Max Stirner ist das Pseudonym für Johann Caspar Schmidt. Schmidt wurde am 25. Oktober 1806 in Bayreuth als erstes Kind protestantischer Eltern geboren. Sein Vater, ein Handwerker, der Flöten und andere Musikinstrumente herstellte, starb, als Johann Caspar ein halbes Jahr alt war. Die Mutter heiratete zwei Jahre später einen Apotheker und übersiedelte mit ihm ins westpreussische Kulm. Johann Caspar wurde bald nachgeholt, jedoch 1818, im Alter von 12 Jahren, nach Bayreuth zurückgeschickt, wo er in die Familie seines Paten aufgenommen wurde und das renommierte, von Georg Andreas Gabler geleitete Gymnasium besuchte (Gabler wurde nach Hegels Tod 1831 dessen Nachfolger an der Universität Berlin). Schmidt immatrikulierte sich 1826 an der Berliner Universität, wo er u.a. bei Hegel und Schleiermacher hörte. Er brach jedoch sein mit großem Eifer begonnenes Studium nach vier Semestern ab und ging -- nach einem nicht beendeten Semester in Erlangen -- "auf eine längere Reise durch Deutschland". 1833 kehrte er nach Berlin zurück, wo er zwei weitere Semester studierte und nach weiteren Unterbrechungen die sonstigen formellen Bedingungen erfüllte, um schließlich 1839, im Alter von 33 Jahren, seine erste feste Stellung anzutreten: als Lehrer an einer Berliner Mädchenschule. Ab Mitte 1841 war Schmidt häufiger Gast bei den "Freien", einer lockeren Gruppierung von jungen, oppositionellen "Intellektuellen" um den Ex-Hegelianer und Ex-Theologen Bruno Bauer, dem neben Ludwig Feuerbach führenden Kopf der sog. Junghegelianer. Zu dieser Zeit begann er, mit kleineren Beiträgen als Journalist und Schriftsteller an die Öffentlichkeit zu treten: teils anonym, teils bereits pseudonym als "Max Stirner". In den Jahren 1842-47 entstanden Stirners wichtigste Schriften, insbesondere sein Werk »Der Einzige und sein Eigenthum«, das, vordatiert auf 1845, Ende Oktober 1844 erschien. Der »Einzige« erregte für kurze Zeit ein skandalöses, von Verboten ("zu radikal") und Verbotsaufhebungen ("so radikal, dass er sich selbst widerlegt") begleitetes Aufsehen. Einige Autoren reagierten mit kleineren Gegenschriften, auf die Stirner mit dem Artikel »Recensenten Stirners« antwortete. Die wichtigste Gegenschrift indes verfasste anschließend Karl Marx: den furiosen »Sankt Max«. Marx veröffentlichte seinen Anti-Stirner nach einigem Zögern jedoch nicht, vermutlich aus zwei Gründen: erstens, weil er (insgeheim) die Stichhaltigkeit seiner polemischen Kritik bezweifelte und eine Duplik Stirners fürchtete; zweitens, weil Stirner inzwischen -- schon ein Jahr vor den Ereignissen des März 1848 und ihren politischen Folgen, die den radikalen philosophischen Diskussionen ohnehin ein Ende setzten -- bereits zur Unperson geworden war, öffentliche Kritik an ihm somit fehl am Platze und taktisch unklug gewesen wäre. Stirner, der zweimal kinderlos verheiratet war (1838 und 1843-46), hatte kurz vor Erscheinen seines »Einzigen« seine Lehrerstelle aufgegeben und verdiente danach seinen Lebensunterhalt mit selbständiger Erwerbstätigkeit. Er verbrachte die restliche Zeit seines Lebens, literarisch kaum noch tätig, in zunehmender materieller Armut. An den politischen Ereignissen der Jahre 1848/49 scheint er sich, im Gegensatz zu den meisten Junghegelianern, nicht beteiligt zu haben. Stirner starb, von den Zeitgenossen vergessen, am 25.Juni 1856 in Berlin und wurde auf dem Sophienfriedhof beigesetzt.
Stirner ist ein vir unius libri; sein Werk kann ohne substantiellen Verlust auf jenes eine Buch, »Der Einzige und sein Eigentum«, reduziert werden. Dieser »Einzige« hatte ein außergewöhnlich interessantes Bücherschicksal. Er war zunächst, wie alle Beiträge der junghegelianischen Diskussion der 1840er Jahre, schnell vergessen, wurde jedoch, als einziger daraus, nach längerer Zeit wiederentdeckt und -- nach erneutem Vergessen abermals wiederentdeckt. Diese beiden sog. Stirner-Renaissancen (1893ff und 1968ff) hatten zudem jeweils einen sehr ungewöhnlichen Anlass: sie waren wesentlich Ergebnis der energischen Initiative jeweils eines einzelnen Mannes, und zwar eines dezidierten Stirner-Gegners: 1893 des Nietzscheaners Paul Lauterbach und 1968 des Marxisten Hans G. Helms. Beide exponierten Stirners Buch aus erklärtermaßen hochpolitischem Grund: um die Größe und aktuelle Bedeutung der geistigen Tat Nietzsches bzw. Marx' -- als "Überwinder" Stirners als des literarischen Inbegriffs des "absolut Bösen" -- um so klarer hervortreten zu lassen. Obwohl der »Einzige« ein Verkaufserfolg wurde -- bisher mehr als 100'000 Exemplare -- blieb Stirner eine Randfigur der Ideengeschichte. Die Absicht der beiden Initiatoren, Stirner als den Antipoden zu Nietzsche bzw. zu Marx zu etablieren -- was nolens volens eine gewaltige Aufwertung Stirners bedeutet hätte -- gelang bisher nicht (vgl. Laska 1994).
Stirner bezeichnete sich selbst nirgendwo als Anarchisten, er kritisierte vielmehr in seinem »Einzigen« (1844) den Mann, der sich 1840 als erster selbst einen Anarchisten genannt hatte: Proudhon -- allerdings nicht deswegen, sondern wegen seiner moralisierenden Betrachtungsweise der gesellschaftlichen Probleme. Proudhon, der sonst sehr an der Entwicklung der (jung-)hegelianischen Philosophie in Deutschland interessiert war, überging Stirners »Einzigen« mit Schweigen. Auch Bakunin, der andere maßgebliche Anarchist des 19.Jahrhunderts, vermied es, sich zum »Einzigen« zu äußern. Diese offenkundige Berührungsangst der Anarchisten vor Stirner machten sich in den 1880er Jahren -- nach dem Tode von Marx, der einst ebenfalls einer öffentlichen Auseinandersetzung mit Stirner ausgewichen war -- die Marxisten für ihre politische Polemik zunutze: Stirner sei "der Prophet des heutigen Anarchismus"; Bakunin sei nichts als Proudhon plus Stirner, so lautete die von Friedrich Engels 1886 ausgegebene Parole. Die ersten Historiker des Anarchismus, selbst keine Anarchisten, rechneten Stirner, der inzwischen im Kielwasser des Nietzscheanismus zu einer bekannten Figur geworden war, ebenfalls dem Anarchismus zu (Zenker 1895, Eltzbacher 1900, Zoccoli 1907). Die Anarchisten selbst hielten indes nach wie vor Distanz zu Stirner. Nur eine kleine Gruppe, die sich als "individualistische Anarchisten" von der eigentlichen anarchistischen Bewegung abgrenzte, bekannte sich demonstrativ zu Stirner (mit zweifelhafter Berechtigung). Die distanzierte Haltung der Anarchisten gegenüber Stirner änderte sich auch im 20. Jahrhundert nicht wesentlich. Landauer stand Stirner über längere Zeit sehr ambivalent, schließlich aber eindeutig ablehnend gegenüber. Mühsam erwähnt Stirner nur einmal: in einer autobiographischen Skizze, wo er Landauer dafür dankt, dass er ihn als jungen Mann dem verführerischen Einfluss Stirners entrissen habe. Kropotkin, der über Jahrzehnte zu Stirner geschwiegen hatte, denunzierte ihn schließlich, zu einer Stellungnahme gedrängt, als "Manchestermann" und damit Pseudo-Anarchisten (der sonst so milde Mann konnte, wie Nettlau überlieferte, sehr wütend werden, wenn im Gespräch auch nur der Name Stirner fiel). Nettlau, selbst Anarchist und wohl bester Kenner der anarchistischen Bewegung in ihrer Glanzzeit, stand eher ratlos vor dem Phänomen, dass die meisten Anarchisten Stirner ablehnten, und meinte, Stirner sei eben meist missverstanden worden. Dieses Urteil von 1927, aus der Endphase einer Epoche, in der sowohl das Interesse an Stirner als auch der Einfluss des politischen Anarchismus relativ groß gewesen waren, kann heute, nachdem beide in den 60er Jahren noch einmal auflebten, erneuert werden. Nur sollte ein so hartnäckiges "Missverstehen" -- zumal es auch in der Stirner-Rezeption außerhalb des Anarchismus vorherrscht -- Grund zu intensiven Nachforschungen geben. In Übereinstimmung mit der vorherrschenden, meist ohne nähere Begründung und indirekt ausgedrückten Ablehnung Stirners durch die große Mehrzahl der Anarchisten -- der allenfalls die oberflächliche, unspezifische Zustimmung durch wenige Einzelne gegenübersteht -- stellen in zunehmendem Masse auch die Autoren neuerer Untersuchungen zum Anarchismus oder zu Stirner die überkommene Einordnung Stirners als Anarchisten in Frage bzw. in Abrede (Heintz 1951, Lösche 1977, Ritter 1980).
Die Anarchisten, insbesondere deren theoretische Köpfe, waren nicht die einzigen, die einen öffentlichen argumentativen Diskurs mit Stirner bzw. über dessen »Einzigen«, so nahe er thematisch auch lag, vermieden haben. Sie befinden sich mit dieser ausweichenden Haltung durchaus in angesehener Gesellschaft. Marx, der seinen Anti-Stirner wohlweislich nicht veröffentlichte, wurde bereits genannt. Nietzsche ist, seiner Bedeutung wegen, hier als nächster zu nennen: eine genaue Untersuchung seiner intellektuellen Biographie ergibt starke Indizien für die Annahme, dass direkte Spuren seiner Konfrontation mit Stirners »Einzigem« deshalb fehlen, weil er selbst sie sorgfältigst verwischte. Die Stirner-Renaissance der Jahrhundertwende wurde dann wesentlich dadurch möglich, dass die Lehren, die diese beiden Denker -- großteils in Abwehr der Stirner'schen -- entwickelt hatten, zu Massenerfolgen geworden waren. Stirner konnte nun, wenn nicht als exaltierter Anarchist, dann als banausischer und damit abgetaner Vorläufer Nietzsches eingeordnet werden -- oder als Scheinradikaler, der bereits vom jungen Marx als "wildgewordener Kleinbürger" entlarvt worden sei. Die Liste der Denker, in deren intellektueller Vita gleichfalls eine existenzielle Erschütterung durch Stirners »Einzigen« nachweisbar ist, auf die sie, statt mit einer argumentativen und nachvollziehbaren Auseinandersetzung, mit einer veritablen Verdrängung reagierten, enthält durchaus weitere klangvolle Namen: von Carl Schmitt (der als Student Stirner anfangs als "wahre Erquickung", bald jedoch als Plage empfand, ihn dann vergessen zu haben scheint und erst vierzig Jahre später, in der Not der Einzelhaft, wieder mit ihm zu ringen hatte) bis zu Jürgen Habermas (der als junger Mann gegen die vermeintliche "Absurdität der Stirnerschen Raserei" mit eigener Raserei sich zu wehren versuchte, Stirner dann aber so gründlich verdrängte, dass er ihn in den nächsten vierzig Jahren -- selbst in seinen einschlägigen Spezialarbeiten: z.B. über die Junghegelianer, über die Entstehung des historischen Materialismus -- nicht einmal mehr nannte).
Die bevorzugte Methode, den Gehalt des »Einzigen«, Stirners "Philosophie" -- gelegentlich in eingestandener Ratlosigkeit auch "Unphilosophie" genannt -- darzustellen, war stets die epitomatische: kurze, prägnante Abschnitte aus dem Text wurden aneinandergereiht und sollten für sich sprechen. Einprägsame Sentenzen wie "Ich hab' mein' Sach' auf Nichts gestellt" und "Mir geht nichts über Mich" wurden weithin bekannt, stehen für einen rohen Nihilismus bzw. Egoismus und werden oft für die -- so gesehen: dürftige -- Quintessenz des »Einzigen« genommen. Selbstverständlich gab es auch genauere, solidere, gründlichere Darstellungen und Untersuchungen zu diesem oft mit Superlativen -- "extremsten", "kühnsten", "fluchwürdigsten" etc. -- bedachten Buch; doch kamen auch sie letztlich zu keinem grundsätzlich anderen Ergebnis. Die konventionellen Methoden, philosophische Texte zu interpretieren, haben im Falle des »Einzigen« versagt. Keinem Autor gelang es bisher, die oft gespürte, gelegentlich auch ausdrücklich festgestellte Sonderstellung Stirners in der Philosophie des 19. Jahrhunderts, der Neuzeit, gar der gesamten Geschichte wirklich präzise zu bestimmen. Stirners »Einziger« blieb, was geflissentlich übersehen wird, ein hapax legomenon im Text der abendländischen Philosophie. Die Richtigkeit dieser Behauptung lässt sich vorläufig am einleuchtendsten durch die doch äußerst erstaunliche Tatsache stützen, dass einige der größten der heute allgemein anerkannten Denker (und die bedeutendsten anarchistischen Theoretiker!) einer sachlich gebotenen, argumentativen Auseinandersetzung mit Stirner ausgewichen sind. Die bloße Erkenntnis, dass dauerhafte Fürwahrhalten und vor allem das philosophiehistorische Gewichten dieser Tatsache ist offenbar stets durch vielerlei Hindernisse äußerst erschwert gewesen (dies lässt sich anhand des massenhaften sekundären Ausweichens, des bequemen blinden Nachvollzugs jenes primären der Großtheoretiker, demonstrieren, besonders eindrucksvoll am Beispiel der Marx-Forschung). Ein Abbau dieser gewaltigen Hindernisse scheint jedoch mit dem seit einiger Zeit voranschreitenden Geltungsverlust aller etablierten Doktrinen einherzugehen. Stirner hat sein Buch ausdrücklich als "einen Anfang" bezeichnet, als den Anfang einer Entwicklung, die er nach dem proklamierten "Ende der Philosophie" für möglich hielt. Der junge Karl Marx hielt den »Einzigen« für hochaktuell: er schrieb sich nach der Lektüre jenen später berühmt gewordenen Satz auf, wonach es darauf ankäme, die Welt zu verändern, und konzipierte in den folgenden Monaten den historischen Materialismus. Die Fortsetzung von Stirners "Anfang" war dies allerdings nicht; vielmehr eine offenbar sehr wirksame Verschüttung der von Stirner aufgeworfenen Problematik. So wie Marx -- nicht im Detail, aber im Prinzip -- reagierten bis in unsere Zeit eine Reihe hervorragender Denker auf die Konfrontation mit dem »Einzigen«. Daraus, nicht aus den überall nachzulesenden Urteilen über Stirner, ergibt sich seine nach wie vor potentielle Aktualität.
Der heute nur wenig bekannte Philosoph Johann Kaspar Schmidt veröffentlichte im Jahre 1844 unter dem Pseudonym Max Stirner sein Hauptwerk "Der Einzige und sein Eigentum", in welchem er eine äusserst radikale Philosophie der Tat entwickelte, die sein Biograph und Wiederentdecker John Henry Mackay durchaus zutreffend als "individualistischen Anarchismus" bezeichnete.Anarchismus - dies Wort wird in seiner ursprünglichen Bedeutung gebraucht - ist die Lehre einer zu erstrebenden Gesellschaftsordnung ohne Herrschaft und ohne autoritären Zwang. Das Adjektiv "individualistisch" hat insofern seine Berechtigung, als der Ausgangspunkt im Denken Stirners in der Tat das zum Bewusstsein seiner Einmaligkeit erwachte Individuum ist. Stirners Buch, das zweifellos zu den bemerkenswertesten Zeugnissen anarchistischen Denkens gehört, erregte jedoch nur wenig Aufsehen und ist auch bald völlig in Vergessenheit geraten; erst um die Jahrhundertwende kam es in kleineren Kreisen zu einer Renaissance der Stirnerschen Philosophie. Dabei ist diese Philosophie selbst heute noch in höchstem Masse aktuell, ist ihr Ziel doch in der letzten praktischen Konsequenz kein anderes als die Befreiung der Menschheit aus den Fesseln jeglicher Knechtschaft. Ohne irgendeine neue Ideologie konstruieren zu wollen, hat dieser aussergewöhnliche Denker Forderungen aufgestellt, die an Radikalität auch von den revolutionären Sozialisten nicht zu übertreffen sind.Daniel Guerin schreibt: "Stirner, der dem Gegenbegriff zum Sozialismus, dem des Individualismus, eine neue Bedeutung verliehen hat, pries den Wert des 'Einzigen', des Individuums, das, keinem gleich, frei ist in dem Masse, in dem es bei sich selbst ist. Während einer langen Zeit ist dieser Philosoph in den Kreisen der anarchistischen Denker ein Aussenseiter gewesen... Heute erscheint die Kühnheit seiner Einsichten in vollem Licht. Dafür gibt es Gründe. Die gegenwärtige Gesellschaft leidet unter hochperfektionierten Herrschafts- und Unterdrückungsstrukturen, die Notwendigkeit, das Individuum aus seiner Entfremdung, der industriellen Versklavung und dem totalitären Konformismus zu lösen, ist das grosse Thema der modernen Sozialtheorien... Stirner, ein Autor des 19. Jahrhunderts, hat mit seiner Philosophie einige dieser Fragen vorweggenommen; und er hat sie zu beantworten versucht. Seine Therapie ist die Selbstbefreiung des Einzelnen." (1)Da gerade die modernen Sozialtheorien zunehmend die Tendenz entwickeln, das Individuum zu vernachlässigen, so scheint es uns umso mehr angebracht, auf einen Denker hinzuweisen, der wie kaum ein anderer die überragende Bedeutung der Persönlichkeit betont hat. Dessen Gedanken erscheinen gegenüber den herrschenden kollektivistischen Strömungen geradezu als revolutionär.Der Begründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, hat den Gedankengang, der dem Buch "Der Einzige und sein Eigentum" zugrundeliegt, folgendermassen zusammengefasst: "Stirner ist wie Nietzsche der Ansicht, dass die Triebkräfte des menschlichen Lebens nur in der einzelnen, wirklichen Persönlichkeit gesucht werden können. Er lehnt alle Gewalten ab, die die Einzelpersönlichkeit von aussen formen, bestimmen wollen. Er verfolgt den Gang der Weltgeschichte und findet den Grundirrtum der bisherigen Menschheit darin, dass sie nicht die Pflege der Kultur der individuellen Persönlichkeit, sondern andere, unpersönliche Ziele und Zwecke sich vorsetzte. Er sieht die wahre Befreiung des Menschen darin, dass dieser allen solchen Zielen keine höhere Realität zugesteht..." (2)Die Bildung und Entwicklung einer wahrhaft freien Persönlichkeit, die Selbstverwirklichung des Individuums also, das ist das Ziel, das Max Stirner als "individualistischer Anarchist" im besten Sinn des Wortes aufstellt, dahin geht sein ganzes Streben und Trachten. Selbstverwirklichung, das heisst vor allem Freiheit von allen geistigen und materiellen Fesseln. Allein das leibhaftige Individuum - die konkrete Ich-heit - ist seiner Ansicht nach die eigentliche und ursprüngliche Realität; alles was über das Ich hinausgeht, politische Systeme, Gedankensysteme, Glaubenssysteme, hat im Grunde seine Existenz nur der freien Schaffenskraft des Ich zu verdanken.Und doch ist es eine Tatsache, dass sich die Individuen von den zahllosen politischen und ideologischen Systemen, die sie selbst erst hervorgebracht haben, versklaven lassen. Sie tun dies in Unkenntnis ihres eigentlichen Selbst, ihrer wahren souveränen Persönlichkeit. Jene aber zu erkennen und geltend zu machen, das ist Sinn und Aufgabe des Egoismus. Stirner gebraucht das Wort "Egoismus" in seinem genauen ethymologischen Sinn; es bedeutet keineswegs etwa eine Vernachlässigung des Mitmenschen, sondern nur die Wahrnehmung ureigenster Interessen. Dieses Bekenntnis zum Egoismus ist zugleich eine Kampfansage an alle Gewalten, die das Leben der Menschen bestimmen wollen.Im "Einzigen" heisst es: "Ich Meinesteils nehme Mir eine Lehre daran und will, statt jenen grossen Egoisten ferner uneigennützig zu dienen, lieber selber der Egoist sein... Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache 'des Menschen'. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw. sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist - einzig, wie ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich!" (3)Der Egoismus, den Stirner predigt, ist eine höhere Individualethik, frei von Gier, Neid und Konkurrenzdenken, weit entfernt vom Egoismus im landläufigen Sinne. Ja, er ist sogar im höchsten Grade altruistisch So heisst es zum Beispiel auch: "Soll Ich etwa an der Person des Anderen keine lebendige Teilnahme haben, soll seine Freude und sein Wohl Mir nicht am Herzen liegen, soll der Genuss, den Ich ihm bereite, Mir nicht über andere eigene Genüsse gehen? Im Gegenteil, unzählige Genüsse kann Ich ihm mit Freuden opfern. Unzähliges kann Ich Mir zur Erhöhung seiner Lust versagen... Aber Mich, Mich selbst opfere Ich ihm nicht, sondern bleibe Egoist und - geniesse ihn." (4)Dies ist die vollkommene Synthese von Egoismus und Altruismus, von Eigenwohl und Gemeinwohl. Dass die individualistischen Anarchisten von der Idee des isolierten Individuums ausgingen und die sozialen Bindekräfte missachteten, stimmt also nicht.Doch scheint es mir zumindest ein bedenkliches Unterfangen, wenn nicht gar ein gefährliches dialektisches Abenteuer zu sein, eine Ethik auf dem reinen Egoismus begründen zu wollen. Hier wäre vielleicht ein Ansatzpunkt zur Kritik.Wenn der individualistische Anarchismus sein höchstes und vornehmstes Ziel in der Selbstverwirklichung des Individuums sieht, so ist er zugleich auch Kritik und Anklage gegen ein System der Unterdrückung, das die Bildung freier Persönlichkeit verhindert. Schon im "Einzigen" findet sich eine massive Staats- und Systemkritik. Das zum Bewusstsein seiner Einmaligkeit erwachte Individuum fordert für sich das volle Recht auf Selbstbestimmung; es will niemanden beherrschen, aber auch von niemanden beherrscht werden. Bei diesem Autonomiestreben kommt es unweigerlich in Konflikt mit den herrschenden Gewalten, insbesondere mit dem Staat.Schon von seiner Struktur und seinem Aufbau her ist der Staat eine Organisation, in der das Selbstbestimmungsrecht niemals konsequent verwirklicht sein kann. Denn er ist mitnichten eine freiwillige Gemeinschaft, sondern eine Zwangsgemeinschaft - damit steht er im geraden Gegensatz zur Gesellschaft, die ihrer Natur gemäss auf freien Vereinigungen aufbaut. Freilich ist die gegenwärtige Gesellschaft weit entfernt von jenem Urbild einer freien Gesellschaft; hat sich doch auch in ihr immer mehr das durchgesetzt, was das eigentlich Wesen des Staates ist. Aber zitieren wir nochmals den "Einzigen":"Es dauern die Staaten nur so lange, als es einen herrschenden Willen gibt und dieser herrschende Wille für gleichbedeutend mit dem eigenen Willen angesehen wird... Wer, um zu bestehen, auf die Willenlosigkeit Anderer rechnen muss, der ist, ein Machwerk dieser Anderen, so wie der Herr ein Machwerk des Dieners ist. Hörte die Unterwürfigkeit auf, so wär's um die Herrschaft geschehen. Der eigene Wille Meiner ist der Verderber des Staates; er wird deshalb von letzterem als 'Eigenwille' gebrandmarkt. Der eigene Wille und der Staat sind totfeindliche Mächte, zwischen welchen kein 'ewiger Friede' möglich ist." (5)Aber in letzter Konsequenz wendet sich die Stirnersche Theorie nicht gegen den Staat allein, sondern gegen jede Herrschaft von Menschen über Menschen; sie ist Anarchismus in der reinsten und ursprünglichsten Form. Weder die zeitgenössischen liberalen Bestrebungen noch die verschiedenen Modelle des utopischen Kommunismus bleiben von der scharfsinnigen Gesellschaftskritik des "Einzigen" verschont. Ebensowenig verschont werden die herrschenden Revolutionstheorien; diese sind nämlich allesamt reformistisch und daher unfähig, echte Wege der Befreiung aufzuzeigen.Dass Stirner die beste Organisationsform des sozialen Lebens in einer staatenlosen Gesellschaft sah, darüber besteht kein Zweifel. Wie er sich aber diese Gesellschaft konkret vorstellte, ist schwer zu sagen. Hierüber finden sich nur wenige Hinweise in seinem Buch. Sicher ist, dass er die Bildung überindividueller Gruppen befürwortete, wie überhaupt seine Philosophie durchaus sozietär ist und in etwa den Ideen Proudhons entspricht. Auch hielt er eine neue Eigentumsverfassung für unerlässlich. Will sich eine befreite Gesellschaft entwickeln, so muss das Eigentum seine derzeitige monopolistische Form aufgeben.Der Weg, der zu solchen Zuständen führt, kann natürlich nur über das Individuum gehen, welches die Ursprungskraft aller sozialen Veränderung ist. Nur im Ich und nur durch das Ich kann die Befreiung vollzogen werden. Erst muss in jedem Einzelnen von uns eine individuelle Revolution stattgefunden haben; sie bildet den Boden oder Urgrund, auf dem sich die soziale Revolution abspielen kann. Aber vielleicht sollten wir das Wort "Revolution" in diesem Zusammenhang vermeiden, da man mit ihm meist etwas Furchtbares, Gewalttätiges assoziiert.Dies ist aber keineswegs richtig. Gewalt kann niemals zur wirklichen Befreiung und Bewusstwerdung der Menschen beitragen. Die individuelle Revolution hat die Aufgabe, uns Einsicht über unser eigentliches Selbst zu geben, so wie die soziale Revolution die Aufgabe hat, eine Gesellschaft freier Persönlichkeiten hervorzubringen. Es kommt nicht von Ungefähr, dass die Individual-Anarchisten der Idee einer gewalttätigen Revolution stets ablehnend gegenüberstanden; dies hängt elementar mit ihrer Philosophie zusammen. Ausserdem würde die Gewalt auch ihrem Ziel, dem Aufbau echter und konsequenter Anarchie (Herrschaftslosigkeit) zuwiderlaufen.Nicht erst seit Tolstoi ist die Einheit von Ziel und Methode bekannt. Auch Stirners Nachfolger, der deutsch-schottische Dichter John Henry Mackay, befürwortete eine Strategie der Gewaltlosigkeit. So schreibt er z.B.: "Ich hasse die Gewalt in jeder Form!... Es gilt, die Gewalt unmöglich zu machen. Dies geschieht aber nicht, indem man ihr ebenfalls Gewalt entgegensetzt: der Teufel lässt sich nicht mit Beelzebub austreiben... Der passive Widerstand gegen die aggressive Gewalt ist das einzige Mittel, diese Gewalt zu brechen." (6) Aus all dem bisher Gesagten dürfte wohl deutlich hervorgehen, wie aktuell die Stirnerschen Ideen auch heute noch sind, obgleich der Grundstein zu diesen Ideen schon in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts, der Entstehungszeit der Marxschen Frühschriften, gelegt wurde. Die Idee der Gewaltlosigkeit z.B. entspricht den zeitgenössischen revolutionären Bestrebungen, die auf einen sozialen Wandel mit gewaltfreien Mitteln hinarbeiten, wie etwa die Graswurzelbewegung. Die Grundidee des Werkes aber ist die Freiheit der Persönlichkeit, und die ist wohl zu allen Zeiten aktuell, solange es noch irgendwo Herrschaft von Menschen über Menschen gibt.Es war nicht meine Absicht, eine unkritische Stirner-Apologie zu schreiben; meine persönlichen Überzeugungen liegen eher auf der Linie der Ideen William Godwins, mehr noch würde ich mit Tolstoi und Gandhi übereinstimmen, obgleich ich mich zu einem so hohen Mass an Religiosität, wie jene es hatten, noch nicht erheben konnte. Aber es war meine Absicht, auf einen revolutionären Denker hinzuweisen, der heute in fast völlige Vergessenheit geraten ist, und zwar ganz zu Unrecht.
Der Ausdruck "individualistischer Anarchismus" (synonym auch "individueller Anarchismus", "Individualanarchismus" oder "anarchistischer Individualismus", nachfolgend IndA), bezeichnet ein im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entstandenes Konzept einer zukünftigen Gesellschaft, in der die Freiheit jedes Individuums (von äußerem Zwang) den höchsten Wert darstellt und so weit wie möglich gewährleistet sein soll, d.h. nur in dem Masse eingeschränkt ist, das sich daraus ergibt, dass alle Individuen diese Freiheit gleichermaßen haben sollen.Die Anhänger des IndA sehen das Haupthindernis, das einer solchen gesellschaftlichen Ordnung entgegensteht, in der Institution des Staates (auch eines ideal demokratischen), und zwar deshalb, weil der Staat die Freiheit der meisten Individuen mehr als im genannten Sinne erforderlich einschränkt, um einige institutionell verankerte Privilegien, die staatlichen Monopole, die die Freiheit des Wettbewerbs der Individuen behindern bzw. ausschalten, aufrechtzuerhalten. Es handele sich dabei um vier hauptsächliche Monopole: das Geld-, das Boden-, das Zoll- und das Patentmonopol, wobei das erste das weitaus gravierendste sei. Die Existenz dieser (und weiterer) Monopole verhindere permanent, dass das Individuum für seine produktive Arbeit den "natürlichen Lohn", den "vollen Ertrag" erhalte. Diese Monopole bzw. den Staat, der sie mit Gewalt(-androhung) aufrechterhält, gilt es daher zu beseitigen, wenn ein Optimum an Freiheit und (Tausch-)Gerechtigkeit erreicht werden soll. Alle erwünschten gesellschaftlichen Aufgaben, die bisher der Staat auch übernommen habe, wie das Polizei-, das Rechts-, das Schul-, das Fürsorgewesen etc., würden, wie insbesondere auch das Geldwesen, ohne Monopole und bei freier Konkurrenz besser und effektiver erfüllt werden; vor allem wäre die Beteiligung jedes Individuums daran freiwillig und nicht, z.B. durch Steuerzahlung, erzwungen.Die Herbeiführung einer solchen freien Gesellschaft könne naturgemäß nicht durch Zwang und Gewalt, sondern nur durch Aufklärung und Überzeugung, also nicht auf revolutionärem, sondern nur auf evolutionärem Wege erfolgen. Das Kampfmittel der Wahl sei der -- hierbei durchaus kollektive -- passive Widerstand, die Verweigerung (insbesondere von Steuerzahlungen) gegenüber dem Staat.
