht ist, das ist eine andere Frage; hier aber liegt der Ursprung jener unbewußten Bildung, die so viel stärker ist, als die erzwungene, das ist die unbewußte Schule, welche die Zwangsschule untergräbt und ihre Wirkung völlig aufhebt. Es ist nichts mehr von ihr übrig geblieben, als eine despotische Form, beinahe ohne jeden Inhalt. Ich sage »beinahe« - und schließe damit allein die mechanische Fertigkeit des Buchstabierens von Wörtern aus, die durch einen fünf-bis sechsjährigen Lehrgang erworben wird. Außerdem muß man in Erwägung ziehen, daß diese mechanische Fertigkeit zu lesen und zu schreiben oft in viel kürzerer Zeit außerhalb der Schule gewonnen wird, daß man oft die Schule ohne diese Fähigkeit verläßt, und sie sehr bald wieder verliert, weil man keine Gelegenheit hat, sie anzuwenden, und daß dort, wo der Schulbesuch durch das Gesetz vorgeschrieben ist, gar keinen Sinn hat, das junge Geschlecht lesen, schreiben und rechnen zu lehren, weil man doch annehmen muß, daß Vater und Mutter das zu Hause viel besser besorgen könnten, als in der Schule. Das, was ich in Marseille gesehen habe, wiederholt sich in allen anderen Ländern: überall erwirbt sich das Volk den größten Teil seiner Bildung nicht in der Schule, sondern im Leben. Da wo das Leben selbst lehrreich ist, wie in London, Paris und überhaupt in den großen Städten, da ist das Volk gebildet; da wo das Leben wenig Bildungsstoff enthält, wie auf dem Dorfe, da ist auch das Volk nicht gebildet, trotzdem die Schulen hier wie dort ganz dieselben sind. Das Wissen, das man sich in der Stadt erwirbt, bleibt uns im allgemeinen erhalten, die Kenntnisse, die man sich auf dem Dorfe aneignet, gehen leicht verloren. Die Richtung und der Geist der Bildung sind in der Stadt wie auf dem Dorfe völlig unabhängig von dem Geiste, den man in die Volksschule hineintragen möchte, ja sie sind ihm entgegengesetzt. Die Bildung geht ihren eigenen Weg unabhängig von der Schule.Der historische Einwand, den ich gegen die historische Begründung erheben möchte, besteht in folgendem: wenn wir die Geschichte der Bildung betrachten, so sehen wir, daß die Schulen nicht parallel mit der Entwicklung der Völker fortschreiten, sondern daß sie immer tiefer sinken und im Vergleich mit der Entwicklung der Völker zu einer leeren Formalität werden. Je weiter ein Volk in seiner allgemeinen Bildung vorgeschritten ist, desto mehr geht der Bildungsprozeß von der Schule aufs Leben über, und desto geringer wird der Gehalt der Schulbildung. Ich denke hierbei noch nicht einmal an die anderen Bildungsmittel, wie die Entwicklung der Handelsbeziehungen, der Verkehrswege, die größere Freiheit der Persönlichkeit und ihre Teilnahme an der Regierungstätigkeit, ich rede nicht von den Volksversammlungen, Museen, den öffentlichen Vorlesungen usw., man braucht nur einen Blick auf die Ausdehnung des Buchdrucks zu werfen, um zu begreifen, wie verschieden die Lage unserer heutigen Schule von der früheren ist. Die unbewußte Lebensbildung und die bewußte Schulbildung laufen immer nebeneinander her; wie gering war jedoch der Anteil, den das Leben an der Bildung hatte, so lange es noch keine Buchdruckerkunst gab. Die Wissenschaft war der Besitz einer auserlesenen Klasse, die über alle Bildungsmittel verfügte. Wie groß ist dagegen der Beitrag, den heute das Leben zum Geschäfte der Bildung liefert, wo es keinen Menschen mehr gibt, der nicht im Besitz eines Buches ist, wo die Bücher zu ganz geringen Preisen verkauft werden, wo die öffentlichen Bibliotheken jedem zugänglich sind, wo der Knabe, der zur Schule geht, zwischen seinen Büchern und Heften einen billigen illustrierten Roman versteckt hält, wo man für drei Kopeken schon zwei Abc-bücher haben kann, und es gar nicht selten geschieht, daß ein Bauer in der Steppe sich ein Abc-buch kauft und einen vorübergehenden Soldaten bittet, ihm all das beizubringen, was dieser in vielen Jahren beim Diakon gelernt hat; heute, wo die Gymnasiasten das Gymnasium verlassen, um sich zu Hause selbst nach Büchern zum Examen vorzubereiten und die Aufnahmeprüfung für die Universität zu bestehen, wo die jungen Leute die Universität verlassen und statt nach den Vorlesungen des Professors die Quellen selbst studieren, wo, wenn wir aufrichtig sein wollen, jede ernsthafte Bildung nur durch das Leben und nicht in der Schule erworben wird.Der letzte und meines Erachtens nach wichtigste Einwand ist endlich der folgende: Die Deutschen haben es leicht, ihre Schule auf Grund ihres zweihundertjährigen Bestehens aus historischen Voraussetzungen zu rechtfertigen, womit aber sollen wir die Notwendigkeit der Volksschule beweisen, die bislang bei uns noch gar nicht existiert? Wir haben noch keine Geschichte der Volksbildung. Wenn wir dagegen die allgemeine Geschichte der Bildung betrachten, so ist leicht einzusehen, daß es für uns unmöglich ist, Lehrerseminare nach deutschem Muster einzurichten, die deutsche phonetische Methode, die englischen infant schools, die französischen Lyzeen und Fachschulen zu übernehmen und damit Europa einzuholen, wir können vielmehr überzeugt sein, daß wir Russen hinsichtlich der Volksbildung uns in einer außergewöhnlich glücklichen Lage befinden, daß unsere Schule nicht wie die des mittelalterlichen Europa aus den Bedingungen der damaligen Zivilisation hervorzugehen, keinen bestimmten, staatlichen und religiösen Zwecken zu dienen, nicht aus der Finsternis und abseits von der Kontrolle der öffentlichen Meinung zu entstehen braucht und es nicht nötig hat, fern von einem wahrhaft lebendigen Bildungsklima durch neue Anstrengungen und neue Schmerzen, durch den circulus vitiosus hindurchzugehen, um ihm zu entfliehen, einen circulus vitiosus, in dem die europäischen Schulen seit vielen Jahren gefangen sind - und der darin besteht, daß die Schule dazu da sein soll, die unbewußte Bildung vorwärts zu bringen, während andererseits die unbewußte Bildung die Schule voran bringen soll. Die Völker Europas haben diese Schwierigkeit bewältigt, aber sie mußten im Kampfe mit ihr viele Opfer bringen. Seien wir also dankbar für die Bemühungen, die wir zu nutzen berufen sind, und vergessen wir nicht, daß es unsere Aufgabe ist, neues auf diesem Gebiete zu vollbringen. Wir können auf dem, was die Menschheit erlebt hat, weiterbauen, und weil unsere Arbeit noch nicht begonnen hat, so können wir mit einem klareren Bewußtsein an unsere Tätigkeit gehen als sie, und wir sind verpflichtet, das zu tun. Um uns die Methoden der europäischen Schulen zu eigen zu machen, müssen wir unterscheiden, was in ihnen in den ewigen Gesetzen der Vernunft seinen Grund hat, und was nur aus gegebenen historischen Bedingungen geboren ist. Ein allgemeines Vernunftgesetz, ein sicheres Kriterium, durch das der Zwang, der in den Schulen dem Volk gegenüber zur Anwendung kommt, gerechtfertigt wäre gibt es nicht, und daher ist jede Nachahmung der europäischen Schulen in Bezug auf den Zwang kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt für unser Volk und Verrat an seiner Mission. Es ist leicht begreiflich, warum sich in Frankreich eine auf der Grundlage der Disziplin errichtete Schule, in der die exakten Wissenschaften, Mathematik, Geometrie und Zeichnen die vorherrschenden Lehrgegenstände sind, herausgebildet hat, warum in Deutschland ein strenges Schulerziehungssystem mit der Vorherrschaft von Singen und Analyse in Geltung ist, es ist verständlich, weshalb sich in England jene unendliche Zahl von Vereinen herausgebildet hat, die die Gründung philanthropischer Schulen für das Proletariat mit ihrer ernsten, sittlichen und zugleich praktischen Grundrichtung betreiben; was aber Rußland für eine Schule braucht, das ist bisher unbekannt und wird es immer bleiben, wenn wir der Schule nicht die Möglichkeit geben, sich frei und im zeitgemäßen Sinne zu entwickeln, d.h. nach den Bedürfnissen der Epoche, in der sie wirkt, in Übereinstimmung mit ihrer eigenen und mehr noch mit der allgemeinen Geschichte. Wenn wir überzeugt sind, daß sich die Sache der Volksbildung in Europa auf falschem Wege befindet, so werden wir mehr für unsere Volksbildung tun, wenn wir gar nichts für sie tun, als wenn wir ihr das alles mit Gewalt aufdrängen, was einem jeden von uns als gut erscheint.Das wenig gebildete Volk strebt also nach höherer Bildung, die gebildete Klasse will das Volk erziehen, aber das Volk unterwirft sich dieser Erziehung nur, wenn es dazu gezwungen wird. Indem wir in der Philosophie, der Erfahrung und in der Geschichte nach einem Grunde suchten, welcher der mit der Erziehung beschäftigten Menschenklasse das Recht zur Anwendung eines solchen Zwanges gibt, haben wir nichts derartiges finden können, wir haben uns vielmehr davon überzeugt, daß der menschliche Geist immer danach strebt, den Zwang in der Volkserziehung zu beseitigen. Wir suchten ein Kriterium für die Pädagogik, d.h. einen Maßstab dafür, was und wie wir lehren sollen, und wir konnten nichts entdecken, außer allerhand schönen Meinungen und Einrichtungen, wir erkannten vielmehr, daß es um so unmöglicher wurde ein solches Kriterium aufzustellen, je weiter die Menschheit fortschritt; indem wir dieses Kriterium in der Geschichte der Pädagogik suchten, fanden wir nicht nur, daß die historisch entstandenen Schulen uns Russen nicht zum Vorbild dienen können, sondern daß diese Schulen mit jedem Schritt, den sie vorwärts tun, immer mehr hinter dem allgemeinen Bildungsniveau zurückbleiben, daß ihr Zwangscharakter daher immer unberechtigter wird, und daß endlich die Bildung in Europa sich, wie fließendes Wasser, einen anderen Weg gebahnt, die Schule umgangen und sich in andere Richtungen einer Bildung durch das Leben ergossen hat.Was sollen wir Russen also im gegebenen Zeitpunkt beginnen? Sollen wir uns alle verabreden, und unserem Erziehungssystem die Ansicht der Engländer, der Franzosen, Deutschen oder Nordamerikaner und eine ihrer Methoden zugrunde legen! Oder sollen wir uns in die Philosophie und Psychologie vertiefen, um von hier aus zu ergründen, welche Bedingungen überhaupt notwendig sind zur Entwicklung der Menschenseele und zur Heranbildung tüchtiger Menschen aus dem jungen Geschlechte, so wie wir nämlich die Tüchtigkeit verstehen? Oder sollen wir endlich uns die Erfahrungen der Geschichte zu nutze machen - nicht in dem Sinne, daß wir die Formen, die sich im Verlauf des geschichtlichen Werdens herausgebildet haben, bloß nachahmen, sondern daß wir die Gesetze begreifen lernen, zu deren Erkenntnis sich die Menschheit durch viele Leiden durchgerungen hat, - sollen wir uns ehrlich und geradezu eingestehen, daß wir nicht wissen und auch nicht wissen können, was den kommenden Geschlechtern frommt, daß wir uns aber dazu verpflichtet fühlen, und den Willen haben, ihre Bedürfnisse zu studieren, daß wir daher das Volk nicht ungebildet schelten dürfen, weil es unsere Bildung nicht annehmen will, sondern daß wir uns selber der Unbildung und des Stolzes beschuldigen müssen, wenn wir das Volk nur in unserem eigenen Sinne erziehen wollen. Wir sollten doch endlich aufhören, den Widerstand des Volkes gegen unsere Bildung als ein Element zu beurteilen, das der Pädagogik feindlich ist, sondern in ihm vielmehr einen Ausdruck des Volkswillens achten, der allein unsere Tätigkeit bestimmen müßte. Erkennen wir doch bloß das Gesetz an, das so deutlich aus der Geschichte der Pädagogik, wie aus der Geschichte der allgemeinen Bildung zu uns spricht: damit der Erzieher genau weiß, was gut und was schlecht ist, muß der Zögling die volle Freiheit haben, seine Unzufriedenheit auszudrücken, oder wenigstens sich der Erziehung zu entziehen, von der er instinktiv fühlt, daß sie ihn nicht befriedigt; das einzige Kriterium der Pädagogik ist und bleibt allein - die Freiheit.Wir haben den letzten Weg bei unseren pädagogischen Bestrebungen gewählt.Die Grundlage unserer Tätigkeit ist die Überzeugung, daß wir nicht nur nicht wissen und auch nicht wissen können, worin die Bildung des Volkes bestehen muß, daß es nicht bloß keine Wissenschaft der Bildung und Erziehungslehre - der Pädagogik gibt, sondern daß noch nicht einmal der Grund zu ihr gelegt ist, daß eine Definition der Pädagogik und ihres Zieles im philosophischen Sinne unmöglich, überflüssig und schädlich ist.Wir wissen nicht, worin die Bildung und Erziehung zu bestehen hat, wir erkennen die ganze Philosophie der Pädagogik nicht an, weil wir nicht zugeben können, daß ein Mensch wissen kann, was ein Mensch wissen muß. Die Bildung und Erziehung stellen sich mir dar als historische Tatsache, wie nämlich die einen Menschen auf die andern eingewirkt haben; daher besteht die Aufgabe der Erziehungswissenschaft nur in der Ergründung der Gesetze dieser Einwirkung der einen Menschen auf die andern. Wir leugnen nicht bloß, daß unser heutiges Geschlecht die Kenntnis davon hat, was zur Vollkommenheit des Menschengeschlechts notwendig ist, wir leugnen nicht nur das Recht auf ein solches Wissen, wir sind auch überzeugt, daß wenn die Menschheit im Besitze dieser Wissenschaft wäre, sie nicht in der Lage wäre, sie mitzuteilen, oder wenigstens dem jüngeren Geschlechte mitzuteilen, wir sind überzeugt, daß das Bewußtsein von Gut und Böse unabhängig von dem Willen des einzelnen in der ganzen Menschheit liegt und sich im Laufe der Geschichte unbewußt entwickelt, daß es ebenso unmöglich ist, der jungen Generation unser Bewußtsein durch Erziehung einzuimpfen, wie es unmöglich ist, ihm dieses unser Bewußtsein und jene höhere Stufe des Bewußtseins zu rauben, bis zu der es der nächste Schritt, den die Geschichte tut, erheben wird. Unser scheinbares Wissen von Gut und Böse und die Einwirkung auf die junge Generation auf Grund dieses Wissens ist meist nur der Widerstand, den wir der Geburt eines neues Bewußtseins entgegensetzen, das unserem Geschlechte noch fehlt und sich in der jungen Generation herausbildet - ist ein Hemmschuh und keine Förderung der Bildung.Wir sind überzeugt, daß die Bildung ein historischer Prozeß ist und darum kein Endziel hat. Die Bildung, die in ihrem allgemeinsten Sinn auch die Erziehung mit umfaßt, ist unserer Überzeugung nach jene Tätigkeit des Menschen, die zu ihrem Grunde das Bedürfnis nach Gleichheit und das unwandelbare Gesetz ihres Fortschritts hat.Die Mutter lehrt ihr Kind nur darum sprechen, damit das Kind sie verstehen kann, die Mutter sucht instinktiv bis zu der Anschauung des Kindes über die Dinge bis zu seiner Sprache hinabzusteigen, aber das Gesetz des Bildungsfortschritts erlaubt ihr nicht, zu ihm hinabzusteigen, sondern zwingt das Kind, sich bis zum Verständnis der Mutter zu erheben. Dasselbe Verhältnis besteht zwischen dem Schriftsteller und dem Leser, zwischen der Schule und dem Schüler, der Regierung und der Gesellschaft - und dem Volk. Die Tätigkeit des Erziehers hat immer dasselbe Ziel.Die Aufgabe der Erziehungslehre besteht nur in der Untersuchung, wann diese beiden Bestrebungen sich auf dasselbe Ziel richten, und welche Bedingungen sich dem Zusammentreffen dieser Bestrebungen widersetzen. Die Wissenschaft der Erziehungslehre erleichtert sich mithin einerseits für uns, da sie auf die Beantwortung der Fragen verzichtet, was das Endziel der Bildung ist, worauf wir die junge Generation vorzubereiten haben usw., andererseits wird sie wiederum viel schwieriger. Wir haben alle Ursachen zu untersuchen, die ein Zusammentreffen der Bestrebungen der Erzieher und der Zöglinge ermöglicht haben, wir müssen ergründen, was jene Freiheit bedeutet, deren Mangel ein solches Zusammentreffen verhindert, und die allein ein brauchbares Kriterium für Pädagogik abgibt; wir müssen Schritt für Schritt, durch eine unübersehbare Anzahl von Tatsachen hindurch, bis zu der Lösung der pädagogischen Probleme vordringen.Wir wissen, daß unsere Gründe nur wenige überzeugen werden. Wir wissen, daß unsere Grundüberzeugung darin besteht, daß die einzige Grundlage der Erziehung die Erfahrung und ihr einziges Kriterium die Freiheit ist. Den einen wird das wie eine Trivialität, anderen wie eine unklare Abstraktion, den dritten wie ein unmöglicher Traum erscheinen. Wir hätten es nicht gewagt, die Ruhe der Theoretiker der Pädagogik zu stören, und solche aller Welt entgegengesetzte Meinungen zu äußern, wenn wir genötigt wären, uns auf die Betrachtungen dieses Aufsatzes zu beschränken, aber wir fühlen die Kraft in uns, Schritt für Schritt und Tatsache für Tatsache die Anwendbarkeit und Rechtmäßigkeit unserer so seltsam klingenden Anschauung zu beweisen, und es ist dies Ziel allein, in dessen Dienst wir unsere neu begründete Zeitschrift »Jasnaja Poljana« stellen.
Auf dem Friedenskongreß, der im September 1909 in Stockholm tagen sollte, wollte Leo Tolstoi eine Ansprache an die Delegierten halten. Der Kongreß fand nicht statt. Tolstoi hatte den Wunsch, zu gleicher Zeit allen Völkern mitzuteilen, was damals zu sagen er verhindert worden war. Wir kommen unserer Menschenpflicht, die Worte des großen verehrungswürdigen Mannes weiterzugeben, wie er es wollte, hiermit getreulich nach. Wir lassen von seinen Worten keine Silbe weg; wir fügen kein Wort hinzu.