Der IndA ist eine weitgehend aus der angelsächsischen, insbesondere nordamerikanischen Tradition politischen Denkens hervorgegangene Doktrin: eine Extremform des Liberalismus. Thomas Jefferson (1743-1826), der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeits- und Menschenrechtserklärung von 1776, hatte seine staatspolitische Überzeugung einmal in das bonmot gefasst: "Die beste Regierung ist die, die am wenigsten regiert." Und der amerikanische Publizist Benjamin R. Tucker (1854-1939), der repräsentativste Vertreter des IndA, sagte von sich und den Anhängern des IndA gelegentlich, sie seien eigentlich nur Jefferson'sche Demokraten mit Konsequenz: denn sie hätten den Mut, den folgerichtigen Schluss zu ziehen und auszusprechen, dass eigentlich doch keine Regierung die beste Lösung sei.Tucker nennt als die wichtigsten Einflüsse, die ihn zur Formulierung des IndA oder auch "philosophischen Anarchismus" geführt haben, an erster Stelle die Lehren des Amerikaners Josiah Warren, dann auch die des Franzosen Pierre-Joseph Proudhon (dessen »Qu'est-ce que la propriété« er 1876 ins Englische übersetzte). Weitere Einflüsse kamen von amerikanischen Freiheitsdenkern und -dichtern wie Stephen Pearl Andrews und Lysander Spooner sowie Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau, von den englischen Philosophen John Stuart Mill (1859: »On Liberty«) und Herbert Spencer (1884: »The Man versus the State«), aber auch von dem russischen kollektivistischen Anarchisten Michail Bakunin (dessen »Dieu et l'Etat« Tucker 1883 ins Englische übersetzte). Tucker gründete 1881 die Zeitschrift »Liberty« als Forum für ein breites Spektrum von Stimmen, die zu Problemen des IndA Stellung nahmen, und gab sie bis 1908 zunächst in Boston, dann in New York heraus.Die Wirkung der Ideen von Max Stirner (1806-1856) auf Tucker und den IndA verdient besonderes Interesse, und zwar deshalb, weil Stirner, seit er in den 1890er Jahren eine "Renaissance" erfahren hatte, immer wieder als der eigentliche Stammvater des IndA bezeichnet wurde und wird. Stirner wurde durch James L. Walker (1845-1904), einen sprachkundigen und umfassend gebildeten selfmademan, der, vielleicht Schmidt-Stirner folgend, unter dem Pseudonym Tak Kak schrieb, Ende der 80er Jahre in »Liberty« (1881-1908) zur Diskussion gestellt, zu einem Zeitpunkt, als Tucker die Grundauffassungen des IndA bereits formuliert hatte. Dies entzündete sogleich eine Kontroverse, bei der es um die grundsätzliche philosophische Frage ging, ob der IndA nun überhaupt noch, wie bisher, auf einer naturrechtlichen Basis stehen könne (Martin 1970, 249-254; Coughlin et al., 1986, 131-135). Walker verneinte dies; Tucker und einige weitere Anhänger des IndA folgten Walkers Argumenten und revidierten ihre Positionen. Die Folge war eine Spaltung der Bewegung des IndA, und Tucker verlor einige der besten Mitarbeiter von »Liberty«. Die Kontroverse um die Bedeutung Stirners für den IndA wurde mit einer überraschenden Heftigkeit und Erbitterung geführt, verlief sich aber bald im Unentschiedenen. Stirner war daraufhin in »Liberty« kein (umstrittenes) Thema mehr, und Walker blieb als Tak Kak zwar weiterhin »Liberty«-Autor, veröffentlichte aber seine von Stirner inspirierten Beiträge zur »Philosophie des Egoismus« jetzt woanders: in einem entlegenen Periodikum namens »Egoism«.Die Stirner-Kontroverse von 1887 war indes nicht wirklich erledigt. Sie schwelte untergründig weiter, in der Gruppe und in den einzelnen Individuen. Die Anhänger des IndA scheinen der von Stirner aufgeworfenen Problematik letztlich ebenso ausgewichen zu sein wie zuvor die Zeitgenossen Stirners (am folgenreichsten Marx), später eine stattliche Reihe prominenter Denker (am folgenreichsten Nietzsche) und im übrigen auch die meisten Anarchisten (vgl. Laska 1993, 1996). Diesem prekären und naturgemäß weitgehend in der Obskurität verbliebenen Prozess ist es wohl zu danken, dass eine englische Übersetzung von Stirners »Einzigem« erst mit zwanzigjähriger (!) Verspätung erschien, zu einer Zeit, als die Bewegung des amerikanischen IndA und »Liberty« bereits ihrem Ende nahe waren. Tucker selbst gab sie (»The Ego and His Own«) 1907 noch im eigenen Verlag heraus -- offenbar in einem letzten, eigene und fremde Widerstände überwindenden Kraftakt, denn er kommentierte seine Tat in einer der letzten Ausgaben von »Liberty« im Ton eines Vermächtnisses: "Ich habe mich über mehr als dreissig Jahre hinweg für die Verbreitung der Ideen des Anarchismus eingesetzt und dabei einiges erreicht, auf das ich stolz bin; aber ich glaube, dass ich nichts für die Sache getan habe, dessen Bedeutung an die Herausgabe dieses Buches heranreicht." -- Kurz darauf wurden Tuckers Geschäfts- und Lagerräume durch einen Brand völlig zerstört. Tucker war ruiniert, verließ die USA und ging nach Frankreich, wo er die restlichen drei Jahrzehnte seines Lebens in publizistischer Enthaltsamkeit verbrachte. Das Ende von »Liberty« im Jahre 1908 markiert auch das Ende der von Tucker geprägten Epoche des originären IndA.Der führende Vertreter des IndA in Deutschland war der Dichter und Schriftsteller John Henry Mackay (1864-1933), der zwar in Schottland geboren wurde, aber seit seinem zweiten Lebensjahr in Deutschland gelebt und nur in deutscher Sprache geschrieben hat. Mackay verkehrte in den 1880er Jahren zunächst im Milieu der jungen, rebellischen Dichter des aufkommenden Naturalismus, ging aber, da ihn die "soziale Frage" ernsthafter berührte als seine Kollegen, bald eigene Wege. Aufgrund des sozialkritischen Pathos seines ersten dichterischen Erfolgs, des Gedichtbandes »Sturm« (1888), feierte man ihn als "Sänger der Anarchie". Doch Mackay fühlte sich auch den Anarchisten, die vorwiegend kollektivistisch bzw. kommunistisch orientiert waren, keineswegs zugehörig. Erst die Bekanntschaft mit Tucker, sowohl durch dessen Zeitschrift »Liberty« (und deren zeitweilige deutsche Ausgabe »Libertas«) als auch durch persönliche Begegnung, eröffnete ihm die ersehnte politische Heimat. Mackay wurde ab etwa 1890 der wichtigste Vertreter des IndA in Deutschland. Er schrieb, neben seinem dichterischen Werk, zwei einschlägige »Bücher der Freiheit«, die er seinem Freunde Tucker widmete: 1891 »Die Anarchisten« und 1920 »Der Freiheitssucher«. Er gab »Flugschriften des Individualistischen Anarchismus« und seit 1895 eine Schriftenreihe »Propaganda des Individualistischen Anarchismus« in deutscher Sprache" heraus, in der vorwiegend Übersetzungen von Broschüren des amerikanischen IndA erschienen, als wichtigste die Tucker'sche Programmschrift »Staatssozialismus und Anarchismus«. Doch der stark angelsächsisch geprägte IndA fand in Deutschland nur wenige Anhänger (prominentester war der junge Rudolf Steiner - bevor er "Anthroposoph" wurde), und die Bewegung des IndA kam auch hier noch vor dem ersten Weltkrieg zum Erliegen; Mackays Versuch, sie nach 1918 neu zu beleben, scheiterte.Mackay hat den Eindruck erweckt, sein propagandistisches Wirken für den IndA stehe in engem, sachlichen Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Biograph und Herausgeber Stirners. Dadurch ist es üblich geworden, Mackay als authentischen Stirnerianer und Stirner als Patron des IndA anzusehen. Diese Zuordnungen können einer genaueren Prüfung freilich nicht standhalten. Es war zweifelsfrei Tucker, der den IndA konzipiert hat, und er hat dies bereits in den 1880er Jahren, ohne Kenntnis Stirners, getan. Der Stirner'sche Impuls hat dann zwar die Anhängerschaft des IndA stark irritiert, gleichwohl aber keinen Diskurs erzeugt, der den IndA grundlegend modifiziert oder gar die Ideen, die spezifisch Stirner'sche sind, wirklich integriert hätte. Mackay übernahm den IndA von Tucker in seinen wesentlichen Zügen und schrieb seine »Bücher der Freiheit« aus dem Geiste dieses IndA. Beide, Tucker und Mackay, bekannten sich zwar verbal, zuweilen sogar sehr emphatisch, zu dem auch unter Anarchisten unpopulären Stirner, wussten aber mit dessen spezifischen Begriffen, insbesondere mit dem der "Eigenheit", im Grunde wenig anzufangen; sie wären von Stirner, dem die "gleiche Freiheit Aller", die Grunddoktrin des IndA, ja von Kant her geläufig war, als bloße Freiheitsschwärmer verspottet worden.Der IndA war freilich mit dem Ende von Tuckers und Mackays Aktivitäten nicht gänzlich tot. Es gab, auch als Reaktion auf das weltweite Erstarken des Kollektivismus nach dem 1. Weltkrieg, immer wieder Denker, die, wie einst Tucker, selbständig an die individualistischen und liberalistischen Denktraditionen anknüpften und sie bis zu ("tendenziell") staatsverneinenden (und in diesem Sinne anarchistischen) Positionen zuspitzten. In Nordamerika wären hier Albert Jay Nock (1928: »Our Enemy, the State«) und Henry Louis Mencken zu nennen, im deutschsprachigen Raum etwa Franz Oppenheimer (1926: »Der Staat«), vielleicht auch die Ökonomen Ludwig von Mises und Friedrich August (von) Hayek (1944: »The Road to Serfdom«), die aber wohl nicht zufällig ihre Hauptwirkung in den USA entfalteten.Der IndA lebte aber auch in einigen Personen weiter, die Tucker noch persönlich kannten und für die die geschwundene öffentliche Attraktivität der Idee kein Grund war, sie zu verwerfen: in den USA beispielsweise in Laurance Labadie (1898-1975), der, als Sohn eines alten Kampfgefährten Tuckers, die Stafette des IndA weitergab an Männer wie James J. Martin und Murray N. Rothbard (Coughlin et al. 1986, S.116-130), "libertarians", die ihr in den 60er Jahren wieder zu publizistischer Präsenz verhalfen. Rothbard etwa unterzog (»The Spooner-Tucker Doctrine«, In: A Way Out, May/June 1965) den IndA einer gründlichen Revision, wobei er zwar, als Ökonom, dessen geldtheoretischen Vorstellungen als "Monetariomanie" verwarf, als Libertarier jedoch die politisch-anthropologischen Grundlagen des IndA voll und ganz akzeptierte.Auch in diesen neueren Diskussionen erwies die Chiffre "Stirner", die hier wiederum nur kurz auftauchte, ihre Kraft, eine Gruppierung in wenige (vielleicht nur vermeintliche) Anhänger und viele entschiedene Gegner Stirners zu spalten (vgl. A Way Out, Oct.1967, p.12-17); und auch diesmal vermied man es, die Grundfrage nach der Natur der "Freiheit", dieses geheiligten Schibboleths des IndA und des Libertariertums, mit Hilfe Stirners zu problematisieren und genauer zu untersuchen. Dabei kann es bei den Libertariern bzw. Anarcho-Kapitalisten, wie sich viele Vertreter eines modernen, modifizierten IndA auch nennen, keineswegs das Schreckwort "Egoismus" sein, welches sie Stirner ablehnen und ignorieren lässt (eines ihrer programmatischen Bücher, von Ayn Rand in den 60er Jahren verfasst, heisst sogar »The Virtue of Selfishness«); nein, es muss wiederum das sichere Gespür für eine bestimmte, in Stirners "Einzigem" latente Idee sein, das auch viele andere, die sich mit ihr konfrontiert sahen (von Marx über Nietzsche und Carl Schmitt bis zu Habermas), einer öffentlichen Auseinandersetzung mit aus dem Wege gehen ließ (vgl. Laska 1993, 1996).In Deutschland (Bundesrepublik) lebte der IndA wieder auf, als Kurt Helmut Zube (1905-1991), der Mackay noch persönlich kannte, 1974 die Mackay-Gesellschaft gründete. Die Selbstcharakteristik, die in den meisten ihrer Publikationen wie ein Impressum abgedruckt ist, spricht für sich: "Die Mackay-Gesellschaft, undogmatisch, anti-ideologisch, möchte Basis einer Diskussion über alle Probleme der Gesellschaftsordnung sein. Sie ist bemüht, ihre Argumentation nur auf beweisbare Tatsachen zu stützen. An solchen wird sie einige, nebst allen Konsequenzen daraus, vorstellen, die zu einer ganz neuen Denkungsart führen, wie bereits Albert Einstein sie als unumgänglich notwendig erklärt hatte." Die Mackay-Gesellschaft war publizistisch sehr aktiv und brachte neben Neudrucken von Schriften der Urheber des IndA, Tucker und Mackay, auch Erstübersetzungen anderer Vertreter des IndA sowie aktuelle Diskussionsbeiträge wie das »Manifest der Freiheit und des Friedens« von K.H.Z. Solneman [d.i. Zube] heraus. Sie trug dadurch gewiss zur Ausgestaltung des überkommenen Bestandes des IndA bei, verließ sich aber stets darauf, dass dessen theoretische Basis solide und vollendet ist und sprach deshalb bisweilen vom IndA als dem "wissenschaftlich-kritischen" Anarchismus. Zube sah in Mackay, dessen Abhängigkeit von Tucker er herunterspielte, den Vollender und damit auch Überwinder Stirners. Auch für Stefan Blankertz (1956-), der 1981 mit Zube einen ambitionierten Disput über die philosophischen Grundlagen des IndA führte, war Stirner kein Thema mehr; Blankertz fand stattdessen über einige Nebenwege zu einem IndA Rothbard'scher Prägung und entdeckte schließlich, nach gründlichem Studium des "subversiven" Thomas von Aquin, wie Rothbard, "dass es eine verborgene, fast heimliche Gedankenwelt des katholischen Anarchismus gibt" (»Vernunft ist Widerstand«, Köln 1993, S.8).Auch in anderen Ländern Europas entfalteten nach dem 2. Weltkrieg Vertreter des IndA publizistische Aktivität. In Frankreich gründete Emile Armand [d.i. Ernest-Lucien Juin] (1872-1962), der bereits von 1922-1939 die IndA-Zeitschrift »L'en dehors« herausgegeben hatte, schon 1945 die Zeitschrift »L'Unique«, die bis zu seinem Tode erschien. Armand, der sich in der Tradition Spooner-Tucker-Mackay sah und sich auch zu Stirner bekannte, legte besonderes Gewicht auf das Problem der sexuellen Befreiung. In Italien wirkte im Sinne des IndA vor allem Enzo Martucci (1904-1975), der ein »Manifesto dei Fuorigregge« und eine Reihe von Broschüren zum IndA verfasste. In England gibt Sidney E. Parker (1929-) seit 1963 eine Zeitschrift des IndA heraus (bis 1980 »Minus One«, bis 1994 »Ego«), in der einige interessante Debatten stattfanden. Parker, der von Anfang an weniger auf Tucker, stattdessen dezidiert auf Stirner Bezug nahm, sah sich seit ca. 1980 nicht mehr als Vertreter des IndA (vgl. »Ego« Nr.15, 1993, p.7), sondern als "bewusster Egoist", worunter er eine Position versteht, die der des "Anarchen" von Ernst Jünger (vgl. dessen »Eumeswil«, 1977; Laska, 1997) nahekommt.
Die Lehre des IndA entstammt in ihren wichtigsten Teilen der Tradition des angelsächsischen politischen Denkens. Sie ist die Extremform des Liberalismus: "Die beste Regierung ist (nicht eine minimale, sondern) keine Regierung". Die Anhänger des IndA wollen ihr Ziel, eine Gesellschaft der "gleichen Freiheit Aller", d.h. die Beseitigung des Staates als Träger und (gewalttätigem) Beschützer von Monopolen und damit Garant der Ungleichheit, in erster Linie mit den Mitteln der Aufklärung und der Verweigerung (Steuerstreik) erreichen; Gewalt betrachten sie als untaugliches Mittel.Der Begründer und repräsentativste Vertreter des IndA ist der amerikanische Publizist Benjamin R. Tucker (1854-1939). Der bekannteste deutsche Vertreter des IndA ist John Henry Mackay (1864-1933). Einige der seit den 60er Jahren in den USA wirkenden "Anarcho-Kapitalisten", namentlich Murray Rothbard (1926-1995), können, auch wenn sie sich nicht explizit auf Tucker oder den IndA berufen, wegen ihrer Grundauffassungen als Vertreter eines modernisierten IndA betrachtet werden.Die verbreitete Auffassung, der Urvater des IndA sei Max Stirner (1806-1856), ist in historischer und in sachlicher Hinsicht falsch. Tucker formulierte das Konzept des IndA, bevor er auf Stirner stieß. Er und Mackay bekannten sich dann zwar (auch) zu Stirner; sie rezipierten ihn jedoch nicht vollständig und erkannten nicht, dass Stirner gerade eine Lehre wie den IndA als Freiheitsschwärmerei verspottete: für Stirner war (äußere) "Freiheit", wie sie der IndA (für innerlich nach wie vor "unfreie" Menschen) forderte, eine bloße Chimäre.
Ein paar Jahre zuvor hatte bereits der deutsch-schottische Anarchist und Literat John Henry Mackay sich Stirners Erbe angenommen und ihn zum Vorläufer des individualistischen Anarchismus verklärt – eine Einordnung, die sich bis heute in den meisten einschlägigen Nachschlagewerken findet. Dennoch tat und tut sich die anarchistische Bewegung schwer mit diesem Philosophen; er nimmt die Rolle des sprichwörtlichen „schwarzen Schafes“ in der anarchistischen Großfamilie ein. Während der anarchistische Historiker Max Nettlau bedenkenlos Max Stirner ein eigenes Kapitel im „Vorfrühling der Anarchie“ widmete und bereute, daß er Mackay den Vortritt beim Verfassen einer Stirner-Biographie ließ, hob der deutsche Anarcho- Syndikalist Rudolf Rocker besonders dessen Sonderstellung am Rande des Anarchismus hervor und der anarchistische Fürst Pjotr Kropotkin wetterte gegen den „aristokratischen Individualismus“ eines Stirners. Auf der anderen Seite – besonders in Kreisen von nicht-anarchistischen Stirner- KennerInnen – wird vor der Verkürzung Stirners auf seine, mit dem Anarchismus konform gehenden Aussagen gewarnt bzw. eine Einordnung in die Traditionslinie des Anarchismus per se verworfen. Die Bandbreite seiner Rezeption in den unterschiedlichsten politischen und kulturellen Strömungen scheinen die Argumentation zu unterstützen.Wer aber war Max Stirner und was war seine Philosophie, über die und deren Erbe so viel Uneinigkeit herrscht?Am 25. Juni 1806 wurde Johann Caspar Schmidt, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, in Bayreuth geboren. Mit 20 Jahren zog es ihn nach Berlin, wo er an der Berliner Universität, der heutigen Humboldt Universität, Philosophie, Philologie und Theologie bei Koryphäen wie Hegel und Schleiermacher studierte. Seine Abschlußarbeit „Über Schulgesetze“ von 1834 stand noch deutlich unter dem Einfluß seines Lehrers Hegel. Nach seinem Studium arbeitete Max Stirner, wie er seit seiner Studienzeit aufgrund seiner auffällig hohen Stirn genannt wurde, als Privatlehrer. Seit dem Jahre 1841 tauchte er regelmäßig in der Kneipe Walburg und später dann in der Hippel’schen Weinstube auf, wo sich um die beiden Brüder Bruno und Edgar Bauer ein Kreis von oppositionellen Intellektuellen formierte. Begünstigt durch das Gesprächsklima, das in jenem Intellektuellenzirkel, der als „Kreis der Freien“ bekannt wurde, herrschte und in Diskussionen mit anderen Junghegelianern wie Ludwig Feuerbach, Friedrich Engels und Arnold Ruge, vollzieht sich sein Bruch mit der Philosophie seines geistigen Mentors Hegel. In jener Zeit entstehen auch seine ersten Beiträge für oppositionelle Zeitungen, in denen er sich über tagesaktuelle Probleme der Philosophie, Pädagogik und Theologie äußerte. Sein dreiteiliger, 1842 in der von Karl Marx redigierten Rheinischen Zeitung erschienener Beitrag „Über das unwahre Prinzip unserer Erziehung“ gilt als ein Klassiker der Alternativpädagogik und beeinflußte maßgeblich das Waldorfpädagogikkonzept eines Rudolf Steiners als auch die antipädagogischen Diskussionsansätze der 1970er und 80er Jahre.Als Max Stirners Hauptwerk „Der Einzige und sein Eigentum“ 1844 bei dem für die Veröffentlichungen von oppositionellen sozialistischen und demokratischen Publikationen bekannten Verleger Otto Wiegand erschien, erregte es kurzfristig die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. In einer kühnen Weise polemisierte Stirner gegen Hegel und seine eigenen Zeitgenossen, die ihm in seiner Kritik am Hegel’schen System nicht weit genug gingen, um die Philosophie wieder auf das konkrete, sich-selbst bewußte Individuum zurückzuführen, als Maß aller Dinge. Das programmatische Leitmotiv seines Werkes – „Ich hab’ Meine Sach’ auf Nichts gestellt!“ – ist dem Gedicht „Varitas! Vanitatum vantas!“ von Johann Wolfgang Goethe entnommen – wie auch der sehr zentrale Begriff der „Eigenheit“. Hinter dem Begriff der „Eigenheit“ verbirgt sich im Werke Stirners die zentrale Eigenschaft seines idealisierten, konkreten Individuums – dem „Eigner“. Es handelt sich dabei um die Rückbesinnung auf die eigene Individualität und die Anerkennung der eigenen Potentiale als Grenzpfosten der Freiheit. Er predigt in diesem Zuge einen existenzialistischen Egoismus, der mit der Negierung jeglicher, dem konkreten Individuum übergeordneten Werte, Prinzipien und Institutionen einhergeht.Die Negierung der Theologie, des Staates und der das Individuum einengenden gesellschaftlichen Begrenzungen auf dem Weg zur Befreiung des Individuums weisen deutliche Bezüge zu anderen anarchistischen TheoretikerInnen auf. Ebenso besitzt sein alternatives Gesellschaftskonzept, welches er unter das Schlagwort „Verein von Egoisten“ faßte, eine starke Affinität zur Kropotkin’schen Vorstellung einer „freien Vereinbarung“. Bereits vor Nietzsche entwertet er alle Werte und die Moral und erhebt sich – philosophisch gefestigter als sein potentieller Vorläufer, der französische Erotikschriftsteller Marquis de Sade – zum Überwinder jeglicher Moral, die das konkrete Individuum bedrückt. Bei diesem Schritt zeigt sich eine deutliche Differenz zu anderen anarchistischen Klassikern, die von einer naturgegebenen Moral – dem positiven Menschenbild innewohnend – ausgehen. Desweiteren bietet seine konsequente Ablehnung und Bekämpfung von „fixen Ideen“, die er als Ideen bezeichnet, die sich den Menschen unterworfen haben (überindividuelle Ziele wie z.B. das Streben nach „Freiheit“, „Gleichheit“ oder Prinzipien), bei oberflächlicher und verkürzter Lesart die Möglichkeit, ihm die Zugehörigkeit zum Anarchismus abzusprechen. Ebenso wird wiederholt ins Feld geführt, daß er sich negativ in seinem Werk über den französischen Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon äußerte.In mehreren deutschen Staaten wurde dieses Werk sofort verboten; in Sachsen dauerte allerdings das Verbot nur wenige Tage. Es wurde wieder zugelassen mit der Begründung, daß es zu absurd sei, um eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darzustellen. Auch seine Diskussionspartner lassen nicht lange mit einer Reaktion auf sich warten. Ludwig Feuerbach, der Bruno Bauer-Schüler Szeliga, Moses Hess Karl Marx und Friedrich Engels greifen zur Feder. Erstgenannte, um sich gegen die von Stirner implizierten philosophischen Angriffe zur Wehr zu setzen, letztere beiden, um im Rahmen ihrer Auseinandersetzung in der „Deutschen Ideologie“ unter dem Titel „Sankt Max“ ihre eigene Position zu schärfen – im Falle Engels, der noch kurz zuvor die Intelligenz und den Scharfblick Stirners gepriesen hatte, um auch die eigene Position zu revidieren. Ihre sehr polemische Auseinandersetzung, die von ihrer Länge her den Originaltext Stirners überbietet, erschien erst postum im Jahre 1903. Zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung im Jahre 1845 hatte bereits das Interesse an einer philosophischen Auseinandersetzung mit Stirner nachgelassen.Stirner trat in den Folgejahren noch als Übersetzer von Jean Baptist Says „Ausführliches Lehrbuch der praktischen politischen Ökonomie“ und Adam Smiths „Untersuchungen über das Wesen und die Ursachen des Nationalreichtums“, als Herausgeber einer zweibändigen Ausgabe der „Geschichte der Reaktion“ in Erscheinung und veröffentlichte einige, wenig beachtete Artikel. Beide Übersetzungen galten bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts als Standardübersetzungen in den Wirtschaftswissenschaften.Der Versuch Stirners, eine Milchversorgung für Berlin aufzubauen, scheiterte kläglich an der fehlenden Werbung und bescherte ihm einen finanziellen Ruin, aus dem er nieder wieder heraus kam. Seine letzten Lebensjahre waren von der Armut und der Flucht vor seinen Gläubigern geprägt. Er verstarb am 25. Juni 1856 und wurde in einem Armengrab auf dem Sophienstädtischen Friedhof in Berlin verscharrt. Jahrzehnte später nahm sich die Stadt Berlin seines Grabes an und erklärte es zu einem „Ehrengrab“ (s. http://www.berlin.friedparks.de/such/gedenkstaette.php?gdst_id=281) und benannte eine Straße nach ihm.Der deutsch-schottische Literat John Henry Mackay beschäftigte sich Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts mit Stirner, widmete ihm seinen Sittenroman „Die Anarchisten“ und verfaßte eine akribisch recherchierte Biographie des „bedächtigen Schrankenhassers“ (Engels). Fast zeitgleich begann – unabhängig von seinem Bemühen – eine neue Welle der Stirner- Rezeption.Den Auslöser bildete die aufkeimende Nietzscherezeption in den 90er Jahren, die auf der Suche nach Ursprüngen und Vorläufern Nietzsches auf Stirner stieß. Die Frage inwieweit der Dichterphilosoph den Junghegelianer gelesen und rezepiert hat, ist umstritten und wird auch noch in der neueren Nietzscheliteratur kontrovers diskutiert. Unbestreitbar ist, daß er Stirner kannte und einem seiner Studenten ihn zur Lektüre empfahl. In der Folgezeit wurde Stirners Philosophie von der Freiwirtschaft als philosophischer Unterbau zu Rate gezogen, diente bekannten Dadaisten und Surrealisten als Inspirationsquelle und bereitete dem Existenzialismus maßgeblich den Weg.Getreu der alten Weisheit, daß der Prophet im eigenen Lande nichts gilt, hat sich in Frankreich, wo er durch die beiden Vordenker der Postmoderne – Jacques Derrida und Michel Foucault – rehabilitiert wurde, und vor allem in Italien, im Gegensatz zu Deutschland, in den letzten Jahren eine ernsthafte und unverkrampfte akademische Kultur der Auseinandersetzung mit Max Stirners Philosophie herausgebildet. Das renommierte „Istituto Italiano per gli Studi Filosofici“ (IISF) lud z.B. im Mai diesen Jahres zu einem wissenschaftlichen Symposium über das Werk Stirners unter dem Titel „Il Nichilismo di Max Stirner e la legge umana e divina“ nach Neapel.In Deutschland war die zweite Stirner-Renaissance in den 60er Jahren, die auch heute noch nachwirkt, von der Marx’schen Kritik an Stirner geprägt – aktualisiert durch die viel beachtete 1966 veröffentlichte Promotion „Die Ideologie der anonymen Gesellschaft“ des kommunistischen Historikers Hans G. Helms. Erst langsam kommt es zu einer objektiveren Auseinandersetzung mit Stirners Philosophie. Die Renaissance anarchistischen Gedankenguts in den 60er Jahren beförderte auch in den Kreisen der 68er Bewegung Max Stirner wieder ans Licht. Unterschiedliche AutorInnen lieferten sich in Publikationen des SDS Stellvertreterkriege über den emanzipatorischen bzw. reaktionären Gehalt des Stirner’schen Werkes. In den Publikationen des Neo- Anarchismus spielt(e) er nur noch eine untergeordnete Rolle – genauso wie jene Strömung des individualistischen Anarchismus, die sich auf ihn beruft.Anläßlich seines 200. Geburtstages und seines 150. Todestages finden in Deutschland diverse Veranstaltungen über Stirners Leben und Werk statt. Am 25. Juni wird eine Ausstellung in der Stadtsparkasse in Bayreuth eröffnet, in der über das Leben, Werk und die unterschiedlichen Rezeptionslinien informiert wird; ab Oktober wird diese Ausstellung in Berlin gezeigt werden. Weiterhin lädt die Max Stirner Gesellschaft vom 25. bis 28. Oktober zu einem internationalen und interdisziplinären Stirnersymposium unter dem Titel „Zur Aktualität der Philosophie Max Stirners. Seine Impulse für eine interdisziplinäre Diskussion der kritisch- krisischen Grundbefindlichkeit des Menschen“ nach Berlin ein.
Die Auseinandersetzung der Anarchisten mit der kommunistischen Bewegung in der Weimarer Republik ist kein Novum in der Geschichte der sozialistischen Bewegung. Die Ursprünge der Auseinandersetzungen zwischen Antiautoritären und Autoritären liegen bereits in der Zeit der ersten Internationalen, in der es zum Streit zwischen Michail Bakunin und Karl Marx kam, welcher zum Ausschluss Bakunins und der Anarchisten und letztendlich zum ersten Bruch zwischen Anarchisten und Kommunisten führte.Der antistaatliche Sozialist bzw. Anarchist Bakunin kritisierte in scharfer Form die Absicht der autoritären Sozialisten um Karl Marx den bestehenden Staat nach einer Revolution aufrechtzuerhalten, ja sogar auszubauen, um eine Diktatur des Proletariats zu installieren. (1) Bakunin und seine Anhänger glaubten nicht, dass der Gang aus der einen Unterdrückung in die nächste der Weg zur Freiheit sei. "Bakunin unterstellte Marx schreckliche autoritäre Absichten, einen Durst nach der Herrschaft über die Arbeiterbewegung, dessen Züge er sicherlich überzog." (2) Marx verleumdete daraufhin Bakunin und lässt auf dem Haager Kongreß 1872 seinen Ausschluss beschließen.Doch wo liegen die inhaltlichen Unterschiede zwischen Kommunisten und Anarchisten die zu diesem ersten großen Bruch führten und in der Geschichte bis heute immer wieder Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern verursachten? Bevor ein Versuch gestartet werden kann diese Frage zu beantworten ist es wichtig festzustellen, dass es weder bei den Kommunisten und noch viel weniger bei den Anarchisten eine einheitliche Lehre gibt, unter der wir alle Anhänger einer Richtung zusammenfassen können.Marx selbst unterscheidet sich in seinen Schriften über die Jahre und macht Entwicklungen durch. Es gibt nicht den einen Marx mit einer einheitlichen Einstellung. (3) Zusätzlich wurden seine Schriften von denen, die sich selber Marxisten nannten über die Jahre verschieden interpretiert und seine Ideen unterschiedlich weitergeführt. Viel schwieriger noch ist die Differenzierung bei den Anarchisten. Da der Gedanke des Anarchismus eine ständige Weiterentwicklung und einen damit verbundenen Antidogmatismus für sich beansprucht gibt es hier viele verschiedene Ansätze und Vorstellungen vom Anarchismus. Auch wenn im weiteren Verlauf häufig von "den Anarchisten" oder "den Kommunisten" gesprochen wird, ist es wichtig im Hinterkopf zu behalten, dass diese auch in sich nicht immer einig sind und dass es punktuelle Meinungsverschiedenheiten auf beiden Seiten gibt.Trotz dieser notwendigen Differenzierung lassen sich einige grundlegende Unterschiede in den Ideen der Kommunisten und Anarchisten feststellen. Die Abschaffung des Kapitalismus und die Befreiung der Arbeiterklasse aus der Unterdrückung durch die Bourgeoisie als Ziel ist beiden eigen und auch die staatenlose, freie Gesellschaft streben beide an. Nur unterscheiden sie sich fundamental in der Ansicht, wie dieses Ziel zu erreichen sei. Wie schon oben erwähnt lehnen die Anarchisten den Staat grundsätzlich ab und sind willens mit jeder Regierung zu brechen. Sie glauben nicht, dass eine Übernahme des Staates, wie die Kommunisten sie propagieren, die Lösung des Problems sein kann, da der Staat das Problem ist. Die Kommunisten hingegen sind der Überzeugung der Staat und die Staatsgewalt müssten übernommen werden um sich gegen die Angriffe der Konterrevolution schützen zu können und um systematisch den Kapitalismus abzuschaffen. Ist dies erreicht würde, nach Meinung der Kommunisten, der Staat überflüssig werden und absterben. Gerade hier sind die Anarchisten skeptisch, da sie bezweifeln, dass ein kommunistisches Regime die Führung und damit verbundene Macht wieder abgeben würde. Die Geschichte hat uns gezeigt, dass die Anarchisten Recht behalten sollten. Alle Versuche über den Staatssozialismus den Kommunismus zu errichten sind gescheitert und endeten in einer Diktatur der Partei oder einzelner Diktatoren und nicht der des Proletariats.Zwar haben Anarchisten und Kommunisten auch nach dem Bruch in der ersten Internationalen zusammengearbeitet, aber es endete oftmals tragisch für die Anarchisten. Hier wäre z.B. die russische Revolution und der spanische Bürgerkrieg zu beachten. In Deutschland waren die linksradikalen Gruppierungen während der Revolutionsmonate 1918/19 kaum zu unterscheiden weder hinsichtlich des Programms noch der Handlungen. Vordergründig war der Wille nach Beseitigung des kapitalistischen Wirtschaftssystems und die Durchsetzung einer Räteherrschaft. (4) Die geringen Unterschiede in den gestellten Forderungen zwischen den neuen Organisationen und Parteien führte dazu, dass es nicht es nicht ungewöhnlich war, wenn jemand in mehreren Gruppen gleichzeitig Mitglied war. Bis zum Ende des großen Bergarbeiterstreikes an der Ruhr im April 1919 hielt diese Aktionseinheit. Die "Allgemeine Bergarbeiter Union" in der sich diese Bewegung zusammengeschlossen hatte wurde zerschlagen und die verschiedenen Fraktionen entfernten sich voneinander. Nun wurden ideologische Grenzen zwischen den einzelnen Gruppen und Parteien gezogen.Ein Beispiel für diese Entfremdung gab es von Seiten der KPD im Ruhrgebiet allerdings schon im Februar/März 1919. Die Zeitung "Freiheit" von Mülheimer Syndikalisten (von frz.: syndicat=Gewerkschaft) wurde von der KPD auf undurchsichtige Art und Weise übernommen und als "Organ der kommunistischen Partei" deklariert. Daraufhin wurde die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVDG), die zu diesem Zeitpunkt von Anarchosyndikalisten dominiert war, in einem Artikel vom 4. März als politischer Gegner bezeichnet, "da sie nur die wirtschaftliche Revolution anstrebe und nicht die der KPD wichtigere politische Revolution". (5) Die Syndikalisten aus der FVDG begannen mit der Propaganda gegen die "drei sozialdemokratischen Parteien" spätestens im Sommer 1919. Damit meinten sie die SPD, die USPD und die KPD. (6) Der Bruch begann und es gründeten sich verschiedene neue Organisationen, die sich inhaltlich voneinander abgrenzten. Hauptsächlich waren es die Auseinandersetzungen zwischen Syndikalisten und Parteikommunisten, die den Konflikt zuspitzten. So gab die KPD (Spartakusbund) im August 1919 einen Vortrag von F. Brandt heraus mit dem Titel "Syndikalismus und Kommunismus", in dem es im Wesentlichen um Unterschiede syndikalistischer und kommunistischer Auffassungen in Bezug auf Ziele (Staat und Wirtschaft), Taktik und Organisationsform geht.(7) Sein Fazit ist, dass ein Syndikalist in der kommunistischen Partei fehl am Platz ist. In Anbetracht dieser Spannungen, die im Jahre 1919 entstanden, wird sich der folgende Text mit dem Verhältnis von Anarchisten und Kommunisten in Deutschland zwischen 1920 und 1933 beschäftigen.
Nach dem Bruch 1919 gab es eine Vielzahl an anarchistisch/syndikalistisch orientierten Gruppierungen wie auch an kommunistischen Organisationen. Die beiden größten und einflussreichsten sind aber in jedem Fall die KPD und die anarchosyndikalistische "Freie Arbeiter Union Deutschlands" (FAUD).Die KPD verfolgte Anfang der 1920er Jahre einen stark parteizentralistischen Kurs und bemühte sich die Radikalen und die Syndikalisten aus ihren Reihen zu drängen. Sie bejahte den Parlamentarismus und arbeitete in den reformistischen Gewerkschaften, d.h. sozialdemokratisch dominierten, mit. Dies führte zur Spaltung der Partei und zur Gründung der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands (KAPD). Die KAPD wurde vom "radikalen" Teil der Partei gegründet. Die nun etwa um die Hälfte geschrumpfte KPD näherte sich der USPD an und schloss sich 1920 mit dieser zur Vereinigten Kommunistischen Partei (VKPD) zusammen. Die KPD konnte so mit 350.000 Mitgliedern die größte Mitgliederzahl bis 1933 erreichen. Die FAUD entstand als sich im Dezember 1919 auf ihrem 12. Kongress die FVDG in die FAUD umbenannte und Rudolf Rockers Prinzipienerklärung als Leitlinie syndikalistischer Arbeit festsetzte. Die FAUD war im absoluten Gegensatz zur KPD für eine "wirtschaftliche" Kampforganisation, war antistaatlich und lehnte die Eroberung der politischen Macht und damit auch die Beteiligung an parlamentarischen Wahlen ab. Zusätzlich gab es noch verschiedene kleinere Gewerkschaften und Organisationen, die teilweise unter dem Einfluss der KPD waren und teilweise inhaltlich der FAUD näher standen. Die KPD hatte eine recht diffuse Taktik gegenüber den Gewerkschaften, die sich von Zeit zu Zeit änderte. So war es Anfangs nicht ungewöhnlich, dass KPD Anhänger auch gleichzeitig in syndikalistischen Gewerkschaften Mitglieder waren. Dies änderte sich allerdings als sich die KPD mit dem zunehmenden Konflikt zwischen Syndikalisten und Kommunisten von den syndikalistischen Gewerkschaften abwendete.Wichtig ist es hier die FAU Gelsenkirchener Richtung zu erwähnen. Sie war ein Relikt aus dem Ruhrbergarbeiter-Streiks von 1919. Zu dieser Zeit hatte die linkskommunistische Mehrheit der KPD den Eintritt in die Unionen gefordert. Sie stand unter dem starken Einfluss der KPD und arbeitete eng mit ihr zusammen und wurde deshalb von der FAUD abgelehnt. So sagte Fritz Kater, Vorsitzender der FAUD (Syndikalisten) auf ihrem Gründungskongress als er gefragt wurde "auf welchem Boden die Freie Arbeiter-Union der Bergarbeiterrichtung Gelsenkirchen" stehe: (8) "Soweit ich informiert bin, sind sie Gegner der Freien Arbeiter-Union. Sie arbeiten für die kommunistische Partei, an manchen Stellen für die U.S.P." (9)Die Syndikalisten hatten sich nun also mit der Gründung der FAUD organisiert und die Kommunisten, nun in der VKPD organisiert, traten, nach offiziellem Kurs, in großen Teilen in die bestehenden sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaften ein und versuchten diese zu unterwandern. Nur wenn eine Gewerkschaft kommunistisch dominiert war sollte der Anschluss an die Rote Gewerkschaftsinternationale (RGI) vorgenommen werden, dem gewerkschaftlichen Gegenstück zur 3. Internationale. Die internationale Organisation der Syndikalisten zu dieser Zeit war die IAA (Internationale Arbeiter Assoziation), die nach der ersten Internationalen benannt war. Entgegen dieser "offiziellen" Taktik versuchte die KPD aber auch weiterhin Einfluss auf die offiziell parteiunabhängige FAU Gelsenkirchener Richtung zu nehmen. Als gewerkschaftlicher Vorläufer der linkskommunistischen KAPD wurde 1920 die Allgemeine Arbeiter-Union Deutschlands (AAUD) gegründet.Die Bergarbeiterunion, als Überrest des Bergarbeiterstreiks, hatte sich zwar kurzzeitig der FAU-Gründung in Rheinland-Westfalen angeschlossen, konstituierte sich aber im September 1921 als Union der Hand- und Kopfarbeiter Deutschlands (UdHuK), indem sie sich mit oppositionellen Verbänden anderer Berufsgruppen zusammenschloss und vergrößerte. Anders als die FAUD schloss sie sich der RGI an. (10) Diese Gruppierungen sind sicherlich nicht alle, die es zu dieser Zeit gab und bis 1933 werden auch noch Namen anderer Gruppen auftauchen. Sie sind aber mit Sicherheit die wichtigsten, wenn es darum geht sich mit der Auseinandersetzung zwischen Anarchisten und Kommunisten zu dieser Zeit zu beschäftigen. Die FAUD und die KPD waren reichsweite Organisationen, die schlichtweg zusammen mit der KAPD und ihrer Gewerkschaft der AAUD als die wichtigsten Organisationen aus der Linken zu dieser Zeit zu bezeichnen sind.
Die Frage der Organisierung ist ein elementarer Streitpunkt zwischen den antiautoritären Anarchisten und den autoritären Kommunisten. Während die KPD, in der die große Masse der Kommunisten organisiert war seit der Annahme des Levi-Kurses auf straffe Parteizentralisation setzte war die FAUD(S) föderalistisch organisiert.Sie lehnte jegliche Parteiarbeit ab und konzentrierte sich auf den wirtschaftlichen Kampf. Die Syndikalisten lehnten autoritäre Führungen, wie sie in der KPD, die hierarchisch in Betriebs- und Straßenzellen, Orts- und Stadtteilgruppen, Bezirke und Unterbezirke aufgeteilt war, die dem ZK unterstanden, üblich waren, ab. Die auf ganzer Linie unterschiedliche Taktik der KPD und der Syndikalisten beruhte auf der unterschiedlichen Ansicht bezüglich der Revolution und wie die Organisation der Gesellschaft nach jener erfolgreich abgeschlossenen auszusehen habe. Die KPD war Verfechter der politischen Revolution, d.h. sie versuchten entweder auf parlamentarischen oder auf gewaltsamen Wege die Herrschaft an sich zu reißen um dann durch die Diktatur des Proletariats den Sozialismus zu errichten. Zentralisation und Autorität waren hier also unabdingbar und da zu jener Zeit ein Großteil derer, die politisch links von der SPD standen, an die baldige Revolution glaubte, wurde die Partei so konzipiert, dass sie nach der Revolution die Macht und den Staat an sich reißen und ihn gegen die Angriffe der Konterrevolution verteidigen könne. Für die Syndikalisten hingegen war dies ein schrecklicher Gedanke, da sie in der politischen Revolution nur den Austausch der Unterdrücker sahen, nicht aber ihre Beseitigung. Nach ihrer Ansicht würden die Arbeiter nach einer Übernahme des Staates durch die Kommunisten nun zwar nicht mehr von der Bourgeoisie, aber eben von der Partei unterdrückt und ausgebeutet werden.Die Syndikalisten setzten auf die soziale Revolution. Sie wollten die Unterdrückung beenden und zwar nicht durch die Übernahme des Staates, sondern durch seine Beseitigung. Auf wirtschaftlicher Ebene sollte die Macht und Herrschaft der Bourgeoisie geschwächt und abgeschafft und eine neue Regierung nicht akzeptiert werden. Statt dessen sollte die Gesellschaft durch föderalistische Räte organisiert werden. Diese sollten nicht auf politischer Ebene, sondern auf wirtschaftlicher Ebene, d.h. in den Betrieben agieren.So sollten sich erst einmal "Vereinigungen aller Berufe" (11) in den Orten bilden. Waren in solch einer Vereinigung mehr als 25 Personen des selben Berufszweiges vertreten sollten diese einen neuen Ortsverein bilden. Laut Geschäftskommission gab es im November 1922 im ganzen Reich 214 "Vereinigungen aller Berufe" und geordnet nach Mitgliederstärke 126 Bergarbeiter Ortsvereine, 80 Ortsvereine der Metallarbeiter, 43 aus den Bauberufen, 12 der Verkehrsarbeiter, 2 Lederarbeiter Ortsvereine und jeweils einen Ortsverein der Glaser, Töpfer und Kopfarbeiter. (12) Diese Verteilung wird wohl konstant gewesen sein, besonders die hohe Anzahl an Berg- und Metallarbeiter Ortsvereinen erscheint aufgrund der damaligen Zeit klar. Ein lokaler Verein hatte völliges Selbstbestimmungsrecht und es gab in jedem Ort eigene Satzungen, die den gegebenen Verhältnissen angepasst waren. Diese Satzungen konnten frei bestimmt werden und durften lediglich den Grundsätzen der FAUD nicht widersprechen. Von unten nach oben sollten sich diese Vereine als Industrieföderationen auf Reichsebene organisieren.Obwohl eigentlich 12 Industrieföderationen vorgesehen waren kamen nur 5 zustande:
Mindestens alle 2 Jahre musste der Kongress einberufen werden, der die oberste Vertretung der FAUD war und an dem Mitglieder der einzelnen Ortsvereine teilnahmen, die unabhängig von der Größe der Ortsvereine das gleiche Stimmrecht hatten. Dies beruhte, wie viele Elemente der Organisation, auf dem französischen Vorbild der CGT, der größten syndikalistischen Gewerkschaft in Frankreich. Dieser Kongress war neben der Geschäftskommission und der Zeitung "Der Syndikalist" die wichtigste überregionale Einrichtung der Freien Arbeiter Union. Er entschied über Anträge und war für die Überwachung der Tätigkeit der Geschäftskommission zuständig, die auch vom Kongress gewählt wurde. Sie war das oberste Exekutivorgan der FAUD und hatte ihren ständigen Sitz in Berlin. Die FAU finanzierte sich durch die Mitgliedsbeiträge, die von den Ortsvereinen eingezogen wurden. Jedes Mitglied sollte mindestens 1% des Wochenlohns als Wochenbeitrag abgeben, das liegt unter dem Beitrag des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) zu dieser Zeit. Alle Funktionen galten allgemein als ehrenamtlich, allerdings wurde ca. 5 Leute für ihre Agitationsarbeit entschädigt. Das wichtigste Organ war die bereits erwähnte Zeitung "Der Syndikalist", die 1920 mit etwas 120.000 Exemplaren die höchste Auflage erreichte.Zwischen 1921 und 1924 erschien auch noch die Zeitung "Die Schöpfung". (14) Wie bereits erwähnt unterscheiden sich die beiden Organisationsformen fundamental, wobei die Strukturen der FAUD aufgrund ihrer Ablehnung hierarchischer Strukturen weitaus komplizierter waren als die der zentralistisch organisierten KPD. Die KPD kritisierte deshalb die Syndikalisten und warf ihnen vor nicht entschlossen genug den politischen Kampf zu führen. Die Syndikalisten hingegen sahen in der autoritären Struktur der KPD einen Widerspruch zu ihrer libertären Gesinnung und lehnten diese ebenfalls entschieden ab.
Gerade deshalb ist es interessant, dass Anfang der 1920er Jahre trotz der Differenzen dieser beiden großen Organisationen viele Arbeiter Mitglieder in beiden Organisationen waren. Dies änderte sich über die Jahre, sicherlich auch durch die Aufforderung beider Seiten sich von den Gegnern zu entfernen. Die Syndikalisten begannen spätestens Mitte 1921 sich von den politischen Parteien abzugrenzen. Dies wurde offiziell deutlich gemacht als auf dem 13. Kongress der FAUD (S) im Oktober 1921 folgende Resolution verabschiedet wurde: "Der Föderalismus verlangt Selbstverantwortung und Entscheidungsfreiheit. Demzufolge können die Mitglieder syndikalistischer Organisationen einer politischen Partei nicht angehören." (15)Wie schon in der Einleitung erwähnt hatte die KPD bereits 1919 begonnen die Syndikalisten in der KPD an den Rand zu drängen und ihnen klar zu machen, dass die Partei es nicht dulde, wenn syndikalistische Propaganda, die der Parteihaltung widerspricht, innerhalb der Partei durch Mitglieder syndikalistischer Gewerkschaften verbreitet würde. So gab es schon 1919 einen Aufruf der KPD-Zentrale mit dem Titel "An die Syndikalisten in der KPD!" (16), der den Standpunkt der Partei zu diesem Thema verdeutlichte. Das Verhältnis der FAUD zu den reformistischen bzw. sozialdemokratischen Gewerkschaften war weitgehend von Konkurrenz geprägt. So wirkten sich rückläufige Mitgliederzahlen bei den einen meist positiv bei den anderen aus. Die KPD versuchte wie bereits erwähnt die sozialdemokratischen Gewerkschaften zu unterwandern und in ihrem Sinne zu radikalisieren. Das Verhältnis der FAUD und der zu den anderen kleineren Gewerkschaften war von Ort zu Ort unterschiedlich und widersprach teilweise den Publikationen und Ansichten der reichsweiten Organe der FAUD. Durch die Autonomie der Ortsgruppen konnte jedoch eine punktuelle Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und Organisationen, z.T. sogar mit der KPD, stattfinden auch wenn dies nicht im Sinne der reichsweiten Organisation war.
Die Hochzeit der FAUD war zwischen 1920 und 1923. In diesen Jahren stiegen ihre Mitgliederzahlen an und die FAUD gewann an Stärke und Handlungsfähigkeit. Dies zeigt z.B. die Entwicklung der Metallarbeiter-Föderation: 1920 zählte sie 39 Ortsvereine, 1921 83 und 1922 107. (17) Die Mitgliederzahlen der FAUD von 1922 und 1925 machen den Rückgang an Mitgliedern deutlich: 1922 fasste die FAUD ca. 70.000 Mitglieder, 1925 nur noch 25.000. Ein wesentlicher Faktor für den Rückgang war die Inflation, die auch dem ADGB zu schaffen machte. Ein weiterer Grund für den Austritt vieler Mitglieder war die Einstellung der Erwerbslosenunterstützung durch die Gewerkschaften und die Enttäuschung vieler Arbeiter, dass es den Gewerkschaften nicht gelungen war die Abschaffung des 8-Stunden-Tages zu verhindern. So ist auch zu vermuten, dass ein Großteil der ausgetretenen Arbeiter sich nicht in anderen Gewerkschaften organisierte, sondern resignierte und in keine anderen Verbände eintrat. (18)Als die KAPD sich 1920 von der KPD abspaltete waren in beiden Parteien ca. 50.000 Mitglieder organisiert. Als sich dann die USPD und die KPD zur VKPD zusammenschlossen war mit 350.000 Mitgliedern der höchste Mitgliederstand bis 1933 zu verzeichnen. (19) Wahrscheinlich aufgrund der missglückten Aufstandsversuche zwischen 1920 und 1923 gingen die Mitgliederzahlen in den Folgejahren stark zurück und die Partei konnte sich erst gegen Ende der Weimarer Republik wieder erholen. Hier einige Mitgliedszahlen aus verschiedenen Jahren:1924: 150.0001927: 140.0001930: 200.000 (20)Die seit Mitte der 1920er Jahre bestehende Taktik der KPD Mitglieder der SPD in die eigenen Reihen zu holen ging insgesamt betrachtet nicht auf. Allerdings ist wohl die zumindest zeitweise Schwächung der sozialistischen Bewegungen im Allgemeinen auch darauf zurückzuführen, dass viele Erwartungen der Arbeiter in den linken Organisationen nicht erfüllt wurden. Die ansteigenden Mitgliederzahlen der KPD gegen Ende der Weimarer Republik hängen sicherlich zum einen mit der wirtschaftlichen Krise und der Opposition zu den Nationalsozialisten zusammen.
Inhaltlich hatten sich die Kommunisten und die Anarchosyndikalisten weit voneinander entfernt und der Konflikt war zwischen diesen beiden unterschiedlichen Richtungen deutlich spürbar. Wichtig war dabei für beide Seiten die große Maße der Arbeiter von der Richtigkeit der eigenen Ideale zu überzeugen. Das wichtigste Mittel hierfür war zweifellos die Propaganda, die von beiden Seite genutzt wurde um zum einen die Vorteile der eigenen Überzeugung zu vermitteln und zum anderen um die andere Seite zu kritisieren und Stimmung gegen sie zu machen. Von der FAUD wurde ihr Organ "Der Syndikalist" genutzt um Propaganda für die eigene Sache zu machen und die Arbeiter über die autoritären und machtpolitischen Absichten der Kommunisten aufzuklären. (21) Zum anderen gab es Broschüren oder Flugblätter die sich mit dem Thema auseinandersetzten. So erschien 1920 im Verlag Fritz Kater (Fritz Kater war zeitweise Vorsitzender des Kongresses der FAUD) die Broschüre "Die Irrlehre und Wissenschaftslosigkeit des Marxismus", die eine volkstümliche Bearbeitung "nach dem Buch gleichen Namens unseres Geistesfreundes Pierre Ramus, Wien" (22) war. Marx wird hier als Reaktionär betitelt und seine Lehren werden kritisch untersucht. So steht in der Broschüre: "Die folgenden Ausführungen werden den Beweis dafür erbringen, daß alle Lehren von Marx nicht bloß unwissenschaftlich sondern sogar falsch sind." (23)Auch die Kommunisten hielten nicht zurück mit der öffentlichen Kritik an der Vorgehensweise der Syndikalisten. Am 10.6.1922 erschien z.B. ein Artikel mit der Überschrift "Die Partei der Utopisten" in der kommunistisch beherrschten Westfälischen Arbeiter Zeitung (WAZ) (24), der eine einzige Hetze gegen die syndikalistischen Überzeugungen darstellt. Die Syndikalisten werden mit Reformisten und Sozialdemokraten auf eine Stufe gestellt und übel verleumdet. Ihr Wille zur Gewaltlosigkeit, ihre Art der Organisierung und ihre Ablehnung gegenüber Regierungen, sei sie auch kommunistisch, wird massiv attackiert. Dies sind nur einzelne Beispiele, die Auseinandersetzungen zogen sich durch die ganze Zeit der Weimarer Republik hindurch, die gerade genannten propagandistischen Werke sollen nur als Beispiel dienen um sich der Schärfe der Auseinandersetzung bewusst zu werden.
Selbst im Kampf gegen die Machtergreifung der Faschisten konnten sich die Syndikalisten und die Kommunisten nicht einigen. Die Syndikalisten strebten einen "gemeinsamen Kampf aller Arbeiter" (25) gegen den Faschismus allerdings nicht in Form einer Organisationseinheit. Ihre Aufrufe richteten sich nicht an Organisationen, sondern an "die kommunistische oder sozialdemokratische Arbeiterschaft". (26) Die KPD kam daher als Bündnispartner nicht in Frage. Viele Syndikalisten befürchteten, dass die Kommunisten den Widerstand gegen den Faschismus nur für einen eigenen politischen Putsch nutzen wollten. So sahen viele in der von der KPD propagierten "Antifaschistischen Aktionseinheit" einen Versuch der kommunistischen Führer in anderen Arbeiterorganisation den eigenen Einfluss zu erhöhen. Aber auch von der KPD war ein Zusammenarbeiten mit den Anarchosyndikalisten nicht erwünscht. Per Rundschreiben warnte die KPD-Führung vor der Zusammenarbeit mit den "Trotzkisten und Anarchisten". (27)Nichtmal im Kampf gegen den drohenden Faschismus waren die Kommunisten und die KPD bereit ihre Parteiinteressen in den Hintergrund zu stellen. Die Machtergreifung Hitlers beendete die Konflikte durch das Verbot der KPD und aller anderen linken Organisationen. Auch die FAUD wurde verboten und in die Illegalität gedrängt. Sie war zu dieser Zeit auf sich alleine gestellt und konnte sich nur Unterstützung von ausländischen anarchosyndikalistischen Organisationen erhoffen. Mit dem Ende der Weimarer Republik endeten auch die Auseinandersetzungen anarchistischer Strömungen mit der kommunistischen Bewegung.
Der Anarchismus und der Kommunismus sind Wesens verwandt. Beide sind an der Errichtung einer freien und gerechten Gesellschaft interessiert. Die Kommunisten, ausgenommen libertäre- und Rätekommunisten, sind anscheinend aber auch zu einem nicht geringen Teil an der eigenen Macht interessiert. Sie wollen das Volk befreien indem sie es regieren und sprechen dem Volk damit die Fähigkeit ab, sich selber zu befreien und wer glaubt, dass derjenige, der die Macht einmal hat, sie einfach so wieder abgibt, der muss als Utopist bezeichnet werden. In diesem Punkt, der sehr grundlegend ist, zweifeln die Anarchisten an der Richtigkeit kommunistischer Vorstellungen und glauben vielmehr an die von den Menschen initiierte soziale Revolution.Die Anarchisten werden immer willens sein mit jeder Regierung zu brechen und das aus gutem Grund. Die Kommunisten selber sagen, dass der Staat ein Instrument sei, das von der ausbeutenden Klasse genutzt wird um die ausgebeutete Klasse zu unterdrücken. So würde und so ist der Staat auch schon, wie wir heute durch das Beispiel Russland wissen, im Falle einer erfolgreichen kommunistischen Revolution, diesmal das Instrument der herrschenden Partei sein um die ausgebeutete Klasse zu unterdrücken. Das kann nicht das Ziel der sozialistischen Bestrebungen sein und das ist der Grund warum sich Anarchisten immer wieder gegen die machtpolitischen Machenschaften der Kommunisten einsetzen werden.Genauso werden nie die Kommunisten damit aufhören die Anarchisten als Feind zu sehen, da sie in ihnen eine Bedrohung ihrer Macht sehen und erbost sind über den Unwillen der Anarchisten sich dem kommunistischen Kurs anzupassen. Nach dem Ende des 3. Reichs wurde der Antibolschewismus der Anarchisten/Anarchosyndikalisten durch den Stalinismus noch verstärkt. "Nach 1945 hauptsächlich durch die Ausweitung des bolschewistischen Herrschaftsbereichs auf Osteuropa." (28)Bis heute haben sich die Konflikte zwischen Anarchisten und Kommunisten aufrechterhalten. Der Kommunismus kann durch seine autoritäre Haltung schwer zusammenarbeiten mit Menschen, die kritisch die Dinge hinterfragen und sich nicht auf einen Kurs bringen lassen wollen. Der Anarchismus wird durch seine einzigartige Radikalität in der Forderung nach Freiheit und Sozialismus immer im Konflikt stehen, mit denen, denen ihre eigene Macht wichtiger ist als die Befreiung der Menschen und die Schaffung einer selbstbestimmten und herrschaftsfreien Gesellschaft.
In den ersten Jahren der Sozialdemokratischen Partei in Deutschland, zu Lebzeiten von Marx, prägten die Sozialdemokraten die Forderung nach dem "Volksstaat". Marx und Engels waren vermutlich so glücklich und so stolz darauf, daß es in Deutschland endlich eine Massenpartei gab, die sich auf sie berief, daß sie ihr gegenüber eine unangebrachte Nachgiebigkeit an den Tag legten. Erst musste Bakunin in heftigen und wiederholten Angriffen gegen den "Volksstaat" polemisieren, erst musste - um die gleiche Zeit - ein heimliches Übereinkommen der Sozialdemokraten mit den radikal-bürgerlichen Parteien zustande kommen, bevor sich Marx und Engels genötigt sahen, den Begriff und die Praxis des Volksstaats fallen zu lassen.Später erarbeitete der alternde Engels, als er 1895 sein berühmtes Vorwort zu Marxens "Die Klassenkämpfe in Frankreich" schrieb, eine vollständige Revision des Marxismus zum Reformismus, indem er den Akzent vor allem auf den Gebrauch des Wahlzettels legte, der ihm als geeignetes, wenn nicht gar als einziges Mittel zur Erringung der Macht galt. Schließlich wurde dann Karl Kautsky der zwielichtige Nachfolger von Marx und Engels. Theoretisch erhob er zwar den Anspruch, noch auf der Grundlage des Kampfes der revolutionären Klassen zu stehen, in der Praxis jedoch deckte er die Handlungsweise seiner Partei, die sich mehr und mehr opportunistisch und reformistisch verhielt.Zur selben Zeit forderte Eduard Bernstein/ der sich ebenfalls für einen "Marxisten" ausgab, Kautsky auf, konsequent zu sein und den Klassenkampf abzulehnen, den er für überholt hielt Dagegen sprach er sich für Wahlen, Parlamentarismus und Sozialreformen aus.Kautsky selbst behauptete, daß es völlig verfehlt sei, zu sagen, daß das sozialistische Bewußtsein eine notwendige und direkte Folge des proletarischen Klassenkampfs sei. Wenn man ihm glauben würde, so wären Sozialismus und Klassenkampf nicht abhängig voneinander. Sie gingen aus verschiedenen Bedingungen hervor. Das sozialistische Bewußtsein entstünde aus der Wissenschaft. Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die intellektuelle Bourgeoisie. Erst durch diese würde der Sozialismus den Proletariern "vermittelt". Folglich: "Das sozialistische Bewußtsein ist ein Element, das von Außen in den Klassenkampf des Proletariats eingeführt wird, und nicht eines, das spontan aus dem Klassenkampf hervorgeht."Die einzige Theoretikerin in der deutschen Sozialdemokratie, die dem ursprünglichen Marxismus treu geblieben ist, war Rosa Luxemburg. Allerdings musste sie viele taktische Zugeständnisse an die Führung ihrer Partei machen. Sie wagte es nicht, Bebel und Kautsky offen zu kritisieren. Sie trat vor 1910 nicht in offenen Konflikt mit Kautsky, als nämlich ihr Ex-Tutor die Idee des politischen Massenstreiks verwarf. Vor allen Dingen aber bemühte sie sich, die enge Übereinstimmung abzustreiten, die zwischen dem Anarchismus und ihrer Konzeption der revolutionären Spontaneität der Massen bestand, indem sie die Anarchisten in verzerrten Darstellungen verleumdete. Und dies tat sie, um eine Partei nicht zu erschrecken, mit der sie sich sowohl ihrer Überzeugung nach verbunden fühlte, aber auch - man muß es deutlich sagen - durch materielle Interessen.Aber abgesehen von den unterschiedlichen Darstellungsweisen, gab es keinen grundlegenden Unterschied zwischen dem anarcho-syndikalistischen Generalstreik und dem Massenstreik Rosa Luxemburgs. Ebenso sind ihre Kontroversen mit Lenin (1904) und mit dem zur Macht gelangten Bolschewismus (1918) vom Anarchismus nicht weit entfernt. Dasselbe gilt auch von ihren Zielvorstellungen zu Ende 1918 in der Spartakus-Bewegung, von einem Sozialismus, der von unten nach oben durch die Arbeiterräte getragen wird. Rosa Luxemburg ist einer der Berührungspunkte von Anarchismus und ungetrübtem Marxismus.Aber der ursprüngliche Marxismus ist nicht nur von der deutschen Sozialdemokratie entstellt worden. Er ist maßgeblich von Lenin verändert worden, der deutlich einige der jakobinischen und autoritären Züge verstärkte, die zuweilen - jedoch keineswegs immer - in den Schriften von Marx und Engels auftauchten. Er erweiterte diese auch um einen Ultrazentralismus, eine enge und sektiererische Konzeption der Partei und vor allem um die Praxis der Berufsrevolutionäre als Führer der Massen. Von diesen Punkten ist in den Schriften von Marx nicht viel zu finden, wo sie höchstens im Kern und unterschwellig vorhanden sind. Indessen beschuldigte Lenin die Sozialdemokraten aufs heftigste, die Anarchisten verunglimpft zu haben und in seinem Buch "Staat und Revolution" widmete er einen besonderen Abschnitt ihrer Würdigung hinsichtlich ihrer Treue zur Revolution.
Unserer Aufgabe stellt sich ein zweites Problem. Das Denken von Marx und Engels ist auch in sich reichlich schwierig zu verstehen, weil es sich im Laufe der Arbeit eines halben Jahrhunderts sehr stark weiterentwickelt hat, und weil Marx und Engels ständig versucht haben, die tatsächlichen Ereignisse ihrer Zeit wiederzuspiegeln. Trotz aller Versuche einiger ihrer heutigen Kommentatoren - unter ihnen ein Kirchenvater - gibt es kein marxistisches Dogma.Nehmen wir einige Beispiele: Der junge Marx, Humanist und Schüler des Philosophen Feuerbach, entwickelt sich anschließend zu einem rigiden wissenschaftlichen Deterministen. Der Marx der "Neuen Rheinischen Zeitung", der nur Demokrat genannt werden wollte, und der die Verbindung mit der fortschrittlichen deutschen Bourgeoisie suchte, ähnelt in nichts dem Marx von 1850, Kommunist und sogar Blanquist, Befürworter der permanenten Revolution, der unabhängigen, politischen kommunistischen Aktion und der Diktatur des Proletariats.Welch ein Unterschied auch zwischen den Abschnitten im Kommunistischen Manifest 1848, welche forderten, daß der Staat die Gewalt über die gesamte Ökonomie erlange und den späteren Erklärungen, in denen der Staat durch die "assoziierten Produzenten" ersetzt wird. Der Marx der folgenden Jahre, der die internationale Revolution auf wesentlich später verschob und sich in die Bibliothek des Britischen Museums einschloß, um sich umfassenden wissenschaftlichen Studien zu widmen, ist noch einmal völlig anders als der aufständische Marx von 1850, der an eine allgemeine, unmittelbar bevorstehende Erhebung glaubte.Der Marx von 1864-1869, der zunächst hinter den Kulissen die Rolle des heimlichen und an der Macht uninteressierten Beraters der in der I. Internationalen zusammengeschlossenen Arbeiter gespielt hatte, wird ab 1870 plötzlich ein sehr autoritärer Marx, der von London aus den Generalrat der Internationalen dirigiert. Der Marx, der Anfang 1871 vor einer Erhebung in Paris heftig warnt ist nicht derselbe, wie der, der nachher in seiner berühmten Adresse unter dem Titel "Bürgerkrieg in Frankreich" die Commune von Paris in den Himmel lobt, von der er - nebenbei bemerkt - einige Züge idealisiert.Schließlich ist der Marx, der in der gleichen Schrift versichert, die Commune habe den Verdienst, den Staatsapparat zerschlagen und durch die Kommunale Macht ersetzt zu haben, keineswegs derselbe Marx wie der, der in seinem Brief über das Gothaer Programm unbedingt beweisen will, daß der Staat nach der proletarischen Revolution noch für eine relativ lange Zeit überleben müsse.Wir könnten all diese Widersprüche und diesen Zickzack-Kurs durch die Jahre hindurch verfolgen. Es kann nunmehr wohl keine Frage mehr sein, daß der ursprüngliche Marxismus, derjenige von Marx und Engels, kein einheitlicher Block ist. Wir müssen ihn einer kritischen Prüfung unterziehen und können nur Teile von ihm übernehmen, die zu unserem libertären Kommunismus in keinem Widerspruch stehen.
Wir stehen nun einer dritten Schwierigkeit gegenüber. Der Anarchismus bildet, noch weniger als der Marxismus, eine einheitliche Lehre. Wie ich es in meinem kleinen Buch "Anarchismus" dargelegt habe, bewegt die Libertären speziell die Ablehnung der Autorität und der Schwerpunkt, der auf die Vordringlichkeit der individuellen Entscheidung gelegt wird, wie es Proudhon in einem Brief an Marx ausgedrückt hat, "sich zum Antidogmatismus zu bekennen". Auch sind die Ansichten der libertären verschiedener, fließender und schwieriger zu erfassen als die der autoritären Sozialisten.Es gibt unterschiedliche Strömungen im Anarchismus. Neben den libertären Kommunisten gibt es Individualanarchisten, sozietäre Anarchisten, Anarcho-Syndikalisten und wie sie wissen, zahlreiche weitere Anarchismen: Gewaltfreie Anarchisten, Anarcho-Pazifisten, vegetarische Anarchisten usw.Die Frage stellt sich nun, welche Spielarten des Anarchismus wir mit dem ursprünglichen Marxismus konfrontieren wollen, mit dem Ziel, herauszubekommen, in welchen Punkten die zwei Hauptschulen des revolutionären Denkens sich decken und in welchen sie auseinandergehen. Es scheint mir klar, daß die Richtung des Anarchismus, die dem Marxismus am wenigsten entfernt sein dürfte, der konstruktive Anarchismus ist, der sozietäre, kollektivistische oder kommunistische Anarchismus. Und diese Tatsache beruht keineswegs auf einem Zufall, wie ich in dem Buch "Anarchismus" bereits betont habe.
Wenn man in die Probleme etwas tiefer einsteigt, so ist es unschwer festzustellen, daß sich in der Vergangenheit Anarchismus und Marxismus gegenseitig beeinflusst haben. Malatesta, der bekannteste italienische Anarchist, hat einmal geschrieben: "Nahezu die gesamte anarchistische Literatur des 19. Jahrhunderts war durch den Marxismus beeinflusst".Sie wissen, daß Bakunin eine große Hochachtung gegenüber den wissenschaftlichen Fähigkeiten von Marx hatte, und daß er damit begonnen hat, das "Kapital" ins Russische zu übersetzen. Des weiteren veröffentlichte Bakunins Freund, der italienische Anarchist Carlo Cafiero italienische Kurzfassungen des "Kapitals." Umgekehrt haben die ersten Bücher Proudhons: "Was ist das Eigentum?" (1840) und vor allem sein großes Werk "Systeme des contradictions economiques ou philosophie de la misere" (1846) den jungen Marx stark beeinflusst, auch wenn wenig später der undankbare Ökonom seinen Lehrer durch den Kakao zog und gegen ihn "Misere de la philosophie" schrieb.Trotz ihrer Auseinandersetzungen verdankte Marx vieles den Ideen Bakunins. Wir wollen hier nur zwei Beispiele anführen: Die Adresse, die von Marx über die Commune verfasst wurde, steht stark unter bakunistischem Einfluß - wie es von Arthur Lehning, dem Herausgeber des "Archives Bakounine" herausgearbeitet worden ist. Und, wie ich es bereits erwähnt habe, wurde Marx Dank Bakunins dazu gezwungen, die Forderung nach dem Volksstaat, die seine sozialdemokratischen Verbündeten aufgestellt hatten, zu verwerfen.