Wir haben uns hier versammelt, um gegen den Krieg zu kämpfen. Gegen den Krieg, das will heißen, gegen das, wofür sämtliche Völker der Erde, Millionen und Millionen von Menschen, einigen Dutzenden, manchmal bloß einem einzigen Menschen, nicht nur Milliarden von Rubeln, Talern, Franken, Jens, die einen großen Teil ihrer Arbeit repräsentieren, sondern auch sich selbst, ihr Leben uneingeschränkt zur Verfügung stellen. Und nun wollen wir, ein Dutzend Privatmenschen, die aus verschiedenen Enden der Erde zusammengekommen sind, ohne alle besonderen Privilegien, vor allem ohne jede Macht über jemanden, kämpfen; und wenn wir kämpfen wollen, so hoffen wir auch zu siegen über diese ungeheure Macht nicht etwa nur einer, sondern aller Regierungen, die über Milliarden Geldes und über Armeen von Millionen Menschen verfügen und es nur zu gut wissen, daß die Ausnahmestellung, die sie, d. h. die Menschen, welche die Regierung bilden, einnehmen, einzig und allein auf dem Militär beruht -, auf dem Militär, welches nur dann Sinn und Bedeutung hat, wenn der Krieg besteht, derselbe Krieg, gegen den wir kämpfen wollen und den wir vernichten möchten.Bei solchen ungleichen Kräften muß ein Kampf als Wahnsinn erscheinen. Macht man sich aber die Bedeutung der Kampfmittel, die sich in den Händen jener, die wir bekämpfen wollen, und die sich in unseren Händen befinden, klar, so werden wir nicht darüber staunen, daß wir uns zum Kampf entschließen, sondern darüber, daß das, was wir bekämpfen wollen, überhaupt noch besteht. In ihren Händen befinden sich Milliarden von Geld, Millionen williger Soldaten, in unsern Händen befindet sich nur ein Mittel, aber das allermächtigste Mittel der Welt - die Wahrheit.Und deshalb mögen unsere Kräfte noch so gering erscheinen in Vergleich mit den Kräften unserer Gegner, unser Sieg ist ebenso gewiß, wie der Sieg des Lichtes der aufgehenden Sonne über die Finsternis der Nacht.Unser Sieg ist gewiß, aber nur unter einer Bedingung - unter der Bedingung, daß wir die Wahrheit verkündigen und sie rückhaltlos, ohne alle Umschweife, ohne jede Konzession, ohne jede Milderung heraussagen. Diese Wahrheit aber ist so einfach, so klar, so einleuchtend, so verbindlich nicht bloß für den Christen, sondern für jeden vernünftigen Menschen, daß man sie nur in ihrer ganzen Bedeutung auszusprechen braucht, auf daß die Menschen ihr nicht mehr zuwider handeln können.Diese Wahrheit ist in ihrer vollen Bedeutung in dem enthalten, was Jahrtausende vor uns in dem Gesetz, das wir das Gesetz Gottes nennen, in zwei Worten gesagt ist: Tötet nicht! Diese Wahrheit besagt, daß der Mensch unter keinen Umständen und unter keinerlei Vorwand einen andern töten kann oder darf.Diese Wahrheit ist so klar, so allgemein anerkannt, so verpflichtend, daß sie nur klar und bestimmt vor den Menschen aufgestellt zu werden braucht, damit das Übel, das Krieg heißt, vollkommen unmöglich werde. Und deshalb glaube ich, daß wir, die hier zum Weltkongreß versammelt sind, wenn wir diese Wahrheit nicht klar und bestimmt aussprechen, sondern uns an die Regierungen wenden und ihnen allerlei Maßnahmen vorschlagen, um die Übel des Krieges zu verringern und die Kriege seltener zu machen, auf diese Weise jenen Menschen gleichen, die mit dem Torschlüssel in den Händen gegen die Mauern Sturm laufen, die, sie wissen es wohl, ihre Anstrengungen nicht zu stürzen vermag. Wir wissen, daß alle diese Menschen gar kein Verlangen danach haben, ihresgleichen zu töten, zumeist sogar die Veranlassung nicht kennen, auf die hin man sie zur Ausführung dieser Tat zwingt, die ihnen widerlich ist; daß ihnen ihre Lage, in der sie Bedrückung und Zwang erleiden, zur Last fällt; wir wissen, daß die Mordtaten, die von Zeit zu Zeit von diesen Menschen verübt werden, auf Befehl der Regierung geschehen, wissen, daß das Bestehen der Regierung durch die Armeen bedingt wird. Und nun finden wir, die wir die Vernichtung des Krieges anstreben, nichts Zweckmäßigeres zu seiner Aufhebung, als ihnen anzuraten, - ja, wem denn? den Regierungen, die bloß durch das Militär, also durch den Krieg bestehen, - solche Maßregeln zu ergreifen, die den Krieg vernichten sollen, d. h. wir raten den Regierungen, sich selbst zu vernichten.Die Regierungen werden mit Befriedigung all solche Reden hören, denn sie wissen nicht nur, daß derlei Erörterungen den Krieg nicht vernichten und ihre Macht nicht untergraben, sondern auch, daß die eigentliche Ursache dadurch den Menschen nur noch besser verborgen wird, die Ursache, die sie vor ihnen verbergen müssen, damit Armeen und Kriege und auch sie selbst, die diese Armeen befehligen, fortbestehen können."Ja, aber das ist doch Anarchismus: niemals haben die Menschen ohne Regierung und Staat gelebt. Und darum sind Regierungen und Staaten und auch die Heeresmacht, die sie beschützt, unerläßliche Lebensbedingungen der Menschen", wird man mir entgegnen.Ganz abgesehen davon, ob ein Leben der christlichen Völker und überhaupt aller Völker ohne Militär und Krieg, von denen Regierungen und Staat beschützt werden, möglich ist oder nicht, zugegeben sogar, die Menschen müßten sich unbedingt zu ihrem Wohle den Institutionen, welche aus Menschen bestehen, die sie nicht kennen und die sie Regierungen heißen, knechtisch unterwerfen, zugegeben, sie müßten diesen Einrichtungen unweigerlich die Produkte ihrer Arbeit überliefern, sie müßten allen Forderungen dieser Einrichtungen unbedingt bis zum Mord an ihren Nächsten Folge leisten, - auch wenn wir das alles zugeben, selbst dann bleibt noch eine Schwierigkeit, die unsere Welt nicht lösen kann. Diese Schwierigkeit besteht in der Unmöglichkeit, den christlichen Glauben, zu dem sich alle Menschen, welche die Regierung repräsentieren, mit besonderem Nachdruck bekennen, mit ihren aus Christen bestehenden Armeen, die sie zum Morde abrichten, zu vereinbaren. Man mag die christliche Lehre noch so sehr entstellen, mag nach Belieben sich um ihre Hauptlehren schweigend herumdrücken, die Grundidee dieser Lehre besteht doch nur in der Liebe zu Gott und den Nächsten. Zu Gott, das heißt zur allerhöchsten Vollkommenheit der Tugend, und zum Nächsten, das heißt zu allen Menschen ohne Unterschied. Deshalb, sollte man glauben, muß man eines von beiden anerkennen: entweder das Christentum mit der Liebe zu Gott und den Nächsten, oder den Staat mit Armeen und Krieg.Es ist sehr wohl möglich, daß das Christentum seine Zeit überlebt hat und daß die modernen Menschen, wenn sie vor die Wahl gestellt werden, sich für das Christentum und die Liebe oder den Staat und den Mord zu entscheiden, finden werden, das Bestehen des Staates sei dermaßen wichtiger als das Christentum, daß man das Christentum vergessen und nur am Wichtigeren festhalten müsse: am Staat und am Mord.Alles das mag schon sein, - wenigstens können die Menschen so denken und fühlen. Dann aber muß man es auch so sagen. Man muß sagen, die Menschen unserer Zeit müßten aufhören zu glauben, was die gemeinsame Weisheit der ganzen Menschheit sagt, was das Gesetz, zu dem sie sich bekennen, verkündigt, sie müßten aufhören zu glauben, was mit unvertilgbaren Zügen in das Herz eines jeden gegraben ist, und müßten statt dessen an das glauben, was ihnen - den Mord inbegriffen - die und jene Menschen befehlen, Kaiser und Könige, die durch Zufall oder Erblichkeit zu ihrer Stellung gekommen sind, oder Präsidenten, Reichstagsabgeordnete und Deputierte, die mit Hilfe von allerlei Schlichen gewählt worden sind. Das also muß man dann sagen.Nun aber kann man das nicht sagen. Nicht bloß dies kann man nicht sagen, sondern weder das eine noch das andere kann man sagen. Sagt man, das Christentum verbietet den Mord, - so wird es kein Militär geben, es wird keinen Staat geben. Sagt man, wir, die Regierung, erkennen die Berechtigung des Mordens an und leugnen das Christentum, - so wird sich niemand einer Regierung unterwerfen wollen, die ihre Macht auf Mord aufbaut. Und noch eins: wenn der Mord im Kriege zulässig ist, muß er erst recht dem Volke gestattet sein, das sein Recht in der Revolution sucht. Und deshalb sind die Regierungen, da sie weder das eine noch das andere sagen können, nur um eines besorgt: ihren Untertanen zu verbergen, daß es notwendig ist, zwischen diesen zwei Wegen die Entscheidung zu treffen.Darum also haben wir, die wir hier versammelt sind, um dem Übel des Krieges zu steuern, wenn wir unser Ziel wirklich erreichen wollen, nur eines zu tun: wir müssen dieses Entweder-Oder mit voller Bestimmtheit und Klarheit aufstellen, in gleicher Weise vor den Menschen, welche die Regierung ausmachen, wie vor den Massen des Volkes, die das Militär bilden. Und dies müssen wir in der Art tun, daß wir nicht nur klar und offen die allen Menschen bekannte Wahrheit wiederholen: Ein Mensch darf den andern nicht töten! sondern noch dazu ausdrücklich erklären, daß keinerlei Erörterungen die Menschen der christlichen Welt von der Verpflichtung, die diese Wahrheit in sich schließt, befreien können.Deshalb möchte ich unserer Versammlung den Vorschlag machen, einen Aufruf an die Menschen sämtlicher und besonders der christlichen Völker zu verfassen und zu veröffentlichen, worin wir klar und gerade heraus sagen, was zwar alle wissen, was aber niemand oder so gut wie niemand sagt: nämlich, daß der Krieg nicht, wie das jetzt die Menschen vorgeben, irgendeine besondere wackere und lobenswerte Sache sei, sondern daß er, wie jeder Mord, eine abscheuliche und frevelhafte Handlung ist, und zwar nicht nur für die, welche die militärische Laufbahn aus freien Stücken wählen, sondern auch für die alle, die sich ihr aus Furcht vor Strafe oder um eigennütziger Interessen willen widmen.Im Hinblick auf die Personen, die die militärische Tätigkeit freiwillig wählen, möchte ich vorschlagen, daß wir in diesem Aufruf klar und präzis zum Ausdruck bringen, daß diese Tätigkeit, ungeachtet aller Feierlichkeit, allen Glanzes und der allgemeinen Billigung, die ihr zuteil wird, verbrecherisch und schändlich ist, und zwar umsomehr, je höher die Stellung ist, die der Mensch im Militärdienst einnimmt. Ebenso möchte ich in bezug auf die Menschen aus dem Volke, die durch Androhung von Strafen oder durch Aussicht auf Gewinn zum Militär herangezogen werden, vorschlagen, daß wir klar und bestimmt auf den großen Irrtum hinweisen, den sie gegen ihren Glauben, wie gegen die Sittlichkeit und den gesunden Menschenverstand dadurch begehen, daß sie darein einwilligen, in die Armee zu treten: Gegen den Glauben dadurch, daß sie in die Reihen von Mördern treten und das von ihnen anerkannte Gesetz Gottes verletzen; gegen die Sittlichkeit dadurch, daß sie aus Furcht, von Seiten der Behörden bestraft zu werden oder um eigennütziger Interessen willen bereit sind, zu tun, was sie in ihrem Innern für schlecht erkennen; und gegen den gesunden Menschenverstand dadurch, daß sie, wenn sie in das Heer treten, im Kriegsfall von denselben, wenn nicht noch schwereren Leiden bedroht sind, als die sind, die ihnen für die Dienstweigerung drohen; gegen den gesunden Menschenverstand vor allem aber schon darum, weil sie demselben Schlag Menschen sich beigesellen, der sie ihrer Freiheit beraubt und sie zum Militärdienste zwingt.Die Menschheit im allgemeinen und unsere christliche Menschheit im besonderen ist zu einem so schroffen Widerspruch zwischen ihren sittlichen Forderungen und der bestehenden Gesellschaftsordnung gelangt, daß unbedingt eines geändert werden muß, nicht das, was nicht geändert werden kann: die sittlichen Forderungen des Gewissens sondern das, was wohl geändert werden kann: die Gesellschaftsordnung. Diese Änderung, die der innere Widerspruch gebietet, der in der Vorbereitung zum Morde besonders scharf zu Tage tritt, wird von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag immer dringender. Die Spannung, die diese bevorstehende Änderung seit langem erzeugt, hat heute schon einen solchen Grad erlangt, daß es, wie zum Übergang eines flüssigen Körpers in einen festen manchmal ein geringer Stoß genügt, ebenso auch zum Übergang aus jenem grausamen und unvernünftigen Leben der Menschen mit seiner Absonderung, seinen Rüstungen und Armeen, zu einem vernünftigen, den Forderungen der Erkenntnis der jetzigen Menschheit entsprechenden Leben möglicherweise nur einer geringen Anstrengung, vielleicht nur eines Wortes bedarf. Jede solche Anstrengung, jedes solche Wort kann zu jenem Stoß der abgekühlten Flüssigkeit werden, der plötzlich die Flüssigkeit in einen festen Körper verwandelt. Warum sollte unsere jetzige Versammlung nicht diese Anstrengung sein? So, wie im Märchen Andersens, als beim feierlichen Umzüge der König durch die Straßen der Stadt ging, und das ganze Volk entzückt war ob der wunderbaren neuen Kleidung, ein Wort eines Kindes, das aussprach, was alle wußten, aber niemand sagte, alles geändert hat. Es sagte: "Er hat ja gar nichts an", und die Suggestion hörte auf, und der König schämte sich, und alle Menschen, die sich eingeredet hatten, ein wunderschönes neues Kleid am König zu sehen, wurden nun gewahr, daß er nackt sei. Auch wir müssen dasselbe sagen, wir müssen sagen, was alle wissen und nur nicht zu sagen wagen, wir müssen sagen, daß, wenn die Menschen dem Mord einen noch so veränderten Namen geben, der Mord immer nur Mord bleibt - eine frevelhafte, schmachvolle Tat. Und man braucht nur klar, bestimmt und laut, wie wir das hier zu tun vermögen, dies zu sagen, und die Menschen werden aufhören zu sehen, was sie zu sehen vermeinten und werden erblicken, was sie in Wirklichkeit sehen. Sie werden aufhören, im Krieg den Vaterlandsdienst, den Heldenmut, den Kriegsruhm, den Patriotismus zu sehen, und werden sehen, was da ist: die nackte frevelhafte Mordtat. Und wie die Menschen das sehen, wird dasselbe geschehen, was in dem Märchen geschah: diejenigen, die die Freveltaten üben, werden sich schämen, diejenigen aber, die sich eingeredet haben, daß sie im Mord keine Frevelhaftigkeit sehen, werden sie jetzt gewahr werden, und werden aufhören. Mörder zu sein.Wie aber sollen sich die Völker gegen die Feinde wehren, wie soll die innere Ordnung aufrecht erhalten werden, wie können die Völker ohne Militär bestehen?Welche Form das Leben der Menschen annehmen wird, wenn sie den Mord unterlassen, wissen wir nicht und können es nicht wissen, eines aber ist sicher: daß es den Menschen, die mit Vernunft und Gewissen begabt sind, natürlicher ist, ihr Leben von Vernunft und Gewissen lenken zu lassen, als sich knechtisch denen zu unterwerfen, die das gegenseitige Töten anordnen. Und sicher ist darum auch, daß die Form der gesellschaftlichen Ordnung, die das Leben der Menschen annehmen wird, wenn sie sich bei ihren Handlungen nicht von der Gewalt, die auf Todesdrohungen gegründet ist, sondern von der Vernunft und vom Wissen leiten lassen, jedenfalls nicht schlimmer wird, als das Leben, das sie jetzt führen.Das ist alles, was ich sagen wollte. Es wäre mir sehr leid, wenn ich jemanden beleidigt, gekränkt oder böse Gefühle in ihm erweckt hätte. Doch wäre es für mich, einen 80jährigen Greis, der jeden Augenblick des Todes gewärtig ist, eine Schande, nicht ganz offen die Wahrheit zu sagen, wie ich sie verstehe, die Wahrheit, die nach meiner festen Überzeugung allein die Menschheit von den unseligen Drangsalen zu erretten vermag, die der Krieg hervorbringt und unter denen sie leidet