Marxismus und Anarchismus haben sich nicht nur gegenseitig beeinflusst, sie haben auch einen gemeinsamen Ursprung. Sie gehören quasi derselben Familie an. Als Materialisten glauben wir nicht, daß die Ideen so einfach in den Köpfen der Menschen entstehen. Sie widerspiegeln lediglich die Erfahrungen der Massenbewegungen, die diese in ihren Klassenkämpfen gemacht haben. Die ersten sozialistischen Autoren, sowohl Anarchisten wie Marxisten, haben ihre gesamte Inspiration zuerst aus der großen Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts geschöpft, später von 1840 an aus den Bemühungen der französischen Arbeiter, die das Ziel hatten, sich selbst zu organisieren/ um gegen die kapitalistische Ausbeutung zu kämpfen.Wenige nur wissen, daß es 1840 in Paris einen Generalstreik gab. Und während der 40er Jahre folgte diesem Generalstreik eine Blüte der Arbeiter-Zeitungen wie "L'Atelier". Im selben Jahr 1840 - die Übereinstimmung ist verblüffend - veröffentlichte Proudhon seine Denkschrift gegen das Eigentum. Und vier Jahre später, 1844, legte der junge Marx in seinem berühmten Manuskripten den Bericht seines Besuches bei den Pariser Arbeitern vor und betonte den tiefen Eindruck, den diese Handarbeiter auf ihn gemacht hatten. Im vorhergehenden Jahr hatte eine bemerkenswerte Frau, Flora Tristan, den Arbeitern die Arbeiterunion gepredigt und eine Tour de France unternommen, um mit den Arbeitern der Großstädte Kontakt aufzunehmen.Sowohl der Anarchismus als auch der Marxismus schöpfen anfangs aus derselben Quelle. Und unter dem Eindruck der neu entstandenen Arbeiterklasse legen beide dasselbe Endziel fest, d.h. den kapitalistischen Staat abzuschaffen, den sozialen Reichtum, die Produktionsmittel den Arbeitern selbst anzuvertrauen. Dies war die Grundlage der kollektiven Übereinstimmung, die zwischen Marxisten und Bakunisten auf dem Kongreß der I. Internationalen, kurz vor Beginn des deutsch-französischen Kriegs von 1870, zustande gekommen war. Bemerkenswert ist dabei, daß diese Übereinkunft gegen die letzten Schüler Proudhons (gest. 1865) gerichtet war, die sich zu Reaktionären entwickelt hatten. Einer von ihnen, Tolain, hatte sich dem Privateigentum an Produktionsmitteln verschrieben.
Bisher habe ich erwähnt, daß die ersten Sprecher der französischen Arbeiterbewegung ihre Inspiration auf eine bestimmte Weise aus der großen Französischen Revolution gezogen haben. Kommen wir darauf zurück.Tatsächlich bestanden innerhalb der Französischen Revolution zwei sehr verschiedene Formen von Revolution, oder besser gesagt, zwei verschiedene, entgegengesetzte Kräfte. Eine wurde vom linken Flügel der Bourgeoisie gebildet, die andere von einem Vorläufer des Proletariats: kleine Handwerker und Lohndiener. Die erste war autoritär, ja diktatorisch, zentralistisch, repressiv gegenüber den Nicht-Privilegierten. Die zweite war demokratisch, föderalistisch und zusammengesetzt aus, wie man heute sagen würde, den Arbeiterräten, d.h. den innerhalb der Pariser Commune assoziierten 48 Sektionen der Stadt und den Volksvereinen in den Städten der Provinz.Ich zögere nicht zu sagen, daß diese zweite Kraft einen libertären Inhalt hatte und in gewisser Weise der Vorlaufer der Pariser Commune von 1871 und der russischen Sowjets von 1917 war wohingegen die erste Kraft im 19. Jahrhundert eine jakobinische Fortsetzung fand. In Wahrheit ist jedoch das Wort "jakobinisch" ungenau zweideutig und künstlich. Es war der Name eines Pariser Volksclubs der "Gesellschaft der Jakobiner", die diesen wiederum vom Konvent eines Klosterordens übernommen hatte, in dessen Gebäude der Club sich eingerichtet hatte. Tatsächlich verlief die Trennungslinie des Klassenkampfs zwischen revolutionärem Bourgeois und Nicht-Privilegierten auch innerhalb der Gesellschaft der Jakobiner und quer durch sie hindurch. Genauer, auf ihren Treffen gerieten die Mitglieder der einen und der anderen Richtung in Streit miteinander. Dennoch wird in der späteren Literatur das Wort Jakobiner angewandt, um eine revolutionäre bourgeoise Tradition zu bezeichnen, die von oben mit autoritären Mitteln Land und Revolution dirigiert; der Begriff wurde in diesem Sinne sowohl von den Anarchisten als auch den Marxisten verwandt. So nannte sich z.B. Charles Delecluze, der Führer des rechten Mehrheitsflügels im Rat der Commune von Paris, selbst ein Jakobiner, einen Anhänger Robespierres.Proudhon und Bakunin haben in ihren Schriften die Politik der revolutionären Bourgeoisie als "jakobinisches Denken" bekämpft. Dagegen hatten Marx und Engels einige Mühe, sich von diesem jakobinischen Mythos freizumachen, der durch die Helden der bürgerlichen Revolution berühmt und glorifiziert wurde, unter ihnen Danton (der in Wirklichkeit ein korrumpierter Politiker und Doppelagent war) und Robespierre (der als Diktator endete.) Die Libertären wurden Dank ihrer anarchistischen Erkenntnis nicht zu den Geprellten des Jakobinertums. Sie begriffen sehr gut daß die Französische Revolution nicht nur ein Bürgerkrieg zwischen der absoluten Monarchie und dem revolutionären Bürgertum war, sondern auch - etwas später - ein Bürgerkrieg zwischen Jakobinertum und Communalismus, wie ich ihn einmal nennen möchte. Ein Bürgerkrieg, der im März 1794 zur Niederlage der Commune von Paris und zur Enthauptung ihrer beiden Stadtmagistraten, Chaumette und Hebert, führte, d.h. zur Abschaffung der Herrschaft von unten, genau wie die russische Oktoberrevolution zur Liquidierung der Fabrikräte führte.Marx und Engels schwankten ständig zwischen Jakobinertum und Communalismus. Anfangs lobten sie die "rigorose Zentralisierung, wie sie in Frankreich 1793 modellhaft vorgeführt wurde". Aber später - wohl zu spät - 1895, bemerkte Engels, daß sie sich im Irrtum befunden hätten, und die besagte Zentralisation den Weg zur Diktatur Napoleons I. geebnet habe. Es kam vor, daß Marx einmal schrieb, die Enrages, die Anhänger des linksradikalen Ex-Priesters Jaques Roux, der ein Sprecher der arbeitenden Bevölkerung der Vorstädte war, seien "die Hauptvertreter der revolutionären Bewegung" gewesen. Während Engels ein andermal behauptete, dem Proletariat von 1793 "hätte überhaupt nur von oben her Unterstützung zuteil werden können." Später dann zeigte sich Lenin wesentlich jakobinischer als seine Lehrer Marx und Engels. Ihm zufolgte stellt das Jakobinertum "einen der höchsten Gipfel dar, den die unterdrückte Klasse in ihrem Kampf um die Befreiung erreicht hat". Und er schätzt es, sich selbst einen Jakobiner zu nennen, dem er jedoch hinzufügt: "ein Jakobiner, der mit der Arbeiterklasse verbunden ist". Daraus ergibt sich für uns, daß die Libertären mit den Marxisten nur unter der Bedingung zusammenarbeiten können, daß diese vollständig alle jakobinischen Überbleibsel verwerfen.Fassen wir nun die Hauptunterschiede zwischen Marxismus und Anarchismus zusammen. Zunächst, wobei sie in dem Endziel der Abschaffung des Staats übereinstimmen, halten es die Marxisten für notwendig, nach der siegreichen proletarischen Revolution, für eine unbestimmt lange Zeit einen neuen Staat zu schaffen, den sie "Arbeiterstaat" nennen und von dem sie dann versprechen, daß dieser neue Staat - gelegentlich auch "Halbstaat" genannt - damit endet, daß er von selbst verschwindet. Dagegen wenden die libertären Kommunisten ein, daß der neue Staat sogar noch allmächtiger und noch unterdrückender als der bürgerliche Staat sein wird, weil sich die gesamte Wirtschaft im staatlichen Besitz befindet und weil sich seine ständig wachsende Bürokratie weigern wird, einfach "zu verschwinden". Außerdem reagieren die libertären Kommunisten einigermaßen misstrauisch auf jene Aufgaben, die von den Marxisten der kommunistischen Minderheit gegenüber der Bevölkerung zugesprochen werden. Wenn sie in den Heiligen Schriften von Marx und Engels nachlesen, so tun sie gut, in diesem Punkt gewisse Zweifel zu hegen. Sicher, im Kommunistischen Manifest kann man lesen, daß die Kommunisten "keine getrennten Interessen vom Gesamt-Proletariat" haben, und das sie ständig das "Interesse der Gesamtbewegung repräsentieren". Ihre theoretischen Konzeptionen, so schwören die Autoren des Manifests, "beruhen in keiner Weise auf den Ideen, auf den erfundenen Prinzipien des einen oder anderen Weltverbesserers, sie sind nur der allgemeine Ausdruck eines bestehenden Klassenkampfs, einer historischen Bewegung, die sich vor unseren Augen abspielt". Ja sicher, mit diesem Punkt werden wir Libertären auch einverstanden sein!Aber das nun folgende Zitat steht dazu einigermaßen im Widerspruch und alarmiert: "Theoretisch haben die Kommunisten gegenüber dem Rest der proletarischen Masse den Vorteil, klar die Bedingungen, den Weg und die schließlichen Ergebnisse der proletarischen Bewegung zu verstehen".Bedeutet das nicht, daß die Kommunisten aufgrund eines solchen "Vorsprungs" ein historisches Recht darauf haben, sich die Führung des Proletariats anzumaßen? Wenn es so wäre, wären wir libertären Kommunisten nicht mehr einverstanden. Wir bestreiten, daß es außerhalb des Proletariats überhaupt eine Avantgarde geben kann, und wir sind der Meinung, daß wir nur die Rolle von uneigennützigen Beratern an der Seite oder innerhalb des Proletariats spielen können, um den Arbeitern in ihren Anstrengungen zu helfen, mit dem Ziel, einen höheren Bewusstseinsstand zu erreichen.Das führt uns zu der Frage nach der revolutionären Spontaneität der Massen, einem typischen anarchistischen Begriff. Wir finden in den Schriften von Proudhon und Bakunin in der Tat sehr häufig die Worte "spontan" und "Spontaneität". Aber, was sehr seltsam ist, niemals in den Schriften von Marx und Engels in ihrer ursprünglichen Fassung. In den Übersetzungen tauchen diese Worte von Zeit zu Zeit auf, sie sind jedoch nur ungenaue Wiedergaben. Tatsächlich beziehen sich Marx und Engels nur auf die Selbsttätigkeit der Massen, was eher weniger ist als Spontaneität. Sicherlich kann sich eine revolutionäre Partei neben ihren hervorragenden Aktivitäten ein gewisses Maß an Selbsttätigkeit der Massen erlauben, aber die Spontaneität der Massen würde ihren Anspruch auf die führende Rolle gefährlich in Frage stellen. Rosa Luxemburg war die erste Marxistin, die in ihren Schriften in deutscher Sprache das Wort "spontan" gebrauchte, das sie von den Anarchisten übernommen hatte; und sie legte auch das Schwergewicht auf die Spontaneität in der Massenbewegung. Man kann annehmen, daß die Marxisten gegenüber sozialen Bewegungen ein bestimmtes Unbehagen hegen, die keinen ausreichenden Platz für das Eindringen ihrer anmaßenden Führer lassen.Sodann sind die libertären Kommunisten nicht allzu sehr erbaut, wenn sie von Zeit zu Zeit beobachten, daß es die Marxisten nicht verschmähen, die Mittel und die Kunsttricks der bürgerlichen Demokratie zu ihrem Vorteil auszunutzen. Die Marxisten bedienen sich nicht nur mit Vergnügen des Wahlzettels, den sie für eines der besten Mittel halten, die Macht zu erringen, sondern es kommt auch vor, daß sie sich darin gefallen, mit den liberalen oder radikalen Bürgerparteien ekelhafte Wahlbündnisse zu schließen, wenn sie nur mit Hilfe solcher Wahlbündnisse zu Parlamentssitzen kommen können. Natürlich haben die libertären Kommunisten keine metaphysische Abscheu vor Wahlurnen. Proudhon wurde einmal in die Nationalversammlung von 1848 gewählt. Ein anderes Mal unterstützte er die Wahl von Raspail. Auch später unter dem zweiten Empire befürwortete er, daß die Arbeiter Kandidaten zu den Wahlen aufstellten. Das war für ihn nur eine Frage der Opportunität. Bei anderer Gelegenheit vermieden es die spanischen Anarchisten 1936, gegen die Wahlbeteiligung der Volksfront eine starre Haltung einzunehmen. Aber abgesehen von diesen, sehr seltenen Ausnahmen, beschreiten die Anarchisten ganz andere Wege, um den kapitalistischen Gegner zu Fall zu bringen: Direkte Aktion, gewerkschaftliche Aktion, Arbeiterautonomie und Generalstreik.Kommen wir nun auf folgende Zwickmühle zu sprechen: Verstaatlichung der Produktionsmittel oder Selbstverwaltung? Hier zögern Marx und Engels erneut. Im Kommunistischen Manifest von 1848, geschrieben unter dem direkten Einfluß des französischen Staatssozialisten Louis Blanc, kündigten sie ihre Absicht an, "alle Produktionsmittel in den Händen des Staates zu zentralisieren". Aber unter dem Begriff Staat verstanden sie "das als herrschende Klasse organisierte Proletariat". Gut, aber warum zum Teufel nennen sie eine solche proletarische Organisation "Staat?" Und weiter: Warum fügten sie später, im Juni 1872, ein Vorwort zur Neuauflage des Manifests hinzu, in dem sie sich von ihrer früheren Liebe zum Staat distanzieren und annehmen, daß die Produktion in die Hände der "assoziierten Produzenten" überführt werden soll?Diese Gesinnungsänderung war nur das Ergebnis der Vereinbarung, die, wie wir gesehen haben, auf dem Kongreß der I. Internationalen, der dem Krieg von 1870 vorausging, mit den Bakunisten zustandegekommen war. Aber es ist hervorzuheben, daß Marx die Wege, wie die Selbstverwaltung zu erreichen sei, niemals gründlich untersucht hat, während Proudhon ihr Seite um Seite seines Werks widmete. Proudhon, der sein Leben als Arbeiter begonnen hatte, wusste wovon er sprach, er hatte mit intensiver Aufmerksamkeit die Arbeiterassoziationen beobachtet, die während der Revolution von 1848 entstanden waren. Der Grund für Marx Haltung ist vermutlich, daß er diese Frage mit Geringschätzung als "utopisch" ansah. Heute gehören wir libertäre Kommunisten zu denen, denen es gelungen ist, wenigstens in Westeuropa die Selbstverwaltung zu einer aktuellen, sehr konkreten Frage zu machen und sie auf die Tagesordnung zu setzen - eine Frage, die darüber hinaus bereits derart in Mode gekommen ist, daß sie heute von fast allen politischen Strömungen vereinnahmt, verbogen und verkürzt wird.
Erwähnen wir nun, wie Anarchisten und Marxisten von ihrer proletarischen Entstehung an in Konflikt miteinander geraten sind. Der Schlagabtausch wurde von Marx und Engels eröffnet, mit ihrem bösartigen, gegen Stirner gerichtetem Buch "Die Deutsche Ideologie". Es beruht auf einem gegenseitigen Missverständnis. Stirner hebt nicht deutlich genug hervor, daß er hinter seiner übersteigerten Hervorhebung des Ich, des Individuums, das er als Einziges ansah, darüber hinaus tatsächlich die freiwillige Assoziation dieses Einzigen mit anderen vorsieht, d.h. eine neue Gesellschaft, die auf der Freien Wahl der Föderation und auf dem Recht beruht, sich von der Föderation wieder zu trennen; eine Idee, die später von Bakunin aufgenommen werden sollte, und schließlich von Lenin verwandt wird, wenn er über die nationale Frage schreibt. Ihrerseits interpretieren Marx und Engels Stirners Schmähschriften gegen den Kommunismus falsch, die sie für reaktionär hielten, wohingegen Stirner eigentlich gegen einen völlig anderen Kommunismus anstänkerte, gegen den "plumpen" Staatskommunismus der utopischen Kommunisten seiner Zeit, wie Weitling in Deutschland und Cabet in Frankreich, denn - so Stirner - er gefährde die individuelle Freiheit.Dann der rasende Angriff von Marx gegen Proudhon, teilweise aus den- selben Gründen, der besagte Proudhon feiere das Privateigentum, weil er in ihm eine Garantie der persönlichen Freiheit sähe. Aber Marx erfasste nicht, daß sich Proudhon für den Bereich der Großindustrie, in anderen Worten, im kapitalistischen Bereich zum Anwalt des kollektiven Besitzes machte. Notierte er nicht in seinen "Carnets", daß die "Kleinindustrie eine genau so dumme Sache sei wie die Kleinkultur?" Im Bereich der Großindustrie ist er leidenschaftlicher Kollektivist. Den Arbeiter-Gesellschaften, wie er sie nennt, soll in seinen Augen eine bedeutende Rolle zukommen, nämlich die der Verwaltung der großen Industrien, wie die der Eisenbahnen, der Manufakturen, des Bergbaus, der Metallverarbeitung, der Marine usw.Andererseits forderte Proudhon gegen Ende seines Lebens in "Die Fähigkeiten der arbeitenden Klassen" die voltständige Trennung der Arbeiterklasse von der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. den Klassenkampf. Das hielt Marx nicht davon ab, so infam zu sein, den Proudhonismus als kleinbürgerlichen Sozialismus zu behandeln.Jetzt kommen wir auf den heftigen und wenig sauberen Streit zwischen Marx und Bakunin zu sprechen, den der I. Internationalen. Auch hier spielten teilweise Missverständnisse eine Rolle. Bakunin unterstellte Marx schreckliche, autoritäre Absichten, einen Machthunger nach Herrschaft über die Arbeiterbewegung. Bakunin überzog sicherlich, erstaunlich ist jedoch, daß er sich als Prophet in dieser Frage herausstellte. Er hatte eine sehr hellseherische Vision der späteren Zukunft. Er sah das Entstehen einer "roten Bürokratie" vorher, genauso wie die Tyrannei, die schließlich von den Führern der III. Internationale (Komintern) auf die Arbeiterbewegungen der ganzen Welt ausgeübt wurde. Marx schlägt gegen Bakunin zurück, indem er ihn aufs niedrigste verleumdet, und indem er auf dem Haager Kongreß 1872 seinen Ausschluß erreicht.Von nun an sind die Brücken zwischen dem Anarchismus und dem Marxismus zerstört. Ein verheerendes Ereignis für die Arbeiterklasse, weil beide Bewegungen die theoretischen und praktischen Beiträge der jeweils anderen sehr nötig gehabt hätten. Während der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts scheiterte der Versuch, eine geschrumpfte anarchistische Internationale zu schaffen. Der gute Wille hierzu fehlte nicht, aber der Anarchismus hatte sich von der Arbeiterbewegung getrennt nahezu isoliert.In derselben Zeit entwickelte sich der Marxismus sehr rasch, in Deutschland mit dem Anwachsen der Sozialdemokratie und in Frankreich durch Gründung der Arbeiterpartei durch Jules Guesdes. Später vereinigten sich die verschiedenen sozialdemokratischen Parteien, um die II. Internationale zu gründen. Auf ihren folgenden Kongressen entwickelten sich heftige Kämpfe mit den Libertären, denen es gelungen war, an ihren Kongressen teilzunehmen. 1893 machte der holländische libertäre Sozialist Domela Nieuwenhuis in heftigen und brillanten Worten der deutschen Sozialdemokratie den Prozeß und erntete dafür Hohngelächter. In London beschimpften 1896 die Tochter von Marx, Aveling und der französische Sozialistenführer Jean Jaures die Anarchisten, die als Delegierte verschiedener Arbeitersyndikate in den Kongreß gelangt waren, und ließen sie hinauswerfen.Es stimmt, daß der anarchistische Terrorismus, der in Frankreich zwischen 1890 - 1895 wütete, nicht wenig zu der hysterischen Ablehnung den Anarchisten gegenüber beigetragen hat, die von nun an als "Banditen" behandelt wurden. Die ängstlichen und auf Legalität bedachten Reformisten waren nicht in der Lage, deren revolutionäre Beweggründe zu verstehen, ihren Rückgriff auf die Gewalt, ihre aufsehenerregenden Protestaktionen gegen eine verabscheuungswürdige Gesellschaft.Von 1860 bis 1914 schieden die deutsche Sozialdemokratie und mehr noch die schwere Maschinerie der deutschen Arbeitergewerkschaften den Anarchismus aus: Selbst Kautsky wurde von den Arbeiterbürokraten jener Zeit, als er sich zu Gunsten des Massenstreiks aussprach, verdächtigt, ein Anarchist zu sein. In Frankreich spielte sich eine gegensätzliche Entwicklung ab. Der parlamentarische, auf Wahlen bedachte Reformismus von Jaures stieß die Arbeiter ab, die soweit fortgeschritten waren, daß sie die Gründung einer revolutionären, syndikalistischen und äußerst kämpferischen Organisation in Angriff nahmen, der berühmten CGT, deren Pioniere Fernand Pelloutier, Emile Pouget und Pierre Monatte aus der anarchistischen Bewegung kamen.Die russische Revolution und später die Spanische Revolution vertieften den Abgrund zwischen Anarchismus und Marxismus, ein Abgrund, der nicht mehr nur ideologisch, sondern auch durch die blutige Praxis begründet war. Um diese Überlegungen zur Vergangenheit von Marxismus und Anarchismus zu beenden, muß ich noch folgendes anmerken:
Wie steht es nun mit der Gegenwart? Zweifellos erleben wir in unseren Tagen eine Renaissance des libertären Sozialismus. Ich muß ihnen wohl kaum erzählen, wie diese Renaissance in Frankreich im Mai 1968 entstanden ist. Sie war die spontanste, die Überraschendste, die am wenigsten geplante aller Erhebungen. Ein starker Freiheitswille durchfegt das Land, so zerstörerisch und gleichzeitig so schöpferisch, daß nichts mehr dem ähnlich sein wird wie es früher war. Das Leben hat sich verändert, oder, wenn sie lieber mögen, wir haben das Leben verändert. Aber diese Wiedergeburt fand statt im Rahmen einer allgemeinen Renaissance der gesamten revolutionären Bewegung, vor allem bei der studentischen Jugend (statt). Deshalb gibt es keine dichten Trennwände mehr zwischen den libertären Bewegungen und denen, die sich zu einem angeblichen "Marxismus-Leninismus" bekennen. Es gibt sogar eine gewisse nicht-sektiererische Durchdringung dieser Bewegungen untereinander.Junge Genossinnen in Frankreich wechseln von autoritären marxistischen Gruppen zu Anarcho-Gruppen über, und auch der umgekehrte Fall kommt vor. Ganze Gruppen von "Maoisten" zerbrechen unter dem libertären Einfluß, spüren die Anziehungskraft der anarchistischen Ideen. Selbst trotzkistische Organisationen verändern teilweise ihre Ansichten und werfen einige ihrer früheren Betrachtungsweisen über Bord, dank dem Einfluß anarchistischer Theorien und Schriften. Menschen wie Jean Paul Sartre und seine Freunde bringen heute in ihrer Monatsschrift anarchistische Ideen zum Ausdruck, und einer ihrer jüngeren Artikel trug den Titel "Lenin Ade".Sicherlich gibt es noch immer nicht wenige autoritäre marxistische Gruppen, die im besonderen Maße anti-libertär eingestellt sind, genauso wie man weiterhin anarchistische Gruppen findet, die ausgesprochen anti-marxistisch auftreten.Die beiden libertär-kommunistischen Organisationen, die es in Frankreich gibt, und die Absicht haben, sich bald zu vereinigen, befinden sich am Rande von Marxismus und Anarchismus. Sie haben mit den klassischen Anarchisten ihre Zugehörigkeit zur antiautoritären Strömung gemeinsam, die bis auf die I. Internationale zurückgeht. Aber sie haben mit den Marxisten die Tatsache gemeinsam, daß sie sich entschlossen zum Klassenkampf des Proletariats bekennen und zum Kampf mit dem Ziel, die bürgerliche, kapitalistische Gewalt zu brechen.Auf der einen Seite versuchen die libertären Kommunisten alle konstruktiven Punkte im Beitrag der Anarchisten der Vergangenheit zu beleben - nebenbei bemerkt, war dies auch das Ziel bei den Buchveröffentlichungen von "Anarchismus" und "Ni Dieu/ ni Maitre" - andererseits beziehen sich die libertären Kommunisten im Erbe von Marx und Engels auf die Teile, die ihnen immer noch gültig und fruchtbar erscheinen, und die vor allem auf Bedürfnisse unserer Zeit antworten. So z.B. der Begriff der Entfremdung, der in den Manuskripten von 1844 des jungen Marx erscheint und sich so gut verträgt mit der Betonung der individuellen Freiheit durch die Anarchisten. Oder der Leitgedanke, daß die Befreiung des Proletariats nur die Sache der Arbeiter Selbst sein kann, der allen Auffassungen widerspricht, die revolutionäres Bewußtsein von außen in die Arbeiterklasse hineintragen wollen. Schließlich die bekannte Methodik des dialektischen und historischen Materialismus, die eine der Leitfäden bleibt zum Verständnis der Ereignisse in der Vergangenheit und in der Gegenwart - jedoch unter der Bedingung, daß diese Methode nicht starr und dogmatisch angewandt wird, mechanisch oder als Entschuldigung für die Abkehr vom Kampf unter dem Vorwand, die materiellen Bedingungen für eine Revolution seien noch nicht gegeben, wie es die Stalinisten in Frankreich 1936,1945 und 1968 gleich drei mal taten. Eine weitere Bedingung ist das Vertrauen auf die beiden elementaren Kräfte, zum einen des individuellen Willens sowie der revolutionären Spontaneität der Massen.Wie es der libertäre Geschichtsschreiber Kaminsky in seinem hervorragenden Buch über Bakunin ausgedrückt hat, ist eine Synthese zwischen Anarchismus und Marxismus nicht nur notwendig, sondern auch unvermeidlich. "Die Geschichte", fügt er hinzu, "schafft sich ihre Kompromisse selbst". Ich möchte anmerken - und das ist meine eigene Meinung – daß ein libertärer Kommunist, Ergebnis einer solchen Synthese, zweifellos die tiefen Wünsche - auch wenn sie sich dessen bisher manchmal noch nicht voll bewusst sind - der fortgeschrittenen Arbeiter ausdrückt, die man heute die "Arbeiterlinke" nennt, vielmehr als der degenerierte autoritäre Marxismus und der versteinerte Altanarchismus.
Die Sozialdemokratie steht auf dem Boden der Lehren von Marx und bezeichnet stets ihre Anschauungen als die einzig richtigen, ihre Theorie als den wissenschaftlichen Sozialismus. Nun hat es mit dem Begriff "Wissenschaft" eine eigene Bewandtnis. Wir können oft sehen, daß vieles, was von einer wissenschaftlichen Richtung als neue Erkenntnis ausgegeben wird, in kurzer Zeit wieder durch eine andere Erklärung verdrängt wird, wir brauchen bloß an die verschiedenen Theorien über das Erdinnere, über die Entstehung der Weltkörper, über die Gesetze der Vererbung u. a. denken. Im Grunde genommen können nur einige eng begrenzte Gebiete der exakten Forschung in der Astronomie, der Mathematik, der Physik und Chemie, sowie einige allgemeine sogenannte Naturgesetze als Wissenschaft bezeichnet werden. Es ist aber weiter nichts wie eine eitle Anmaßung, Untersuchungen über das gesellschaftliche Leben der Menschen als eine Wissenschaft zu bezeichnen, besonders, wenn dies in rein abstrakter Form geschieht, wie es Marx getan hat. Die folgenden Ausführungen werden den Beweis dafür erbringen, daß alle Lehren von Marx nicht bloß unwissenschaftlich sondern sogar falsch sind. Es gibt nur einen Maßstab für die Erkenntnis der Wahrheit, das ist unsere Logik, d. h. wir dürfen nur soweit etwas als wahr anerkennen, wie wir in dem Sein oder Geschehen Ursache und Wirkung feststellen können. Von dem Standpunkt aus könnte man vielmehr die Weltanschauung des Syndikalismus, die sich u. a. auf den Lehren von Bakunin und Kropotkin aufbaut, als eine wissenschaftliche bezeichnen, weil diese überall bestrebt ist, Ursache und Wirkung zu ergründen und möglichst viel vom wirklichen Leben zu wissen. Wir müssen aber diese wissenschaftliche Bezeichnung trotzdem ablehnen, weil wir der Ansicht sind, daß es im gesellschaftlichen Leben keine zwangläufig e Entwicklung von Ursache und Wirkung gibt, da beides stetig beeinflußt wird einerseits von dem geistigen Wollen und Können der einzelnen Menschen, andererseits dieses wieder von den gesellschaftlichen Verhältnissen.Aber keine Wirkung ohne Ursache. So ist auch der Zusammenbruch der Sozialdemokratie am 1. August 1914 kein Zufall, nicht etwa auf das Versagen von einzelnen Personen zurückzuführen, sondern die Wirkung von dem Inhalt des Marxismus, dem Wesen der Sozialdemokratie. Es ist zwar unzweifelhaft, daß die an der Spitze der Sozialdemokratie stehenden Personen weder in ihren ethischen Charaktereigenschaften noch in ihrem Vermögen an Wissen echtes Freiheitsgefühl und Liebe zur Sache des Volkes empfinden. Sie sind Politiker, und das sind immer Menschen, die dem Ideallosen Eigennutz auf Kosten der Volksinteressen fronen. Menschen, die in der Betörung des Volkes ihren Erwerb finden.Es haben aber nicht bloß die Führer versagt, sondern auch die Massen, die Geführten. Es muß auch anerkannt werden, daß nicht alle Verbrechen bewußt begangen sind, sondern daß die meisten Anhänger der Sozialdemokratie in gutem Glauben gehandelt haben. Daß aber alle reaktionär handelten, liegt an den Prinzipien des Marxismus:
Es wäre verkehrt, anzunehmen, die Sozialdemokratie wird allmählich von selbst verschwinden. Sie wird solange sein, wie es Kapitalismus geben wird. Weil, solange Staat und Kapitalismus existieren, es auch immer Menschen geben wird, die den bestehenden Zustand der Gewalt und des wirtschaftlichen Raubes nicht überwinden wollen, sondern sich ihm nur anpassen, in demselben so leidlich wie möglich auskommen wollen. Sie wollen diesen Zustand bloß verändern, ihn aber nicht abschaffen. Der Zusammenschluß dieser Menschen ist die Partei der Sozialdemokratie. Die Sozialdemokratie ist eben nur Parteibewegung und keine Kulturbewegung. Sie lebt durch den Kapitalismus, ist Fleisch von seinem Fleisch und stirbt erst mit dem Absterben des Kapitalismus selbst. Aber in einer Hinsicht wird die Sozialdemokratie schon viel früher aufhören müssen zu sein, nämlich als Ideen-Organisation, die eine angeblich wissenschaftliche Grundlage besitzt, die wahre Ideale vertritt! Nun splittern zwar fortgesetzt Teile von der Sozialdemokratie ab, weil sie die Taktik derselben für verderblich erkennen, alle diese Gruppen bleiben aber, abgesehen von einzelnen Personen, die zu uns stoßen, trotzdem unter dem Geistesbann ihrer Ideen. Diese Gruppen müssen gewarnt werden, es muß ihnen der richtige Weg gezeigt werden.Der Weg zur Vereinigung des Proletariats auf frei sozialistischem Boden wird erst gegeben sein, wenn die marxistischen Ideen überwunden sind, wenn dieselben als nutz- und sinnlose Demagogie, als eine Art weltliche, politisch hinterhältige, verschlagene Theologie erkannt werden!Alle sozialistischen Schulen von Mitte des 18. bis Mitte des 19.Jahrhunderts knüpften an den bereits im 16. Jahrhundert von Thomas Campanello aufgestellten Fundamentalsatz an:"Alle Übel entspringen den zwei Gegensätzen des Reichtums und der Armut." Alle sozialistischen Denker bis vor Marx verwarfen die bürgerliche Philosophie und Theologie. Marx dagegen ging von der hegelianischen, historischen Betrachtungsweise aus, die besagte: „daß alles in unserer Gesellschaftsorganisation, also auch das Schlechte, alle Niederträchtigkeiten und Gewalttätigkeiten, etwas historisch bedingtes“ seien, etwas notwendiges und zwar so, daß sie deshalb historisch bedingt „seien, weil sie in der Vergangenheit und Gegenwart die Macht und Gewalt“ zu ihrer Aufrechterhaltung besitzen. Es ist nun selbstverständlich, daß bei dieser Annahme sofort die Frage auftaucht, wer denn nun ursächlich diese historischen Notwendigkeiten bestimmt, daß sie gerade diese oder jene Resultate zeitigten ? Auf diese Frage ist aber nur eine theologische Antwort möglich. Darum führte diese Auffassung Hegels zur Anerkennung eines Gottesbegriffs, zur Anerkennung der Autorität und Herrschaft des Gottesgnadentums und der Kirche, überhaupt aller Gewaltmächte des Staates, und zu der Anerkennung des Rechtes ihrer Existenz.Diese Auffassung ist offen reaktionär, weil darin die beste Entschuldigung und Begründung des kapitalistischen Systems liegt. Der Hegelianismus erkennt das Bestehende an und rechtfertigt es. Sein Hauptgrundsatz lautet: "Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist das ist vernünftig!"Da die wahre Wissenschaft voraussetzungslos sein muß, ergibt sich schon aus dieser Voreingenommenheit, das Bestehende ohne weiteres als vernünftig und gegeben anzuerkennen, die Wissenschaftslosigkeit des Hegelianismus und damit auch seiner wirtschaftlichen Spielart des Marxismus.In solchen Sophistereien erblickte die Reaktion des preußischen Staates von 47-48 die beste Philosophie, sie ernannte daher Hegel zum Professor der Philosophie, als welcher er dann bis zu seinem Tode der Reaktion vortreffliche Dienste leistete. Das Reaktionäre der Hegelschen Denkweise tritt besonders hervor, wenn man die Gedankengänge des derzeitigen französischen Zeitgeistes von Männern wie Rousseau u. a. dagegen hält, die ungefähr sagten: „daß das Vernunftgemäße der Erkenntnis des Menschen das Wirkliche seines sozialen Zustandes zu ersetzen habe - und daß das Produkt blinder Geschichtsmächte der Gewalt, deren Vergangenheit noch in die Gegenwart hineinragt und zur Zukunft zu werden strebt, als unvernünftig zu verdammen ist.“Marx hat nun lediglich die reaktionären Anschauungen Hegels umgedreht, wobei er aber zu demselben Resultat kommen mußte. Während Hegel das Geistige als das einzige absolute Einheitsmotiv im All und der Menschheit hielt, erklärte Marx das Materielle als das Wesentliche des Geschehens und sozialen Geschichtsprozesses.Nach Marx besteht das Leben der Menschheit aus einem Bau von Lebensprozessen, In denen die einen den anderen über- und untergeordnet sind. Nach Marx bildet die Ökonomie die Grundlage der Gesellschaft, während das gesamte geistige Leben nur eine Art Überbau ist. Das Studium der Natur und Gesellschaft lehrt uns dagegen, daß alle Lebensvorgänge einander neben- und gleichgeordnet sind! Sie stehen und wirken zugleich miteinander. Alle Individuen werden von diesem Einfluß erfasst, bloß in verschiedener Art, und ist es nun ungemein schwer zu bestimmen, ob geistige oder materielle Faktoren einen bestimmenden Einfluß ausüben. Es besteht eine dauernde Wechselwirkung zwischen geistigen und materiellen Faktoren. Zwar hat sich nie ein geistigcr Prozeß außerhalb der Materie des Alls abgespielt, es ist aber doch positiv richtig, daß es gewaltige, bedeutende Ereignisse gegeben hat, die ganz unabhängig von der Produktionsweise, mindestens ohne bedeutenden Einfluß derselben sich abspielten und vollzogen.Der Marxismus basiert auf der Theorie des Hegelianismus, daß dauernd ein Wechsel der Dinge und Verhältnisse in der Weise stattfindet, daß die These, das Bestehende in das Gegenteil, in die Antithese umschlägt, aus welcher Form dann die Synthese, eine Vereinigungsform der beiden ersten, hervorgeht, worauf dann die Entwickelung wieder bei der ersten Form von vorn anfängt. Diese Theorie ist lediglich eine komische Gedankenkonstruktion, ein Hirngespinst. Die Naturwissenschaft und die Geschichte beweisen uns daß sie falsch ist. Die Naturwissenschaft lehrt uns, daß ins niederen Arten sich langsam höhere entwickeln, noch nie ist aber eine Art in ihr Gegenteil umgeschlagen, nie wird aus einem Löwen ein lammfrommes Schaf, nie aus einem Wolf eine gutmütige Ziege. So wird auch niemals der Kapitalismus von selbst in sein Gegenteil, den Sozialismus umschlagen. Jede Produktionsweise beruht ursächlich auf Mathematik, Geometrie, kurz, allgemeiner Technik. Diese beruhen aber auf den geistigen Fähigkeiten des Menschen. Im Anfang jeder Produktion steht also die Geisteskraft des Menschen. Zuerst mußte der Mensch die Werkzeuge erfinden und herstellen Die Werkzeuge konnten also erst nach ihrem Bestehen den Menschen bedingt beeinflussen. Hiermit ist die Wechselwirkung zwischen Welt und Wille bewiesen.Die Marx-Hegelsche Theorie von der These-Antithese-Synthese ist geeignet, die Menschen auf die Selbstentwickelung zu vertrösten, ihnen den Willen zur Tat zu rauben, was auch geschehen ist. Darum wirkt sie reaktionär! Ihren Ausdruck haben die reaktionären Theorien in dem „Kommunistischen Manifest“ und im „Kapital“ gefunden.
Das kommunistische Manifest ist gleichsam das Evangelium des Sozialdemokraten; er hält es für den Inbegriff aller Weisheit und ist von seinem revolutionären Inhalt überzeugt Diese Ansicht hält aber einer kritischen Prüfung nicht Stand und beweist nur, dass alle diese auf das kommunistische Manifest schwörenden Sozialdemokraten die Begriffe reaktionär und revolutionär nicht unterscheiden können.Zunächst ist zu bemerken, dass das kommunistische Manifest keine Originalarbeit von Marx-Engel ist, sondern dem Inhalt und der Form nach ein Plagiat an dem französischen Fourieristen Victor Considerant. Marx und Engels haben sich die Gedankengänge des letzteren zu eigen gemacht und dessen Anschauungen in der ihnen eigentümlichen Form zum Ausdruck gebracht. Es ist aber die knappste und übersichtlichste Zusammenfassung des Marxismus.Im ersten Teil der Broschüre wird die kapitalistische Gesellschaft in Bourgeois und Proletarier geteilt und diese Teilung als das Resultat von Klassenkämpfen geschildert. Bemerkenswert ist dabei der Umstand, dass reichlich die Hälfte des ersten Kapitels eigentlich weiter nichts bringt, als eine Lobpreisung und Bewunderung der großen Errungenschaften, die der Kapitalismus gebracht haben soll! So wird rühmend hervorgehoben, daß die Städte das flache Land unterworfen haben. Das ist falsch, denn gerade heute können wir es wieder besonders stark empfinden, daß umgekehrt die Städte vollkommen abhängig vom Lande sind. Weiter wird lobend erwähnt, daß der Kapitalismus einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen habe. Das ist wiederum falsch, denn der Idiotismus des proletarischen Fabriksklaven in der Stadt ist nicht geringer als derjenige des armen Landarbeiters. Und umgekehrt ist die Borniertheit eines Industrie- oder Handelsbourgeois in der Stadt nicht größer als diejenige eines Krautjunkers auf dem Lande. Natürlicherweise ist das Landleben dem Großstadtleben vorzuziehen und darum der durch den Kapitalismus hervorgerufene jetzige Zustand zu bedauern statt zu verherrlichen. Dann heißt es wörtlich: „wie die Bourgeosie das Land von der Stadt, hat sie die barbarischen und halbbarbarischen Länder von den zivilisierten, die Bauernvölker von den Bourgeoisvölkern, den Orient von dem Okzident abhängig gemacht!“Hierin liegt offen eine Rechtfertigung der imperialistischen Politik der kapitalistischen Staaten. Der fünfjährige Krieg hat uns erneut und blitzartig bewiesen, daß die sogenannten zivilisierten Völker an Barbarei überhaupt nicht zu übertreffen sind. Das Umgekehrte, was Marx sagt, ist richtig, der Kapitalismus hat die Menschheit in entsetzlicher Weise vertiert, er droht bei Weiterbestand die letzten Reste der guten natürlichen Veranlagung der Menschen, die gegenseitige Hilfe, die freie Solidarität völlig zu vernichten. Bei den Naturvölkern sind diese für den Sozialismus notwendigen Eigenschaften weit besser ausgebildet. Alle Anschauungen von Marx sind reaktionär im höchsten Maße.Der verhältnismäßig beste Teil des Kommunistischen Manifests ist der zweite, aber nicht etwa deswegen, weil er den Aufbau des Kommunismus schildert, davon ist im ganzen Manifest kein Sterbenswörtlein enthalten. Es werden aber in demselben, mit guten Argumenten wie anerkannt werden muß, die verschiedenen Redensarten der bürgerlichen u. kapitalistischen Klopffechter gegen den Kommunismus abgewiesen. Das ist aber auch alles. Nirgends wird dagegen Weg und Ziel angedeutet.Zunächst wird gesagt, daß der nächste Zweck der Kommunisten sei: Bildung des Proletariats zur Klasse, (war also vorher doch noch keine Klasse), Sturz der Bourgeoisherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat. Später heißt es dagegen, daß die „kommunistische Revolution das radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen“ ist. Aber anstatt nun weiter auszuführen, was dies bedeute, wird ganz unvermittelt wieder erzählt, das der erste Schritt zur Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die „Erkämpfung der Demokratie“ sei. Erstens bedeutet die Anwendung der Demokratie die Benutzung eines bisher bürgerlichen Mittels, zweitens lehrt uns aber auch die Geschichte früherer Revolutionen und die Erfahrungen unter der deutschen sozialdemokratischen Regierung haben es uns bestätigt, daß die Anerkennung der Demokratie nach einer Revolution stets zur Abdankung derselben führt. Also nur ein Wust von Unklarheiten. Widersinnigkeiten und Selbstverneinungen ist in diesen einzigen richtunggebenden Sätzen enthalten, dagegen keine Spur von Kommunismus. Das ist verständlich, denn der „Kommunismus“, wie ihn Marx-Engels auffassen, ist gar kein Kommunismus, sondern Staatssozialismus, oder besser gesagt, Staatskollektivismus.Während heute die Warenproduzenten in dem Gebrauch der Produktionsinstrumente abhängig sind von den Privatkapitalisten, wäre im Marx-Engels-Staate dieser, der Staat, die Macht, die über Leben und Tod des Volkes zu gebieten hätte. Das Proletariat bliebe Proletariat, denn nach wie vor wäre es nicht im Besitze der Produktionsmittel. Das Kommunistische Manifest nimmt an, daß der Staat nach und nach „absterben“, sich selbst auflösen wird. Diese Annahme steht aber gegen alle Erfahrungen in Natur und Gesellschaft. Nie schlägt eine Art in ihr Gegenteil um, darum wird auch nie aus dem Staat - einem Unterdrückungs - und Ausbeutungsmittel - eine Gesellschaft von Freien werden. Noch nie hat ein Staat Selbstmord verübt! Er wird sich vielmehr immer mehr zum Macht- und Unterdrückungsfaktor ausbilden! Tausend Beweise können dafür erbracht werden, daß jede Staatsform mit ungeheurer Zähigkeit für ihre Aufrechterhaltung kämpft und gegen ihre Abschaffung. Auch der Noskewismus und Bolschewismus haben alle ministeriellen, politischen und juristischen Ämter genau so bekleidet und gemißbraucht, wie jede andere Staatsform. Die Partei- und Gewerkschaftsbonzen sind die Staatsgewaltigen, die Diktatoren, im sozialistischen Staate. Sie bilden aber schon in der Gegenwart, unter der kapitalistischen Form, eine Klasse für sich, die gegen die Interessen des Proletariats arbeitet, seinen Elan wenigstens dauernd hemmt - das geben sie selbst zu! Sie werden also auch totsicher in der staatssozialistischen Wirtschaft nicht für das „Absterben des Staates“ tätig sein, daß ihnen endgültig ihre Vorrechts- und Herrschaftsposten nehmen würde!Schließlich werden im kommunistischen Manifest einige Maßregeln zur Anwendung empfohlen, die aber durchweg reaktionär sind, u.a.:
Es würde also nach dem kommunistischen Manifest in dem sozialistischen Staate so aussehen: Sie, die er wählten Führer, befehlen, herrschen, sind aber frei von produktiver Arbeit, die Massen arbeiten auf Befehl, unter Waffengewalt, ähnlich wie dies heute schon in Zuchthäusern, Gefängnissen, Kasernen und Klöstern der Fall ist. Diese reaktionären Ideen sind nicht einmal neu und originell! Die Bewirtschaftung der Latifundien durch riesige Sklavenhorden war schon im alten Rom über drei Jahrhunderte vor Christi die vorherrschende landwirtschaftliche Betätigung des verruchten Großgrundbesitzes! Also ein Zurückschrauben auf vorgeschichtliche, entsetzliche Zustände würde der Marxismus bedeuten, und wie damals Rom an diesen Zuständen zugrunde gehen mußte, würde die Einführung dieses Systems nur eine Versklavung der Menschheit und aufs neue den Untergang bedeuten.Im ganzen Kommunistischen Manifest ist kein Wort über die Aufhebung des Lohnsystems enthalten, Marx-Engels berühren die Frage des Entgelts der menschlichen Arbeitsleistung überhaupt nicht. Dies ist wieder erklärlich, weil sie bei Untersuchung dieser Frage nur zu zwei Möglichkeiten gekommen wären, die ihnen beide nicht paßten. Entweder findet nämlich die Entlohnung nach der Arbeitsleistung statt. Das ginge nicht, weil ein Staat den Produzenten nie den vollen Ertrag ihrer Arbeit gewähren kann, da er einen großen Teil des Arbeitsertrages zu seiner Aufrechterhaltung eintreiben muß. Oder alle Gesellschaftsmitglieder erhalten Nahrung, Kleidung und Notdurft nach ihren Bedürfnissen, was Kommunismus wäre. lm letzteren Falle ist aber der Zwangsstaat ein Unding, denn ohne ökonomische Zwangsmittel, also ohne Hungerandrohung oder dergl. könnte kein kommunistischer Staat seinen Willen gegen widerspenstige Minoritäten durchsetzen. Kann er dies aber tun, so hört er auf, kommunistisch zu sein und ist wieder Gegenwartsstaat mit Ausbeutung. Um diese Tatsachen nicht klarzustellen, mussten Marx-Engels darüber schweigen und alles dem Laufe der Entwicklung überlassen! So sehen wir, daß Marx-Engels in dem Kommunistischen Manifest einen gefälschten Kommunismus für den echten unterschoben haben. Da die kommunistischen Ideen damals immer mehr an Verbreitung gewannen, versahen Marx-Engels ihre reaktionären staatskapitalistischen Ideen mit der falschmünzerischen Überschrift: „Kommunistischen Manifest!“ Dadurch, daß die Sozialdemokratie diese Ideen angenommen hat, ist der wahre Kommunismus bei den deutschen Arbeitern in Vergessenheit geraten, und erweist sich jetzt die notwendige Umbildung der kapitalistischen Wirtschaft in die kommunistische als so ungeheuer schwierig.
„Das Kapital“ gilt allgemein als die Bibel des waschechten Sozialdemokraten und nicht mit Unrecht, denn es ist dickleibig, schwer verständlich und läßt sich ebenso nach allen möglichen Richtungen auslegen; es ist auch stark dogmatisch und ebenso unwissenschaftlich. Marx benennt es "Kritik der politischen Ökonomie", womit er die Methode der Engländer befolgt die die in Deutschland übliche Bezeichnung „Nationalökonomie“ vermeiden. Schon in dem Worte liegt nämlich ein großer Schwindel, es handelt sich bei dieser Ökonomie nicht, wie man mit dem Wort den Anschein zu erwecken sucht, um die Interessen des gesamten Volkes, sondern um diejenigen einer kleinen privilegierten Minderheit, einer politischen Clique. Die Nationalökonomie ist als Rechtfertigungsversuch des kapitalistischen Ausbeutungssystems zu betrachten. Während der Kommunismus sämtliche Grundelemente der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer produktiv materiellen Existenzform und Bedingungen verneint, erklärt die Nationalökonomie dieselben, rechtfertigt sie und ist von diesem Standpunkte ausgehend bestrebt, sie systematisch auszubilden.Darin besteht die geistige Tätigkeit aller Nationalökonomen, sie sind so gewissermaßen die Buchführer des herrschenden Systems mit all seinen gefälschten Haben- und Soll-Seiten. Stellt der Marxismus schon einen gewaltigen Hemmschuh in der Entwicklung des Sozialismus dar, indem er diesen auf das kulturwidrige Niveau der Autorität und Gewalt der Staatsdiktatur niederdrückt, so weist er einen vielleicht noch größeren Rückschrittsmoment darin auf, daß er anstatt die Überwindung jeglicher Nationalökonomie des Kapitalismus durch den Kommunismus zu betonen, die Einverleibung des Kommunismus in die Nationalökonomie bewerkstelligt hat. Auf diese Art hat Marx den sozialen Befreiungsgedanken auf den Kaufmannsjargon des kapitalistischen Kommerzialismus, auf dessen Spekulation und Gründe gestützt. Man kann zwar zugeben, daß es oft richtig ist, den Gegner im eigenen Lager aufzusuchen und ihn dort zu schlagen, das hat Marx auch getan, er ist aber dabei in der Nationalökonomie stecken geblieben. Seine Lehren beschränken sich auf Reformen vom Standpunkt der Nationalökonomie gegenüber den bisherigen gedankenlosen Koryphäen auf diesem Gebiete. Das war aber schon lange vor Marx von anderen Gelehrten geschehen und daher nichts neues. Marx hat nicht angeknüpft an die bereits vorhandenen großen Gedankenarbeiten vieler Sozialisten, er war und blieb bloß ein großer Nationalökonom. Der bereits vorhandene Kommunismus hatte die bürgerliche Nationalökonomie bereits vor Marx widerlegt, es war dies vornehmlich geschehen durch Proudhon und Fourier. Wichtig wäre damals die Weiterentwicklung der vorhandenen kommunistischen Ideen gewesen, dieses aber hat Marx gründlich unterlassen, diese Tätigkeit übte allein Bakunin aus, der dafür von Marx auf das entschiedenste bekämpft wurde.Marx unterläßt es im „Kapital“, auf die Vorbedingungen der Entstehung des Geldbegriffes einzugehen, er rechnet einfach schlechthin mit diesem Begriff. Bei dieser Methode brauchte er natürlich nicht zu der Grundlage kommen, dass zunächst die Herrschaftsinstitutionen und die Monopole einzelner die Vorbedingungen der Entstehung des Kapitals sind.Nach Marx besitzt die kapitalistische Klasse schon dadurch, dass sie im Besitze der Produktionsmittel ist, die Möglichkeit einer Ausbeutungs- und Versklavungsfunktion. Dies aber ist zu kurzsichtig gedacht! Der Besitz allein würde nicht genügen, wenn nicht eine Macht da wäre, die dem Kapitalisten seinen ungeheuerlichen Eigentumsanspruch garantiert; erst dadurch, dass es innerhalb der Gesellschaft eine Macht- und Gewaltorganisation gibt - den Staat - , kann die Ausbeutung durch den Besitz an Produktionsmitteln stattfinden. Erst diese Gewaltinstitution schafft Zustände, die im Altertum die Sklaverei, im Mittelalter die Leibeigenschaft, in der Neuzeit die Lohnhörigkeit ermöglichte. Alles dies sind Ausbeutungsformen, nur verschiedener Art, die ersteren keine kapitalistischen. Aber alles dies geht Marx nichts an. Bei ihm beginnt die Ausbeutung erst beim Produktionsprozess. Vorher huldigt er der falschen Auffassung, dass der Arbeiter im Verkauf seiner Ware Arbeitskraft frei sei. Diese falsche Auffassung erklärt es, daß Marx und die Marxisten eine so verkehrte Ansicht von der Freiheit haben. Wir wissen, daß der Arbeiter dem Unternehmer gegenüber nicht frei, nicht ebenbürtig ist, sondern daß er von Geburt an zu dem wirtschaftlichen Sklaven der Hungerpeitsche gemacht wurde. Er muß seine Ware Arbeitskraft zwangsweise verkaufen. Hier liegt ein fundamentaler Irrtum der marxistischen Ideen klar zutage.Die Grundlehre des „Kapital“ bildet „die Werttheorie“. Marx behauptet mit derselben, daß das Maß der menschlichen Arbeit den Wert aller Dinge bestimme. Dabei übersah Marx zunächst, daß bereits vor Beginn der Arbeit die Herstellungs- und Erlangungskosten der Erlaubnis zu der Produktion vom Kapital erworben werden müssen, und daß in allen Dingen der Wert einer großen Vorarbeit vergangener Geschlechter mit enthalten ist. An einigen Beispielen kann man leicht erkennen, wie falsch die Werttheorie ist. Ein Stück Land wird nicht dadurch wertlos, daß es brachliegt, also keine menschliche Arbeit in demselben verkörpert wird. Oft ist vielmehr ein Stück unbebautes Land weit teurer im Werte als ein anderes gleich großes Stück bebautes Land in anderer Stelle. Hier spielten die örtlichen Verhältnisse, die kapitalistische Spekulation, die entscheidende Rolle. Dinge oder Gegenstände haben oft einen umso höheren Wert, je seltener sie sind. So wäre Kaviar nicht teurer wie Heringsrogen, wenn lediglich die in denselben enthaltene menschliche Arbeit den Wert bestimmen würde. Die Herstellung eines künstlichen Schmucksteines macht meistens mehr Arbeit als das Schleifen eines Edelsteins, und doch ist der echte Stein unvergleichlich wertvoller, als der künstliche. Heute kann man täglich beobachten, wie wenig in der kapitalistischen Wirtschaft der Wert einer Ware in irgendwelcher Beziehung zu der in derselben enthaltenen Arbeit steht. So konnte man kürzlich lesen, daß für einen gefällten gewöhnlichen Baum ein Preis von rund 9000 Mk., für einen Eichenbaum dagegen 12000 Mk. bezahlt wurden, trotzdem erstens mal für das Fällen und Behauen beider Bäume ungefähr die gleiche Arbeit notwendig war, zweitens aber nur wenige Mann nur einige Stunden mit dem Fällen und Zurechtmachen zu tun hatten. Der Wert der in dem Baumholz enthaltenen menschlichen Arbeit beträgt also höchstens einige hundert Mark, aber die kapitalistische Spekulation bezahlt in der Praxis einen weit höheren Wert. Der Wert einer Ware wird auch beeinflusst durch die Austauschverhältnisse, nicht bloß durch die Produktionsverhältnisse, wie Marx es annimmt. Weiter lässt sich die geistige Arbeit nie messen, speziell nie in einer Ware das Maß der darin enthaltenen geistigen Arbeit bestimmen. Keine einzige Ware wird vom Kapitalisten gekauft oder verkauft laut der in ihr vergegenständlichten Arbeit, sondern ausschließlich nach den zu ihrer Herstellung nötigen Kosten samt Gewinn, so dass in Wirklichkeit ausschließlich der Preis den einzigen realen Wert einer Sache bildet, alles übrige, was Marx in ihr hineindichtete, in der realen Wirklichkeit keinen Bestand besitzt.Die Marxsche Behauptung, dass die Arbeit den Wert aller Dinge bestimme, ist aber ein schmeichelhaftes Zugeständnis an den Kapitalismus, dem er dadurch im Grunde genommen einen kommunistischen Inhalt verleihen will. Denn wenn die gesellschaftliche Arbeit den Gradmesser für den Wert aller Waren bildet, dann ist der Wert berechtigt und für alle Gesellschaftsmitglieder gleich. Die Marxsche Wertlehre ist somit geeignet, der kapitalistischen Ideologie zu dienen, der Ausbeutung ein Entschuldigungsmäntelchen umzuhängen.Das verkehrteste ist nun aber, daß Marx seinen Wertbegriff auch auf die staatssozialistische Gesellschaft übertragen wollte. Für den Kommunismus sind die Marxschen Ausführungen über den Wert absolut nutzlos und sogar zweckwidrig. Sämtliche Wertbegriffe, wie wir sie heute kennen, sind samt und sonders kapitalistische Begriffe. Luft, Sonnenlicht, Regen, Erdfeuchtigkeit, Humus, kurz, viele der wichtigsten Produktionsfaktoren sind, weil sie nicht monopolisiert werden konnten, heute kapitalistisch wertlos. Und doch sind sie von höchstem wirklichen Wert für die Gesellschaft. So verhält es sich in einer kommunistischen Gesellschaft mit allen Gegenständen des Lebens und der Erzeugung, weil jede Monopolwirtschaft beseitigt und die ungehemmte Produktionsfreiheit aller gesichert ist. Mit dem Aufhören des Eigentumsbegriffes an Produktionsmitteln hört auch jeder Wertbegriff für den einzelnen auf.Wenn man das Unrecht der kapitalistischen Ausbeutung nachweisen will, braucht man dazu nicht die falsche und schädliche Gedankenspielerei der Marxschen Werttheorie! Die einfache Tatsache, dass jedwedes Produkt um einen weit höheren Preis verkauft wird, als sein wahrer Produzent dafür bekam, ist doch wohl eine genügend klare Bemessung der Ausbeutung und des Betrugsumfanges, denen der Proletarier unterliegt.Aus der irrigen Wertlehre folgen nun alle anderen Irrlehren des Marxismus.
Mit dieser Theorie kommen wir zu der wichtigsten Seite des Marxismus. Mit ihr glaubte Marx das Geheimnis der kapitalistischen Ausbeutung entdeckt zu haben. Inzwischen haben die bürgerlichen Nationalökonomen diese Mehrwert-Lehre längst widerlegt, indem sie den Nachweis (natürlich vom kapitalistischen Standpunkt aus) erbrachten, daß der Mehrwert berechtigt sei, weil er einen Entgelt für die Unternehmerarbeit, für die Hergabe des Kapitals und für das Risiko darstellt.Marx ging bei dieser Theorie wieder nur von der Industrie aus; er sah darin, dass sich der Arbeiter für einen Tagelohn verdingen muss, noch kein Unrecht. Der Unternehmer entlässt nun aber den Arbeiter nicht nach 5 oder 6 Stunden, wenn er für den Betrag des Tagelohnes Werte geschaffen hat, sondern beschäftigt ihn länger, 10 bis 12 Stunden. Die Differenz ist der „Mehrwert“, den steckt der Unternehmer ein, und erst damit hat dann die Ausbeutung stattgefunden. Nach dieser Marxschen Theorie steigt die Ausbeutung bei verlängerter Dauer der Arbeitszeit. - Wir können diese ganze Gedankenkonstruktion nur als eine lächerliche Firlefanzerei bezeichnen, denn wir wissen, dass der Arbeiter von der ersten bis zur letzten Stunde der Arbeitszeit ausgebeutet wird. Nach der Marxschen Mehrwerts-Lehre hätte mit der Verkürzung der Arbeitszeit auch die Ausbeutung geringer werden müssen. Wir wissen aber, dass die Rentabilität des Kapitalismus nicht gesunken ist, trotzdem der Arbeitstag von der Arbeiterschaft dauernd heruntergedrückt worden ist; eher hat das Umgekehrte stattgefunden. Die Gewinne und Dividenden der Unternehmer sind dauernd größer geworden. Damit ist die ganze Mehrwert-Lehre schon als falsch bewiesen. Aus der falschen Theorie vom Mehrwert zieht Marx schließlich in seinem Kapitel die Folgerung, daß die Herbeiführung eines Normal-Arbeitstages das wichtigste erste Ziel der Arbeiterschaft sein müßte. Durch Beteiligung in den Parlamenten soll das Proletariat für Staatsgesetze eintreten, die einen Maximal-Arbeitstag festlegen. Durch solche allmählichen Verkürzungen der Arbeitszeit sollte der Mehrwert immer mehr verkleinert und so der Kapitalismus nach und nach abgetragen werden. Nur, die Arbeiterschaft hat glücklicherweise nicht auf die ihm von Marx empfohlene gesetzliche Normierung der Arbeitszeit gewartet, sondern diese selbst durch dauernde Anwendung der direkten Aktion in die Hand genommen. Marx hat aber auch im Kapital selber zugeben müssen, dass alle Gesetze in England entweder ohnmächtig waren oder Verschlechterungen für die Arbeiter brachten, dass nur immer die Arbeiter selber durch irgendwelche direkten Aktionen sich Verbesserungen verschaffen konnten. Wir Syndikalisten wissen, dass der Mehrwert-Betrug nicht die einzige Form der Ausbeutung darstellt, sondern dass das Proletariat auch als Konsument durch Handel, Verkehr, Hausbesitz, Bodenwucher ausgebeutet wird, ebenso durch die verschiedenen Arten der Besteuerung durch den Staat. Marx übersieht auch, daß der Mehrwert erst durch Export realisiert werden muß, wodurch die Staaten zum Imperialismus gedrängt werden. Die Ausbeutung des Proletariats ist also mit der Mehrwert-Lehre nicht zu erklären, sie ist ebenso falsch, wie alle anderen Marxschen Theorien.
Mit derselben behauptet Marx, daß der Kapitalismus an seinen eigenen Entwicklungsprodukten auf Grund feststehender ökonomischer Gesetze zugrunde geben müsse. Dies wäre nun zwar gut und schön, wenn es richtig wäre, es ist aber nicht richtig, sondern falsch. Eine solche Vertröstung ist aber geeignet, die Arbeiterschaft vom Klassenkampf abzuhalten, sie führt zum Fatalismus, und ist deshalb ein Verbrechen. Die Zusammenbruchstheorie zerfällt in zwei Hauptteile, der erste ist
Diese besagt, daß im Maße, wie sich der Kapitalismus weiterentwickelt, die Lage des Arbeiters sich immer mehr verschlechtern muß, und gleichzeitig die industrielle Reserve-Armee, also das Heer der Arbeitslosen, immer größer wird. Nach dieser Theorie hätte in den 50 bis 60 Jahren industrieller Entwickelung nach Marx die industrielle Reserve-Armee schon die Mehrheit des Volkes bilden müssen, in Wirklichkeit ist sie aber nicht größer geworden, ihre Zahl schwankt wellenförmig um einen bestimmten Prozentsatz. Marx übersah hierbei, dass der Kapitalismus ein Mittel in Anwendung bringt, wenn die Gefahr für ihn besteht daß das Heer der Arbeitslosen zu groß wird, nämlich den Krieg. Er ist das Mittel zur Verminderung der industriellen Reserve-Armee. Aber selbst wenn die Verelendungstheorie zuträfe, was aber, wie bewiesen, nicht der Fall ist, dann könnten diese Erscheinungen nie zum Sozialismus führen, sondern nur noch weiter hinweg von ihm. Ein in so hohem Maße verelendetes Proletariat könnte vielleicht einen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems herbeiführen, niemals aber den sozialistischen Aufbau vollziehen. Es ist also gut, daß auch diese Verelendungstheorie ein eingebildeter Spuk ist, übrigens widerspricht diese Theorie auch direkt den eigenen Ansichten von Marx über die Möglichkeit, vermittels eines gesetzlichen Normalarbeitstages die kapitalistische Ausbeutung mildern zu können.
Nach ihr behauptet Marx, dass das Kapital sich in immer weniger Händen konzentriere, dass der Mittelstand nach und nach verschwindet, von den Kapitalisten aufgesogen werde, und daß schließlich die Kapitalistenklasse sich selbst untereinander immer mehr dezimiere. Aus dieser Konzentrationstheorie hat Marx auch seine zentralistischen Tendenzen für den sozialistischen Staat übernommen. Diese Tendenzen sind also ebenso verkehrt, wie die ganze Theorie. In logischer Folge seiner irrigen Ansichten erachtet Marx die Vernichtung aller Mittelklassen für eine Notwendigkeit, trotzdem er zugibt, daß diese Mittelklassen in der kapitalistischen Wirtschaft freier und besser leben als die Arbeiterklasse. Aus diesen Ansichten folgt weiter das häufige Eintreten der Sozialdemokratie in den Parlamenten zugunsten des Großkapitalismus, auch das Eintreten für den Weltkrieg ist letzten Endes auf den Irrwahn zurückzuführen, daß der Weltkrieg eine natürliche Etappe auf dem Wege der notwendigen Konzentration des Kapitals bedeute. So fürchterlich erweisen sich die Folgen der durchweg falschen Theorien von Marx. Das gerade Gegenteil trifft in Wirklichkeit zu: Der Mittelstand und die Kapitalisten vermehren sich dauernd, die Zahl der Ausbeuter verringert sich nicht, sondern steigt. In wunderbarer Weise hat dies der russische Gelehrte Tscherkeseff nachgewiesen, und zwar gerade für England, demselben Lande, aus welchem Marx seine ganzen „Wissenschaften“ geschöpft hatte.Danach hatten in England im Jahre 1815 nur 39569 Personen ein Einkommen von über 3000 Mk., 1907 aber 568092, das heißt 14,3 mal soviel, während sich die Bevölkerung in dieser Zeit nur verdoppelt hatte. Kleinkapitalisten gab es 1907 16,8 mal soviel wie 1815, und Großkapitalisten 11,03 mal so viel. In allen Ländern vollzieht sich die Entwickelung in ähnlicher Form, so hat sich die Zahl der Millionäre in Preußen von 1895 bis 1911 von 5306 auf 9431 erhöht, interessant werden die Zahlen für die Kriegszeit sein, wenn wir sie erfahren sollten. In Amerika hat sich die Zahl der Millionäre seit Kriegsbeginn 1914 von 4000 auf 20000 erhöht. Mit diesen Tatsachen ist die Konzentrationstheorie widerlegt, und die Zusammenbruchstheorie von Marx tatsächlich zusammengebrochen.Noch offenkundiger wird die Unwissenschaftlichkeit des Marxismus in bezug auf die Konzentrationstheorie dadurch, dass Marx bei allen seinen Untersuchungen die Agrikultur nicht berücksichtigt hat. Damit hat Marx gerade die Hauptseite der Wirtschaft ignoriert, aus dem Grunde schon wären alle seine Hypothesen null und nichtig, weit das industrielle Kapital nur eine sekundäre Erscheinung, die landwirtschaftliche Produktion aber die elementare Form jeglicher Produktion überhaupt ist. Zunächst muß doch mal der Mensch essen, also landwirtschaftliche Produkte haben, erst dann kann er weben, Maschinen bauen, produzieren. Und letzten Endes haben alle Mittel zur Produktion, wie Häuser, Maschinen, Rohprodukte, ihren Ursprung in der Landwirtschaft. Marx machte sich die Sache sehr einfach, er übertrug die angebliche kapitalistische Tendenz unbesehen auf die Landwirtschaft. In der Landwirtschaft tritt es aber noch viel klarer zutage wie in der Industrie, daß diese angebliche Tendenz eine Fabel ist. Die Entwickelung beweist uns nämlich, daß in der Landwirtschaft der Großbetrieb dauernd zurückgeht, während der Kleinbetrieb blüht und gedeiht, und zwar trifft dies für alle Länder in gleicher Weise zu.So lehrt uns die Berufszählung für Deutschland vom Jahre 1907, daß die Zahl der Parzellen und Kleinbetriebe (also die unter 2 ha) seit 1895 um rund 142 000 gestiegen ist. Die der Kleinbauern (2-5 ha) verlor allerdings 10000, aber nur, indem der eigentliche Mittelstand des Bauerntums (5- 20 ha) um volle 67000 zunahm. Dagegen verloren die großbäuerlichen Betriebe (20-100 ha) fast 20000, und der Großgrundbesitz (über 100 ha) 1500, das heißt rund 6 Proz. aller in Deutschland vorhandenen Großgrundbesitzbetriebe. Diese tatsächliche Entwickelung von 12 Jahren, eine Entwickelung, die aller marxistischen Theorie ins Gesicht schlägt, vollzieht sich in derselben Weise weiter. In anderen Ländern, wie Ungarn, vollzieht sich eine gleiche Entwickelung in noch stärkerem Maße, überall in allen Ländern geht die Landwirtschaft zum Kleinbetrieb über. Wie rationell der Kleinbetrieb arbeitet, kann man an China sehen, wo der Boden unter alle Familien des riesigen Volkes ungefähr gleich aufgeteilt ist, dort ist Feldwirtschaft beinahe überflüssig geworden, es wird eine so rationelle Gartenkultur getrieben, daß 1 ha Land 10 Personen ernährt.So schafft die ökonomische Entwickelung die Vorbedingungen jener Kultur der kommunistischen Zukunft, deren Grundzüge im Gartenbau und Gartenbewirtschaftung, in Verbindung mit unserer hohen elektro-maschinellen Technik ihren Ausdruck finden werden. Das erstrebenswerte Ziel ist ein freies selbständiges Land- und Industrievolk anstatt der marxistischen industriellen und landwirtschaftlichen Armeen.