Ihr, arbeitendes Volk, und besonders ihr, Bauern und Landarbeiter, befindet euch heute in Rußland in einer besonders schweren Lage. Wie schwer es auch für euch war, mit wenig Land und schweren Steuern und Abgaben und Kriegen, welche die Regierung euch aufbürdete, zu leben, so lebtet ihr doch irgendwie, bis vor kurzem, indem ihr an den Zaren glaubtet, und überzeugt wäret, daß es sich ohne den Zaren und seine Autorität nicht leben läßt; und ihr unterwarft euch ergeben der Regierung.Wie immer schlecht die Regierung des Zaren auch regierte, so unterwarft ihr euch derselben doch, so lange es nur eine Regierung gab. Jetzt aber, wo sich ein Teil des Volkes empört hat, und der Regierung nicht mehr Gehorsam leistet, sondern gegen dieselbe kämpft; wo es in manchen Orten anstatt einer Regierung deren zwei gibt, von welchen jede Gehorsam von euch fordert; da könnt ihr euch nicht länger der bestehenden Herrschaft unterwerfen, ohne zu überlegen, ob die Regierung euch gut oder schlecht regiert; Ihr habt zu wählen, welcher von beiden ihr euch unterwerfen wollt. Was müßt ihr also tun? Nicht die Zehntausende von Industriearbeitern, die in den Städten herumhasten und herumgestoßen werden, sondern ihr, das große, ackerbauende Arbeitervolk von hundert Millionen?Die alte Regierung des Zaren sagt euch: »Hört nicht auf die Rebellen; sie versprechen euch viel und werden euch betrügen. Bleibt mir getreu, und ich werde euch alle eure Bedürfnisse erfüllen.« Die revolutionären Parteien sagen: »Glaubt der Regierung des Zaren nicht, welche euch immer gequält hat und euch weiter quälen wird. Schließt euch uns an und helft uns — und wir werden euch eine Regierung schaffen , wie die in den freiesten Ländern. Dann werdet ihr selbst eure Herrscher wählen, und euch selbst regieren und alles Unrecht, das ihr erduldet habt, gut machen.«Was sollt ihr tun? Die alte Regierung unterstützen? Aber ihr wißt, daß die alte Regierung seit langem verspricht, euer Los zu bessern, doch statt dessen euere größten Übel: Mangel an Land, sowie Steuern und Militärpflicht immer nur noch schwerer gemacht hat. Sich den revolutionären Parteien anschließen? Sie versprachen euch eine vom Volk gewählte Regierung, wie in den freien« Ländern. Aber wo immer solche vom Volk gewählte Regierungen bestehen, in den Ländern, die das größte Maß von politischer Freiheit haben, wie z.B. in der französischen und amerikanischen Republik, sind die Hauptübel des Volkes, gerade wie bei uns, nicht beseitigt. So wie bei uns oder sogar mehr, ist der Boden im Besitze der Reichen; so wie bei uns, wird das Volk mit Steuern und Abgaben überbürdet, ohne daß es darüber gefragt wird, und so wie bei uns, werden Armeen erhalten und Kriege erklärt, wenn die Herrschenden es wollen, ohne die Zustimmung des Volkes. Übrigens ist unsere neue Regierung noch nicht errichtet, und wir wissen nicht, wie sie sein wird.Nicht nur, daß ihr keinen Nutzen davon habt, wenn ihr euch der einen oder anderen Regierung anschließt, sondern ihr könnt es gar nicht tun, wenn ihr euerer Überzeugung treu bleiben wollt. Die alte Regierung zu verteidigen, heißt Menschen in Gefängnisse werfen. Foltern, Hängen, in den Straßen erschießen. Frauen und Kinder hinmorden, wie dies in den letzten Jahren überall in Rußland geschieht. Aber den revolutionären Parteien zur Macht zu verhelfen, heißt auch zu töten, Bomben zu werfen, mit den Soldaten zu kämpfen, Menschen hinzurichten usw. Darum, Volk der Arbeitenden: jetzt, wo die Regierung des Zaren euch befiehlt, gegen euere Brüder zu kämpfen und die revolutionären Parteien euch befehlen, das selbe zu tun, müßt ihr ohne Zweifel, nicht nur zu euerem eigenen Nutzen, sondern euerer Überzeugung gemäß, weder die alte noch die neue Regierung unterstützen und weder an den Taten dereinen noch der anderen teilnehmen.Nicht an den Taten der alten Regierung teilnehmen heißt: derselben nicht mehr als Soldaten, Polizisten, Gefängniswächter usw. zu dienen, und kein Amt oder keinen Dienst in irgend einer Staatseinrichtung anzunehmen. Nicht an den Taten der revolutionären Parteien teilzunehmen heißt: Sich nicht in Wahlen, Verschwörungen, Attentate, Plünderungen usw. mischen.Zwei feindliche Regierungen versuchen es jetzt, euch zu beherrschen, und beide wollen euch zu grausamen, ungerechten Handlungen zwingen. Was könnt ihr anderes tun als keine Regierung mehr über euch anzuerkennen?Man behauptet, daß es schwer und sogar unmöglich sei, ohne Regierung zu leben; aber ihr, russische Arbeiter, besonders ihr Bauern, wißt, daß wenn ihr ein friedliches, ai beitsvolles Landleben in eueren Dörfern führt, in brüderlicher Arbeit den Boden bebauend und euere gemeinsamen Angelegenheiten in der Dorfgemeinschaft (1) entscheidend, ihr gar keine Regierung braucht.Die Regierung braucht euch, aber ihr, russische Bauern, braucht die Regierung nicht. Und darum, in diesen schweren Zeiten, wo es gleicherweise schlecht ist, sich dieser oder jener Regierung anzuschließen, ist für euch das einzig vernünftige und nützliche: keiner Regierung zu gehorchen.Doch wenn dies für die Bauernbevölkerung gilt, was sollen die Arbeiter in den Städten, Fabriken und Bergwerken tun, von welchen es in manchen Ländern mehr gibt als Landarbeiter und deren Leben ganz in der Macht der Regierung ist? Sie sollten dasselbe tun, wie die Arbeiter in den Dörfern: keiner Regierung mehr gehorchen und mit aller Kraft bestrebt sein, zur Landarbeit und zum Landleben zurückzukehren.Wenn einmal die Arbeiter in den Städten, sowie die Bauern in den Dörfern aufhören, der Regierung gehorsam zu sein und ihr zu dienen, wird mit dem Sturz der Macht der Regierung die Sklaverei, in welcher ihr lebt, von selbst aufhören, denn dieselbe wird nur durch die Gewaltherrschaft der Regierung aufrechterhalten. Und die Gewalt, welche die Regierung zu dem Zweck gebraucht, wird von euch selbst geliefert. Diese Gewalt allein ist es, welche alles, was zum Leben notwendig ist, mit Steuern und Abgaben belegt, welche die Gesetze macht, durch welche die Monopole und Vorrechte Einzelner, sowie das Privateigentum an Grund und Boden aufrechterhalten werden; nur diese Macht der Regierung hält euch, mit Hilfe der Armee, die aus euch selbst besteht, in fortwährender Unterdrückung und Unterwerfung, im Dienste der Regierenden und ihrer Verbündeten — den Reichen.Wenn ihr, Arbeiter und Bauern, aufhört, der Regierung gehorsam zu sein, werdet ihr Industriearbeiter es nicht mehr nötig haben, ohne Wahl die Arbeitsbedingungen anzunehmen, welche euch die Kapitalisten, die Fabriksbesitzer und Unternehmerbieten; sondern ihr werdet ihnen selbst die Bedingungen stellen, unter denen ihr arbeiten wollt oder werdet anfangen, durch gemeinsame Arbeit in eueren Genossenschaften (2) selber alle die Sachen herzustellen, die zum Leben des Volkes notwendig sind; oder ihr werdet, da der Boden jedem in genügender Menge zur Benützung frei stehen wird, zu einem natürlichen Ackerbau betreibenden Landleben zurückkehren.»Aber wenn das russische Volk plötzlich anfängt, auf diese Weise zu leben, nicht mehr der Regierung gehorchend — dann wird es kein Rußland mehr geben«, sagen jene, die glauben, daß das Bestehen von Rußland das heißt, die Vereinigung vieler Nationen unter einer Regierung — etwas Wichtiges, Großes und Nützliches ist.In Wahrheit ist diese Vereinigung von vielen verschiedenen Nationen, welche Rußland heißt, nicht nur nicht von Wichtigkeit für euch, russische Arbeiter, sondern diese Vereinigung ist gerade die Hauptursache unseres Elends.Wenn man euch mit Steuern und Abgaben überbürdet, wie man eure Väter überbürdet hat und riesige Staatsschulden anhäuft, welche ihr zu bezahlen habt; wenn man euch zwingt, Soldaten zu sein und an verschiedene Enden der Erde schickt, um dort mit Menschen zu kämpfen, mit denen ihr nichts zu tun habt, und die nichts mit euch zu tun haben — so geschieht dies alles nur darum, um Rußland, d.h. die erzwungene Vereinigung von Polen, dem Kaukasus, Finnland, Zentralasien, der Mandschurei usw. und anderer Völker unter derselben Regierung, zu erhalten. Aber außer dem, daß diese Vereinigung, die man Rußland nennt, die Ursache euerer Leiden ist, ist sie auch ein großes Unrecht, an welchem ihr gegen eueren Willen teilnehmt, wenn ihr der Regierung gehorsam seid. Damit dieses Rußland besteht, müssen die Polen, Finnen, Letten, Georgier, Tartaren, Armenier und andere Völker unterworfen werden. Und um sie zu unterwerfen, ist es notwendig, ihnen zu verbieten, so zu leben, wie sie wollen; und wenn sie diesem Befehl nicht folgen, sie zu bestrafen und zu töten.Warum sollt ihr an dieser Ungerechtigkeit teilnehmen, wenn ihr selber darunter leidet? Laßt jene, die ein Rußland brauchen, welches über Polen, Georgien, Finnland herrscht — laßt jene sich die Sachen selber so einrichten, wie sie können. Was ihr braucht, ist etwas ganz anderes. Ihr braucht nur genug Land, und daß euch niemand die Früchte euerer Arbeit abnimmt, oder euch zwingt, Soldaten zu sein oder andere Ungerechtigkeiten zu begehen. Und diese Ungerechtigkeiten werden aufhören, wenn ihr nur den Befehlen der Regierung den Gehorsam verweigert jenen Befehlen, welche euch an Leib und Seele zu Grunde richten.»Aber wie sollen die großen öffentlichen Angelegenheiten erledigt werden, wenn es keine Regierung gibt und alle Menschen in unabhängigen Gemeinden leben? Wie wird man den Verkehr, die Eisenbahnen, Telegraphen und Dampfschiffe, die Post, die höheren Erziehungsanstalten und Bibliotheken und den Handel und Austausch im Gange halten?« Die Menschen sind daran so gewöhnt, daß die Regierung sich in alle öffentlichen Angelegenheiten hineinmischt, daß es ihnen scheint, als ob die Regierung selbst diese Arbeiten vollbringen würde, und als ob es ohne Regierung unmöglich wäre, Hochschulen, Verkehrseinrichtungen, Postämter, Bibliotheken und Handelsbeziehungen zu organisieren. Das ist aber nicht wahr!Die ausgedehntesten öffentlichen Angelegenheiten, nicht nur nationale, sondern auch internationale, werden durch die Menschen selbst, ohne die Hilfe der Regierung erledigt. Auf solche Weise werden alle internationalen Vereinigungen für Postverkehr, Wissenschaft, Handel und Industrie organisiert. Die Regierung hilft diesen freiwillig gebildeten Vereinigungen nicht — im Gegenteil, immer wenn sie sich in deren Angelegenheiten hineinmischt, hindert sie dieselben nur.»Aber wenn ihr der Regierung nicht gehorcht und keine Steuern zahlt und keinen Militärdienst leistet, dann werden fremde Nationen kommen und euch unterjochen«, sagen jene, die über euch herrschen wollen.Glaubt es nicht! Wenn ihr das Land als gemeinsames Eigentum aller anerkennt, nicht Soldaten werdet, keine Steuern zahlt (außer solchen, die ihr freiwillig für allgemein nützliche Arbeiten hergebt) und euere Streitigkeiten auf friedliche Art durch euere Dorfgemeinschaften erledigt — dann werden die anderen Völker, das gute Leben sehend, das ihr führt, nicht danach trachten, euch zu unterwerfen; oder, wenn sie kommen, werden sie selbst euer gutes Leben nachahmen, sobald sie es kennen lernen, und anstatt mit euch zu kämpfen, werden sie sich mit euch vereinigen. Denn alle Völker, gerade so wie ihr, leiden unter den Regierungen; unter dem Kampf (im Krieg und auf wirtschaftlichem Gebiet) der verschiedenen Regierungen untereinander, und unter dem Kampf der Rassen, Klassen und herrschsüchtigen, politischen Parteien.In allen christlichen Völkern geht eine innere Arbeit vor sich, deren Hauptbestrebung die Befreiung von der Regierung ist; aber diese Befreiung ist besonders schwer für solche Nationen, wo die Mehrzahl der Menschen den Ackerbau aufgegeben hat und sich in Städten mit industrieller Arbeit beschäftigt und von den Früchten der Arbeit anderer Rassen lebt. Bei diesen Völkern wird die Befreiung durch den Sozialismus vorbereitet. Aber für euch, russische Arbeiter und Bauern, die ihr zum größten Teil ein Ackerbau betreibendes Leben führt und mit euerer eigenen Arbeit die Sachen erzeugt, die ihr selber zum Leben braucht, ist diese Befreiung besonders leicht. Die Regierung hat für euch längst aufgehört, eine Notwendigkeit oder eine nützliche Einrichtung zu sein und ist zu einem großen und ungerechtfertigten Übel geworden. (3)Die Regierung, und nur die Regierung, entzieht euch durch ihre Macht das Land. Nur die Regierung nimmt euch in Steuern und Abgaben den größten Teil der Früchte unserer Arbeit weg. Nur die Regierung entzieht euch die Arbeit euerer Söhne, indem sie dieselben zu Soldaten macht und in den Tod schickt. Aber die Regierung ist keine notwendige Bedingung des menschlichen Lebens, das bestehen wird, so lange die Menschheit besteht, wie das Bebauen des Bodens oder das gesellschaftliche Zusammenleben; — die Regierung ist eine Einrichtung, welche Menschen begründeten, als sie dieselbe brauchten, und welche die Menschen wieder abschaffen werden, sobald sie überflüssig wird.In alten Zeiten wurden Menschenopfer, Götzenanbetung, Zauberei, Folter, Sklaverei und solche Sachen mehr eingeführt. Aber in dem Grade, wie die Menschen vernünftiger wurden, wurden diese Einrichtungen als überflüssige und schädliche Bürden abgeschafft. So geht es auch mit der Regierung. Die Regierungen entstanden, als die Völker wild, grausam und roh waren. So waren die Regierungen, die zur Macht gelangten, auch wild, grausam und roh; und bis zum heutigen Tage sind die Regierungen aller Arten ebenso roh geblieben, wie sie im Anfang waren, mit ihren gewaltsamen Steilereintreibungen, ihren Armeen, Gefängnissen und Hinrichtungen. Aber die Völker werden vernünftiger und brauchen solche Regierungen immer weniger, und heutzutage sind die meisten Völker so weit, daß die Regierung bloß ein Hindernis für sie ist.Das Ei hat eine Schale nötig, so lange der junge Vogel nicht ausgebrütet ist. Wenn der Vogel fertig ist, so ist die Eierschale bloß ein Hindernis für ihn und wird abgestreift und zerbrochen. So ist es auch mit den Regierungen: ein jedes Volk fühlt dies, und gerade das russische Landarbeitervolk fühlt das heute besonders scharf.»Die Regierung ist notwendig, wir können ohne Regierung nicht leben«, sagen manche Leute, und sie sind besonders jetzt von diesem überzeugt, wo es unter dem Volke Unruhen gibt. Doch wer sind diese Leute, die so besorgt um die Erhaltung der Regierung sind? Es sind gerade jene Menschen, die von der Arbeit des Volkes leben, sich dieser Ungerechtigkeit bewußt sind, fürchten, daß man dieselbe aufdeckt, und hoffen, daß die Regierung (welche durch gemeinsame Interessen an sie gebunden ist), ihre ungerechten Taten durch Gewalt beschützen wird. Für diese Leute ist die Regierung sehr notwendig; aber nicht für euch — die Bauern und Arbeiter. Für euch war die Regierung immer nur eine Last; und jetzt, da dieselbe durch ihre Mißwirtschaft Empörungen hervorgerufen, und die Sachen so weit gebracht hat, daß es zwei sich bekämpfende Regierungen gibt, ist sie zu einem großen Unglück und Übel geworden, welches ihr um eueres körperlichen und geistigen Wohles willen zurückweisen müßt.Ob ihr, arbeitendes Volk von Rußland, euch auf einmal vom Gehorsam gegen jede Regierung befreit, oder ob ihr noch eine Zeit unter der Macht der alten oder neuen Regierung (oder etwa einer fremden Regierung) leiden müßt — ihr, russische Arbeiter, habt keine andere Wahl, als der Regierung nicht mehr zu gehorchen und euer Leben ohne dieselbe einzurichten.Ihr, Landarbeiter und Bauern, sowie Arbeiter der Städte, werdet im Anfang vielleicht durch die alte wie durch die neue Regierung für eueren Ungehorsam zu leiden haben — sowie auch durch Uneinigkeiten untereinander; aber all die Übel, die dadurch entstehen können, sind wie nichts im Vergleich mit den Übeln und Leiden, welche ihr durch die Regierung jetzt erduldet und noch erdulden werdet, wenn ihr (der einen oder anderen Regierung gehorchend) an dem inneren Krieg, den Morden und Hinrichtungen teilnehmt, welche jetzt und noch für lange Zeit von den zwei sich bekämpfenden Regierungen verübt werden — wenn ihr denselben durch euere Weigerung, an ihnen teilzunehmen, nicht ein Ende macht.Wenn ihr dem folgt, was diese oder jene Regierung von euch verlangt; wenn ihr, zur Unterstützung der alten Regierung, euch in einen Kampf mit den revolutionären Parteien einläßt und in der Armee, der Polizei oder den »Schwarzen Banden« (4) Dienste nehmt; oder wenn ihr, um den revolutionären Parteien zur Macht zu verhelfen, an Wahlen und Parlamenten teilnehmt — dann werdet ihr, ganz abgesehen, davon, daß ihr euch mit Ungerechtigkeit beladet und schweren Leiden aussetzt, nicht einmal Zeit haben, euch umzuschauen, ehe die eine oder die andere Regierung (wenn es auch die ist, welcher ihr zum Sieg verholfen habt) die mörderische Schlinge der Sklaverei — unter welcher ihr gelebt habt und noch jetzt lebt — wieder um eueren Hals legt.Wenn ihr euch nicht fügt und weder der einen noch der anderen gehorcht, wird all euer Elend aufhören, und ihr werdet frei sein!
Ein Bekannter von mir, ein Wagemeister der Moskau-Kasanjschen Eisenbahn, erzählte mir einmal unter anderem, daß die Bauern, die an seiner Wage als Lader arbeiteten, ihre Arbeit ununterbrochen 36 Stunden hindurch verrichten. Trotz meines vollen Vertrauens zu der Wahrheitsliebe des Erzählenden konnte ich ihm nicht glauben, ich meinte, daß er sich entweder irre, oder übertreibe, oder daß ich irgend etwas nicht recht verstehe.Aber der Wagemeister erzählte mir so ausführlich von den Bedingungen, unter denen diese Arbeit vor sich geht, daß man nicht zweifeln konnte. Nach seiner Erzählung sind 250 derartiger Lader bei der Moskau-Kasanjschen Eisenbahn angestellt. Sie alle sind in Gruppen zu fünf Mann geteilt und arbeiten im Akkord; sie erhallten 1 Rubel odjer 1 Rubel 15 Kopeken für 1000 Pud verladener oder ausgeladener Ware.Sie kommen am Morgen, arbeiten den Tag und die Nacht als Auslader und treten sofort nach Ende der Nacht am Morgen, auf der Verladungsstelle an, wo sie noch einen Tag arbeiten. Ihre Arbeit besteht darin, Ballen von 7, 8 und bis zu 10 Pud zu schleppen- Zwei wälzen die Ballen auf den Rücken der drei anderen und diese tragen die Ballen. Sie verdienen mit solcher Arbei bei eigener Beköstigung weniger als einen Rubel pro vierundzwanzig Stunden und arbeiten ständig, ohne Feiertage.Die Erzählung des Wagemeisters war so ausführlich, daß man an ihrer Wahrheitstreue nicht zweifeln konnte, ich beschloß aber dennoch, mich von den Tatsachen mit eigener Augen zu überzeugen und fuhr nach dem Warenbahnhof.Auf dem Warenbahnhof fand ich meinen Bekannten und sagte ihm, daß ich gekommen sei, um das, was er mir erzählt hätte, zu sehen."Wem ich’s auch erzählt habe, — keiner glaubt es mir" sagte ich."Nikita," wandte sich der Wagemeister, ohne mir zu antworten, an irgend jemand in dem kleinen Häuschen, "komm mal her!" Aus der Tür trat ein großer, hagerer Arbeiter in zerrissenem Bauernrock."Wann seid Ihr zur Arbeit angetreten?" "Wann? Gestern Morgen.""Und wo waret ihr die Nacht?""Beim Ausladen, natürlich.""Habt Ihr in der Nacht gearbeitet?" fragte nun ich."Natürlich gearbeitet.""Und wann seid Ihr jetzt hierangetreten?" "Am Morgen, wann denn sonst?""Und wann hört ihr auf zu arbeiten?" "Wir hören auf, wenn man uns losläßt." Es traten noch vier Arbeiter heran, die zusammen mit dem ersten eine Gruppe von fünf Mann bildeten. Alle waren sie ohne Pelze, in zerissenen Röcken, obgleich das Thermometer unter 20 Grad stand.Ich begann sie nach den Einzelheiten ihrer Arbeiten auszufragen. Durch mein Interesse an einer, wie es ihnen schien, so gewöhnlichen und einfachen Sache, wie ihre sechsunddreißigstündige Arbeit, setzte ich sie offenbar in Erstaunen. Sie waren alle vom Lande, meisten teils meine Landsleute — aus dem Tulaschen; es waren auch welche da aus dem Orlowschen und aus dem Woroneshschen. Sie leben in Moskau in Mietwohnungen, einige mit ihren Familien, die meisten allein. Die, welche ohne Familien leben, schicken den Vierdienst nach Hause.Sie beköstigen sich alle einzeln bei ihren Wirten. Die Kost kommt ihnen 10 Rubel monatlich zu stehen; Fleisch essen sie stets, ohne die Fasten zu beachten.Auf Arbeit befinden sie sich nicht 36 Stunden nacheinander, sondern immer mehr da durch den Weg von der Wohnung und zurück mehr als eine halbe Stunde verloren geht und sie außerdem häufig auch über die festgesetzte Zeit zurückgehalten werden - Bei einer solchen ununterbrochenen sechsunddreißigstündigen Arbeit verdienen sie etwa 25 Rubel monatlich, das Kostgeld nicht abgerechnet.Auf meine Frage, warum sie eine derartige Fronarbeit leisteten, erhielt ich zur Antwort: "Wo soll man denn hin?""Aber warum denn sechsunddreißig Stunden nacheinander arbeiten? Kann man es denn nicht so einrichten, daß man sich ablöst?" "Wie's befohlen wird.""Aber wozu geht ihr denn darauf ein?" "Wozu wir darauf eingehen? Weil wir Futter brauchen. Wenn’s dir nicht paßt — kannst du gehen. Kommt man eine Stunde zu spät, gleich hat man den Arbeitsschein zurück und: Marsch! Für deine Stelle sind zehn Leute da..."Die Arbeiter waren junge Menschen, nur einer war etwas älter, wahrscheinlich übler Vierzig. Sie alle hatten hagene, abgehärmte Gesichter und müde Augen, als hätten sie getrunken. Der hagere Arbeiter, mit dem ich zuerst zu sprechen angefangen hatte, frappierte durch die seltsame Müdigkeit seines Blickes. Ich fragte ihn, ob er nicht heute getrunken hätte?"Ich trinke nicht!" antwortete er, ohne sich zu besinnen, wie Menschen, die wirklich nicht trinken, immer diese Frage zu beantworten pflegen."Und rauchen tue ich auch nicht", fügte er hinzu."Und die anderen trinken?" fragte ich."Ja. Es wird hergebracht.""Die Arbeit ist nicht leicht. Immerhin stärkt es einen etwas" sagte der ältere Arbeiter. Dieser Arbeiter hatte auch heute getrunken, aber man merkte es ihm ganz und gar nicht an.Nachdem ich noch eine Weile mit ihnen gesprochen, ging ich, mir die Ausladearbeiten anzusehen. Ich kam an langen Stapeln aller möglichen Waren vorüber und erblickte Arbeiter, die langsam einen beladenen Waggon vor sich herrollten. Das Rollen der Waggons und das Wegschaufeln des Schnees von den Plattformen müssen die Leute, wie ich später erfuhr, kostenlos verrichten. Das steht mit in dem Kontrakt.Diese Arbeiter waren ebenso hager und zerrissen, wie die, mit denen ich vorher gesprochen hatte. Als sie die Waggons an Ort und Stelle gerollt hatten und stehlen blieben, trat ich an sie heran und fragte, wann sie die Arbeit begonnen und wann sie zu Mittag gegessen hätten. Man antwortete mir, daß sie von sieben Uhr an arbeiteten und erst jetzt ihre Mahlzeit eingenommen hätten. So verlangte es die Arbeit, man ließe sie nicht eher frei."Wann seid Ihr denn frei?""Wie es kommt, zuweilen erst um zehn Uhr" antworteten die Arbeiter, als prahlten sie mit ihrer Ausdauer.Als sie mein Interesse an ihrer Lage merkten, umringten sie mich und teilten mir, einer den anderen unterbrechend, das mit, was die Hauptursache ihrer Unzufriedenheit war; sie hielten mich wahrscheinlich für einen Vorgesetzten. Am meisten waren sie offenbar damit unzufrieden, daß der Raum, in welchem sie zuweilen zwischen der Tag- und dem Beginn der Nachtarbeit sich ein wenig erwärmen und vielleicht ein Stündchen hätten schlafen können, zu eng war. Alle drückten ihre große Unzufriedenheit darüber aus."Es kommen da gegen hundert Mann zusammen. Und nirgends kann man sich hinlegen. Sogar auf der Diele unter den Pritschen ist’s zu eng" sprachen unzufriedene Stimmen. "Überzeugen Sie sich selbst — es ist nicht weit"Der Raum war allerdings sehr eng. In der zehn Arschin weiten Stube konnten auf den Pritschen gegen vierzig Personen Platz finden. Einige der Arbeiter betraten mit mir die Stube, und alle beklagten sich gereizt über die Enge des Raumes."Nicht mal unter den Pritschen hat man Platz" sagten sie.Zuerst erschien es mir sonderbar, daß diese Menschen, die bei 20 Grad Kälte ohne Pelze arbeiteten, die siebenunddreißig Stunden lang Lasten von zehn Pud auf ihren Rücken schleppten und ihr Mittagessen nicht dann, wenn sie es brauchten, einnehmen konnten, sondern dann, wann es ihren Vorgesetzten gefiel, daß diese Menschen, die in jeder Hinsicht schlechter situiert waren als ein Lastpferd, nur über die Enge in ihrem Wärmeraum klagten. Zuerst erschien mir das sonderbar, aber als ich mich in ihre Lage hineindachte, begriff ich, was für ein qualvolles Gefühl diese sich nie ausschlafenden, erfrorenen Menschen empfinden müssen, wenn sie, anstatt auszuruhen und sich zu erwärmen, auf der schmutzigen Diele unter die Pritschen kriechen und dort in der stickigen, infizierten Luft, ihre Glieder nur noch mehr verrenken und lähmen.Nur in dieser qualvollen Stunde vergeblichen Suchens nach Schlaf und Ruhe fühlen sie wahrscheinlich krankhaft den ganzen Schrecken ihrer das Leben untergrabenden, siebenunddreißigstündigen Arbeit, und daher empört sie ein scheinbar so unbedeutender Umstand, wie die Enge des Raumes, ganz besonders.Nachdem ich einige Gruppen bei ihrer Arbeit beobachtet und noch mit einigen Arbeitern gesprochen hatte, wobei ich von allen einunddasselbe hörte, fuhr ich nach Hause, jetzt allerdings überzeugt, daß das, was mir mein Bekannter erzählt hatte, die lautere Wahrheit war.Es war Wahrheit, daß für ein Geld, welches nur zur notdürftigen Ernährung reichte, Menschen, die sich für frei hielten, es für notwendig fanden, sich zu einer Arbeit zu verdingen, in die während der Leibeigenschaft nicht der grausamste Sklavenbesitzer seine Sklaven geschickt hätte.Ein Sklavenbesitzer! Nein, kein Fuhrmann hätte sein Pferd dazu hergegeben, denn das Pferd kostet Geld, und es hat keinen Zweck, durch eine, über die Kräfte hinausgehende siebenunddreißigstündige Arbeit das Leben des kostbaren Tieres zu verkürzen.
Die Menschen zu einer siebenunddreißigstündigen ununterbrochenen Arbeit ohne Schlaf zu zwingen, ist gewiß nicht nur grausam, sondern auch unvernünftig. Und doch, was für eine unvernünftige Ausnutzung menschlichen Lebens geschieht unaufhörlich um uns herum.Gegenüber dem Hause, in dem ich wohne, befindet sich eine Seidenfabrik, die nach den letzten Errungenschaften der Technik eingerichtet ist. Es arbeiten und leben dort gegen dreitausend Frauen und siebenhundert Männer.Eben, wo ich an meinem Tisch sitze, höre ich das ununterbrochene Getöse der Maschinen, und ich weiß, da ich dort gewesen bin, was dieses Getöse zu bedeuten hat. Dreitausend Frauen stehen zwölf Sunden lang vor den Stühlen inmitten betäubenden Lärmes und wickeln und spinnen seidene Fäden zur Fabrikation von Seidenstoffen. Alle Frauen, mit Ausnahme der eben vom Lande gekommenen, haben ein ungesundes Aussehen. Die meisten von ihnen führen ein sehr unmäßiges und sittenloses Leben; fast alle Frauen und Mädchen schicken ihre Kinder gleich nach der Geburt ins Dorf oder ins Findelhaus, wo 80 Prozent dieser Kinder umkommen; die Mütter selbst nehmen die Arbeit am zweiten oder dritten Tage nach der Niederkunft wieder auf, um ihre Stellung nicht zu verlieren.So ließen im Laufe von zwanzig Jahren, wie ich weiß, zehntausende junger, gesunder Frauen und Mütter ihr Leben und das Leben ihrer Kinder verkümmern und lassen es auch jetzt noch verkümmern, um samtene und seidene Stoffe anzufertigen.Gestern begegnete ich einem jungen Bettler auf Krücken, von riesigem aber verkrüppeltem Wuchs. Er arbeitete mit Karren, stürzte und trug eine innere Verletzung davon. Was er hatte, verausgabte er für die Ratschläge alter Weiber und Ärzte, und jetzt ist er seit acht Jahren ohne Unterkunft, bettelt und klagt Gott an, daß er ihm nicht den Tod schickt. Und wieviele solcher verbrauchter Leben gibt es, von denen wir nichts wissen, oder von denen wir wohl wissen, die wir aber nicht beachten, da wir meinen, daß es so sein müsse.Ich kenne auf der Tulaschen Eisengießerei Arbeiter bei den Hochöfen, die, um von zwei Sonntagen einen frei zu haben, nach ihrer Tagesarbeit noch für die Nacht dableiben und vierundzwanzig Stunden nacheinander arbeiten. Ich habe diese Arbeiter gesehen. Sie trinken alle Schnaps, um die Energie aufrecht zu erhalten, und sie verbrauchen offenbar ebenso schnell, wie die Lader bei der Eisenbahn, nicht die Prozente, sondern das Kapital ihres Lebens.Und der Lebensverbrauch all der Menschen, die als schädlich bekannte Arbeiten verrichten: die Setzer und Drucker, die durch den Bleistaub infiziert werden, die Arbeiter, die in Spiegel-, Karten- Zündholz-, Zucker-, Tabak- Glasfabriken arbeiten, die Bergarbeiter, die Abortreiniger?Die statistischen Ergebnisse in England bezeugen, daß das Durchschnittsalter der höheren Klassen fünfundfünfzig Jahre, das der Arbeiter ungesunder Berufe neunundzwanzig Jahre beträgt. Es sollte doch scheinen, daß es uns, den Menschen, die diese menschenmörderische Arbeit sich zu Nutzen machen, unmöglich sein sollte, ruhig zu bleiben, wenn wir das alles wissen — und man kann nicht umhin, es zu wissen. Und doch benutzen wir wohlsituierten, liberalen und humanen Menschen, wir, die wir so zartfühlend nicht nur gegenüber den Leiden der Menschen, sondern auch der Tiere sind, und doch benutzen wir unaufhörlich diese Arbeit, bemühen uns immer reicher und reicher zu werden, d.h. immer mehr und mehr diese Arbeit in Anspruch zu nehmen, und bleiben dabei vollständig ruhig.Nachdem wir zum Beispiel von der siebenunddreißigstündigen Arbeit der Lader und von den schlechten Verhältnissen ihres Erholungsraums erfahren haben, werden wir sofort dorthin einen gutbezahlten Inspektor schicken, eine mehr als zwölfstündige Arbeit verbieten, indem wir es den um zwei Dritteln ihres Lohnes gebrachten Arbeitern anheimstellen, ihren Unterhalt, wie sie wollen, zu erwerben; wir werden ferner die Eisenbahn verpflichten, einen bequemeren und größeren Erholungsraum für die Arbeiter einzurichten, und werden dann erst mit vollständig ruhigem Gewissen diese Eisenbahn zum Empfang und zur Absendung von Waren benutzen, Gehalt, Dividende, Renten von Häusern und Gütern beziehen usw.Wenn wir aber erfahren, daß in der Seidenfabrik die fern von ihren Familien, inmitten von Verführungen lebenden Frauen und Mädchen sich und ihre Kinder zu Grunde richten, daß der größte Teil der Wäscherinnen, die unsere gestreiften Hemden bügeln und der Setzer, welche die uns zerstreuenden Bücher und Zeitungen setzen, an Schwindsucht zu Grunde gehen, zucken wir nur die Achseln und sagen, daß wir sehr bedauern, daß das so sei, daß wir aber dagegen gar nichts tun könnten. Und wir werden mit ruhigem Gewissen fortfahren, Seidenstoffe zu kaufen, gesteifte Wäsche zu tragen und des Morgens unsere Zeitung zu lesen.Wir sind sehr besorgt um die Sonntagsruhe der Handlungsgehilfen, noch mehr um die Nichtübermüdung unserer Kinder in den Gymnasien, wir verbieten den Lastfuhrleuten aufs strengste, ihre Pferde zu überlasten, wir richten sogar Schlachthöfe ein, in denen die Leiden der zum Schlachten bestimmten Tiere auf das Minimum reduziert werden sollen. Was ist denn das für eine sonderbare Umnachtung, die uns befällt, sobald es sich um die Millionen von Arbeitern handelt, die sich überall langsam und oft qualvoll zu Grunde richten durch jene Arbeiten, deren Erzeugnisse wir zu unserer Bequemlichkeit und zu unserem Vergnügen gebrauchen.
Die geistige Umnachtung der Menschen der herrschenden Kreise kann man sich nur dadurch erklären, daß die Menschen, wenn sie schlecht handeln, sich immer eine derartige Weltanschauung ersinnen, die ihre schlechten Handlungen schon nicht mehr als schlechte Handlungen erscheinen läßt, sondern als Folgen unabänderlicher, außerhalb der menschlichen Machtsphäre stehender Gesetze.Früher bestand diese Weltanschauung darin, daß ein unergründlicher und unabänderlicher Wille Gottes bestehe, der den einen eine niedere Stellung und Arbeit, den anderen eine hohe Stellung und den Genuß der Güter des Lebens bestimmt habe. Über die Grundlage dieser Weltanschauung wurde eine kolossale Menge von Büchern geschrieben und eine unzählige Masse von Predigten gehalten. Diese Grundlagen wurden von den verschiedensten Seiten bearbeitet. Es wurde bewiesen, daß Gott verschiedene Menschen erschaffen habe — Sklaven und Herren. Und die einen und die anderen müßten mit ihrem Schicksal zufrieden sein. Dann wurde bewiesen, daß die Sklaven es in jener Welt besser haben würden. Später wurde erklärt, wenn die Sklaven auch Sklaven seien und solche bleiben müßten, so könne ihre Lage nicht übel sein, wenn die Herren ihnen gegenüber gnädig wären. Und endlich, schon nach Aufhebung der Sklaverei, war die letzte Erklärung die, daß der Reichtum von Gott den einen Menschen gegeben sei, damit sie einen Teil desselben für Wohltaten verwendeten, und daß dann der Reichtum der einen und die Armut der anderen nichts Schlimmes mehr seien.Diese Erklärungen befriedigten die Armen sowohl, als auch die Reichen, besonders aber die Reichen, sehr lange. Aber es kam eine Zeit, wo sich diese Erklärungen als unzureichend erwiesen, besonders für die Armen, die anfingen, sich ihrer Lage bewußt zu werden. Und da zeigte sich das Bedürfnis nach neuen Erklärungen. Sie erschienen auch gerade zur rechten Zeit.Diese neuen Erklärungen präsentierten sich in Gestalt einer Wissenschaft - der Nationalökonomie, die behauptet, daß sie die Gesetze gefunden habe, denen zufolge sich unter den Menschen die Arbeit und die Nutznießung ihrer Erzeugnisse verteile. Diese Gesetze bestehen nach der Lehre jener Wissenschaft darin, daß die Verteilung der Arbeit und deren Ausnützung von der Nachfrage und dem Angebot abhängt, von dem Kapital, der Rente, dem Lohn, den Werten, dem Gewinn usw., überhaupt also von unabänderlichen Gesetzen, die die wirtschaftliche Tätigkeit der Menschen bedingen.Über dieses Thema wurden in kurzer Zeit nicht wenige Bücher und Broschüren verfaßt und nicht wenige Vorträge und Vorlesungen gehalten, als über das frühere Thema Traktate geschrieben und theologische Predigten gehalten worden waren; und auch jetzt werden darüber unaufhörlich Berge von Broschüren geschrieben und Vorlesungen gehalten. Und alle diese Broschüren und Vorlesungen sind ebenso nebelig und schwer verständlich, wie die theologischen Traktate und Predigten und erfüllen, ebenso wie diese vollkommen den gewollten Zweck: sie geben für die bestehende Ordnung der Dinge eine Erklärung, die es dem einen Teil der Menschen gestattet, ruhig seine Zeit ohne Arbeit zu verbringen und sich die Tätigkeit anderer Menschen zunutze zu machen.Wenn nun für die Forschungen dieser vermeintlichen Wissenschaft nicht die Lage der Menschen der ganzen Welt und der ganzen historischen Zeit als Grundlage genommen wurde, sondern die Lage der Menschen in dem kleinen, in durchaus exzeptionellen Verhältnissen befindlichen England am Ende des vorigen und zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts, — so hinderte das die Anerkennung der Richtigkeit der Schlüsse, zu denen die Forscher gelangt waren, durchaus nicht, ebensowenig wie dieses jetzt die endlosen Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten der Vertreter dieser Wissenschaft hindert, die Streitigkeiten über den Begriff der Rente, des Wertes, des Gewinnes usw.Nur die eine Grundthese dieser Wissenschaft wird von allen anerkannt: die menschlichen Beziehungen werden nicht dadurch bestimmt, was die Menschen für gut oder schlecht halten, sondern dadurch, was den Menschen vorteilhaft erscheint, die sich in einer vorteilhaften Lage befinden.Es ist als unantastbare Wahrheit erkannt worden, wenn sich in der Gesellschaft viele Räuber und Diebe zeigen, die den arbeitenden Menschen die Erzeugnisse ihrer Arbeit wegnehmen, so kommt dieses nicht daher, daß die Räuber und Diebe schlecht handeln, sondern daher, daß dies die unabänderlichen wirtschaftlichen Gesetze sind, die sich nur durch eine langsame, von der Wissenschaft festgesetzte Evolution ändern können. Und daher können, nach der Lehre der Wissenschaft, die Räuber, Diebe und Hehrer, die von Raub und Diebstahl leben, ruhig im Genießen des Gestohlenen und Geraubten fortfahren.Wenn auch die Mehrzahl der Menschen unserer Welt diese beruhigenden Erklärungen der Wissenschaft in ihren Einzelheiten nicht kennt - wie auch die früheren Menschen die Einzelheiten der theologischen Erklärungen, die ihre Lage rechtfertigten, nicht kannten -, so wissen doch alle, daß diese Erklärungen existieren, daß gelehrte und kluge Menschen unzweifelhaft bewiesen haben und fortfahren zu beweisen, daß die jetzige Ordnung der Dinge so sei, wie sie sein müsse und daß man daher bei dieser Ordnung der Dinge ruhig weiter leben könne, ohne sie ändern zu wollen.Nur so kann ich mir jene sonderbare Umnachtung erklären, in der sich die guten Menschen unserer Gesellschaft befinden, die aufrichtig das Wohl der Tiere wünschen, aber mit ruhigem Gewissen das Leben ihrer Brüder aufzehren.