Die Voraussage von Marx, daß sich die ungefähr 10 jährigen Krisen der kapitalistischen Produktion immer häufiger und immer heftiger einstellen müßten, hat sich ebenfalls nicht erfüllt. Der Kapitalismus hat es vielmehr verstanden, durch Bildung von Kartellen und Trusten diese Krisenbildung zu verringern. Es trifft aber auch nicht zu, daß die jeweils einsetzenden Krisen das kapitalistische System schwächen, bis schließlich dadurch die ganze kapitalistische Produktionsweise unmöglich wird, sondern die Krisen erwiesen sich als Ereignisse, die die kapitalistischen Produktionsverhältnisse immer wieder regenerierten, wenn die Planlosigkeit in der kapitalistischen Produktion überhand genommen hatte. Wenn jetzt die kapitalistische Wirtschaft am Ende ihres Lateins angelangt ist, so vollzieht sich dies nicht in der von Marx vorgesehenen Form, sondern der Kapitalismus ist gerade umgekehrt bankerott geworden durch Mangel an Kapital, Rohstoffen, Überschuldung. Und nur in der Unmöglichkeit, das Lebensniveau der modernen Arbeiterschaft plötzlich gewaltig herunterzudrücken und große Massen widerstandslos zu verelenden, liegt der Triebfaktor für die Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Also jetzt hängt es doch wieder, entsprechend den Lehren Bakunins, von dem revolutionären Wollen und der Energie des Könnens des Proletariats ab, ob der Sozialismus Wirklichkeit wird.
Marx hat bei allen seinen Untersuchungen übersehen, daß zu allen Zeiten eine Gewaltseinrichtung den Unterschied zwischen Armut und Reichtum ermöglichte. So ist auch dem Kapitalismus unserer Zeit die Möglichkeit seiner Betätigung nur durch den modernen Staatsmechanismus verbürgt. Marx hat den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft nicht erkannt, und deshalb ist der Marxismus im Lichte des Sozialismus schon reaktionär, weil er nicht auf eine Stärkung der Gesellschaft gegenüber dem Staate, sondern umgekehrt auf eine Machtlosmachung der Gesellschaft gegen die Allmacht des Staates hinausläuft. Sozialismus heißt aber Vergesellschaftung. Die Befreiung der Menschheit von Staat und Kapitalismus ist ausschließlich von der zunehmenden Intelligenz, dem reifenden Gerechtigkeitsgefühl dem wachsenden Menschheitsgefühl des Individuums und stärkeren Minoritätsgruppen zu erhoffen, die dem Staat und dem Kapitalismus sich, Ihren Geist und ihr Arbeitsschaffen nach Möglichkeit entziehen. Diese neuen Menschen müssen eine neue Gesellschaftsorganisation begründen helfen, die sich mit allen Mitteln energisch von dem Kapitalismus loslöst. Der Kommunismus wird nicht eine natürliche Folge der Akkumulation sein, wie Marx es behauptete, sondern nur sozialistisch wollende und in diesem Sinne konstruktiv bauende Menschen können den Kommunismus schaffen. Damit ist gleichzeitig die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Kampforganisatoren begründet, die gleichzeitig die Zellen für die neue Gesellschaft bilden müssen.Um nun die Staatsherrschaft durch ein geeinigtes Proletariat überwinden und das Proletariat auf eine einheitliche wirtschaftliche Kampffront bringen zu können, ist zunächst die Überwindung der marxistischen Irrlehren die Voraussetzung hierzu. Der marxistische Staatssozialismus konnte nur seine Bedeutung erlangen auf Grund des preußischdeutschen Sieges1870 über Frankreich, wodurch der Staatszentralismus in seinem schärfsten Ausdruck sich anscheinend als die überlegene und siegreiche Form der Organisation erwiesen hatte. Dieser Schein ist jetzt durch den Zusammenbruch des preußischen Militarismus als ein Trugschluß offenbar geworden und damit beginnt auch das Ende der Vorherrschaft des marxistischen Pseudo-Sozialismus. Die Arbeiterschaft wird wieder zu den Anschauungen der 1. Internationale, zu dem freiheitlichen Sozialismus zurückkehren, wie ihn Bakunin im Gegensatz zu Marx vertrat. Unsere Aufgabe ist es, diesen Prozeß möglichst zu beschleunigen. Dabei wird das dankenswerte Buch von Pierre Ramus unschätzbare Dienste leisten.
Man hat den Marxismus und den Anarchismus oft als zwei feindliche Brüder bezeichnet. Doch auf den ersten Blick scheint es kaum Unterschiede in der Theorie zu geben. Über die Analyse des Kapitalismus sind sich Anarchisten und Kommunisten größtenteils einig, jedoch nicht in der Frage des Weges, wie der Kapitalismus beseitigt werden soll. Da war es nicht verwunderlich dass es zu Gegensätzen kommen musste.So plädierten die Marxisten, die das autoritäre Lager anführten, für die Grundlage starker, zentraler Parteien , für den Eintritt in Gewerkschaften, für die Beteiligung an Wahlen und für einen politischen Kampf, der die Bedingungen der Arbeiterklasse schrittweise verbessern sollte. Die Anarchisten hielten diesem Programm entgegen: Organisation auf der Basis freier und dezentral organisierter Bünde, die sich lediglich zur Absprache ihrer Aktionen zusammenschließen sollten.Man erkannte , dass in einer autoritären Organisation (wie es die Kommunisten mit ihrer Partei machten) bereits der Keim für eine neue autoritäre Gesellschaft erhalten war. Wir müssen jedoch von Fall zu Fall genau untersuchen, ob das, was wir kritisieren, denn eigentlich Marxismus ist. Bekanntlich gibt es mehrere "Schulen" des Marxismus, die alle von sich behaupten, die einzig wahren, rechtmäßigen Nachfolger des Lehrers zu sein. Von der reformistischen Sozialdemokratie haben wir gesehen, dass bei ihr von Marx nicht mehr viel übrig geblieben ist. Aber auch im Leninismus , der heute als "echter" Marxnachfolger allgemein anerkannt ist, müssen wir feststellen, das hier Marx ganz erheblich verfälscht wurde.Schnell erkannten die Antiautoritären, dass der Kommunismus eine Gefahr in sich birgt. Er nimmt aufgrund seiner beanspruchten „geistigen Überlegenheit“ die Führung der Revolution („Avantgarde“) für sich in Anspruch und trägt so den Keim diktatorischer Systeme in sich. Statt den Staat zu zerschlagen, plan(t)en die Marxisten nur ihn zu übernehmen und zu stärken – samt seiner Herrschaftsapparate. Der Staat würde dann – so die Theorie – mit der Zeit absterben. Doch genau das Gegenteil trat bislang in allen „kommunistischen“ Staaten ein. Ob in Russland, China, Vietnam, Kambodscha, der DDR oder in Kuba – der Staat blieb und die Kommunisten errichteten autoritäre Diktaturen. Durch Lenin wurden deutlich einige der jakobinischen und autoritären Züge der marxistischen Theorie verstärkt. Er erweiterte diese auch um einen Ultra-Zentralismus, eine enge und sektiererische Konzeption der Partei und vor allem um die Praxis der Berufsrevolutionäre als Führer der Massen (eben die „Avantgarde“).Es scheint, als seien die Anarchisten Propheten gewesen. Schon Bakunin schrieb: "Vorzugeben, daß eine Gruppe von Individuen, seien es die Intelligentesten und die mit den besten Absichten, in der Lage ist, die Seele, der leitende und vereinigende Wille der revolutionären Bewegung und Wirtschaftsorganisation des Proletariats aller Länder zu werden, ist eine solche Ketzerei gegen den Gemeinsinn, dass man mit Erstaunen fragt, wie ein so intelligenter Mensch wie Herr Marx das hat denken können. Die Einrichtung einer universellen Diktatur würde genug sein, die Revolution zu töten, alle Volksbewegungen zu lähmen und zu verfälschen. Man kann das Etikett wechseln, das unser Staat trägt, seine Form - aber im Grunde bleibt er immer der gleiche. Entweder müssen man diesen Staat zerstören oder sich mit der schändlichsten und fürchterlichsten Lüge, die unser Zeitalter hervorgebracht hat, versöhnen: der roten Bürokratie!" Genau dieser überbürokratisierte Staat entstand in Russland nach der Oktoberrevolution…Lenin, der den Marxismus im autoritären Sinne weiterentwickelt hat, gelang es innerhalb von drei Jahren, die russische Volksrevolution unter die Diktatur seiner straff organisierten, kleinen Partei zu bringen. Als das Volk begriff, was geschehen war, war es schon zu spät: Jede Erhebung gegen die bolschewistische Diktatur wurde blutig unterdrückt (siehe Kronstadt 1921 , die Ukraine etc.), die neu geschaffene Geheimpolizei terrorisierte mit brutalen Methoden das Land. Trotzdem muß kritisch angemerkt werden, dass Anarchisten und Anarchogruppen ihre Kräfte manchmal mehr der Bekämpfung des Marxismus geopfert haben, als dem Kampf gegen den gemeinsamen Klassenfeind.
Schon Marx und Bakunin haben darüber gestritten. Marx strebte eine zentrale Organisation der Produktion an. Ein Stab von Ingenieuren sollte den ganzen Staat, der das Bank- und Produktionsmonopol hat, bestimmen und entscheiden, was produziert wird und was nicht (Also nach dem "von oben nach unten" Prinzip / Autoritätsprinzip). Aus eben dieser Bürokratie entstand in Russland eine neue privilegierte Klasse.Die Anarchisten traten dagegen für ein völlig anderes Wirtschaftssystem ein: es sollte vor allem zwei Bedingungen erfüllen: menschlich sein und effektiv produzieren. Vor allem das erste sahen sie im marxistischen Konzept gefährdet. Sie fürchteten sogar, dass aus dem allmächtigen Wirtschaftsstaat eine neue, schlimmere Regierungsform hervorbrechen würde. Wenn man sich das Staats- und Wirtschaftssystem der (inzwischen zusammengebrochenen) Sowjetunion ansieht, muss man zugeben, dass die Befürchtungen nicht abwegig war.Genau wie alle anderen Gesellschaftsbereiche, so sollte auch die Wirtschaft und die Industrie von "unten nach oben" organisiert werden (und nicht wie im Kommunismus "von oben nach unten"), d.h. auf der Grundlage von freien und gleichberechtigten Produktionsgemeinschaften, die sich nach den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Arbeiter und Verbraucher zu wirtschaftlichen Föderationen (Bünden) zusammenschließen. Dasselbe sollte für die landwirtschaftlichen Genossenschaften gelten. Die Wirtschaft sollte also nicht durch zentrale Planung gehemmt werden, sondern sich von der Basis her, d.h. an den tatsächlichen Bedürfnissen der Produzenten (Arbeiter) und Konsumenten (Verbraucher) orientieren.Es leuchtet ein, dass man die wirtschaftliche Ordnung nicht dem Zufall eines freien Marktes überlassen kann. Das ist damit auch keineswegs gemeint! Vielmehr sollten sich dafür Räte zusammenschließen und sich über Erfahrungen, Probleme und anderes austauschen und Beschlüsse treffen. Es leuchtet ebenfalls ein, dass eine solche Organisation nicht nur aus studierten Theoretikern besteht, die irgendwo an Tischen von staatlichen Zentralen sitzen, sondern dass diese Organisation aus den Arbeitern selbst besteht, nach dem Prinzip der Selbstverwaltung.In den beiden erfolgreichsten anarchistischen Gesellschaften, die je existierten, in der Ukraine und Spanien, ist es tatsächlich gelungen, diese Vorstellungen in den ersten Ansätzen zu verwirklichen. Es ist gelungen die Arbeitswelt erheblich zu humanisieren. Betriebe wurden von den ArbeiterInnen selbst übernommen und verwaltet (kollektiviert). Transport- und Verteilungsfragen wurden nicht vom Kapital oder der Regierung beschlossen, sondern einzig durch demokratischen Räte der Arbeiter und Bauern. Und was niemand für möglich hielt geschah: Die Produktion stieg, anstatt zu fallen, die Löhne konnten teilweise gehoben und sogar die Arbeitszeit gesenkt werden.Weder in der Ukraine 1918 bis 1922 noch in Spanien 1936 bis 1939 hat es trotz der Bürgerkriegssituationen Hungertote gegeben (vgl. die Millionen von Toten im planwirtschaftlichen Sowjetrussland der 20er-Jahre). War die Ukraine mehr ein Agrarland mit wenig Industrie, so haben wir in Spanien mit seinen Industriezentren (Barcelona und Valencia) ein typisches Beispiel dafür, dass das anarchistische Prinzip der Selbstverwaltung und der Bedürfnisproduktion auch in modernen Industrieländern möglich ist.Fassen wir die Thesen der wirtschaftlichen Organisation der Anarchisten kurz zusammen:
Die Räte bilden das Prinzip, das der Selbstverwaltung zugrunde liegt. Sie sind von allen bisher bekannten gesellschaftlichen Organisationsformen die demokratischste. Die Räte sind sowohl geografische als auch sachliche Organisationszusammenhänge. Sie können sich überschneiden, d.h., es gibt z.B. den Rat des Dorfes, einer Stadt oder eines Landstrichs, je nach Größe und Einwohnerzahl. In diesem Gebiet wiederum organisieren sich Räte nach sachlichen Zusammenhängen, so z.B. am Arbeitsplatz: in der Fabrik, im Transportwesen, in den Universitäten und Schulen, in den Krankenhäusern etc. Es kann auch andere sachliche Zusammenhänge geben, wie den Rat der Frauen, den der Alten, den der Körperbehinderten usw.Jeder Rat ist also im Grunde die Versammlung aller Menschen, die unter den entsprechenden Bereich fallen und daran teilnehmen möchte. Natürlich ist die Teilnahme freiwillig. Ebenso ist jeder Rat grundsätzlich „autonom“ (unabhängig). Zur Bewältigung bestimmter überregionalen Probleme (wie z.B. Transportwesen, Post, Politik allgemein) wählt der Rat sogenannte Delegierte. Die Delegierten bilden einen weiteren Rat. Hierbei ist gewährleistet, dass die, die das meiste Vertrauen in der Bevölkerung genießen und sich mit dem Problem um das es gerade geht, am besten auskennen, gewählt werden. Dies ist eine klare Organisation von unten nach oben. Sieben Millionen ÖsterreicherInnen können sich schlecht irgendwo versammeln und noch schlechter miteinander beraten. Die Delegierten können jedoch nach ihrer Wahl nicht machen, was sie wollen: Sie unterliegen immer den Interessen der Basis, die sie gewählt hat! EinE Delegierte(r) der/die nicht für die Interessen des eigenes Rates Eintritt wird von der Basis ersetzt.
Die Partei der Bolschewiki: Diese Partei ist eine Abspaltung der russischen Sozialdemokratie. Sie erhob sich selber zur "Avantgarde des Proletariats" und war straff und autoritär organisiert. Ihr Ziel war es, unter ihrer Führung einen Aufstand zu beginnen, die Macht im Staat zu übernehmen und „den Sozialismus“ einzuführen. Vom revolutionären Bewußtsein des Arbeiters hielt die Partei nicht allzu viel. Als die Revolution 1917 in Russland begann, zog sie mit und kämpfte unter der Parole "Alle Macht den Räten" an der Seite der Anarchisten und Sozialrevolutionäre mit dem Volk für die Revolution. Das war nur ein taktischer Zug - als die Bolschewiki die Macht übernahmen, zerschlugen sie zuerst einmal die anarchistischen und sozialrevolutionären Organisationen und machten Schritt für Schritt die Revolution rückgängig. Die Räte wurden entmachtet, Polizei und Armee wieder aufgebaut und gegen das eigene Volk eingesetzt. Die Bürokratie hielt überall Einzug und Erhebungen gegen die neue Parteidiktatur wurden blutig niedergeschlagen. Nach knapp 20 Jahren unterlag Russland der brutalen Diktatur eines einzigen Mannes - Josef Stalin. Von Sozialismus keine Spur, von Freiheit erst recht nicht.Es geht nicht darum, die politische Macht zu erobern, sondern sie zu zerschlagen! Sowohl die bolschewistischen Avantgardekonzepte, als auch die parlamentarisch-reformistischen Sozialdemokratien sind gescheitert. Nicht die Übernahme des Staates ist der Weg zur Überwindung von Ausbeutung und Herrschaft, sondern seine vollständige Ersetzung durch neue Organisationsformen von unten!
Karl Marx (5.5.1818 – 14.3.1883), der in seiner Jugend Philosophie, Geschichte und Jura studierte, gilt insbesondere wegen zahlreicher Veröffentlichungen wie dem Kapital, seinem Hauptwerk, oder dem Manifest der Kommunistischen Partei, das er zusammen mit Friedrich Engels (28.11.1820 – 5.8.1895) verfasste, als einer der bedeutendsten Vordenker und Vertreter der neuen Bewegung des Sozialismus, der er mit seinen theoretischen Arbeiten ein wissenschaftliches Fundament schuf: Marx sah den Kommunismus, vereinfacht gesagt, als reale Bewegung an, die infolge der Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft einen Zustand der freien Selbstentfaltung des Menschen herbeiführen sollte. Seine materialistische Geschichtsauffassung spiegelt sich unter anderem in der Feststellung wider, dass das gesellschaftliche Sein der Menschen ihr Bewusstsein bestimme. Er wirkte in der am 28. September 1864 in London gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation, kurz: Internationale, entscheidend mit. Den meisten in jener Zeit entstehenden sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien dienten die Überlegungen von Marx als programmatische Grundlage.
Michail Aleksandrowitsch Bakunin (30.5.1814 – 1.7.1876) studierte nach einer abgebrochenen Offizierslaufbahn Philosophie, zuerst in Moskau, dann in Berlin. Später nahm er im Zuge der späten Märzrevolution am Dresdner Aufstand vom Mai 1849 teil, weshalb Gerichte in Sachsen und Olmütz ihn zum Tode verurteilten. Vor der Vollstreckung lieferte man ihn jedoch an Russland aus. In der Peter-und-Pauls-Festung (Sankt Petersburg), wo man ihn festhielt, schrieb er seine revolutionär-anarchistischen Gedanken nieder und sandte diese im Jahr 1857 an Zar Alexander I. als Bittschrift („Beichte”). In Abmilderung seiner Strafe verbannte man ihn nach Sibirien, von wo er 1861 über Japan und die USA nach London floh. Dort beteiligte er sich an den Vorbereitungen zum polnischen Aufstand von 1863. Als Vertreter des antiautoritären Sozialismus begründete Bakunin den kollektivistischen Anarchismus. Seine Aktivitäten verhalfen dem Anarchismus zu einer sozialrevolutionären Bewegung, die international organisiert war. Michael Bakunins radikaler Freiheitsanspruch, der ihn zum scharfen Kritiker des Theismus (=der Glaube an einen persönlichen überweltlichen Gott, der die Welt als seine Schöpfung erhält und das Weltgeschehen lenkt) machte, war sein herausragendstes Wesensmerkmal.
Im Jahre 1844 traf Bakunin erstmals in Paris mit Marx zusammen – bis in die 1860er Jahre herrschte zwischen Marx und Bakunin ein distanziertes, jedoch nicht feindliches Verhältnis. Das schlug jedoch alsbald um: Seit dem Eintreten Bakunins in die Internationale Arbeiterassoziation verschlechterte sich die Beziehung zwischen den Beiden mehr und mehr. Worin mag der Grund dafür gelegen haben? Marx wirkte federführend bei der Gründung der Ersten Internationale mit – er verfasste nicht nur deren programmatische Inauguraladresse, sondern nahm auch eine leitende Funktion ein. Er und Friedrich Engels gehörten dem autoritären Flügel an: sie wollten „den Generalrat zu einem machtvollen Führungsinstrument der Internationale ausbauen [...] und [waren] inhaltlich auf die Eroberung der politischen Macht und die Erreichung materieller Vorteile, wie Lohnerhöhung usw., [für die Arbeiterschaft] ausgerichtet”[2]. Dagegen sprach sich der antiautoritäre Flügel für einen rein technischen Generalrat aus: er wollte einen föderalistischen Aufbau der Internationale und diese „den Arbeitskämpfen als revolutionäres Instrument direkt dienstbar machen [...] und inhaltlich auf eine radikale soziale Revolution”[3] hinarbeiten. Diese unvereinbaren Gegensätze legten bereits den Grundstein für alle zukünftigen Flügelkämpfe. Mit Bakunin trat schließlich auf Seiten der Antiautoritären ein impulsiver Agitator, ein Mann von großer Ausstrahlungskraft, der Ersten Internationale bei.Er und Freunde von ihm konstituierten sich zugleich mit der Alliance de la democratie socialiste als „ein Zweig der Internationale und nahmen deren Statuten an.”[4] Marx sah darin offensichtlich die Gefahr, seine dominierende Stellung in der Internationale an Bakunin zu verlieren. Und tatsächlich musste er kurze Zeit später auf dem Baseler Kongress eine schmerzliche Niederlage gegen seinen neuen Konkurrenten einstecken: „Die Bakunisten traten für die sofortige Abschaffung [des Erbrechts] ein, was zur Abstimmungsniederlage der Marxisten führte.”[5] Während der von Marx verfasste Antrag des Generalrates mit klarer Mehrheit abgelehnt wurde, verfehlte der von Bakunin inspirierte nur knapp die absolute Mehrheit. Daran schließt sich eine wahre Anti-Bakunin-Kampagne an: Den Anfang machte die sogenannte „Konfidentielle Mitteilung” von Marx, in der er Bakunin zu diffamieren versuchte. Unter anderem heißt es dort seitens Marx über Bakunin im Zusammenhang mit dem Baseler Kongress wörtlich: „B. setzte eine völlige Konspiration ins Werk, um sich die Majorität auf dem Basler Kongreß zu sichern. Sogar an falschen Vollmachten fehlte es nicht, wie die des Herrn Guillaume für Locle etc. B. selbst bettelte sich Vollmachten von Neapel und Lyon. Verleumdungen aller Art gegen den Generalrat wurden ausgestreut.”[6]Seinen vorläufigen Höhepunkt fand die marxsche Kampagne in der Allianz-Broschüre, einer von Marx, Engels und Paul Lafargue verfassten Kampfschrift gegen Bakunin, die von falschen Vorwürfen nur so wimmelte. Dagegen fand Bakunin, trotz dieser erbitterten Polemik gegen ihn, in seiner Darstellung des Konflikts anerkennende Worte für die Verdienste von Marx: Er hatte „Respekt vor Marxens Abstraktionsfähigkeit und seiner Gelehrsamkeit in bezug auf das Generelle, speziell in der Ökonomie”[7]. Auch zeigt Bakunin nicht zuletzt in einem Brief aus dem Jahre 1868 an Marx persönlich seine „Achtung für den wissenschaftlichen Wert von Marxens ‘Kapital’”[8]. Gleichwohl „empfand [Bakunin] für den Charakter von Marx nie eine große Sympathie”[9]. Marx indes war es zwar nicht gelungen, in der Folge die anarchistischen Ideen aus der Ersten Internationale zu verbannen, jedoch verhinderte er mit der Berufung des nächsten Kongresses der Internationale nach Den Haag im Jahre 1872, dass Bakunin an diesem teilnehmen konnte: Jedermann wusste, dass es ihm nicht möglich war, aus der Schweiz auszureisen, „denn er war schwerkrank und wurde sowohl in Frankreich als auch in Deutschland steckbrieflich gesucht.”[10]Marx nutzte die ungewollte Abwesenheit von Bakunin, um weitere Propaganda gegen ihn zu machen: Auf dem Kongress wurde dann entschieden, Bakunin und seinen Anhänger James Guillaume aus der Internationale auszuschließen. Das führte zur Spaltung der Ersten Internationale: Die Anarchisten gründeten daraufhin ihre eigene Internationale – Anarchismus und Marxismus gingen nun endgültig ihre eigenen Wege. Jetzt konnte man „von einer eigenständigen anarchistischen Bewegung sprechen”[11]. Es wäre jedoch zu einfach, diese Entwicklungen allein als Resultat eines persönlichen Machtkampfes zwischen Marx und Bakunin anzusehen: Die Ursache dafür liegt vielmehr in dem Zusammenprall zweier zutiefst gegensätzlicher Sozialismuskonzeptionen!
Wie bereits festgestellt wurde, ist die Spaltung der Ersten Internationale nicht vorrangig auf persönliche Differenzen und Machtkämpfe zwischen Marx und Bakunin zurückzuführen – vielmehr ist sie das Ergebnis zweier sich unversöhnlich gegenüberstehender Sozialismuskonzeptionen. Auf eine knappe Formel zusammengefasst: Bakunin-Anarchismus vs. Marx-Kommunismus.
Michail Aleksandrowitsch Bakunin strebte eine klassen- und staatenlose Kollektivordnung an: er „entwickelte [...] die Vision einer internationalen Revolution, die weltweit mit allen staatlichen Institutionen und sozialen Zwangsverhältnissen Schluß machen soll”[12]. Seines Erachtens müsse sich diese Revolution durch einen vitalen Aufbruch aus den Kreisen des Volkes (gemeint als Gegensatz zu den Herrschenden bzw. Führungseliten!) vollziehen, der zu freiheitlichen Formen gesellschaftlicher Organisation führe: „zur Verwaltung des öffentlichen Lebens durch Delegierten-Komitees, zur Bildung von unabhängigen Kommunen (Gemeinden und Kreisen), zu einer groß angelegten Föderierung aller Initiativen, mit einem Wort: zur Anarchie.[13]” Nur so sah Bakunin die Schaffung von vollkommener Freiheit gewährleistet. Dabei kam für ihn auch eine Art von revolutionärer Staat nicht in Frage. Er schloss die Verwirklichung der ganzen Freiheit in einem reformierten bürgerlichen Staat aus, da dieser „durch ››die sogenannten praktischen Tagesnotwendigkeiten‹‹ der Realpolitik die Einlösung der sozialrevolutionären Forderungen nur hinauszögere.”[14]Bakunin kritisierte die ganze Palette autoritärer Gesellschaftskonzepte, ob nun das Prinzip des Zentralismus, die rousseausche Lehre vom Gesellschaftsvertrag oder religiöse Formen, und stellte jedweden Legitimationsversuch der Herrschaft von Menschen über Menschen in Frage. Er sprach von einer Pseudovolksvertretung bei den Regierenden des bürgerlichen Staates, der „Verwaltung einer Mehrheit durch eine Minderheit im Namen der angeblichen Dummheit ersterer und der angeblichen Weisheit Letzterer”[15], einer Handvoll Privilegierter, die sich auf einen Pseudo-Volkswillen stützen. Bakunin trat dagegen für die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa ein, die jedweder Form von Staat entbehrten. Er proklamierte das Prinzip „der freie[n] Föderation der Individuen”[16]. Ein wichtiger Punkt der sogenannten Prinzipienerklärung der von ihm gegründeten Liga für Friede und Freiheit zum Thema Die Vereinigten Staaten von Europa war, „daß kein zentralisierter, bürokratischer und eben dadurch militärischer Staat, selbst wenn er sich als Republik bezeichnet, in ernsthafter und aufrichtiger Weise einem internationalen Bund beitreten kann.”[17] Zudem forderten Bakunin und seine Anhänger die Abschaffung eines sogenannten historischen Rechts der Staaten.Der Staat müsse „sich selbst in der nach Maßgabe der Gerechtigkeit frei organisierten Gesellschaft auflösen”[18]. In der Beseitigung der Zentralstaaten sah Bakunin die Voraussetzung dafür geschaffen, dass sich die „ideale Gesellschaft, die freie Vereinigung aller freien Einheiten, die von unten nach oben organisiert seien, entwickeln”[19] könne. Sowohl die freie Vereinigung als auch umgekehrt die freie Abspaltung sollte das wichtigste politische Recht dieser Einheiten sein. Eine Kernforderung von Bakunin, die all diesen Vorstellungen zugrundelag, war, dass „jedes Volk, jede Provinz und jede Gemeinde das absolute Recht [haben müsse], frei, autonom zu sein, zu leben und sich zu regieren nach eigenem Willen.”[20] Dabei setzte er voraus, dass jede Einheit aus eigenem Antrieb heraus nicht nur ihre Freiheit, sondern auch die anderer Einheiten schützen werde, wenn diese angetastet würde.Hinsichtlich seiner kollektivistischen Vorstellungen im ökonomischen Sinne sprach Bakunin vom „ökonomisch notwendige[n] Prinzip der kollektiven Bebauung des gemeinsamen Bodens [...] das Prinzip, nach dem der Ertrag oder sein Gegenwert gleichmäßig verteilt wird”[21], und zwar nicht nach juristischer, sondern rein menschlicher Gerechtigkeit, die von den Fähigeren und Stärkeren mehr Arbeit als den Unfähigen und Schwächeren verlangt sowie den Lohn nicht nach dem Arbeitsmaß, sondern den Bedürfnissen jedes Einzelnen verteilt. Außerdem meinte Bakunin, dass die Ideen des Anarchismus jedem Menschen „als der klare, vollkommene und logische Ausdruck seines eigenen Instinkts”[22] innewohnen würden und „die Volksmassen die Freiheit, nach der sie dürsten, [...] mit Gewalt erobern” müssten: „indem sie ihre elementaren Kräfte außerhalb des Staates und gegen ihn organisieren müssen.”[23]
Mit der Kritik der politischen Ökonomie, die im Kapital niedergeschrieben ist, beabsichtigte Karl Marx den Nachweis zu erbringen, dass die Gesetze der kapitalistischen Warenproduktion nur für eine historisch begrenzte Phase Geltung haben und insbesondere durch ihre Entfaltung auf ihre eigene Aufhebung und damit eine sozialistische Gesellschaftsordnung hinwirken. Er bemerkte im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals, dass er bei der Abfassung desselbigen eine dialektische Methode zur Anwendung bringe, die das direkte Gegenteil von der des Philosophen Friedrich Wilhelm Hegel sei: Während für Hegel „der Denkprozeß [...] der Demiurg des wirklichen [wäre], das nur seine äußere Erscheinung bildet”[24], ist bei Marx „umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.”[25] Auf die praktischen Verhältnisse, die Marx zu analysieren gedachte, geht er im Nachwort auch ein.So stellte er u. a. fest, dass die moderne Industrie einen periodischen Zyklus durchlaufe, deren Gipfelpunkt eine allgemeine Krise wäre: „sie ist wieder im Anmarsch, obgleich noch begriffen in den Vorstadien”[26]. Die Kritik von Marx zielte auf das real existierende kapitalistische Wirtschaftssystem ab, das zur Ausbeutung der Arbeiterklasse führe. In seinen Augen entwickelt die „kapitalistische Produktion [...] nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.”[27] Nach Marx stellte die ideelle Gleichstellung aller Menschen nach dem Bürgerrecht den Gegensatz von Arbeit und Besitz her – die gleiche Behandlung von materiell ungleich Ausgestatteten schaffe die Voraussetzung dafür, dass sich die ökonomischen Unterschiede zum Schaden der Lohnarbeiter auswirkten. Das Recht auf Eigentum sorge insofern für die Eigentumslosigkeit der überwiegenden Mehrheit der Menschen, da sie so nicht über die Produktionsmittel verfügen könnten.Daher hinge das Maß der Freiheit des Einzelnen von dem Umfang seiner ökonomischen Mittel ab: Für Marx war der Arbeiter allein „frei in dem Doppelsinn, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen.”[28] Er hielt den bürgerlichen Staat – ebenso wie Bakunin – für eine Pseudo-Demokratie, die als eine Art von politischem Oberbau zur Wahrung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und damit der Unterdrückung der Proletarier (Arbeiter) diente. Alles sei zu Gunsten des Wirtschaftswachstums darauf ausgerichtet, die Gewinne der Kapitalisten zu maximieren, wobei die Arbeiter möglichst lange und intensiv bei geringen Löhnen arbeiten müssten. Marx prophezeite, dass der Kapitalismus an einer Abfolge von durch ihn selbst hervorgerufener ökonomischer Krisen zugrunde gehen wird: die Schere zwischen Arm und Reich, die Verelendung, würde immer größer und damit auch der Unmut des Proletariats, das sich schließlich in revolutionärer Form der Produktionsmittel bemächtigen und diese vergesellschaften werde: daraufhin folge eine Diktatur des Proletariats. Gleichzeitig käme es zur Abschaffung der Kapitalistenklasse. Von jetzt an wäre die Arbeit ausschließlich ein Mittel zum Zwecke der Bereicherung der allgemeinen Lebensverhältnisse, statt zur Vermehrung des Kapitals. Am Ende dieses Prozesses stände das Absterben des Staates und der Beginn des sogenannten Reichs der Freiheit: Ist die Arbeit in der ersten Phase des Kommunismus noch eine Notwendigkeit, um zu überleben, wird sie in der zweiten durch die Verkürzung des Arbeitstages eine sinnstiftende Tätigkeit, „wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört”[29].