Die Theorie, es sei Gottes Wille, daß die einen Menschen über die anderen herrschen sollen, beruhigte sehr lange die Menschen. Aber diese Theorie, indem sie die Grausamkeiten der Menschen rechtfertigte, führte die Grausamkeit bis zu dem höchsten Maße und rief dadurch eine Reaktion hervor und Zweifel an der Richtigkeit der Theorie.So ist es auch jetzt mit der Theorie, daß die wirtschaftliche Evolution sich nach unabänderlichen Gesetzen vollzieht, denen zufolge die einen Menschen Vermögen ansammeln müssen, die anderen dagegen das ganze Leben hindurch für die Vergrößerung dieser Vermögen zu arbeiten haben, indem sie sich zu der ihnen versprochenen Kommunalisierung der Produktionswerkzeuge vorbereiten. Diese Theorie, die eine noch größere Grausamkeit der einen Menschen den anderen gegenüber hervorruft, beginnt ebenfalls, besonders unter einfachen, durch die Wissenschaft nicht hypnotisierten Menschen, einige Zweifel an ihrer Richtigkeit hervorzurufen.Sie sehen z.B. die Lader, die ihr Leben durch siebenunddreißigstündige Arbeit verkürzen, oder die Frauen in der Fabrik, oder die Wäscherinnen, oder die Setzer, oder alle die Millionen von Menschen, die in den drückenden, widernatürlichen Verhältnissen eintöniger, verdummender Fronarbeit leben, und sie fragen sich natürlich: was hat diese Menschen in diese Lage gebracht und wie könnte man sie davon befreien? Und die Wissenschaft antwortet ihnen, daß sich diese Leute deswegen in solcher Lage befinden, weil die Eisenbahn einer gewissen Gesellschaft, die Seidenfabrik einem gewissen Herrn gehört, und weil überhaupt alle Fabriken, Druckereien, Waschanstalten Kapitalisten gehören. Die Besserung dieser Lage aber wird dadurch erzielt werden, daß die Arbeiter sich zu Parteien und Gewerkschaften zusammenschließen und durch Streiks und Anteilnahme an dem Regieren der Staaten immer mehr und mehr auf die Arbeitgeber und die Regierungen einwirken werden und so anfangs eine Herabsetzung der Arbeitszeit und Erhöhung des Lohnes erreichen werden. Dann aber wird die Folge, daß sämtliche Produktionswerkzeuge in ihre Hände übergehen und alles wird gut sein; jetzt aber geht alles, wie es gehen muß und jede Einmischung ist überflüssig.Diese Antwort kann ungelehrten Leuten und besonders uns Russen nicht anders als sehr sonderbar erscheinen.Erstens erklärt der Umstand, daß die Produktionswerkzeuge den Kapitalisten gehören, gar nichts, weder in Bezug auf die Lader und die Frauen in der Seidenfabrik, noch in Bezug auf all die Millionen anderer Arbeiter, die unter der schweren, ungesunden und verdummenden Arbeit leiden. Die Produktionswerkzeuge, die Ackerbaugeräte jener Arbeiter, die jetzt bei der Eisenbahn als Lader beschäftigt werden, haben sich die Kapitalisten durchaus nicht angeeignet: diese Arbeiter besitzen Land, Pferde, Pflüge, Eggen und alles, was zum Ackerbau nötig ist; ebenso sind die Fabrikarbeiterinnen zu ihrer Arbeit durchaus nicht dadurch gezwungen worden, daß man ihnen etwa die Produktionswerkzeuge genommen hat, sondern, im Gegenteil, — sie verlassen, meistenteils gegen den Willen ihrer älteren Familienmitglieder, ihre Häuser, wo ihre Arbeit sehr nötig ist und wo es ihnen ganz und gar nicht an Produktionswerkzeugen fehlt. In ebensolcher Lage befinden sich Millionen von Arbeitern in Rußland und in anderen Ländern. So kann denn die Ursache der traurigen Lage der Arbeiter durchaus nicht in der Besitzergreifung der Produktionswerkzeuge durch die Kapitalisten erblickt werden. Die Ursache muß dieselbe sein, die die Menschen aus den Dörfern, von ihrem Lande vertreibt.Dieses erstens.Zweitens aber kann die Befreiung der Arbeiter aus dieser Lage — auch nicht einmal in jener fernen Zukunft, in welcher die Wissenschaft diese Befreiung verspricht — weder durch die Verminderung der Arbeitszeit, noch durch die Erhöhung der Löhne, noch durch die versprochene Verstaatlichung der Produktionswerkzeuge erreicht werden.Alles dieses kann die Lage der Arbeiter aus dem einfachen Grunde nicht verbessern, weil das Elend der Arbeiter auf der Eisenbahn, in der Seidenfabrik und in jedem anderen größeren Etablissement nicht in der größeren oder geringeren Arbeitszeit besteht (die Landwirte arbeiten oft achtzehn von vierundzwanzig Stunden und zuweilen fast sechsunddreißig Stunden hintereinander und fühlen sich dabei glücklich), nicht in dem geringen Lohne und nicht darin, daß die Eisenbahn oder die Fabrik nicht ihnen gehören, sondern darin, daß die Arbeiter gezwungen sind, unter den unnatürlichen und häufig für das Leben gefährlichen Bedingungen des städtischen Kasernenlebens zu arbeiten, und inmitten von Verführungen und Unsittlichkeit eine fremde und erzwungene Arbeit zu Verrichten.In der letzten Zeit wurde die Stundenzahl der Arbeit vermindert und der Arbeitslohn erhöht, aber diese Verminderung der Arbeitszeit und die Erhöhung des Lohnes hat die Lage der Arbeiter nicht verbessert. Wenn man darunter nicht ihre luxuriöseren Lebensgewohnheiten versteht — Uhren und Uhrketten, seidene Tücher, Tabak, Schnaps, Fleisch, Bier und so weiter —, sondern ihren wahren Wohlstand, d.h. ihre Gesundheit und Sittlichkeit und vor allem ihre Freiheit.In der mir bekannten Seidenfabrik arbeiteten vor zwanzig Jahren hauptsächlich Männer. Sie arbeiteten vierzehn Stunden und verdienten durchschnittlich etwa fünfzehn Rubel und schickten, was ihnen übrig blieb, ihren Angehörigen aufs Land. Jetzt sind dort fast nur Frauen beschäftgt; sie arbeiten elf Stunden und manche verdienen bis zu fünfundzwanzig Rubel monatlich, im Durchschnitt aber mehr als fünfzehn Rubel. Das Geld schicken sie nicht mehr nach Hause, sondern geben es in der Stadt aus, hauptsächlich für Putz, Trunk und andere Laster. Die Verminderung der Arbeitszeit aber erhöht nur die Zeit, die in den Wirtschaften verbracht wird.Dasselbe findet mehr oder weniger auch in allen anderen Fabriken und industriellen Etablissements statt. Überall, trotz der Herabsetzung der Arbeitszeit und der Erhöhung des Verdienstes, verschlechtert sich im Vergleich zum Landleben der Gesundheitszustand, vermindert sich das Durchschnittslebensalter und geht die Sittlichkeit verloren, wie das bei der Loslösung von den die Sittlichkeit am meisten fördernden Elementen — von dem Familienleben und einer freien, gesunden, mannigfaltigen, intelligenten Arbeit — auch gar nicht anders sein kann.Es ist sehr leicht möglich, daß, wie die Nationalökonomen behaupten, mit der Herabsetzung der Arbeitszeit, der Erhöhung des Lohnes, der Verbesserung der sanitären Zustände in den Fabriken die Gesundheit der Arbeiter und ihre Sittlichkeit zu einem höheren Niveau gelangen, als es früher der Fall gewiesen war. Es ist sogar auch möglich, daß die Lage der Fabrikarbeiter in der letzten Zeit und in einigen Gegenden äußerlich eine bessere geworden ist, als die der Landbevölkerung. Aber in den einzelnen Ländern oder Gegenden, wo das eingetreten ist, kommt es nur daher, weil die Regierung und die Gesellschaft unter dem Einfluß der Wissenschaft alles mögliche zur Verschlechterung der Lage der Landbevölkerung und zur Verbesserung der Lage der Fabrikarbeiter tun.Wenn die Lage der Fabrikarbeiter in einigen Gegenden auch besser ist — aber auch nur in äußerer Hinsicht — als die der Landarbeiter, so beweist dieser Umstand höchstens, daß man durch allerlei Bedrückungen auch die beste Lebenslage zu einer jammervollen gestalten kann, und daß es keine noch so unnatürliche und schlimme Lebenslage gibt, in die sich der Mensch nicht hineinfinden und hineingewöhnen könnte, wenn er in ihr mehrere Geschlechter hindurch verbleibt.Das Elend der Lage des Fabrik- und überhaupt des Stadtarbeiters besteht nicht darin, daß er lange arbeitet und wenig verdient, sondern darin, daß er der natürlichen Lebensbedingungen inmitten der Natur, seiner Freiheit verlustig geht und zu einer unfreiwilligen, fremden und einförmigen Arbeit gezwungen wird.Und daher kann die Antwort auf die Fragen, warum die Lage der Stadt- und Fabrikarbeiter eine elende ist und wie dem abgeholfen werden könnte, durchaus nicht die sein, daß das daher käme, daß die Kapitalisten sich der Produktionswerkzeuge bemächtigt hätten, und daß die Lage der Arbeiter durch Herabsetzung der Arbeitszeit, Erhöhung des Lohnes und Kommunalisierung der Produktionswerkzeuge verbessert werden würde; all das kann die Antwort auf die Frage nicht sein.Die Antwort auf diese Fragen muß in der Nennung der Ursachen bestehen, die die Arbeiter um die natürlichen Lebensbedingungen inmitten der Natur gebracht und sie in die Fabriksklaverei getrieben haben, und in der Nennung der Mittel, die Arbeiter von der Notwendigkeit zu befreien, ihr freies Landleben gegen die Sklaverei der Fabriken einzuwechseln.Und daher enthält die Frage, warum die Arbeiter in der Stadt sich im Elend befinden, vor allen Dingen die Frage, welche Ursachen diese Menschen vom Lande vertrieben haben, wo sie oder ihre Vorfahren gelebt haben und leben könnten, und wo bei uns in Rußland noch jetzt solche Leute leben, und die Frage, was sie gegen ihren Willen in die Fabriken getrieben hat und heute treibt.Wenn es aber auch solche Arbeiter gibt, die, wie in England, Belgien, Deutschland, schon mehrere Geschlechter hindurch in den Fabriken leben, so führen auch diese ein solches Leben nicht aus freiem Willen, sondern weil ihre Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern durch irgend etwas gezwungen worden waren, das Ackerbauleben, das sie liebten, gegen das Leben in Städten und Fabriken einzutauschen, das ihnen schwer erschien.Die Landbevölkerung wurde zuerst ihres Landes beraubt, sagt Karl Marx, vertrieben und zum Vagabundenleben gezwungen, und dann wurde sie, zufolge grausamer Gesetze, mit Zangen, glühendem Eisen und Peitschen gemartert, um sie den Forderungen der Privatarbeit unterzuordnen.Und daher scheint mir die Frage, wie man die Arbeiter aus ihrer elenden Lage befreien könnte, ganz von selbst auf die Frage hinauszukommen, wie man die Ursachen beseitigen soll, die diese Menschen aus der Lage, die sie für eine gute hielten und halten, entweder schon vertrieben haben oder noch vertreiben wollen und sie in eine Lage treiben, die sie für eine schlechte hielten und halten.Die Nationalökonomie aber weist zwar unter anderem auch auf die Ursachen hin, die die Arbeiter vom Lande vertrieben haben, beschäftigt sich jedoch nicht mit der Aufgabe, diese Ursachen zu beseitigen, sondern wendet ihre ganze Aufmerksamkeit der Verbesserung der bestehenden Lage der Arbeiter in den Fabriken zu, als nehme sie an, daß die Lage der Arbeiter in diesen Fabriken etwas Unabänderliches sei, etwas, das durchaus bestehen bleiben müsse für jene, die schon in den Fabriken sind, und das diejenigen, die das Land und den Ackerbau noch nicht verlassen haben, seinerzeit ereilen müßte.Obgleich alle Weisen und Poeten der Welt immer nur in den Verhältnissen des Ackerbaulebens die Verwirklichung des Ideals menschlichen Glückes gesehen haben; obgleich alle Arbeiter mit noch nicht verdorbenen Gewohnheiten immer den Ackerbau jeder anderen Arbeit vorgezogen haben und vorziehen; obgleich die Fabrikarbeit immer ungesund und eintönig, die Feldarbeit aber die gesündeste und mannigfaltigste ist; obgleich die Feldarbeit immer eine freie ist, bei der der Arbeiter je nach seinem Willen Ruhe und Arbeit wechseln kann, die Fabrikarbeit aber, selbst wenn die Fabriken das Eigentum der Arbeiter wären, immer eine unfreie, von den Maschinen abhängige ist; obgleich die Fabrikarbeit eine abgeleitete ist, die Feldarbeit aber die Grundform der Arbeit darstellt, ohne welche die Fabriken überhaupt nicht existieren könnten, — so ist die Nationalökonomie doch derart von der Notwendigkeit überzeugt, daß alle Landarbeiter den städtischen Fabrikstand passieren müssen, daß sie behauptet, die Landleute litten alle nicht nur nicht unter dem Übergang vom Dorf- zum Stadtleben, sondern sie strebten selbst danach und wünschten sich dieses Leben.
Wie falsch ohne Zweifel die Behauptung der Vertreter der Wissenschaft auch ist, das Wohl der Menschheit müsse in etwas bestehen, was dem menschlichen Gefühl tief zuwider ist, — in der eintönigen, zwangsweisen Fabriksarbeit — so mußten die Vertreter der Wissenschaft zu dieser offenbar falschen Behauptung dennoch notwendigerweise kommen, ebenso wie die Theologen auch notwendigerweise zu der ebenso falschen Behauptung kommen mußten, daß die Sklaven und die Herren verschiedenartige Wesen seien und daß die Ungleichheit ihrer Lage in dieser Welt im Jenseits kompensiert werden würde.Die Ursache der offenbar falschen Behauptung ist die, daß die Menschen, die die Satzungen der Wissenschaften feststellten und feststellen, zu den wohlhabenden Klassen gehören und sich so an die vorteilhaften Lebensbedingungen, in denen sie sich befinden, gewöhnt haben, daß sie den Gedanken, die Gesellschaft könnte auch außerhalb dieser Bedingungen existieren, gar nicht zulassen.Die Lebensbedingungen aber, an die die wohlhabenden Klassen gewöhnt sind, bestehen vor allem in der reichlichen Produktion der verschiedensten, der Bequemlichkeit und dem Vergnügen dienenden Gegenständen, einer Produktion, die nur dank der jetzt bestehenden Fabriken und nur bei der jetzigen Organisation derselben in solcher Fülle möglich ist. Und daher setzen die zu den wohlhabenden Klassen gehörenden Vertreter der Wissenschaft, wenn sie von der Verbesserung der Lage der Arbeiter reden, immer nur solche Verbesserungen voraus, bei denen die Fabriksproduktionen und daher auch die ihnen zu Gute kommenden Bequemlichkeiten des Lebens dieselben bleiben.Selbst die aller vorgeschrittensten Gelehrten, die Sozialisten, setzen immer voraus, wenn sie die Übergabe der Produktionjswerkzeuge an die Arbeiter verlangen, daß in denselben oder in ebensolchen Fabriken und bei der nämlichen Arbeitsteilung, immer dieselben oder fast dieselben Gegenstände produziert werden, wie sie jetzt gemacht werden.Der Unterschied soll nach ihrer Vorstellung darin bestehen, daß dann nicht nur sie allein, sondern alle Menschen dieselben Bequemlichkeiten genießen werden, die jetzt ihnen allein zu Gute kommen. Dunkel stellen sie sich vor, daß bei der Verstaatlichung der Arbeitswerkzeuge auch sie, die Männer der Wissenschaft und überhaupt der regierenden Klassen, ebenfalls an den Arbeiten teilnehmen werden, aber hauptsächlich als Leiter, als Zeichner, Gelehrte, Künstler. Wer aber in Maulkörben die Wismutschminke fabrizieren wird, wer die Heizer, Bergarbeiter und Kloakenarbeiter sein werden, davon schweigen sie entweder, oder nehmen an, daß die technischen Hilfsmittel so vervollkommnet sein werden, daß dann die Arbeit in den Kloaken und in den Berggruben zu einer angenehmen Beschäftigung werden wird. So stellen sie sich das wirtschaftliche Leben in Utopien, wie die von Bellamy und in wissenschaftlichen Traktaten vor.Ihrer Theorie nach, sollten sich die Arbeiter blos zu Gewerkschaften vereinigen, sich zur Solidarität erziehen und durch Vereine, Strikes und Vertretung in den Parlamenten endlich soweit kommen, daß sie alle Produktionswerkzeuge, auch den Grund und Boden, ihrem Staat übertragen. Und dann werden sie sich so gut nähren, so gut kleiden, an Sonntagen derartige Vergnügungen haben, daß sie das Leben in der Stadt zwischen Steinen und Essen dem Landleben in freier Natur zwischen Pflanzen und Haustieren vorziehen werden, daß ihnen die eintönige Maschinenarbeit nach dem Glockensignal angenehmer sein wird, als die mannigfaltige, gesunde und freie Arbeit des Bauern.Obgleich diese Annahme ebensowenig wahrscheinlich ist, wie die Annahme der Theologen bezüglich des Paradieses, welches im Jenseits den Arbeitern dafür zu Teil wird, daß sie sich in dieser Welt mit Arbeit abgequält haben, so glauben kluge und gebildete Menschen unserer Gesellschaft dennoch an diese seltsame Lehre, ebenso wie die früheren Gelehrten und Gebildeten an das Arbeiterparadies glaubten.Es glauben aber die Gelehrten und ihre Schüler — meist Leute aus den wohlhabenden Klassen — darum an diese Lehre, weil sie garnicht anders können. Vor ihnen steht das Dilemma: entweder sie müssen begreifen, daß alles, was sie im Leben benutzen, von der Eisenbahn an bis zu den Zündhölzchen und Zigaretten, die viele Menschenleben kostende Arbeit ihrer Brüder ist, und daß sie selbst, indem sie an dieser Arbeit nicht teiltnehmen, wohl aber dieselbe ausnutzen, sehr unehrliche Menschen sind; oder aber sie müssen daran glauben, daß alles, was geschieht, zufolge unabänderlicher Gesetze der Nationalökonomie zum allgemeinen Wohle geschieht.Darin besteht jener psychologische Grund, der gelehrte, kluge und gebildete, aber nicht aufgeklärte Männer zwingt, mit Zuversicht und Beharrlichkeit eine so offenbare Unrichtigkeit zu behaupten, wie die, daß es für das Wohl der Arbeiter besser sei, ihr glückliches und gesundes Leben im Schoße der Natur zu verlassen, um ihre Körper und ihre Seelen in den Schlund der Fabriken zu werfen.
Aber wenn 'man auch die offenbar unrichtige und aller Eigenart der menschlichen Natur zuwiderläufende Behauptung zugibt, daß es die Menschen besser haben würden, in Städten zu leben und in Fabriken eine unfreiwillige Maschinenarbeit zu verrichten, als auf dem Lande eine freie Handarbeit auszuführen, wenn man das auch zugibt, so enthält dann jenes Ideal, zu dem der Lehre der Wissenschaft nach die wirtschaftliche Evolution führen soll, einen inneren Widerspruch, der unmöglich gelöst werden kann.Dieses staatssozialistische Ideal besteht darin, daß die Arbeiter glauben, wenn sie dem durch sie zur Macht gebrachten Staat alle Produktionsmittel übergeben, durch ihn zu Besitzern der Produktionswerkzeuge gemacht zu sein, und daß dann sie alle die Bequemlichkeiten und Vergnügungen genießen werden, die jetzt nur wohlhabende Leute genießen. Alle werden sich gut kleiden, alle werden gut wohnen, sich gut nähren, alle werden bei elektrischer Beleuchtung auf Asphalt spazieren, Konzerte und Theater besuchen, Zeitungen und Bücher lesen, in Automobilen fahren usw. Und alles das wird der sozialistische Staat für sie besorgen!Aber um gewisse Gegenstände der Benutzung allen zugänglich zu machen, muß man die Produktion der gewünschten Gegenstände festsetzen, also auch festsetzen, wie viel Zeit jeder Arbeiter zu arbeiten hat. Wie soll das festgesetzt werden?Die statistischen Ergebnisse können — und auch das nur unvollkommen — die Bedürfnisse der Menschen, einer durch Kapitalismus, Konkurrenz und Not gefesselten Gesellschaft, festsetzen; aber keine statistischen Zahlen werden uns sagen können — wieviel und was für Gegenstände man zur Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen einer solchen Gesellschaft brauchten wird, in der die Produktionswerkzeuge der staatssozialistischen Gesellschaft selbst gehören werden, einer Gesellschaft, die also angeblich aus freien Menschen bestehen wird.Die Bedürfnisse einer solchen staatssozialistischen Gesellschaft wird man ganz und gar nicht festsetzen können, denn die Bedürfnisse einer solchen Gesellschaft werden immer unzählige Mal größer sein, als die Möglichkeit des sozialistischen Staates, sie zu befriedigen. Jeder wird sich alles das Wünschen, was jetzt nur die Allerreichsten haben, und daher wird es unmöglich sein, die Anzahl der für eine solche Gesellschaft nötigen Gegenstände festzusetzen. (3)Außerdem: Wie soll man die Menschen zur Anfertigung von Gegenständen veranlassen, die die einen für nötig, die anderen für unnütz und sogar schädlich halten werden? Wenn es eruiert wird, daß zur Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft jeder, wenn auch nur sechs Stunden täglich arbeiten muß, wer wird dann ein Mitglied einer freien Gesellschaft zwingen können, wenn der Mensch weiß, daß ein Teil dieser Stunden zur Produktion von Gegenständen aufgeht, die er für unnütz oder sogar schädlich hält?Es ist kein Zweifel, daß bei der jetzigen Gestaltung der Gesellschaft, dank der Maschinen und vor allem der Arbeitsteilung, mit großer Ökonomie der Kraft außerordentlich komplizierte und bis zum höchsten Grade der Vollkommenheit gebrachte verschiedenartige Gegenstände fabriziert werden, deren Produktion den Fabrikanten sehr vorteilhaft und deren Benutzung uns sehr bequem und angenehm ist. Daß aber diese Gegenstände an sich sehr gut und mit geringem Kraftaufwand gearbeitet sind, daß sie den Kapitalisten vorteilhaft sind und daß wir sie für notwendig halten, beweist noch nicht, daß auch freie Leute ohne Zwang fortfahren würden, diese Gegenstände anzufertigen.Es ist kein Zweifel, daß Krupp bei der jetzigen Arbeitsteilung sehr schnell und geschickt ausgezeichnete Kanonen herstellt, ebenso schnell und geschickt bunte Seidenzeuge, SS— Parfums, Atlaskarten, den Teint erhaltenden Puder, Pochow — vorzüglichen Schnaps usw., und daß dieses sowohl für die Konsumenten dieser Artikel, als auch für die Fabriksbesitzer sehr vorteilhaft ist.Aber die Kanonen, Parfüms und Schnäpse erscheinen nur denen wünschenswert, die die chinesischen Märkte gewinnen wollen oder den Trunk lieben, oder mit der Erhaltung ihres Teints beschäftigt sind; es wird jedoch auch Leute geben, die die Fabrikation dieser Gegenstände für schädlich halten werden. Und wenn man auch diese Gegenstände beiseite läßt, so wird es immer Leute geben, die finden werden, daß Ausstellungen, Akademien, Bier und Fleisch unnütz und sogar schädlich sind. Wie soll man diese Menschen zwingen, an der Herstellung derartiger Gegenstände teilzunehmen?Aber wenn die Menschen sogar ein Mittel ausfindig machen sollten, das Einverständnis aller zur Herstellung gewisser Gegenstände zu erlangen — wenn schon es ein solches Mittel nicht gibt und nicht geben kann, es sei denn der Zwang (4) — wer soll denn in einer freien Gesellschaft, ohne Konkurrenz oder Angebot und Nachfrage, wer soll es denn bestimmen, welcher Produktion die Kräfte vorzugsweise zugeführt werden sollen: was zuerst, was später gemacht werden soll? Soll man zuerst die Sibirische Eisenbahn bauen und dann Port Arthur befestigen und dann erst auf dem flachen Lande Chausseen anlegen, oder umgekehrt? Was soll man zuerst einrichten: elektrische Beleuchtung oder Felderberieselung?Und dann kommt noch die, bei der Freiheit der Arbeiter unlösbare Frage: wie sollen die einzelnen Arbeiten verteilt werden? Es ist klar, daß es jedermann angenehmer sein wird, sich mit Wissenschaften zu beschäftigen oder zu zeichnen, als Heizer oder Kloakenreiniger zu sein. Wie soll man diese Verteilung zur allgemeinen Zufriedenheit ausführen?Auf diese Fragen kann keine Statistik eines sozialistischen Staates eine Antwort geben. Nur eine theoretische Lösung dieser Fragen ist möglich: es werden Leute da sein, denen die Macht gegeben sein wird, über alles das zu verfügen. Die einen Menschen werden diese Frage lösen, und die anderen werden gehorchen.Aber außer der Verteilung und der Richtung der Produktion und der Wahl der Arbeit, tritt bei der Verstaatlichung der Produktionswerkzeuge noch eine und die allerwichtigste Frage auf; die Frage, wie weit die Arbeitsteilung in einer staatssozialistisch organisierten Gesellschaft durchzuführen sein wird?Die jetzt bestehende Arbeitsteilung basiert auf der Not der Arbeiter. Der Arbeiter ist bereit, sein ganzes Leben unter der Erde zu verbringen, oder sein Leben lang ein Hundertstel eines Gegenstandes anzufertigen, sein ganzes Leben lang mitten im Getöse der Maschinen eine einzige Armbewegung zu machen — nur weil er sonst seinen Lebensunterhalt nicht finden würde. Aber der Arbeiter, der angeblich selbst Besitzer der Produktionswerkzeuge ist und daher keine Not leidet, wird nur durch Zwang dazu zu bewegen sein, sich in die, alle Seeleneigenschaften tötenden, verdummenden Verhältnisse der Arbeitsteilung zu finden, wie sie jetzt herrscht. Die Arbeitsteilung ist ohne Zweifel sehr vorteilhaft und den Menschen auch eigentümlich. Wenn die Menschen aber frei sind, ist die Teilung der Arbeit nur bis zu einem gewissen, von unserer Gesellschaft schon längst überschrittenen Grade möglich.Wenn ein Bauer hauptsächlich das Schuhmacherhandwerk treibt, seine Frau webt, ein anderer Bauer ackert, der dritte schmiedet, und sie alle eine ausschließliche Geschicklichkeit in ihrer Arbeit erwerben und dann ihre Erzeugnisse gegenseitig austauschen, so ist eine Teilung für alle vorteilhaft, und freie Menschen werden ganz natürlich ihre Arbeit so untereinander verteilen. Aber eine Arbeitsteilung, bei welcher ein Arbeiter sein ganzes Leben lang nur den hundertsten Teil eines Gegenstandes anfertigt, oder ein Heizer in der Fabrik bei einer Temperatur von 50 Grad arbeitet, an schädlichen Gasen erstickend, — eine solche Arbeitsteilung ist für die Menschen unvorteilhaft, obgleich dabei wichtige Dinge gewonnen werden, das köstlichste Ding aber, das menschliche Leben, untergraben wird. Und daher kann eine Arbeitsteilung, wie sie jetzt existiert, nur als Folge eines Zwanges existieren.Rodbertus sagt, daß die Arbeitsteilung die Menschheit kommunistisch verbindet. Das ist richtig, aber nur eine freie Arbeitsteilung, d.h. eine solche, bei der die Menschen sich freiwillig in eine Arbeit teilen, verbindet die Menschheit. Wenn die Menschen beschlossen haben, eine Straße zu bauen, und der eine gräbt, der andere Steine herbeischafft, der dritte die Steine zerschlägt u.s.w., so verbindet eine solche Arbeitsteilung die Menschen. Aber wenn, unabhängig von dem Willen der Arbeiter, oft auch gegen ihren Willen, eine strategische Eisenbahn gebaut wird, oder der Eiffelturm, oder alle die Dummheiten, von denen die Pariser Weltausstellung voll war, errichtet werden, und der eine Arbeiter gezwungen ist, Eisen zu gewinnen, der andere Kohle zu fördern, der dritte das Eisen zu gießen, der vierte Bäume zu fällen, der fünfte sie zu behauen, ohne daß einer von ihnen auch nur die geringste Ahnung von der Bestimmung der von ihm bearbeiteten Gegenstände hat, so verbindet eine solche Arbeitsteilung nicht nur nicht die Arbeiter untereinander, sondern im Gegenteil, sie trennt sie.Und daher werden bei der Verstaatlichung der Erwerbswerkzeuge die Menschen, wenn sie frei sein werden, nur eine solche Arbeitseinteilung akzeptieren, bei der der Nutzen von der Teilung ein größerer sein wird, als der Schaden, den dieselbe den Arbeitern zufügt.Da aber jeder Mensch ganz natürlich sein Wohl in der Erweiterung und Mannigfaltigkeit seiner Tätigkeit sicht, so wird offenbar eine Arbeitsteilung, wie sie jetzt existiert, in einer freien Gesellschaft unmöglich sein.Sobald nun aber die jetzige Verteilung der Arbeit sich ändert, so wird sich auch in sehr bedeutendem Maße die Produktion der Gegenstände verringern, die wir jetzt benutzen und die, wie man annimmt, im sozialistischen Staate die ganze Gesellschaft benutzen wird.Anzunehmen, daß bei der Verstaatlichung der Produktionswerkzeuge derselbe Überfluß der Produktion durch die zwangsweise Verteilung der Arbeit erreicht werden wird, ist dasselbe, wie die Annahme, daß nach der Aufhebung der Leibeigenschaft dieselben Hausorchester, Gärten, Teppiche, Spitzen, Theater bleiben sollten, die nur durch die Ausnützung der Arbeit des Leibeigenen möglich gewesen wären. So enthält denn die Annahme einen offenbaren inneren Widerspruch, daß bei der Verwirklichung des staatssozialistischen Ideals alle Menschen frei werden und zugleich alles das, oder fast alles das besitzen werden, was jetzt die wohlhabenden Klassen genießen.
Es wiederholt sich genau dasselbe, was zur Zeit der Leibeigenschaft geschah. Wie damals die Mehrzahl der Besitzer von Leibeigenen und überhaupt die der besitzenden Klasse die Lage der Leibeigenen zwar als eine nicht ganz gute anerkannte, aber zu der Besserung derselben nur solche Änderungen vorschlug, die den hauptsächlichsten Vorteil des Gutsbesitzers nicht beeinträchtigten, — so erkennen auch jetzt die besitzenden Klassen zwar an, daß die Lage der Arbeiter eine nicht ganz gute sei, schlagen aber zur Verbesserung derselben nur solche Maßnahmen vor, die die vorteilhafte Lage der besitzenden Klassen nicht beeinträchtigen.Wie damals der wohlgesinnte Gutsbesitzer von der väterlichen Gewalt sprach und, wie Gogolj, den Gutsbesitzern anriet, gütig zu sein und für ihre Leibeigenen zu sorgen, aber den Gedanken an die Befreiung, die ihm schädlich und gefährlich erschien, überhaupt nicht zuließ, — genau ebenso rät auch jetzt die Mehrzahl der Besitzenden den Arbeitgebern an, für das Wohl ihrer Arbeiter zu sorgen, läßt aber ebenso nicht einmal den Gedanken an eine derartige Änderung der wirtschaftlichen Lage zu, die die Arbeiter vollständig frei machen könnte.Und wie damals die liberalen Fortschrittler den Stand der Leibeigenen zwar als einen unabänderlichen ansahen, aber von der Regierung die Beschränkung der herrschaftlichen Gewalt verlangten und der Aufwiegelung der Leibeigenen sympathisch gegenüberstanden, so erkennen auch die Liberalen unserer Zeit die bestehende Ordnung als eine unabänderliche an, verlangen jedoch von der Regierung eine Beschränkung der Gewalt der Kapitalisten und Fabrikanten und sympathisieren mit den Vereinen, Strikes und überhaupt jeder Bewegung unter den Arbeitern.Und wie damals die Radikalen die Befreiung der Leibeigenen forderten, diese aber dennoch von den Grundeigentümern in dieser oder jener Weise abhängig wissen wollten, so verlangen auch die jetzigen Radikalen die Befreiung der Arbeiter von den Kapitalisten, die Verstaatlichung der Produktionswerkzeuge, belassen aber dabei die Arbeiter in der Abhängigkeit von der heutigen Verteilung und Teilung der Arbeit, die ihrer Meinung nach unabänderlich bleiben müssen.Die Lehre der Nationalökonomie, zu der sich, oft ohne in die Detailis einzudringen, alle sich für gebildet und aufgeklärt haltenden und wohlhabenden Leute bekennen, erscheint bei oberflächlicher Betrachtung liberal, ja sogar radikal, indem sie die reichen Klassen der Gesellschaft angreift; ihrem Wesen nach ist aber diese Lehre im höchsten Grade konservativ, roh und grausam.So oder anders wolllen die Vertreter der Wissenschaft und mit ihnen alle wohlhaben den Klassen um jeden Preis die jetzt bestehende Distribution und Teilung der Arbeit retten, weil sie die Möglichkeit geben, jene große Anzahl von Gegenständen zu erzeugen, die ihnen zu gute kommen.Die bestehende wirtschaftliche Ordnung nennen die Vertreter der Wissenschaft und mit ihnen alle Mitglieder der wohlhabenden Klassen — Kultur, und erblicken in dieser Kultur, in den Eisenbahnen, Telegraphen, Telephonen, Photographien, Röntgenstrahlen, Kliniken, Ausstellungen, hauptsächlich aber in den Mitteln des Komforts, etwas so Geheiligtes, daß sie überhaupt den Gedanken an irgendwelche Änderungen, die alles das, oder auch nur einen geringen Teil dieser Errungenschaften vernichten könnten, nicht zulassen wollen.Alles kann man, den Lehren dieser Wissenschaft nach, ändern, aber nur nicht das, was sie die Kultur nennen. Und doch offenbart es sich immer mehr und mehr, daß diese Kultur nur dank des Zwanges der Arbeiter zur Arbeit existieren kann. Aber die Vertreter der Wissenschaft sind so überzeugt davon, daß diese Kultur das höchste der Güter sei, daß sie dreist das Gegenteil davon behaupten, was früher die Juristen sagten. Fiat justitia — pereat mundus (5) so sagte man früher: Jetzt hieißt es: fiat cultura — pereat justitia.Und es heißt nicht nur so, sondern es wird auch so gehandelt. Man kann alles sowohl in der Praxis, als auch in der Theorie ändern. Aber nur nicht die Kultur, nur nicht alles das, was in den Fabriken geschieht, und vor allem nicht, was in den Magazinen verkauft wird.Ich aber glaube, daß aufgeklärte Menschen, die sich zur christlichen Lehre von der Brüderlichkeit und Nächstenliebe bekennen, etwas ganz Entgegengesetztes sagen müßten: Die elektrische Beleuchtung, die Telephone, Ausstellungen, Konzertgärten, Schaustellungen, Zigarren, Zündholzdosen, Armbänder, Automobile — das ist alles sehr schön; aber hol das alles der Kuckuck, und nicht nur das, sondern auch alle Eisenbahnen und Fabrikstoffe der Welt, wenn es zu ihrer Herstellung nötig ist, daß neunundneunzig Hundertstell der Menschen in Sklaverei verfallen und Tausende in den dazu nötigen Werkstätten hinsiechen.Wenn es dazu, daß London und Petersburg elektrisch beleuchtet sind, oder daß man Äusstellungsgebäude erbaut, oder daß es schöne Farben gibt, oder daß schnell und viel schöne Stoffe gewebt werden, — wenn es dazu notwendig ist, daß auch nur die geringste Anzahl von Leben geopfert oder verkürzt wird (die Statistik zeigt uns aber, wieviele solcher Leben geopfert werden), so mögen London und Petersburg mit Gas oder Öl beleuchtet werden, so möge es gar keine Ausstellungen, Farben und Stoffe geben, wenn es nur keine Sklaverei gibt und keine damit verbundene Aufopferung von Menschenleben.Wahrhaft aufgeklärte Menschen werden es immer vorziehen, zu den primitivsten Beförderungsmitteln zurückzukehren, meinetwegen sogar die Erde mit Stöcken und Händen zu graben, als auf Eisenbahnen zu fahren, die regelmäßig jährlich so und so viel Menschen nur darum überfahren, weil die Besitzer der Bahnen es für vorteilhafter halten, den Familien der Getöteten Entschädigungen zu zahlen, als die Eisenbahnen so zu bauen, daß keine Menschen überfahren werden können, wie es in Chicago geschieht.Die Devise der wahrhaft aufgeklärten Menschen ist nicht: fiat cultura — pereat justitia, sondern: fiat justitia — pereat cultura.Aber die Kultur, die nützliche Kultur, wird auch gar nicht vernichtet werden. Die Menschen werden in keinem Falle zum Graben der Erde mit den Händen und zur Beleuchtung durch Kienspäne zurückkehren müssen. Nicht umsonst hat die Menschheit bei ihrer sklavischen Organisaton so große Forschritte in der Technik gemacht. Wenn nur die Menschen begreifen, daß man zu seinen Vergnügungen nicht das Leben seiner Brüder ausnützen darf, so werden sie es schon verstehen, alle Fortschritte der Technik so anzuwenden, daß dadurch nicht das Leben ihrer Brüder aufgezehrt wird. Sie werden es schon verstehen, alle die errungenen Machtmittel über die Natur so auszunützen, daß dazu die Sklaverei ihrer Bruder nicht notwendig sein wird.