Nachdem wir die Grundelemente der beiden Sozialismuskonzeptionen näher betrachtet haben – natürlich nicht bis ins letzte Detail, da dies den engen Rahmen dieser Arbeit sprengen würde -, gilt es nun, diese miteinander zu vergleichen. Zunächst einmal ist festzustellen, dass zwischen Marx und Bakunin eine nicht unbedeutende Verbindung besteht: beide waren Materialisten, sahen die Ökonomie als Basis der Gesellschaft an, setzten sich für die Abschaffung des Kapitalismus sowie jeder Art von Staatsreligion ein und sprachen beim bürgerlichen Staate von einer Pseudo-Demokratie. Die dramatischen Gegensätzlichkeiten zwischen den Vorstellungen von Marx und Bakunin treten dagegen besonders bei der Rolle des Staates in einer postkapitalistischen Gesellschaft hervor: So war Marx der Auffassung, das Proletariat müsse den bürgerlichen Staat erobern und zum Instrument seines Befreiungskampfes umfunktionieren. Bakunin trat dagegen für die Zerschlagung des Kapitalismus und des Staates in ein und derselben Revolution ein. Er wehrte sich vehement gegen einen Staatssozialismus, „den Sozialismus im Sinne des kommunistischen Manifestes, der alle Kräfte der Gesellschaft im Staate konzentrieren wolle und somit die Verneinung aller Freiheit sei.”[30]Hier wird deutlich, dass bei Bakunin die Idee der absoluten Freiheit in den Vordergrund tritt, während es bei Marx die der ökonomischen Gleichheit ist. Marx konstatiert, dass der Staat zunächst noch aufrechterhalten werden müsse, um zu regieren und die Produktionsmittel zu zentralisieren: zu dieser autoritären Überwachungs- und Leitungsfunktion gehöre die Kontrolle und Planung der Produktion. Dieser politischen Übergangsphase, der revolutionären Diktatur des Proletariats, folge schließlich eine „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist.”[31] Diese neue Gesellschaft funktioniere im Sinne: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!”[32] Demgegenüber forderte Bakunin die „gänzliche Beseitigung des Prinzips und der Vormundschaft des Staates.”[33]Er wollte die Gesellschaft „von unten nach oben [organisieren], auf dem Weg der freien Vereinigung und die Abschaffung des individuellen und erblichen Eigentums, das eine Staatsinstitution sei.”[34] Wahrlich von prophetischem Gehalt, schaut man sich einmal spätere Staatssysteme (wie in der damaligen Sowjetunion) des real existierenden Kommunismus an, ist die geäußerte Kritik Bakunins, dass eine Regierung im Staatskommunismus „eine einzige Staatsbank gründen [werde], die die ganze kommerziell-industrielle, landwirtschaftliche und sogar wissenschaftliche Produktion auf sich konzentriert”[35], wobei das Volk in zwei Armeen aufgeteilt würde: nämlich in eine industrielle und eine landwirtschaftliche, die unter dem Kommando einer neuen privilegierten wissenschaftlich-politischen Klasse stehe: den staatlichen Ingenieuren. In Anbetracht dieser Vorstellungen von Marx und Bakunin kann man deren unterschiedliche Konzeptionen gut und gerne auch anarchischer Föderalismus versus Staatssozialismus nennen! Der freiheitsliebende Bakunin empfand eine tiefe Abneigung gegen die autoritären, allzu wissenschaftlichen Ideen von Marx – bei aller Wertschätzung für dessen Abstraktionsfähigkeit und Gelehrsamkeit in Bezug auf die Ökonomie: denn im Sinne der Marxschen Vorstellungen wäre das Individualbewusstsein der Menschen während der Diktatur des Proletariats dem Klassenbewusstsein zum Opfer gefallen.Versucht man, die beiden Protagonisten individualpsychologisch zu durchdringen, kommt man zu folgendem Schluss: Marx betrachtete die Welt hauptsächlich in der Rolle des Wissenschaftlers, der seinen Fokus auf das Allgemeine legte, Bakunin dagegen mehr als Künstler, der seinen Blick auf das Individuelle richtete.[36] Marx diente „seine Theorie als [..] Leitfaden seines Handelns”[37], während Bakunins Leitfaden „der Wille zur Freiheit, den er in sich und in aller lebendigen Substanz sah”[38], war. Bakunin meinte, „daß das natürliche und gesellschaftliche Leben immer dem Denken vorausgeht, welches nur eine seiner Funktionen, nie aber sein Resultat sein wird”[39], dass sich das Leben niemals aus abstrakten Reflexionen entfalte – wozu man die Theorien von Karl Marx zählen kann – und selbst „die rationalste und tiefsinnigste Wissenschaft [...] nicht die Formen des zukünftigen gesellschaftlichen Lebens erahnen”[40] kann. Das Erkennen dieser fundamentalen Unterschiede im Wesen und Weltbild der Beiden kann zum besseren Verständnis ihrer verschiedenen Denkweisen und scharfen Auseinandersetzungen dienen. Abschließend sei noch gesagt, dass Marx und Bakunin auf dem Felde der Politik zwar die wichtigen Ideengeber zweier gegensätzlicher Sozialismuskonzeptionen, jedoch keine einsamen Helden waren, die sich auf der Weltbühne duellierten: es gibt weitaus mehr Akteure, zu nennen ist z. B. Friedrich Engels als enger Freund und Mitstreiter von Karl Marx, die eine nicht unwesentliche Rolle spielten. Welche der beiden in dieser Arbeit behandelten Sozialismusströmungen im weiteren Verlauf der europäischen Geschichte zunächst einmal die breitere Manifestierung in Politik und Gesellschaft fand, lässt sich mit dem Verweis auf die Entwicklungen Anfang des 20. Jahrhunderts leicht beantworten: Sozialdemokraten und Kommunisten, die sich beide auf Marx beriefen, prägten die Parteienlandschaft, während die Bewegungen der Anarchisten keine bedeutende Rolle mehr spielten: sie wurden u. a. in Russland von den Kommunisten verdrängt und in sogenannten Säuberungsaktionen gegen Ende der russischen Revolution gewaltsam niedergeschlagen. Auch heutzutage nehmen die Vertreter des Anarchismus gesamtgesellschaftlich eine Minderheitenposition ein.
Bei der Gegenüberstellung von Marx-Kommunismus versus Bakunin-Anarchismus haben sich neben einigen Gemeinsamkeiten wie die Kritik an einer Pseudo-Demokratie im bürgerlichen Staate, dem Willen zur Abschaffung jeder Form von Staatsreligion oder dem Faktum, dass sowohl Marx als auch Bakunin die Ökonomie als Grundlage jeder funktionierenden Gesellschaft ansahen, vor allem klare Gegensätze feststellen lassen: Während Marx den Staat als Mittel zum Zwecke der Auslöschung der Bourgeois-Herrschaft und der Befreiung des Proletariats einzusetzen gedachte, wollte Bakunin diesen sofort in ein- und derselben Revolution vernichten, da er sich im Sinne einer Idee der absoluten Freiheit gegen jeden Zentralismus wandte und für eine freie Organisation der Gesellschaft von unten nach oben eintrat.In der Ersten Internationale war diese Unvereinbarkeit der ideologischen Vorstellungen von einem sozialistisch-zentralistischen Staat auf der einen und eines freiheitlich-föderalistischen Sozialismus auf der anderen Seite mit einem Zusammenprall von libertär-sozialrevolutionärem (Bakunin) und politisch-parlamentarischem Flügel (Marx) verbunden, der schließlich zu deren Spaltung führte. Bakunin lehnte die Forderung von Marx nach einer Diktatur des Proletariats sowie die führende Rolle einer revolutionären Kaderpartei ebenso wie staatliche Hierarchien ab, da für ihn jede Art von Staat die Verneinung der individuellen Freiheit bedeutete. Er setzte auf dezentrale, kollektive und konsensuale Entscheidungsstrukturen. Grundsätzliche Einigkeit zwischen Bakunin-Anarchismus und Marx-Kommunismus bestand in der Einschätzung, dass die Notwendigkeit einer sozialen Revolution bestehe, die eine radikale Umwälzung der Besitzverhältnisse zu bewirken habe – dazu gehörte auch die von den Anarchisten geteilte Zielvorstellung des Kommunismus von einer klassenlosen Gesellschaft. Hinsichtlich der Realisierbarkeit der unterschiedlichen Auffassungen ist festzustellen, dass es Marx – im Gegensatz zu Bakunin – mit seinen kommunistischen Theorien gelang, breite Massen der Arbeiterbewegung, denen er eine für sie nachvollziehbare Zukunftsperspektive aufzeigte, anzusprechen.Er arbeitete systematisch reflexiv und analysierte die bestehenden Verhältnisse, um daraus seine strategisch-langfristigen Überlegungen zu entwickeln. Aus heutiger Perspektive ist aber vor allem zu kritisieren, dass er nicht die Gefahr sah, dass der von ihm proklamierte sozialistische Staat ebenso diktatorische und oligarchische Strukturen entwickeln könne. Bakunin dagegen war sich dessen nur zu gut bewusst. Sein radikaler Anspruch, die gesellschaftlichen Verhältnisse unmittelbar – notfalls mit Gewalt – im Sinne seiner anarchistischen Ideen zu verändern, könnte man als kurzsichtig bezeichnen. Doch im Gegensatz zu Marx war er bekennenderweise kein Theoretiker und entwickelte daher auch kein langfristig angelegtes Konzept. Auch ein situationsbedingter Pragmatismus war ihm fremd gewesen. Vor allem seine ungestüme Bedenkenlosigkeit, mit der er die Zerstörung des Bestehenden forderte, traf schon zu damaligen Zeiten auf viel Kritik. In all seinen antiautoritären Vorstellungen und seinem Umgang mit Zeitgenossen spiegelt sich ein unbedingter Trieb zur Freiheit, eine radikale Empörung gegen jede Form der Entmündigung und Entwürdigung des Menschen wider – diese idealistische Haltung war zugleich seine große Stärke, aus der sich seine enorme Ausstrahlungs- und Überzeugungskraft speiste.
In einem Interview erklärte der Nobelpreisträger Sacharow auf die Frage, ob er sich noch als Sozialist betrachte, in den sozialistischen Ländern bestünden grosse Misstände, und ob ein anderer Sozialismus möglich sei, sei für ihn eine problematische Frage.Vor der totalitären Degeneration der ursprünglich als Befreiung gemeinten sozialistischen Idee bestand das Problem nur theoretisch. Leider haben konservative Unheilspropheten, wie Jakob Burckhardt, recht behalten. Doch haben auch Sozialisten, wie Proudhon und Bakunin, die Möglichkeit solcher Entartung vorausgesehen.Recht behielt der deutsche Anarcho-Syndikalist Rudolf Rocker, als er schon in den Zwanziger- Jahren öffentlich erklärte, das Zentrum der Weltreaktion sei nicht mehr Rom, sondern Moskau.Ist es heute noch sinnvoll, einen anderen Sozialismus zu wollen, als jenen Totalitarismus, der nahezu die Hälfte der Menschheit versklavt? Doch muss man, wie mir scheint, die Frage der Alternative stellen: Ist ein freier Kapitalismus möglich?Es ist für mich keine Frage, dass wir in der internationalen machtpolitischen Auseinandersetzung das privatkapitalistische Amerika als das kleinere Uebel wählen müssen. Wir stehen in einer historischen Situation, in der sich der machtpolitischen Konstellation Ost-West entziehen zu wollen nicht revolutionär, sondern ganz einfach Vogel-Strauss-Politik wäre.Dies unmissverständlich auszusprechen, erscheint mir als notwendig. Doch ist der Privatkapitalismus keine echte Alternative zum Staatstotalitarismus. Es verhält sich vielmehr so, dass der Westen noch teilweise liberal ist, nicht dank, sondern trotz seines Kapitalismus.Insofern er kapitalistisch ist, betreibt er eine Politik, welche indirekt oder auch direkt den Staatstotalitarismus östlicher Prägung begünstigt oder aber unter antikommunistischer Flagge einen eigenen Totalitarismus entwickelt.Das erste geschieht unter Opferung elementarer Menschenrechte um einer sogenannten Entspannungspolitik willen, die in Wirklichkeit eine Erpressungspolitik ist. Elementare Menschenrechte werden auf der anderen Seite zugunsten kurzsichtiger kapitalistischer Interessen geopfert. Beides gefährdet den Liberalismus des Westens täglich.Liberalkapitalistische Staaten, wie die Vereinigten Staaten von Amerika, scheinen von einer seltsamen Schizophrenie befallen. Während sie im Innern liberal sind, unterstützen sie in ihrer Aussenpolitik oft automatische Regimes. Von solcher Schizophrenie gibt es in der Weltgeschichte Beispiele aller Art. So verband sich der "allerchristlichste" französische König mit den Türken und unterstützte die deutschen Protestanten. Der Liberalismus des Kapitalismus steht immer auf schwachen Füssen. Vergessen wir nicht die Finanzierung Hitlers durch den Weltkapitalismus. Ähnliches kann sich jederzeit wiederholen.Der Westen ist teilweise liberal nicht dank seines Kapitalismus. Der Wirtschaftsindividualismus des Frühliberalismus, das sogenannte "Laisser-faire" gehört so gut historischer Vergangenheit an, wie ein von ehrlichen humanistischen Idealen getragener Staatssozialismus.Wenn der Westen heute teilweise liberal ist, so ist er das - so paradox dies klingen mag - darum, weil dem Kapitalismus hier dank sozialer Ideen und Einrichtungen gewisse Grenzen gezogen sind. Der liberal-demokratische Kapitalismus ist kein reiner Kapitalismus, sondern er ist mit sozialistischen Elementen, wie Gewerkschaften, Genossenschaften, Betriebsräten, Sozialversicherungen, Gesetzen, welche die Arbeitszeit regeln etc. durchsetzt. All dies ist nicht kapitalistisch. Aber eben dank dieser dem Kapitalismus fremden Elemente, wozu auch allgemeines Wahlrecht und Referendumsdemokratie gehören, besteht ein gewisses Mass an Gleichheit und Freiheit.Denn was auch immer gesagt wird, so gehören Freiheit und Gleichheit zusammen. Ohne Freiheit entartet, wie wir heute wissen, jede Gesellschaft in bürokratische Hierarchie. Andererseits ist eine Freiheit, die nur wenige geniessen, weder wünschbar, noch auf die Dauer möglich. Die Vernichtung der republikanischen Freiheiten des alten Roms durch den Caesarismus, der von den Volksmassen, die von diesen Privilegien ausgeschlossen waren, getragen war, ist ein klassisches Beispiel für diesen Sachverhalt. Ein analoges Schicksal traf die französische Revolution von 1848 und die Weimarer Republik von 1918.Vom Caesarismus bedroht ist jede Gesellschaft, die ihre Freiheiten auf eine herrschende Klasse einschränkt.Das Wesen des Caesarismus besteht darin, dass er mit Hilfe sozial Benachteiligter zur Macht kommt und, einmal an der Macht, diese sozial Benachteiligten seinerseits betrügt.Von einer neuen Form des Caesarismus ist die ganze zivilisierte Menschheit bedroht, solange sie nicht dazu fähig ist, einen wirtschaftlichen Ausgleich mit der benachteiligten dritten Welt zu schaffen.Der Privatkapitalismus schränkt die Freiheit durch Ansammlung wirtschaftlicher Macht in den Händen Weniger auf Wenige ein. Die Befehlsgewalt, der die grosse Zahl an ihren Arbeitsplätzen unterworfen ist, ist für sie realer, als die Freiheiten und Rechte, die sie im demokratischen Staat geniessen. Um die Freiheit wirklich zu machen und auf einen sicheren Boden zu stellen, muss man sie auf alle ausdehnen.Ein freier Kapitalismus ist auf die Dauer unmöglich.Ein freier Sozialismus ist notwendig. Ist er auch möglich?Planung und Organisation setzt Unterordnung des Einzelnen unter eine Gemeinschaft voraus. Daraus erwächst eine selbstherrliche Bürokratie, welche die Ungleichheit in neuer, oft schlimmerer Form wiederherstellt. Darin liegt das ganze Problem.Es genügt nicht zu sagen, der Sozialismus werde frei sein oder er werde nicht sein. Man muss sich vielmehr fragen: Kann er überhaupt, und wie kann er frei sein.Der Hauptmangel aller bisherigen sozialistischen Anschauungen, ob sie sich nun kommunistisch, sozialdemokratisch oder auch anarchistisch nannten, scheint mir darin zu liegen, dass diese Anschauungen im Sozialismus ausschliesslich oder doch vorwiegend ein Machtproblem sahen. Jedes Problem ist unter anderem auch ein Machtproblem. Dies sei jenen Anarchisten gesagt, die meinen, sie könnten durch blossen Wortformalismus den politischen Machtproblemen ausweichen.Sozialismus ist aber anderes und mehr als eine Machtfrage. Er ist eine neue Lebensform. Eine solche kann den Menschen nicht von aussen gegeben oder aufgedrängt werden, sondern muss Ursprung und Quelle im Innern der einzelnen haben. Sozialismus kann nur wachsen aus sozialistischen Keimen. Politik kann darum Sozialismus nicht organisieren. Das höchste, was sie kann, ist die nötige Freiheit herzustellen in der sich sozialistische Keime entfalten können. Das ist die schwierigste und höchste Aufgabe, die sich Politik überhaupt stellen kann. Will sie höheres und mehr, erreicht sie das Gegenteil dessen was sie will. Damit sich Freiheit entfalten kann, ist Sozialismus nötig. Damit sich Sozialismus entfalten kann, ist Freiheit nötig. Die Aufgabe der Politik heisst darum Liberalismus, Widerstand gegen jede Form des Staatstotalitarismus. Aufgabe des Sozialismus heisst Bildung von freiwilligen Gemeinschaften zur Herstellung eines Maximums an Gleichheit, um der Freiheit Sinn und Dauer zu geben. In der Praxis sind diese beiden Bereiche, der politische und der soziale, selbstverständlich nicht fein säuberlich voneinander zu trennen.Der liberale Staat muss, wenn er Bestand haben will, die schärfsten Kanten der vom Kapitalismus hervorgerufenen Ungleichheit durch eine Sozialgesetzgebung abschleifen. Den Sozialismus einführen aber kann kein Staat, er verkehre ihn denn in sein Gegenteil.Dass Sozialismus nur freiwillig sein kann, bedeutet unter anderem, dass es nicht ein einheitliches, für alle Menschen gleiches sozialistisches System geben kann. Sozialismus ist nur möglich als eine Vielfalt von Formen menschlichen Zusammenlebens.Möglich ist der totale Kommunismus. Dieser bedeutet ein Zusammenleben der Gruppe auf der Basis vollständiger Solidarität. Das Privateigentum ist hier fast vollständig aufgehoben und beschränkt sich auf die allerpersönlichste Sphäre.Alle arbeiten für die Gemeinschaft und diese sorgt für alle. Möglich ist solcher Kommunismus erfahrungsgemäss nur unter Menschen, die vom Kitt einer starken gemeinsamen Überzeugung zusammengehalten werden. Erfahrungsgemäss sind die zum Kommunismus Bereiten und Fähigen immer eine Minderheit. Versuche zu solcher Gemeinschaft hat es seit dem Altertum immer wieder gegeben. Die meisten waren von kurzer Dauer. Nur wenige überdauerten Jahrzehnte, noch weniger Jahrhunderte. Im Bereich Christlicher Tradition war die urchristliche Gemeinde das grosse Beispiel kommunistischer Brüderlichkeit. Diese wurde nachgeahmt von rechtgläubigen Mönchen und von Ketzern. Das religiöse Fundament gab solchen Gemeinschaften die Kraft, Jahrhunderte zu überdauern.Noch heute leben in Kanada die Nachfahren jener Duchoborzen, die vom russischen Zaren aus dem Lande getrieben worden waren, in totaler Gemeinschaft.Während der spanischen Revolution von 1936 schufen Bauern in Erinnerung an alte iberische Tradition und beeinflusst von modernem Anarchokommunismus freiwillige totalkommunistische Gemeinschaften, in denen es weder Geld, noch Zwang zur Arbeit gab und jeder im Rahmen von dem, was vorhanden war, das konsumieren konnte, was seinem Bedürfnis entsprach. Dieser freiheitliche Kommunismus funktionierte auf Grund eines gemeinsamen Ideals.Gemeinsames Schicksal und gemeinsame Überzeugung führte gegen Ende des letzten Jahrhunderts zur Gründung jener landwirtschaftlichen Gemeinschaftssiedlungen in Palaestina, die heute das soziale und ideelle Rückgrat Israels bilden. Es ist oft kritisiert worden, dass die Kibbuzim nur 4 - 5 % der Bevölkerung in sich vereinen. Doch liegt dies in der Natur der Sache.Zu totalem freiwilligem Kommunismus sind nur wenige bereit, wo dies auch immer sei. Doch können solche dank der Überlegenheit, die ihrer Lebensform innewohnt, zu Kraftfeldern ganzer Völker werden.Totalen Kommunismus praktizieren zum Teil die sogenannten Kommunen, welche seit den Sechziger- Jahren unseres Jahrhunderts von unzufriedenen europäischen und amerikanischen Jugendlichen geschaffen wurden. Ob sich aus dieser Bewegung ein widerstandsfähiger dauerhafter Kern herauskristallisieren kann, ist noch ungewiss.Mitten in der privatwirtschaftlichen Gesellschaft gibt es aber schon heute Formen sozialistischer Organisation, die sich auf breite Volksschichten ausdehnen lassen.In diesen Formen des Sozialismus ist die Wirtschaftsgemeinschaft nicht total, sondern auf konkrete wirtschaftliche Gegebenheiten eingeschränkt. Schematisch kann man sie in zwei Klassen einteilen. Die eine Klasse kann man kollektivistisch, die andere genossenschaftlich nennen, obwohl das Wort Genossenschaft auch für das gebraucht wird, was wir hier um der Unterscheidung willen als Kollektive bezeichnen.Die Kollektive ist ein Gemeineigentum, an dem eine Gruppe von Menschen beteiligt ist, welche diese gemeinsam benützen, resp. ausbeuten und verwalten. Wenn Kollektivbesitz an Grund und Boden besteht, so ergibt sich die Möglichkeit, dass die Kollektive den Einzelnen Landparzellen zur Verfügung stellt, die diese individuell oder familiär bearbeiten und ausbeuten, die sie jedoch nicht verkaufen können, da sie wohl Besitzer, nicht aber eigentliche Eigentümer sind. Eine solche Art des Sozialeigentums gab es im Mittelalter als sogenanntes Gemeindeland inmitten des Feudalsystems.Propagiert wurde dieses System einer sozialistisch-individualistischen Synthese von dem englischen Sozialtheoretiker Henry George.Es gibt andererseits die Möglichkeit, dass die Kollektive das Land gemeinschaftlich bearbeitet und dem Einzelnen einen entsprechenden Lohn bezahlt.Beide Formen gab es neben den totalen Landkommunen in der spanischen Revolution von 1936. Beide Formen gibt es neben den Kibbuzim im heutigen Israel, wo die Moschavims den grössten Teil des Agrarlandes innehaben. Objekt des Kollektiveigentums kann ein industrieller Betrieb, ein Transportunternehmen u.a.m. sein. Der Einzelne gehört zur Kollektive, indem er demokratisches Mitbestimmungsrecht geniesst und am Produkt im Verhältnis seiner Arbeitsleistung beteiligt ist. Der Grossteil der Industrie war während der spanischen Revolution nach diesem kollektivistischen Prinzip sozialisiert.Solche Kollektiven gibt es mitten im Kapitalismus als sogenannte Produktivgenossenschaften. Kollektiven sind Konsum- und Wohngenossenschaften, an denen die Einzelnen als Konsumenten und Benützer beteiligt sind. Damit solche Kollektiven wirklich sozialistisch sind und nicht zu partikularistischen Interessen- oder sogar Privilegiengemeinschaften degenerieren, sind von Solidaritätsgeist getragene föderative Verbindungen zu anderen Gruppen und Wirtschaftszweigen notwendig. Damit sie nicht bürokratisch erstarren, ist demokratische Beteiligung der Basis erforderlich.Je seltener soche Kollektiven sind, desto grösser ist die Gefahr solcher Dekadenz durch Angleichung an kapitalistische Gewohnheiten. Je häufiger und in ihren föderativen Verbindungen ausgedehnter sie sind, desto mehr werden sie ihrerseits die Gesellschaft mit sozialistischem Geist durchdringen können.Die andere Klasse, die wir genossenschaftlich nennen, besteht in Verbindungen zwischen Kleinbesitzern zur Ausschaltung der Ausbeutung durch Händler und Banken. Zu dieser Art gehören vornehmlich die landwirtschaftlichen Genossenschaften. Zweck solcher Genossenschaften ist gemeinsamer Einkauf von Futter, Düngemitteln etc. und gemeinsamer Verkauf von Produkten. In allen Ländern Europas haben solche Genossenschaften zur sozialen Hebung der Produzenten Grosses geleistet. Trotz Diktatur haben sie sogar im Spanien Francos grosse Bedeutung erlangt. Damit sie nicht ihrerseits zu Organen der Konsumentenausbeutung werden, wären föderative Verbindungen zu demokratisch verwalteten Konsumgenossenschaften eine Notwendigkeit.Eine Kombination zwischen eigentlicher Genossenschaft und kollektiver Eigentumsform besteht, wenn eine Milchgenossenschaft zum Beispiel eine eigene Käserei oder eine Genossenschaft von Rebbauern eine eigene Weinpresse besitzt.Eine andere Form der Genossenschaft sind die Kreditvereine, in der sich Bauern oder Handwerker gegenseitig mit dem zum Aufbau und zur Erhaltung eines Kleinbetriebes nötigen Kapital beleihen.All dies ist freier Sozialismus. All dies ist möglich. Vermehrung, Ausdehnung, Verallgemeinerung solcher Einrichtungen würde die kapitalistische Gesellschaft in eine sozialistische umwandeln. Nicht alles konnten wir erwähnen, was es gibt und erst recht nicht, was möglich ist und es noch nicht gibt.Der Sozialismus ist freiwillig oder er ist nicht. Daraus folgt unter anderem, dass eine Gesellschaft nur mehr oder weniger, aber nie gänzlich sozialistisch wird sein können noch dürfen. Wer lieber unter Brücken schläft, als im genossenschaftlichen Reihenhaus, dem soll kein Sozialismus dieses Recht nehmen dürfen. Ein Sozialismus, der dem letztten Zigeuner sein Recht auf eigene Lebensführung verweigerte, wäre wert, mit allen Mitteln bekämpft zu werden. Doch ist Sozialismus nötig zur Verhinderung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit, welche die grosse Zahl von der Freiheit ausschliesst und nach dem Caesarismus ruft. Ist aber nicht jeder, auch ein freiwilliger Sozialismus dazu verurteilt, dem Gesetz menschlicher Mittelmässigkeit zu unterliegen, bürokratisch zu erstarren und mit dem Geist der Gleichheit auch die Freiheit zu verlieren und umgekehrt?