Stellen wir uns einen Menschen vor, der aus völlig fremdem Lande kommt, nicht die geringste Vorstellung von unserer Geschichte und unseren Gesetzen hat, und den man fragt, nachdem man ihm unser Leben in seinen mannigfachsten Manifestationen gezeigt hat, welchen Hauptunterschied er in der Lebensweise der Menschen unserer Welt erblickte.Der Hauptunterschied in der Lebensweise der Menschen, auf den dieser Fremdling weisen wird, wird der sein, daß die einen — eine geringe Anzahl von Menschen — reine, weiße Hände haben, sich gut nähren, gut kleiden, gute Wohnungen haben, sehr wenig und leicht, oder überhaupt gar nicht arbeiten und sich nur zerstreuen und unterhalten, indem sie für Unterhaltung Millionen von schweren Arbeitstagen der anderen Menschen verausgaben. Die anderen aber, immer schmutzig, arm gekleidet, in ärmlichen Wohnungen, ärmlich genährt, mit schwieligen, schmutzigen Händen arbeiten vom Morgen bis zum Abend ununterbrochen für die, die nicht arbeiten und sich nur amüsieren.Zwischen den Skllaven und den Sklavenbesitzern unserer Zeit ist es vielleicht schwer, eine so scharfe Trennungslinie zu ziehen, wie sie früher die Sklaven von den Sklavenbesitzern trennte, und es gibt unter den Sklaven unserer Zeit auch solche, die nur zeitweilig Sklaven sind und dann selbst Sklavenbesitzer werden, oder auch solche, die zu gleicher Zeit Sklaven und Sklavenbesitzer sind. Aber diese Vermischung der einen und anderen Kategorie in ihren Berührungspunkten erschüttert in keiner Weise die Wahrheit des Satzes, daß die ganze Menschheit unserer Zeit in Sklaven und Herren ebenso scharf geteilt ist, wie sich vierundzwanzig Stunden trotz der Dämmerung in Tag und Nacht teilen.Wenn der Sklavenbesitzer unserer Zeit keinen Sklaven Iwan hat, den er in den Abort schicken kann, seine Exkremente zu entfernen, so hat er drei Rubel, welcher Hunderte von Iwans so sehr bedürfen, daß der Sklavenbesitzer unserer Zeit sich nach Belieben einen von den Hunderten auswählen kann und diesem noch dadurch eine Wohltat erweist, daß er es gerade ihm vor allen anderen erlaubt, in die Abortgrube zu steigen.Sklaven sind in unserer Zeit nicht nur alle die Fabriksarbeiter, die sich ganz und gar in die Gewalt der Fabriksherren begeben müssen, um existieren zu können, Sklaven sind auch fast alle Ackerbauern, die unermüdlich auf fremden Feldern fremdes Korn säen und ernten und ihre eigenen Felder nur dazu bebauen, um die Prozente von untilgbaren Schulden an die Banken zu zahlen. Ebensolche Sklaven sind auch alle die unzähligen Köche, Lakais, Stubenmädchen, Hausknechte, Kutscher, Badediener, Kellner usw., die ihr ganzes Leben lang die dem menschlichen Wesen fremdesten und ihnen selbst widerwärtigsten Pflichten erfüllen.Die Sklaverei besteht in ihrer vollen Kraft, aber wir erkennen sie nur nicht an, ebensowenig wie in Europa am Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Leibeigenschaft als Sklaverei anerkannt wurde. Die Menschen jener Zeit meinten, daß die Lage der Leute, die verpflichtet waren, den Acker ihrer Herren zu bebauen und ihren Herren zu gehorchen, eine natürliche und unumgängliche Lebensbedingung sei, und sie hielten diesen Zustand für keine Sklaverei.Dasselbe geschieht auch unter uns: die Menschen unserer Zeit halten die Lage der Arbeiter für eine natürliche, unumgängliche wirtschaftliche Bedingung und nennen sie nicht Sklaverei. Und wie gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Menschen in Europa allmählich zu begreifen anfingen, daß das, was früher als eine natürliche und unumgängliche Form des wirtschaftlichen Lebens erschienen war, wie die Lage der Bauern, die sich in der vollen Gewalt der Herren befanden, nicht gut, nicht gerecht, nicht moralisch sei und eine Änderung verlange, — so beginnen auch die Menschen unserer Zeit zu begreifen, daß die früher gesetzlich und normal erschienene Lage der Arbeiter nicht so sei, wie sie sein müsse, und daß sie einer Änderung bedürfe.Die Sklaverei unserer Zeit befindet sich in derselben Phase, in welcher sich gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Europa die Leibeigenschaft befand, in dem zweiten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts in Amerika die Sklaverei und um dieselbe Zeit bei uns in Rußland wiederum die Leibeigenschaft.Die Arbeitersklaverei unserer Zeit beginnt erst eben von den fortschrittlichsten Menschen unserer Gesellschaft erkannt zu werden; die meisten aber sind noch völlig überzeugt, daß unter uns überhaupt keine Sklaverei existiert. Die Menschen unserer Zeit werden in dem Mißverstehen ihrer Lage noch dadurch bestärkt, daß wir erst vor kurzem in Rußland und in Amerika die Sklaverei aufgehoben haben. In Wirklichkeit aber war die Aufhebung der Leibeigenschaft und der Sklaverei nur das Aufheben einer veralteten und unnütz gewordenen Form der Sklaverei und der Ersatz dieser Form durch eine neue, festere und eine größere Anzahl von Sklaven, als die frühere Form der Sklaverei umfaßte.Die Aufhebung der Leibeigenschaft und der Sklaverei ähnelte dem, was die Krimschen Tataren mit ihren Gefangenen machten, wenn sie ihnen die Sohlen aufschnitten und gehackte Borsten hineintaten. Nach dieser Operation pflegten sie den Gefangenen die Ketten und Fußschelten abzunehmen.Die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland und der Sklaverei in Amerika beseitigte zwar die frühere Form, aber nicht das Wesen der Sklaverei und wurde zudem erst dann vorgenommen, als die Borsten in den Sohlen schon Geschwüre gezeitigt hatten und man vollständig sicher sein konnte, daß die Gefangenen auch ohne Ketten und Schellen nicht weglaufen, sondern arbeiten würden.Die Nordstaaten Amerikas verlangten darum so kühn die Vernichtung der alten Sklaverei, weil unter ihnen die neue, die Geldsklaverei, schon offenbar das Volk umfangen hatte. Die Südstaaten erblickten noch keine sicheren Anzeichen der neuen Sklaverei und zauderten daher, die alte abzuschaffen.Bei uns in Rußland wurde die Leibeigenschaft erst dann aufgehoben, als die Ländereien schon alle annektiert waren. Wenn den Bauern aber auch einiges Land gegeben wurde, so wurden sie mit Steuern belastet, die die Bodensklaverei ersetzten.In Europa begann man die Steuern, durch die das Volk in Sklaverei gehalten wurde, erst dann aufzuheben, als das Volk schon proletarisiert, des Ackerbaus entwöhnt und durch die Ansteckung von städtischen Bedürfnissen in vollständige Abhängigkeit von den Kapitalisten versetzt worden war. Erst dann wurden in England die Getreidesteuern aufgehoben. Jetzt beginnt man in Deutschland und in anderen Ländern nur darum die Steuern von den Arbeitern auf die Reichen abzuwälzen, weil die Mehrheit des Volkes sich schon in der Gewalt der Kapitalisten befindet.Das eine Mittel der Sklaverei wird vom Staat immer nur dann beseitigt, wenn es bereits durch ein anderes ersetzt worden ist.Dieser Mittel aber gibt es mehrere. Und Wenn nicht das eine, so ist es das andere derselben, oder es sind gar mehrere zusammen, die das Volk in Sklaverei halten, d.h. es in jene Lage versetzen, in welcher der eine, kleinere Teil der Menschen die vollständige Gewalt über die Arbeit und das Leben des größeren Teiles der Menschen hat. In dieser Knechtung des größeren Teiles eines Volkes durch den kleineren, besteht eben die wichtigste Ursache der elenden Lage des Volkes.Und daher muß das Mittel zur Besserung der Lage der Arbeiter darin bestehen, daß erstens anerkannt wird, daß die Sklaverei in unserer Gesellschaft existiert — und zwar nicht in irgendeinem übertragenen, metaphorischen Sinne, sondern in dem allereinfachsten und direktesten Sinne —, eine Sklaverei, die die einen Menschen, die Mehrheit, in der Gewalt der anderen, der Minderheit, hält; daß zweitens, nachdem das Bestehen der Sklaverei zugegeben worden ist, die Ursachen der Knechtung der einen Menschen durch die anderen gefunden werden; daß drittens diese Ursachen, nachdem sie gefunden worden sind, vernichtet werden. Darin besteht das einzige Mittel zur Besserung der Lage der Arbeiter.
Worin besteht denn die Sklaverei unserer Zeit? Was und welche Kräfte machen die einen Menschen zu Sklaven der anderen?Wenn wir alle Arbeiter, sowohl in Rußland, wie auch in Europa und Amerika, sowohl in den Fabriken, wie auch in verschiedenen anderen Dienststellungen in den Städten und auf dem Lande danach fragen, was sie gezwungen habe, die Lage zu wählen, in der sie sich befinden, so werden sie alle sagen, daß sie dazu geführt hat: entweder der Umstand, daß sie kein Land hätten, auf dem sie leben und arbeiten könnten (das werden alle russischen Arbeiter und sehr viele von den europäischen sagen); oder daß man von ihnen direkte oder indirekte Steuern verlangte, die sie nicht anders zahlen könnten, als wenn sie fremde Arbeit verrichteten; oder auch noch, daß die Verführungen luxuriöserer Lebensweise, an die sie stich gewöhnt hätten, und die sie nur durch den Verkauf ihrer Arbeit und ihrer Freiheit bestreiten könnten, sie in den Fabriken zurückhielten.Die beiden ersten Umstände, der Mangel an Land und die Steuern, treiben gleichsam den Menschen in die unfreie Lage, der dritte Umstand — die unbefriedigten erhöhten Bedürfnisse locken ihn in diese Lage und halten ihn dann in derselben zurück.Man kann sich nach dem Projekt Henry Georges die Befreiung des Bodens von dem Rechte persönlichen Eigentums vorstellen, und somit die Beseitigung des ersten Umstandes der die Menschen in die Sklaverei treibt — des Mangels an Land. Man kann sich auch die Aufhebung der Steuern vorstellen, ihre Überwälzung auf die Reichen, wie das jetzt in einigen Ländern auch geschieht.Aber eines kann man sich nichht vorstellen: daß bei der jetzigen wirtschaftlichen Lage ein Zustand möglich Wäre, bei dem unter den reichen Menschen nicht immer luxuriöse und luxuriösere, oft schädliche Gewohnheiten um sich greifen und dann nicht unaufhaltsam unfehlbar wie das Wasser in die trockene Erde, in die mit den Reichen in Berührung kommenden Arbeiterklassen eindringen würden. Dieses kann man sich nicht vorstellen. Unaufhaltsam schreitet der Luxus fort, infiziert zuerst die Wohlhabenden und wird dann auch zum Bedürfnis, zu dessen Befriedigung die Arbeiter bereit sind, ihre Freiheit zu verkaufen.So bildet denn dieser dritte Umstand, ungeachtet seiner Willkürlichkeit — denn man sollte doch meinen, daß der Mensch den Verführungen auch widerstehen könnte —, ungeachtet dessen, daß die Wissenschaft ihn garnicht als eine Ursache des Elends der Arbeiter anerkennt, so bildet denn dieser dritte Umstand dennoch die hartnäckigste und unbezwingbarste Ursache der Sklaverei.Die Arbeiter, die in der Nähe von reichen Leuten leben, werden immer durch neue Bedürfnisse angesteckt und können diese Bedürfnisse nur in dem Maße befriedigen, in dem sie für diese Befriedigung die angestrengteste Arbeit hingeben. Sodaß die Arbeiter in England und Amerika, die oft zehnmal mehr erhalten, als zur Existenz nötig ist, fortfahren, ebensolche Sklaven zu bleiben, wie sie es früher waren.Drei Ursachen erzeugen, nach der Erklärung der Arbeiter selbst, die Sklaverei, in der sie sich befinden; und die Geschichte der Knechtung der Arbeiter, als auch die Tatsache ihrer jetzigen Lage bestätigen die Richtigkeit dieser Erklärung.Alle Arbeiter sind in ihre gegenwärtige Lage gebracht und werden in derselben erhalten durch diese drei Ursachen. Diese Ursachen sind, indem sie auf die Menschen von verschiedenen Seiten einwirken, derart, daß kein Mensch sich ihrer Einwirkung entziehen kann.Der Ackerbauer, wenn er gar kein Land hat oder nicht im nötigen Umfange, wird immer gezwungen sein, um sich von dem Lande ernähren zu können, sich in ständige oder zeitweilige Sklaverei derer zu begeben, die im Besitze des Landes sind.Wenn er aber auf diese oder jene Weise sich so viel Land beschafft, daß er imstande wäre, sich auf demselben durch seine Arbeit zu ernähren, so werden von ihm auf direktem Wege soviel Steuern verlangt werden, daß er zu deren Zahlung wieder gezwungen sein wird, sich in Sklaverei zu begeben.Wenn er aber, um sich von der Sklaverei auf dem Lande zu befreien, aufhört, das Land zu bebauen und, auf fremdem Lande lebend, sich mit einem Handwerk zu beschäftigen anfängt, indem er für seine Erzeugnisse die Gegenstände, die er braucht, eintauscht, so werden ihn einerseits die Steuern, andererseits die Konkurrenz der Kapitalisten, die dieselben Gegenstände wie er mit vervollkommten Werkzeugen produzieren, dazu zwingen, sich in ständige oder zeitweilige Abhängigkeit zu dem Kapitalisten zu begeben.Wenn er aber bei dem Kapitalisten arbeitet, nur zu diesem in ein Verhältnis treten könnte, bei welchem er sich seiner Freiheit nicht zu begeben brauchte, so würden ihn doch die sich unabweisbar aufdrängenden neuen Gewohnheiten und Bedürfnisse über kurz oder lang dazu zwingen, auf diese Freiheit zu verzichten.So wird denn der Arbeiter so oder anders immer in die Sklaverei jener Menschen geraten, die über die Steuern, den Boden und die Gegenstände verfügen, die zur Befriedigung seiner Bedürfnisse notwendig sind.
Die deutschen Sozialisten haben die Gesamtheit aller Ursachen, die die Arbeiter unter die Gewalt der Kapitalisten stellen, das eiserne Gesetz des Arbeitslohnes genannt, indem sie mit der Bezeichnung "eisern" sagen wollen, daß dieses Gesetz etwas unabänderliches sei.Aber diese Ursachen haben nichts Unabänderliches an sich. Diese Ursachen sind nur die Folgen menschlicher Gesetze bezüglich der Steuern, des Bodens und vor allem der zur Befriedigung der Bedürfnisse dienenden Gegenstände, d.h. des Eigentums.Gesetze aber werden von Menschen erdacht und wieder abgeschafft.So sind es denn nicht irgend welche eiserne, soziologische, Gesetze, die die Sklaverei der Menschen verursachen, sondern einfache menschliche Gesetzgebungen. Nicht eiserne Elementargesetze sind es daher, die die Sklaverei unserer Zeit hervorgebracht haben, sondern — und das ist durchaus klar und sicher — menschliche Gesetzgebungen bezüglich des Bodens, der Steuern und des Eigentums.Es existiert ein Gesetz, ein von Menschen erfundenes Gesetz, demzufolge der Grund und Boden in beliebigem Umfange das Eigentum von Privatpersonen bilden und von einer Person an die andere durch Vererbung, Testament, Kauf übergehen kann; es existiert ein anderes Gesetz, demzufolge jeder Mensch die Steuern, die von ihm verlangt werden, unweigerlich zahlen muß; und es existiert ein drittes Gesetz, demzufolge jede beliebige Menge auf welchem Wege immer erworbener Gegenstände das unbestreitbare Eigentum derjenigen Menschen bildet, die sich im Besitze dieser Gegenstände befinden; und als Folge dieser Gesetze existiert die Sklaverei.An alle diese Gesetze haben wir uns dermaßen gewöhnt, daß sie uns als ebenso natürliche Bedingungen des menschlichen Lebens erscheinen, — Bedingungen, an deren Gerechtigkeit und Notwendigkeit nicht der geringste Zweifel bestehen kann — wie uns früher die Gesetze über Leibeigenschaft und Sklaverei erschienen; wir sehen in ihnen nichts Schlimmes. Aber wie eine Zeit gekommen war, wo die Menschen die schlimmen Folgen der Leibeigenschaft erkannten und an der Gerechtigkeit und Notwendigkeit der Gesetze, die diese Institution erhielten, zu zweifeln begannen, ebenso muß man auch jetzt, wo die schlimmen Folgen der jetzigen wirtschaftlichen Ordnung offenbar werden, unwillkürlich an der Gerechtigkeit und Notwendigkeit der Gesetze zweifeln, die diese Folgen gezeitigt haben: der Gesetze über den Boden, die Steuern und das Eigentum.Wie man sich früher fragte, ob es gerecht sei, daß die einen Menschen den anderen angeboren und nichts ihr Eigen nennen durften, sondern alle Erzeugnisse ihrer Arbeit an ihre Herren abgeben mußten, so müssen auch wir uns jetzt fragen: ist es gerecht, daß die Menschen den Boden, der als Eigentum anderer gilt, nicht benutzen dürfen? Ist es gerecht, daß die Menschen in Form von Steuern an andere die Teile ihrer Arbeit abgeben müssen, die von ihnen verlangt werden? Ist es gerecht, daß die Menschen die Gegenstände nicht benützen dürfen, die als das Eigentum anderer gelten?Ist es wahr, daß die Menschen den Boden nicht benutzen sollen, wenn er als Eigentum anderer Menschen, die ihn nicht bebauen, gilt?Man pflegt zu sagen, daß dieses Gesetz darum geschaffen worden sei, weil das Grundeigentum eine notwendige Bedingung des Gedeihens der Landwirtschaft sei, und daß die Menschen einander von dem in Besitz genommenen Boden vertreiben würden, wenn kein vererbbares Privateigentum existieren würde, und daß niemand arbeiten würde, das Stück Land, auf dem er sitzt, zu kultivieren und zu verbessern.Ist das wahr?Die Antwort auf diese Frage geben die Geschichte und die Tatsachen der Gegenwart. Die Geschichte sagt, daß das Grundeigentum nichts weniger als durch die Absicht entstanden ist, die Kultivierung des Bodens zu sichern, sondern durch die Annektierung des im Allgemeinbesitz befindlichen Landes und die Verteilung desselben unter denen, die in den Diensten der Eroberer gestanden haben. So daß also die Schaffung des Grundeigentums nicht die Begünstigung der Ackerbauer zum Zwecke hatte.Die Tatsachen aber zeigen die Unrichtigkeit der Behauptung, daß Grundeigentum den Ackerbauern die Garantie biete, daß ihnen der Boden, den sie bebauen, nicht genommen werden würde. Die Tatsachen zeigen, daß überall das Gegenteil geschah und geschieht. Das Recht des Grundeigentums, welches hauptsächlich den Großgrundbesitzern zu gute kommt, hat es bewirkt, daß alle oder wenigstens die große Mehrheit der Grundbesitzer sich jetzt in der Lage von Menschen befinden, die fremdes Land bebauen und von diesem Lande durch solche, welche es nicht bebauen, willkürlich vertrieben werden können.So ist denn das heute zu Recht bestehende Grundeigentum nichts weniger als ein Schutz der Rechte des Ackerbauers, die Resultate der dem Boden gewidmeten Arbeit genießen zu können, sondern diese Einrichtung ist ein Mittel, den Menschen den Boden wegzunehmen, die ihn bearbeiten und ihn den Nichtarbeitenden zu übergeben. Und daher ist dieses Institut durchaus nicht ein Mittel zur Förderung des Ackerbaues, sondern im Gegenteil zur Schädigung desselben.Von den Steuern wird behauptet, daß die Menschen sie zahlen müßten, weil die Steuern unter allgemeinem, wenn auch schweigsamen Einverständnis auferlegt und im öffentlichen Interesse zum Vorteil aller verbraucht würden.Ist das wahr?Auch auf diese Frage geben die Geschichte sowohl, als die Tatsachen der Gegenwart eine Antwort. Die Geschichte sagt, daß die Steuern niemals mit allgemeinem Einverständnis eingeführt wurden, sondern im Gegenteil immer nur in der Weise, daß die einen Menschen, nachdem sie durch Eroberung oder sonstige Mittel die Gewalt über andere Menschen gewonnen hatten, diesen letzteren feinen Tribut nicht im öffentlichen, sondern in ihrem eigenen Interesse, auferlegten. Das nämliche geschieht auch jetzt. Steuern treiben diejenigen Menschen ein, die die Macht dazu haben. Wenn aber auch ein Teil dieses "Steuer" genannten Tributes jetzt zu öffentlichen Zwecken verbraucht wird, so sind diese Zwecke zum größten Teil derartige, daß sie für die Mehrzahl der Menschen eher schädlich als nützlich sind.So wird zum Beispiel in Rußland dem Volke ein Drittel seines Gesamteinkommens abgenommen, für das wichtigste Bedürfnis aber, für den Volksunterricht nur ein Fünfzigstel der Einkünfte Verwandt, und noch dazu für einen Unterricht, der dem Volke, indem er es verdummt und borniert, mehr schadet als nützt. Die übrigen 49/50 werden für unnütze, und dem Volke schädliche Zwecke verwendet, wie für die Bewaffnung des Heeres, für strategische Eisenbahnen, Festungen, Gefängnisse, für den Unterhalt der Geistlichkeit, des Staates, für die Besoldung von Militär- und Zivilbeamten, d.h. für den Unterhalt der Menschen, die die Möglichkeit, dem Volke dieses Geld abzunehmen, unterstützen. (6)Dasselbe geschieht nicht nur in Persien, in der Türkei, in Indien, sondern auch in allen christlichen konstitutionellen Monarchien und demokratischen Republiken: es wird der Mehrheit des Volkes nicht soviel Geld abgenommen, wie nötig ist, sondern soviel wie möglich ist, und das vollständig unabhängig von dem Einverständnis oder Nichteinverständnis der Besteuerten (alle wissen, wie die Parlamente zusammengesetzt werden und (wie wenig sie den Willen des Volkes repräsentieren). Und verwendet wird dieses Geld nicht zum allgemeinen Nutzen, sondern dazu, was die regierenden Klassen für sich nützlich halten; zum Kriege auf Kuba und den Philippinen, zum Raube der Reichtümer Transvaals usw.So ist denn die Behauptung, daß die Menschen deswegen die Steuern bezahlen müßten, weil diese unter allgemeinem Einverständnis eingesetzt und zum allgemeinen Nutzen verbraucht würden, ebenso unrichtig, wie die, daß das Grundeigentum zur Förderung des Ackerbaues geschaffen sei.Ist es wahr, dass die Menschen die Gegenstände, welche sie zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nötig haben, nicht benutzen sollen, wenn diese Gegenstände das Eigentum anderer Menschen bilden? Es wird behauptet, daß das Recht auf Eigentum an den erworbenen Gegenständen dazu eingesetzt sei, um dem Arbeiter die Garantie zu bieten, daß ihm niemand das Erzeugnis seiner Arbeit wegnimmt.Ist das wahr?Man braucht nur einen Blick darauf zu werfen, was in unserer Gesellschaft, wo das Eigentumsrecht besonders streng gewahrt wird, geschieht, um sich zu überzeugen, wie wenig die Tatsachen unseres Lebens diese Erklärung bestätigen.In unserer Gesellschaft geschieht, infolge des Eigentumsrechtes an den erworbenen Gegenständen, gerade das, was durch dieses Recht vermieden werden soll, nämlich daß alle die Gegenstände, die von den Arbeitern erzeugt werden, denen, die sie erzeugen, je nach Maßgabe ihrer Fertigstellung abgenommen werden. So ist denn die Behauptung, daß das Eigentumsrecht den Arbeitern die Möglichkeit des Genusses der Erzeugnisse ihrer Arbeit garantiere, offenbar noch unrichtiger, als die Rechtfertigung des Grundeigentums und beruht auf demselben Sophismus. Zuerst wurden den Arbeitern ungerechterweise und gewaltsam die Erzeugnisse ihrer Arbeit abgenommen und dann Gesetze geschaffen, denen zufolge diese den Arbeitern ungerechter- und gewaltsamerweise abgenommenen Erzeugnisse als unantastbares Eigentum der Räuber anerkannt wurden.Das Eigentum an einer durch eine Reihe von Betrügereien und Spitzbübereien an den Arbeitern erworbenen Fabrik wird als ein Erzeugnis der Arbeit betrachtet und ein geheiligtes Eigentum genannt; das Leben der Arbeiter aber, die sich durch die Arbeit in dieser Fabrik zu Grunde richten, und ihre Arbeit, werden nicht als ihr Eigentum betrachtet, sondern gewissermaßen als das Eigentum des Fabrikanten, sofern er, die Notlage der Arbeiter ausnutzend, sie auf eine gesetzlich erlaubte Weise gebunden hat.Hunderttausende Pud Getreide, die durch Wucher und Erpressung den Bauern abgenommen sind, werden als das Eigentum des Kaufmannes angesehen; aber das von den Bauern kultivierte Getreide wird als das Eigentum eines anderen betrachtet, wenn dieser andere den von den Bauern bebauten Boden als Erbschaft von seinen Groß- und Urgroßvätern erhalten hat, die diesen Boden den nämlichen Bauern abgenommen hatten.Es heißt, daß das Gesetz in gleicher Weise das Eigentum sowohl des Fabriksbesitzers, Kapitalsten oder Grundbesitzers, als auch des Fabriksarbeiters und des Ackerbauers schützt. Die Gleichheit zwischen dem Kapitalisten und dem Arbeiter ist die nämliche wie die Gleichheit zwischen zwei Kämpfern, von denen dem einen die Hände gefesselt, dem anderen aber Waffen gegeben wurden, während beim Prozesse des Kampfes beiden gegenüber gleich strenge Bedingungen gewährt sind.So sind denn alle Behauptungen von der Gerechtigkeit und Notwendigkeit der drei genannten Gesetze ebenso falsch, wie die Erklärungen der Gerechtigkeit und Notwendigkeit der früheren Leibeigenschaft falsch waren. Alle diese drei Gesetzte sind nichts anderes als die Einsetzung jener neuen Form; der Sklaverei, die die alte ersetzt hat. Wie früher die Menschen aufgestellt hatten, daß die einen Menschen andere Menschen kaufen und verkaufen, über sie herrschen und sie zur Arbeit zwingen konnten, und dieses die Sklaverei ergab; so haben jetzt die Menschen Gesetze aufgestellt, daß die Menschen nicht das Land benützen dürfen, welches als das Eigentum eines anderen gilt, nicht die Gegenstände benützen, die als das Eigentum anderer angesehen werden, dagegen die Steuern zahlen müssen, die von ihnen verlangt werden, — und dieses ergibt die Sklaverei unserer Zeit.
Die Sklaverei unserer Zeit wird durch dreierlei Gesetze geschaffen: bezüglich des Bodens, bezüglich der Steuern und bezüglich des Eigentums. Und daher richten sich die Versuche der Menschen, die die Lage der Arbeiter bessern wollen, unwillkürlich, wenn auch unbewußt gegen diese drei Gesetze.Die einen heben die Steuern auf, die auf den Arbeitern lasten, und übertragen sie auf die Reichen; die anderen wollen das Eigentum am Boden aufheben, und es gibt schon Versuche zur Realisierung dazu in Neuseeland und in einem der Staaten Nord-Amerikas (die Beschränkung des Verfügungsrechtes über den Boden in Irland ist ebenfalls ein Schritt dazu); die Dalitten, die Sozialisten, welche die Verstaatlichung der Produktionswerkzeuge erstreben, schlagen vor, die Einkünfte und Erbschaften zu besteuern und die Rechte der kapitalistischen Unternehmer zu beschränken.Man sollte glauben, daß damit die nämlichen Gesetze abgeschafft werden, die die Sklaverei verursachen, und daß daher dieser Weg zur Vernichtung der Sklaverei führen sollte. Aber man braucht sich nur die Verhältnisse, unter denen diese Gesetze abgeschafft oder abgeschafft werden sollen, näher anzusehen, um sich zu überzeugen, daß alle und nicht nur die praktischen, sondern auch die theoretischen Projekte für Verbesserung der Lage der Arbeiter nur in dem Ersatz der einen Gesetze, die die Sklaverei herbeiführen, durch andere Gesetze, die eine neue Form der Sklaverei schaffen, bestehen.Diejenigen zum Beispiel, die die Besteuerung der Armen abschaffen, indem sie zuerst die direkten Steuern aufheben und dann die Steuern von den Armen auf die Reichen überführen, müssen unbedingt das Eigentum am Boden, an den Produktionswerkzeugen und an anderen Gegenständen beibehalten, um auf diese die ganze Last der Steuern zu wälzen. Die Beibehaltung aber des Grund- und anderen Eigentums befreit zwar die Arbeiter von den Steuern, überliefert sie aber der Sklaverei der Großgrundbesitzer und Kapitalisten.Diejenigen nun, die wie Henry George und seine Anhänger, das Eigentum an Grund und Boden aufheben, schlagen neue Gesetze bezüglich einer obligatorischen Bodenrente vor. Die obligatorische Bodenrente aber muß unumgänglich eine neue Sklaverei schaffen, denn der Mensch, der zur Zahlung der Rente oder einheitlichen Steuer gezwungen ist, wird bei jeder Mißernte, jedem Unglücksfall genötigt sein, Geld zu leihen bei dem, der es hat, und wird also wieder in die Sklaverei geraten.Diejenigen endlich, die wie die Staatssozialisten, in ihrem Projekt das Eigentumsrecht am Boden und an den Produktionswerkzeugen abschaffen, behalten die Steuern bei und müssen außerdem notwendigerweise den Arbeitszwang einführen, errichten also wieder die Sklaverei in ihrer ursprünglichen Form in ihrem neuen Staat.So sind denn bis jetzt in dieser oder jener Weise alle, sowohl praktischen, als auch theoretischen Abschaffungen von Gesetzen, welche die eine Form von Sklaverei erzeugten, immer durch neue Gesetze ersetzt worden, die die Sklaverei in einer anderen, neuen Form zur Folge hatten und haben müssen.Es geschieht etwas dem ähnliches, was der Gefängniswärter macht, der die Ketten von dem Halse des Gefangenen auf die Hände, von den Händen an die Beine legt, oder sie ganz abnimmt, dafür aber die Verschlüsse und Gitter verstärkt.Alle bis jetzt vorgenommenen Verbesserungen der Lage der Arbeiter waren von solcher Art.Die Gesetze bezüglich des Rechtes der Herren, die Sklaven zur unfreiwilligen Arbeit zu zwingen, wurden durch Gesetze ersetzt, denen zufolge das ganze Land den Herren gehörte.Die Gesetze bezüglich des Grundeigentums der Herren wurden durch Gesetze bezüglich der Steuern ersetzt, über die die Herren durch den Staat verfügen.Die Gesetze bezüglich der Steuern wurden durch die Beschützung des Eigentumsrechtes an den Produktionswerkzeugen und den Gebrauchsgegenständen ersetzt.Die Gesetze bezüglich des Eigentumsrechtes am Boden, an den Gegenständen des Konsums und den Produktionswerkzeugen sollen jetzt durch gesetzlichen Arbeitszwang ersetzt werden.Die ursprüngliche Form der Sklaverei war der einfache Zwang zur Arbeit. Nachdem nun die Sklaverei den ganzen Kreislauf aller möglichen versteckten Formen: des Grundeigentums, der Steuern, des Eigentumsrechtes an den Gebrauchsgegenständen und den Produktionswerkzeugen gemacht hat, kehrt sie zu ihrer ursprünglichen Form, zum direkten Arbeitszwang — wenn auch in veränderter Gestalt — zurück.Es ist daher klar, daß die Aufhebung eines Gesetzes, das die Sklaverei unserer Zeit erzeugt — der Steuern, des Grundeigentums oder des Eigentumsrechtes an den Produktionswerkzeugen und den Gebrauchsgegenständen — die Sklaverei nicht vernichten, sondern nur eine ihrer Formen aufheben wird, die sofort durch eine neue ersetzt werden würde, wie es mit der Aufhebung der persönlichen Sklaverei der Leibeigenschaft, mit der Aufhebung der Steuern war.Selbst die gleichzeitige Aufhebung aller drei Gesetze würde die Sklaverei nicht vernichten, sondern nur eine neue Form hervorrufen, die uns noch unbekannt, sich schon jetzt allmählich bemerkbar macht in den Gesetzen, die die Freiheit der Arbeiter beschränken durch die Begrenzung der Arbeitszeit, des Alters, des Gesundheitszustandes, durch den Schulzwang, die obligatorische Teilnahme an Emeritur- und Krankenkassen, durch alle möglichen Maßregeln der Fabriksinspektion, durch die Zwangsregulative der Gewerkschaften usw. Alle diese Erscheinungen sind nichts anderes, als die Vorläufer einer neuen Gesetzgebung, die eine neue, noch nicht gekannte Form der Sklaverei durch den allmächtigen Staat vorbereiten.So wird es denn klar, daß das Wesen der Sklaverei nicht in den drei Gesetzen liegt, auf denen sie jetzt basiert, und sogar überhaupt nicht in diesen oder jenen bestimmten Gesetzen, sondern darin, daß es überhaupt Gesetze gibt, daß es Menschen gibt, die die Möglichkeit haben, Gesetze zu schaffen, die für sie vorteilhaft sind. Und solange die Menschen diese Möglichkeit haben werden, wird es auch Sklaverei geben.Früher war es den Menschen vorteilhaft, einfache Sklaven zu haben: und sie schufen Gesetze zum Zwecke der persönlichen Sklaverei. Dann wurde es vorteilhaft, eigenes Land zu besitzen, Steuern zu erheben, das erworbene Eigentum für sich zu behalten: und es wurden dem entsprechende Gesetze geschaffen. Jetzt ist es den Menschen vorteilhaft, die bestehende Distribution und Teilung der Arbeit aufrecht zu erhalten: und sie ersinnen Gesetze, die die Menschen zwingen sollen, bei der bestehenden Distribution und Teilung der Arbeit zu arbeiten.Und daher bilden die Hauptursache der Sklaverei die Gesetze, — und daß es Menschen gibt, die Gesetze vorschreiben können.
Was sind die Gesetze und was gibt den Menschen die Möglichkeit, Gesetze aufzustellen?Es existiert eine ganze Wissenschaft, älter, lügnerischer und nebeliger als die Nationalökonomie, deren Diener im Laufe der Jahrhunderte Millionen von — meist einander widersprechenden — Büchern geschrieben haben, um diese Fragen zu beantworten. Aber da der Zweck dieser Wissenschaft, ebenso wie der der Nationalökonomie, nicht darin besteht, zu erklären, was ist und was sein müßte, sondern darin, zu beweisen daß das was ist, auch sein muß, so kann man in dieser Wissenschaft sehr viel Raisonnements über das Recht, das Objekt und Subjekt, die Idee des Staates und über ähnliche Gegenstände finden, Raisonnements, die nicht nur den Schülern, sondern auch den Lehrern dieser Wissenschaft oft unverständlich sind, aber irgend eine klare Antwort auf die Frage, was das Gesetz sei, findet man nicht.Nach der Wissenschaft ist das Gesetz der Ausdruck des Willens des ganzen Volkes; aber da es immer mehr Menschen gibt, die die Gesetze verletzen oder verletzen möchten, so ist es klar, daß die Gesetze keineswegs als die Willensäußerung des ganzen Volkes aufgefaßt werden können.Es gibt zum Beispiel Gesetze, daß man die Telegraphenpfosten nicht beschädigen dürfe, daß man gewissen Menschen seine Ehrfurcht bezeugen müsse, daß jedermann seinen Militärdienst leisten und Geschworener sein müsse, oder daß man gewisse Gegenstände nicht über eine gewisse Grenze bringen dürfe, daß man nicht Land benutzen dürfe, welches als das Eigentum eines anderen gilt, daß man nicht Wertzeichen fabrizieren dürfe, daß man nicht Gegenstände benutzen dürfe, die als das Eigentum anderer gelten.Alle diese und viele andere Gesetze sind in ihrer Gesamtheit sehr mannigfaltig und können die mannigfaltigsten Motive haben, keines von ihnen drückt aber den Willen des ganzen Volkes aus. Der gemeinsame Zug aller dieser Gesetze ist nur einer, und zwar der, daß diejenigen, die sie geschaffen haben, bewaffnete Menschen schicken werden, wenn irgend ein Mensch diese Gesetze nicht erfüllt, und daß diese bewaffneten Menschen den Übertreter schlagen, seiner Freiheit berauben oder sogar töten werden.Wenn ein Mensch nicht den von ihm als Steuer verlangten Teil seiner Arbeit abgeben will, so werden bewaffnete Leute kommen, und ihm das entreißen, was von ihm verlangt wurde; wenn er aber Widerstand leistet, wird er geschlagen, seiner Freiheit beraubt, zuweilen sogar getötet werden.Das nämliche wird dem Menschen passieren, der Boden benützen wird, der als das Eigentum eines anderen gilt.Dasselbe wird mit dem Menschen geschehen, der Gegenstände benutzen will, die er zur Befriedigung seiner Bedürfnisse oder zu seiner Arbeit braucht, die aber für das Eigenturm eines anderen gehalten werden; es werden bewaffnete Menschen kommen, ihm das, was er genommen, wieder zu entreißen und sie werden ihn, wenn er Widerstand leistet, schlagen, seiner Freiheit berauben, oder sogar töten.Und nichts anderes wird dem Menschen widerfahren, der der Person oder Institution, denen gegenüber es vorgeschrieben ist, seine Ehrfurcht zu bezeugen, diese nicht bezeugen wird, und nichts anderes dem, der die Forderung, Soldat zu werden, ablehnt, oder der Wertzeichen fabrizieren wird.Für jede Nichterfüllung der bestehenden gesetzlichen Vorschriften werden die Schuldigen bestraft werden: sie werden von den Menschen, die die Gesetze geschaffen haben, geschlagen, ihrer Freiheit beraubt oder sogar getötet werden.Es sind viele verschiedene Verfassungen ersonnen worden, angefangen von der englischen und amerikanischen bis zur japanischen und türkischen, (7) denen zufolge die Menschen glauben sollen, daß alle Gesetze, die in ihrem Staate gegeben werden, nach ihrem eigenen Willen gegeben werden. Aber alle wissen es, daß nicht nur in den despotischen, sondern auch in den angeblich freiesten Staaten, wie in England, Amerika, Frankreich usw., die Gesetze nicht nach dem Willen aller, sondern nur nach dem Willen derer gegeben werden, die im Besitze der Macht sind. Und daher gibt es immer und überall nur solche Gesetze, die denen, die im Besitze der Macht sind, vorteilhaft sind, — bestehen diese Machthaber nun aus vielen, mehreren oder auch nur einer Person.Die Erfüllung der Gesetze wird aber immer und überall nur dadurch erreicht, wodurch man immer und überall die einen Menschen zwingt, den Willen der anderen zu tun, durch Schläge, Freiheitsentziehung und Mord, — wie es auch anders gar nicht sein kann.Es kann aber nicht anders sein, weil die Gesetze einen Befehl bedeuten, gewisse Regeln zu erfüllen. Man kann aber die einen Menschen nicht anders zwingen, gewisse Regeln, d.h. das, was andere Menschen von ihnen wollen, zu erfüllen, als durch Schläge, Freiheitsentziehung und Mord. Wenn es Gesetze gibt, so muß es auch eine Macht geben, die die Menschen zwingen kann, diese Gesetze zu erfüllen. Die einzige Macht aber, die die Menschen zur Befolgung von Gesetzen, d.h. von dem, was der Wille anderer ist, zwingen kann, ist die Gewalt oder die Vergewaltigung. Nicht nur die einfache Gewalt, die die Menschen einander gegenüber in Augenblicken der Leidenschaft anwenden, sondern eine organisierte Vergewaltigung, die ganz bewußt von Menschen angewandt wird, die die Macht dazu haben, andere Menschen zu zwingen, stets die von ihnen festgesetzten Gesetze zu erfüllen, d.h. das, was sie, die ersteren, wollen.Und daher besteht das Wesen der Gesetze durchaus nicht im Subjekt oder Objekt des Rechts, nicht in der Idee des Staates, nicht in dem gemeinsamen Willen des Volkes und ähnlichen vagen und verworrenen Begriffen, sondern darin, daß es Menschen gibt, die über ein organisiertes Vergewaltigungssystem verfügen, und die Möglichkeit haben, andere zur Erfüllung ihres Willens zu zwingen. So daß also eine genaue, allen verständliche und unbestreitbare Definition der Gesetze folgende sein wird: Gesetze sind Regeln, festgestellt von Menschen, die über ein von ihnen organisiertes Vergewaltigungssystem verfügen, deren Nichterfüllung die Schuldigen Schlägen, Freiheitsentziehung und sogar dem Tode aussetzt.Diese Definition schließt auch die Antwort auf die Frage ein: Was gibt den Menschen die Möglichkeit, Gesetze aufzustellen?Die Möglichkeit, Gesetze aufzustellen, wird durch dasselbe gegeben, was die Erfüllung der Gesetze garantiert — durch ein organisiertes Vergewaltigungssystem.
Fußnoten