Anarchie und Kommunismus, weit entfernt sich gegenseitig auszuschliessen, müssen sich notwendigerweise ergänzen. Unser Ideal ist sehr einfach; es besteht, wie dasjenige unserer Vorfahren, aus den beiden Worten: Freiheit und Gleichheit. Aber ein kleiner Unterschied ist dabei. Dadurch, dass die Reaktionäre aller Zeiten uns durch ihre Taschenspielerkünste um Freiheit und Gleichheit betrogen, uns nur zu oft Falschmünzen an Stelle der Edelmetalle geboten haben, sind wir klüger geworden und haben den Wert der beiden Worte ergründet. Wir setzen deshalb neben den Worten Freiheit und Gleichheit zwei gleichwertige, deren klare Bezeichnung kein Missverständnis duldet und sagen: Wir wollen die Freiheit, d.h. die Anarchie und die Gleichheit, d.h. den Kommunismus.Die Anarchie von heute ist der Angriff, der Krieg gegen jede Autorität, jede Gewalt, jeden Staat. In der zukünftigen Gesellschaft wird sie die Verteidigung sein, die Verhinderung der Wiederherstellung aller Autorität, aller Gewalt, jedes Staates. Volle Freiheit dem Individuum, das, durch seine Bedürfnisse, seine Wahl und Sympathie geleitet, sich anderen Individuen in der Gruppe anschliesst: freie Entwicklung der Gruppe, die sich mit anderen Gruppen in der Kommune föderiert; freie Entwicklung der Kommune, die sich mit dem Distrikt verbindet.Der Kommunismus ist der zweite Punkt unseres revolutionären Ideals. Der heutige Kommunismus ist noch die Offensive. Er bedeutet nicht die Zerstörung der Autorität, sondern die Besitznahme aller Reichtümer der Erde im Namen der Menschheit. In der künftigen Gesellschaft wird der Kommunismus der Genuss aller vorhandenen Reichtümer für alle Menschen sein nach dem Grundsatze: Von jedem nach seinen Fähigkeiten, und von jedem nach seinen Bedürfnissen.Man muss jedoch in Betracht ziehen — und dies als Antwort unseren Gegnern, den Staatskommunisten und Sozialdemokraten — dass die Besitznahme und der Genuss der vorhandenen Reichtümer die Tat des Volkes selbst sein muss. Indem die Menschheit nicht aus Personen besteht, welche die Genussmittel ergreifen und mit beiden Händen zurückhalten können, ist man zu dem Schlusse gekommen, dass aus diesem Grunde eine Dirigentenklasse geschaffen werden müsse, Verwalter und Bewahrer der gemeinschaftlichen Güter.Wir, die anarchistischen Kommunisten teilen diese Anschauungen nicht. Keine Mittelpersonen, keine Vertreter, die schliesslich nur sich selbst und ihr eigenes Interesse vertreten. Keine Lenker der Gleichheit, ebenso wenig als Lenker der Freiheit; keine Regierung, keinen neuen Staat, nenne er sich Demokratie oder Volksstaat, revolutionärer oder provisorischer.Den allgemeinen Reichtum, über die ganze Erde zerstreut und der ganzen Menschheit gehörend, werden diejenigen, in deren Bereich die Genussmittel sind, gemeinschaftlich gemessen. Bewohner eines gewissen Landstriches werden die Erde bebauen, Maschinen, Werkstätten, Häuser benützen und alles gemeinschaftlich betreiben.Als ein Teil der Menschheit, üben sie ihr Recht direkt aus über einen Teil der menschlichen Güter. Und wenn ein Bürger von Peking in diesen Landstrich käme, würde er dieselben Rechte haben wie die, welche im Platze geboren sind.Diejenigen, welche den Anarchisten vorwerfen, sie wollten ein Eigentum von Korporationen schaffen, haben sich hiermit sehr geirrt. Das wäre eine schöne Errungenschaft, den Staat abzuschaffen, um eine Menge kleiner Staaten zu etablieren. Ein Ungeheuer mit einem Kopfe zu töten, um ein tausendköpfiges zu unterhalten!Man wird uns die Frage stellen: Ist dieser Kommunismus realisierbar? Werden genügend Produkte zu unserer Verfügung stehen, um Jedem das Recht zu geben, davon zu nehmen nach freiem Ermessen, ohne von ihm mehr Arbeit zu verlangen, als er gewillt ist zu leisten? Wir antworten: Ja, dieser Kommunismus ist ausführbar, weil in der künftigen Gesellschaft ein solcher Ueberfluss herrschen wird, dass es nicht notwendig sein wird, den Verbrauch zu beschränken oder mehr Arbeit von den Menschen zu verlangen, als er zu leisten gewillt oder imstande ist. Diese ungeheuere Vervielfältigung von Produkten wird sich vor allem aus folgendem ergeben:1. Aus der Harmonie der Zusammen Wirkung in den verschiedenen Zweigen der menschlichen Tätigkeit an Stelle des heutigen Kampfes der Konkurrenz.2. Aus der vermehrten Einführung der Maschinen für die Grossproduktion.3. Aus der bedeutenden Ersparnis von Arbeitskraft, an Arbeitsmitteln und Rohstoffen, aus der Vermeidung der schädlichen und unnützen Produktion.Der Konkurrenzkampf ist eines der Grundprinzipien der kapitalistischen Produktionsweise: der Ruin des Einen ist des Andern Glück. Dieser erbitterte Kampf findet statt zwischen Arbeitern wie zwischen Kapitalisten. Es ist der Krieg bis aufs Messer. Ein Arbeiter findet eine Stelle, der andere verliert die seine; eine Industrie blüht empor, während die andere zu Grunde geht.Nun stelle man sich vor, wenn in der künftigen Gesellschaft das individualistische Prinzip des Kapitalismus: "Jeder gegen Alle und Alle gegen Jeden", und durch das wahre Prinzip der Humanität "Einer für Alle und Alle für Einen", ersetzt wird, welche ungeheuere Veränderung in der Produktion vor sich gehen müsste.Die mächtigen Hilfsmittel der Arbeit, die uns die Maschinen bieten, und die uns heute so gross erscheinen, sind sehr unbedeutend im Vergleich mit dem, was sie in der zukünftigen Gesellschaft sein werden.Wie viele Erfindungen und wissenschaftliche Anwendungen gehen verloren aus dem Grunde, weil sie sich für den Kapitalisten nicht bezahlen? Der Arbeiter, selbst ist heute ein Feind der Maschine und mit Recht, denn sie ist das Ungeheuer, das ihn aus der Fabrik vertreibt, ihn aushungert, ihn entwürdigt, foltert und zermalmt. Und doch — welch grosses Interesse wird er dann haben, ihre Zahl zu vermehren, ihre Konstruktion zu ver- vollkommnen, wenn er nicht mehr in ihrem, sondern sie in seinem Dienste stehen wird.Und weiter: Wie viele Arbeiter, Rohstoffe und Arbeitsmittel sind heute noch im Dienste des Militarismus, um Kriegsschiffe, Festungen und Arsenale zu bauen, Kanonen zu giessen und offensive und defensive Waffen zu schmieden? Wie viele Kräfte werden nicht verbraucht, um Luxusgegenstände zu schaffen, die nur dazu dienen, der Eitelkeit zu fröhnen?Dank dieser Fülle von Produkten wird die Arbeit die hässliche Gestalt der Knechtschaft verlieren und nur noch den Reiz einer physischen und moralischen Notwendigkeit haben, zu studieren und zu leben nach der Natur.Es genügt nicht, zu behaupten, dass der Kommunismus möglich ist, wir können beweisen, dass er notwendig ist. Man kann nicht Kommunist sein, man muss es sein, oder das Ziel der Revolution ist verfehlt.Wenn, nachdem die Arbeitsmittel und die Rohstoffe zum Gemeingut geworden, wir die Produkte als individuelles Eigentum betrachten würden, müssten wir das Geld beibehalten und ein grösseres oder kleineres Privateigentum schaffen, je nach dem Verdienst oder der Geschicklichkeit des Einzelnen. Die Gleichheit würde verschwinden, weil der, welcher mehr besässe, über dem Andern stände. Ein Schritt würde dann den Konter-Revolutionären genügen, um das Erbrecht wieder herzustellen.Ich habe einen sogenannten revolutionären Sozialisten gehört, der das Privateigentum der selbstgeschaffenen Erzeugnisse verteidigte und schliesslich behauptete, er sehe keine nachteiligen Folgen darin, dass diese Erzeugnisse sich auf Erben übertrügen. Für uns, die wir die Folgen, an denen die Gesellschaft durch Anhäufung von Reichtümern und deren Vererbung zu tragen hat, zu gut kennen, gibt es in diesem Punkte keine Zweifel. Dieses individuelle Recht auf die Arbeitsprodukte würde nicht nur die Ungleichheit zwischen den Menschen wieder herbeiführen, sondern auch diejenige der verschiedenen Arten von Arbeit. Es würde sofort die saubere und unsaubere, die "edle" und "gemeine" Arbeit ihr Erscheinen machen. Die erstere würde durch die Reichen, die andere durch die Armen verrichtet. Es würde dann nicht der Beruf oder persönliche Geschmack sein, der dem Einzelnen bestimmen würde, sich dieser oder jener Tätigkeit zu widmen, sondern das Interesse, die Hoffnung, in einem gewissen Fache mehr zu verdienen, massgebend sein. Die Folge davon wäre Faulheit und Arbeitslust, Verdienst und Nichtswürde, das Gute und das Böse, Tugend und Laster, Belohnung und Rache: Gesetz, Richter, Polizei und Gefängnis.Es gibt Sozialisten, welche das Recht auf die Arbeitsprodukte verteidigen, indem sie das Gerechtigkeitsgefühl in den Vordergrund schieben. Befremdende Selbsttäuschung! Unter der Kollektivarbeit, die uns auferlegt ist, und angesichts der Notwendigkeit, im Grossen zu produzieren, die Maschinerie weiter und weiter zu entwickeln — wie könnte man da bestimmen, welchen Anteil der Einzelne an dem geschaffenen Produkt für sich beanspruchen könnte?Es ist dies rein unmöglich, und unsere Gegner gestehen dies zu, indem sie sagen: Wir werden als Basis die Verteilung der Arbeitsstunde nehmen. Zu gleicher Zeit nehmen sie aber an, dass dies ungerecht wäre, weil drei Arbeitsstunden Peters soviel als fünf Arbeitsstunden Pauls wert sein könnten.Früher nannten wir uns Kollektivisten, um uns von den Individualisten und autoritären Kommunisten zu unterscheiden; in Wahrheit waren wir antiautoritäre Kollektivisten. Indem wir uns Kollektivisten nannten, dachten wir durch diesen Namen unsere Gedanken auszudrücken, nämlich, dass Alles gemeinschaftlich sein sollte, ohne einen Unterschied zu machen zwischen den Arbeitsmitteln und den Produkten der kollektiven Arbeit. Aber eines Tages erschien eine neue Schattierung von Sozialisten, welche die Irrtümer der Vergangenheit neu belebte, zu philosophieren und zu unterscheiden anfing und sich zu Aposteln der folgenden These machte:"Es gibt Gebrauchswerte und Produktionswerte. Die Gebrauchswerte sind die, welche wir anwenden, unsere eigenen Bedürfnisse zu befriedigen; das Haus, das wir bewohnen, die Lebensmittel, die wir gemessen, die Kleider, die Bücher etc. etc. Die Produktionswerte hingegen sind die, deren wir uns bedienen zum Produzieren: die Werkstätten, der Schuppen, der Pferdestall, die Vorratshäuser, Maschinen und Arbeitsmittel aller Art; der Grund und Boden, Rohstoffe etc. Die Gebrauchswerte sollen persönliches Eigentum sein, die Produktions werte das Eigentum Aller."Nun frage ich, wenn Ihr die Kohle, welche die Maschine heizt, das Öl, das sie schmiert, und ihren Lauf erleichtert, Produktionswerte nennt, warum nicht das Brod und Fleisch, die mich nähren, das Öl, mit dem ich meinen Salat anmache, das Licht, bei dessen Schein ich arbeite, alles das, was die kunstvollste Maschine, den Menschen erhält?Ihr rechnet zu den Produktionsmitteln die Wiese, die Ochsen und Pferde nährt, den Stall, der sie von den Unbilden des Wetters schützt, und Ihr macht das Haus und den Garten zu einem Gebrauchswert. Wo ist die Logik? Ihr wisst ganz gut, dass diese Grenze nicht besteht, und wenn es schwer ist, dieselbe heute zu ziehen, dass sie verschwindet an dem Tage, wo Jeder Produzent und Konsument zugleich sein wird.Es ist also nicht diese Theorie, die neue Kraft den Anhängern des individuellen Rechts der Arbeitsprodukte verliehen hätte. Sie hatte nur eine Folge: das Spiel etlicher Sozialisten bloszustellen, welche die Tragweite der revolutionären Idee vermindern wollten. Sie hat uns die Augen geöffnet und die Notwendigkeit gezeigt, uns offen als Kommunisten zu erklären!Kommen wir schliesslich zur einzigen, ernsthaften Einwendung, die unsere Gegner dem Kommunismus gemacht haben. Sie sind Alle einig, dass wir notgedrungen dem letzteren zusteuern, aber sie behaupten, dass man im Anfang, da die Produkte noch nicht reichlich genug vorhanden wären, dieselben verhältnismässig verteilen müsse, und die beste Verteilung der Produkte sei die, welche die Quantität der gelieferten Arbeit des Einzelnen zur Grundlage habe.Darauf antworten wir, dass man in der zukünftigen Gesellschaft, selbst wenn die Verteilung nach Portionen (Rationement) sich als notwendig erweisen sollte, Kommunist bleiben, und die Produkte verteilen muss nicht nach dem Verdienste (geleisteter Arbeit), sondern nach dem Bedürfnis.Nehmen wir zum Beispiel die Familie. Der Vater verdient 5 Franken des Tages, der älteste Sohn 3, der jüngere 2, der jüngste 1 Fr. 25 Cent. Alle geben das Geld der Mutter, die den Haushalt bestreitet und sie beköstigt. Jeder leistet eine ungleiche Summe, aber jeder geniesst nach seinem Bedürfnis. Es gibt da keine abgewogenen Rationen. Kommen dann böse Zeiten, und die Mutter kann nicht mehr jedem nach seinem Appetit zu essen geben, so werden, im Einverständnis mit Allen, die Mahlzeiten magerer ausfallen. Diese Verteilung findet also nicht nach dem Verdienste statt, denn die Jüngeren bekommen verhältnismässig den grössten Anteil, und das Beste ist für die alte Mutter, die nichts zum Haushalte beiträgt. Selbst während Teuerungen ist das Prinzip des Rationements je nach Bedürfnis in der Familie geregelt.Man kann nicht Anarchist sein, ohne Kommunist zu sein. Die geringste Idee einer Abweichung enthält schon den Keim eines Autoritarismus. Wir müssen Kommunisten sein, denn nur durch den Kommunismus können wir die wahre Gleichheit erzielen.
Es gab eine Vision, “Kommunismus” genannt, die von Kropotkin und anderen anarchistischen KommunistInnen (oder Anarcho-KommunistInnen) im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertreten wurde. Marx und Engels teilten im Wesentlichen das gleiche Ziel. In der staatenlosen, klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus, würden sich die Produktionsmittel in den Händen der Gemeinschaft befinden, Arbeit würde aufgrund sozialer Motive anstelle von Löhnen verrichtet werden und Konsumgüterindustrie würden für alle nach deren Bedürfnissen zur Verfügung gestellt werden.Aber während des Kalten Krieges fing der Begriff “Kommunismus” an etwas ganz anderes zu bedeuten. Große Nationen wurden von selbsternannten Kommunistischen Parteien beherrscht. Ihre Volkswirtschaften wurden von totalitären Staaten gemanagt, ihre machtlosen ArbeiterInnen produzierten Waren für den internen und internationalen Markt und sie arbeiteten für Löhne (das heißt, sie verkauften ihre Arbeitskraft als Waren an ihre Chefs).In dieser Ära waren “KommunistInnen” vor allem Menschen, die diese Art von staatskapitalistischer Tyrannei unterstützten. Dazu gehörten Pro-Moskau Kommunistische Parteien, MaoistInnen, andere StalinistInnen und die meisten Trotzkisten. Sie nannten sich selbst “KommunistInnen”, und das taten auch die meisten ihrer GegnerInnen. Auf der anderen Seite waren “Anti-KommunistInnen” nicht nur jene, die gegen solche Regime waren, sondern auch jene, welche den westlichen Imperialismus unterstützten - eine Gruppe die von Liberalen bis zu gestörten FaschistInnen reichte. Zur gleichen Zeit denunzierten die Pro-Moskau Richtungen libertäre SozialistInnen als “anti-kommunistisch” und als “anti-Sowjetisch”. Einige Menschen fingen an sich “Anti-Anti-KommunistInnen” zu nennen, um zu sagen, dass sie nicht den KommunistInnen zustimmen, aber auch gegen die Hexenjagd unter McCarthy waren.Jetzt leben wir in einer neuen Zeit. Die Sowjetunion ist zusammengebrochen, mit der regierenden Kommunistischen Partei. Es stimmt, solche Staaten gibt es noch immer, mit Veränderungen, in China, Kuba und anderswo. Leider sind viele Menschen von ihnen begeistert. Aber insgesamt hat die Zahl und das Gewicht der kommunistischen Parteien abgenommen. Im Gegensatz dazu hat ein Aufschwung der Zahl der Menschen, die sich mit Anarchismus identifizieren, stattgefunden, der Großteil in der anarchistisch kommunistischen Tradition. Andere Leute bleiben beeindruckt von Marx, aber schauen sich libertäre und humanistische Interpretationen seiner Arbeit an. Wie sollen wir dann den Begriff “Kommunismus” heute verwenden? Hat er die gleiche Bedeutung wie in früheren Zeiten? Ich werde im folgenden die Geschichte des Begriffs und seine Bedeutungen untersuchen.Die Gründer der anarchistischen Bewegung, Proudhon und Bakunin, nannten sich “Sozialisten” aber denunzierten den Begriff “Kommunismus”. Eine typische Erklärung von Proudhon ist, dass der Kommunismus ein “diktatorisches, autoritäres, doktrinäres System [ist, welches] mit dem Axiom beginnt, dass das Individuum … der Kollektivität unterstellt ist; der Bürger gehört dem Staat… “(zitiert in Buber, 1958, S. 30-31). Bakunin schrieb: “Ich hasse Kommunismus, weil er die Negation der Freiheit ist…. Ich bin kein Kommunist, weil der Kommunismus … notwendigerweise mit der Konzentration des Eigentums in den Händen des Staates endet” (zitiert in Leier, 2006, S. 191). Proudhon nannte sich selbst eine “Mutualisten”; Bakunin nannte sich einen “Kollektivisten”.Wenn wir an ein Kloster oder an eine Armee denken (wo alle Soldaten ihre Nahrung, Kleidung und Wohnraum erhalten), ist es einfach, zu sehen, wie man sich “Kommunismus” (einer Art) als unvereinbar mit Demokratie, Freiheit und Gleichheit vorstellen kann. In seinen frühen Schriften verurteilte Marx das Programm des “rohen Kommunismus”, in dem “die Gemeinschaft nur eine Gemeinschaft der Arbeit und der gleichen Löhne ist, die von der Gemeinschaft … als universelle Kapitalisten ausgezahlt werden” (Marx, 1961, S. 125-126). Marx und Engels hingegen nannten sich Kommunisten, einen Ausdruck, den sie dem nicht eindeutigen Ausdruck “Sozialisten” vorzogen, obwohl sie diesen auch verwendeten. (Allerdings hassten sie besonders den Begriff “Sozialdemokratie”, der von den deutschen MarxistInnen verwendet wurde.)Marx’ Konzept des Kommunismus ist sehr deutlich in seiner “Kritik des Gothaer Programms” erklärt. Kommunismus wäre “die kooperative Gesellschaft auf der Grundlage des gemeinsamen Besitzes der Produktionsmittel…” (Marx, 1974, S. 345). In “der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft” (S. 347) wird Knappheit und Notwendigkeit für Arbeit bleiben. “Wir haben es hier mit einer kommunistischen Gesellschaft zu tun … wie sie sich aus der kapitalistischen Gesellschaft entwickelt … noch mit den Geburtsmalen der alten Gesellschaft versehen…” (S. 346). In dieser niedrigen Phase des Kommunismus, spekulierte Marx, würden Einzelpersonen Zertifikate erhalten, welche angeben wie viel Arbeit sie beigetragen haben (abzüglich eines Betrags für den Gemeinschaftsfonds). Mit diesen Zertifikaten können sie sich Konsummittel nehmen, welche die gleiche Menge an Arbeit brauchten; das ist nicht Geld, denn es kann nicht angesammelt werden. Allerdings ist es immer noch ein System der bürgerlichen Rechte und Gleichheit, in der gleiche Einheiten von Arbeit ausgetauscht werden. Angesichts der Tatsache, dass Menschen unterschiedliche Fähigkeiten und unterschiedliche Bedürfnisse haben, resultiert diese Gleichheit in einem gewissen Maß an Ungleichheit.Marx schrieb: “In einem fortgeschritteneren Stadium der kommunistischen Gesellschaft, wenn die versklavende Unterwerfung der Einzelnen unter die Arbeitsteilung und damit die Antithese zwischen der geistigen und körperlichen Arbeit, verschwunden sind; wenn Arbeit nicht mehr nur ein Mittel am Leben zu bleiben ist, sondern zu einer wichtigen Notwendigkeit wurde; wenn die rundum Entwicklung der Einzelnen ebenfalls ihre produktiven Kräfte gesteigert hat und alle Quellen von kooperativem Reichtum reichlicher fließen - erst dann kann die Gesellschaft ganz den engen Horizont des bürgerlichen Rechts überqueren und über ihre Banner schreiben: Von jedem entsprechend seiner Fähigkeiten, für jeden entsprechend seiner Bedürfnisse!”(S. 347)(Aus Gründen, die nur ihm selbst bekannt sind, benannte Lenin Marx’ “erste Phase der kommunistischen Gesellschaft” Sozialismus und das “weiter fortgeschrittene Stadium der kommunistischen Gesellschaft” Kommunismus. Die meisten Linken folgten dieser verwirrenden Nutzung.)Trotz seiner Ablehnung des Begriffs Kommunismus vertrat Bakunin auch eine zweistufige Entwicklung der Wirtschaft nach der Revolution, im Sinne seines engen Freundes James Guillame. Guillame schrieb im Jahr 1874 einen Essay, in dem er Bakunin´s Sichtweise zusammenfasste. “Wir sollten … von dem Grundsatz geleitet werden: Von jedem entsprechend seiner Fähigkeiten, für jeden entsprechend seiner Bedürfnisse. Wenn, dank des Fortschrittes der Wissenschaft und Landwirtschaft, die Produktion den Verbrauch überholt, und dies wird einige Jahre nach der Revolution erreicht, wird es nicht mehr erforderlich sein, geizig den Anteil der einzelnen Arbeitnehmer an der Ware zu verteilen. Jeder wird sich was er benötigt von der reichlich vorhandenen sozialen Reserve an Waren nehmen…. In der Zwischenzeit wird jede Gemeinde für sich selbst entscheiden, welche Methode der Verteilung der Produkte mit der damit verbundenen Arbeit während der Übergangszeit für sie am besten ist. “(Bakunin, 1980, S. 361-362) Er erwähnt verschiedene alternative Systeme der Vergütung für die Übergangszeit; “… Es wird mit Systemen experimentiert, um zu sehen, wie sie funktionieren” (S. 361).Die heutigen Vorschläge für Parecon (steht für participatory economics, zu Deutsch “partizipative Ökonomie”), in denen die ArbeitnehmerInnen für die Intensität und Dauer ihrer Arbeit in einer kooperativen Wirtschaft belohnt werden, würden in Bakunin´s oder Marx’ Konzept einer übergehenden, beginnenden Phase einer freien Gesellschaft passen. Aber im Gegensatz zu den VertreterInnen von Parecon, erkannten Marx und Bakunin, dass dies noch sehr begrenzt war. Für Marx als auch Bakunin erfordert voller Kommunismus eine sehr hohe Produktivität und potenziellen Wohlstand, eine Wirtschaft, welche die Idee der Knappheit überwunden hat, wenn es genug Freizeit für die Menschen zur Teilnahme an der Entscheidungsfindung gibt, bei der Arbeit und in der Gemeinschaft, die Unterscheidung zwischen BefehlsgeberInnen und BefehlsnehmerInnen zu beenden. Doch weder Marx noch Bakunin beschriebenen einen sozialen Mechanismus für den Übergang von einer Phase zur anderen.Kropotkin lehnte den zweistufigen Ansatz der MarxistInnen und der anarchistischen KollektivistInnen ab. Stattdessen schlug er vor, dass eine revolutionäre Gesellschaft “sich sofort in eine kommunistische Gesellschaft verwandeln” (1975, S. 98) sollte, das heißt, sofort in das was Marx als die “fortgeschrittenere”, abgeschlossene Phase des Kommunismus gesehen hatte. Kropotkin und diejenigen, die mit ihm übereinstimmten, nannten sich “Anarchistische KommunistInnen” („Anarcho-KommunistInnen” oder auch “kommunistische AnarchistInnen”), obwohl sie sich selbst weiterhin als Teil der breiteren sozialistischen Bewegung betrachteten.Es war nicht möglich, argumentierte Kropotkin, eine Wirtschaft zu organisieren, die teilweise auf kapitalistischen Prinzipien und teilweise auf kommunistischen Prinzipien beruht. HerstellerInnen unterschiedlich zu belohnen, je nachdem wie viel Ausbildung sie haben, oder sogar wie hart sie arbeiten, würde die Aufteilung in Klassen wieder aufleben lassen und die Notwendigkeit eines Staat, um dies alles zu überwachen. Auch ist es nicht wirklich möglich zu entscheiden, wie viele Personen zu einem komplexen, kooperativen Produktionssystem beigetragen haben, um sie gemäß ihrer Arbeit zu belohnen.Stattdessen schlug Kropotkin vor, dass sich eine große Stadt, während der Revolution, “auf der Grundlage des freien Kommunismus organisieren könnte; die Stadt garantiert für jeden Einwohner Wohnung, Nahrung und Kleidung…… im Austausch für … fünf Stunden Arbeit; und … alle Dinge, die als Luxus betrachtet werden können, können von jedem erlangt werden, wenn er sich für die andere Hälfte des Tages allen Arten von freien Verbänden anschließt….”(S. 118-119) Dies würde die Integration der Landwirtschaft mit industrieller Arbeit, und die körperliche mit geistiger Arbeit voraussetzen. Es blieb ein Element des Zwangs in Kropotkin´s Vorschlag. Vermutlich würden gut gebaute (gesunde) Erwachsene, die nicht fünf Stunden Arbeit beitragen würden, nicht das “garantierte” Minimum bekommen.Anarchistischer Kommunismus wurde die dominante Strömung unter AnarchistInnen, so dass es selten wurde AnarchistInnen (mit Ausnahme der individualistischen AnarchistInnen) zu finden, die Kommunismus nicht akzeptieren, egal welche anderen Meinungsverschiedenheiten sie untereinander hatten. Mittlerweile nannten sich die MarxistInnen schon seit langem SozialdemokratInnen. Als der Erste Weltkrieg ausbrach befürworteten die wichtigsten sozialdemokratischen Parteien den kapitalistischen Krieg. Lenin forderte den revolutionären Flügel der internationalen Sozialdemokratie auf, sich von den VerräterInnen zu spalten und SozialistInnen zu werden. Als Teil dessen forderte er, dass seine bolschewistische Partei und ähnliche Parteien sich Kommunistische Parteien nennen, auf Marx zurückgehend. Einige seiner AnhängerInnen beschwerten sich, dass dies die ArbeiterInnen verwirren würde, dass die Bolschewiken wie die Anarcho-KommunistInnen klingen würden. Lenin erklärte, dass es wichtiger sei, nicht mit den reformistischen SozialdemokratInnen verwechselt zu werden. Lenin setzte sich durch (wie üblicherweise in seiner Partei). Die MarxistInnen nahmen sich den Begriff “Kommunismus” zurück. Mit der Ausnahme der russischen Revolution wandten sich die meisten revolutionär gesinnten Menschen an die LeninistInnen; die AnarchistInnen wurden zunehmend marginalisiert. Der Begriff “Kommunismus” wurde vor allem das Label für LeninistInnen.
Wir haben das industrielle Potenzial zu vollständigen Kommunismus, aber es gibt nach wie vor Schwierigkeiten, wie zum Beispiel die Notwendigkeit Technologie zu reorganisieren und die so genannte “Dritte Welt” entsprechend zu industrialisieren. Dies wirft die Frage der Notwendigkeit einer Art Phasengleichheit des Kommunismus auf.Im Laufe des Jahrhunderts seitdem Kropotkin und Marx über Kommunismus geschrieben haben, gab es eine enorme Steigerung der Produktivität. Jahrtausende lang mussten zwischen 95 und 98% der Menschheit in die Herstellung von Lebensmitteln miteinbezogen werden. Heute sind die Verhältnisse umgekehrt, in den Vereinigten Staaten arbeiten nur 2 bis 3% in der Landwirtschaft. Es wird argumentiert, dass wir mit den automatisierten Fabriken ein bequemes Leben für alle produzieren könnten. Mehr Menschen würden freiwillig arbeiten als es nötigwendige Arbeitsplätze gäbe. Eine industrialisierte und kooperative, demokratisch geplante Wirtschaft könnte viel Freizeit für alle bieten. Dies ist von wesentlicher Bedeutung für jede Gesellschaft, die auf der Grundlage einer Basisdemokratie basiert. In allen bisherigen Revolutionen gingen die Massen wieder zu ihrem Alltag zurück, sobald die Umwälzungen vorbei waren, während nur wenige die Zeit hatten, die Dinge am Laufen zu halten. Wenn alle Freizeit hätten, dann wären alle frei, ihre Gemeinden, Baustellen, und die Gesellschaft als Ganzes selbst zu verwalten.Kurzum, es gibt alle technologischen Voraussetzungen für vollständigen, libertären, Kommunismus, was Marx als die “höhere Phase des Kommunismus” bezeichnete. Deshalb argumentierten einige, dass es möglich ist, sofort zum vollständigen Kommunismus überzugehen, sobald die sozialen und politischen Bedingungen erfüllt seien. Ich allerdings glaube nicht, dass dies wahr ist.Erstens ist die produktive Technologie, die wir haben, eine Technologie, die aus dem Kapitalismus für den Kapitalismus entstanden ist. Sie ist nur “produktiv” im Hinblick auf die Erreichung der kapitalistischen Ziele, das heißt, auf die Akkumulation von Kapital. Mit anderen Worten, sie ist enorm verschwenderisch und zerstörerisch, verschmutzt die Umwelt, rottet natürliche Arten aus, verbraucht nicht-erneuerbare Ressourcen, lagert nukleare Bomben und verursacht globale Erwärmung. In menschlicher Hinsicht wurde sie bewusst entwickelt, um ArbeiterInnen zu unterdrücken, uns vom Denken abzuhalten und soziale Hierarchien aufrecht zu erhalten. Nach einer Revolution würden die ArbeiterInnen diese industrielle Technologie völlig zu überholen beginnen, sie nachhaltig zu machen und die Trennung zwischen Auftrag-GeberInnen und Auftrag-NehmerInnen zu beenden. Wir würden eine neue Technologie entwickeln, welche “produktiv” menschliche Kreativität und ökologische Harmonie fördert.
Auch wenn Nordamerika, Westeuropa, Japan und einige andere Orte viel moderne Technologien haben, trifft dies nicht auf den Großteil der Welt zu. Die so genannte Dritte Welt ist zur Zeit unterindustrialisiert oder ungleichmäßig industrialisiert. Diese verarmten und ausgebeuteten Länder verfügen nicht über den notwendigen Reichtum oder die Industrie, um auch nur die untere Phase des Kommunismus (von Lenin als die Phase des Sozialismus bezeichnet) zu erreichen, geschweige denn vollständigen Kommunismus. Die ArbeiterInnen und Bauern/Bäurinnen sind in der Lage, in ihren Ländern an die Macht zu gelangen und ein System von Betriebsräten und Volksversammlungen einzuführen. Um ihren Weg zum Kommunismus jedoch zu festigen, müssten sie Revolutionen in den industrialisierten, imperialistischen Nationen entfachen, damit sie Hilfe erhalten.Ich stimme einigen RätekommunistInnen und anderen MarxistInnen nicht zu, wenn sie behaupten, dass die unterdrückten Nationen nur bourgeoise Revolutionen beginnen können. Im Gegenteil, die ArbeiterInnen und Bauern/Bäurinnen dieser Staaten können die nationale Bourgeoisie stürzen und danach die Revolution auf die industrialisierten Länder verbreiten, was ihnen helfen wird, sich in Richtung Kommunismus zu entwickeln. Diese Sichtweise ist gegen Stalin’s Konzept, Sozialismus in einem Land zu errichten. Es wird viel Hilfe aus den industrialisierten Teilen der Erde erforderlich sein, um Afrika, Asien und Lateinamerika in einer humanen, demokratischen und ökologisch ausgewogenen Weise zu entwickeln.Wenn also gesagt wird, dass es alle technologischen Voraussetzungen für vollständigen Kommunismus gibt, ist dies sicherlich richtig, aber nur potenziell. Die Menschheit hat das technische Wissen und die Fähigkeiten, die notwendig sind, um eine Welt des Wohlstands aller zu errichten, mit Freizeit für alle, in Harmonie mit der Umwelt, aber es wird viel Arbeit erfordern, diese Welt nach einer Revolution zu erschaffen.
Aus diesen Gründen haben libertäre KommunistInnen den Wechsel zu einer vollständig kommunistischen Gesellschaft oft als einen Prozess präsentiert, der nach der Revolution in Phasen aufgeteilt ist. Marx schlug eine höhere und untere Phase des Kommunismus vor. Bakunin implizierte das gleiche. Sogar Kropotkin schlug eine Art Aufteilung in Phasen zu vollem Kommunismus vor. Unmittelbar nach einer Revolution, deutete Kropotkin an, würden leistungs- und erwerbsfähige Erwachsene einen halben Tag arbeiten (5 Stunden) müssen, um eine ausreichende Menge von Nahrung, Kleidung und Obdach zu erhalten. Die meisten Güter würden immer noch knapp sein und müssten von der Gemeinde rationiert werden. Im Laufe der Zeit, in der sich die Produktivität verbessert, würde sich die Wirtschaft zu vollständigem Kommunismus entwickeln. Die meisten Güter wären in ausreichender Zahl verfügbar und die Menschen könnten sich diese frei aus den Regalen des Gemeindelagers nehmen. Arbeit würde aufgrund des sozialen Gewissens getan werden und dem Wunsch, aktiv zu bleiben. Aber das wäre nicht sofort möglich.Es gibt einen weiteren Faktor. Eine Revolution wird wahrscheinlich durch eine vereinigte Front anti-kapitalistischer politischer Gruppierungen ausgeführt werden. Nordamerika oder Europa, zum Beispiel, sind so groß und komplex, dass keine einzelne revolutionäre Organisation alle besten Ideen und alle besten AktivistInnen haben wird. Sie werden zusammen arbeiten müssen. Einige werden Anarcho-KommunistInnen sein, andere nicht. Abgesehen von durch und durch autoritären StaatskommunistInnen, werden wir wahrscheinlich in einer Koalition mit anderen, nicht kommunistischen AnarchistInnen, revolutionär-demokratischen SozialistInnen, verschiedenen Arten von Grünen und so weiter sein. Wir können nicht alle diese Menschen dazu zwingen, unter anarchistischem Kommunismus zu leben. Obligatorischer libertärer Kommunismus ist ein Widerspruch in sich! Die Mehrheit einer Region kann sich entscheiden, unter anarchistischem Kommunismus zu leben, während eine benachbarte Region beschließt, nach Prinzipien von Parecon (“partizipativer Ökonomie”) zu leben. So lange ArbeiterInnen nicht ausgebeutet werden, werden die Anarcho-KommunistInnen keinen Bürgerkrieg innerhalb der Revolution starten. In einer experimentellen Art und Weise, können verschiedene Ansätze in verschiedenen Regionen ausprobiert werden, und wir werden voneinander lernen.Malatesta (1984) schrieb, “Auferlegter Kommunismus wäre die am meisten verabscheuungswürdige Tyrannei, die der menschliche Verstand begreifen könnte. Und freier und freiwillig Kommunismus ist ironisch, wenn man nicht das Recht und die Möglichkeit hat in verschiedenen Regimen zu leben, kollektivistisch, mutualistisch, individualistisch - je nachdem wie man es sich wünscht, immer unter der Bedingung, dass es keine Unterdrückung oder Ausbeutung anderer gibt”(S. 103 ). Er erwartete, dass eine Art von anarchistischem Kommunismus schlussendlich gewinnen würde, aber war der Ansicht, dass die Erreichung dessen überall möglicherweise einige Zeit in Anspruch nehmen würde.
Aufgrund von moderner Technik ist anarchistischer Kommunismus ein praktisches Ziel, unabhängig davon, ob wir durch verschiedene Phasen oder Kompromisse müssen. Dies beantwortet jedoch nicht die Frage: Sollen wir uns KommunistInnen nennen? Immerhin sind wir ja GegnerInnen jedes kommunistischen Staates, der besteht oder bestanden hat, und jeder Kommunistischen Partei. Dennoch können wir uns nicht Anti-KommunistInnen nennen, da dies in der Regel die Unterstützung des westlichen Imperialismus bedeutet, dessen (bestenfalls) begrenzter Demokratie, und dessen Herrschaft einer Minderheitsklasse. Wir sind gegen die Herrschaft dieser Klasse, viel mehr noch als die kommunistischen Parteien. Aber wir unterstützen die Ziele von Kropotkin und Karl Marx einer klassenlosen, staatenlosen Gesellschaft, welche nach dem Prinzip “ Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen” organisiert ist. In diesem Sinne sind wir wirklich authentische KommunistInnen.Der Mainstream des historischen Anarchismus war anarchistischer Kommunismus. Wir können, und ich glaube wir sollten, uns mit der kommunistischen Tradition des Anarchismus identifizieren, die von Bakunin (als Ziel) zu Kropotkin (als Bezeichnung), zu Malatesta, Goldman und fast allen AnarchistInnen ihrer Zeit reicht. Es gab Konflikte zwischen jenen AnarchistInnen, die sich selbst Anarcho-KommunistInnen nannten und jenen, die sich selbst Anarcho-Syndikalisten nannten, aber sie hatten keine Unterschiede in ihren Prinzipien. Die Anarcho-KommunistInnen hatten Angst, dass die Anarcho-SyndikalistInnen sich in der Gewerkschaftsbewegung (“Syndikalismus”) auflösen würden; die Anarcho-SyndikalistInnen hatten Angst, dass die KommunistInnen die zentrale Bedeutung und Macht der organisierten ArbeiterInnen herunterspielen würden. Allerdings waren sich die Anarcho-KommunistInnen meistens über die Notwendigkeit der Selbstorganisation der ArbeiterInnenklasse einig, vor allem über die Notwendigkeit von Gewerkschaften, während die Anarcho-SyndikalistInnen das Ziel eines libertären Kommunismus teilten.Unser modernes Einverständnis mit dem historischen Ziel eines anarchistischen Kommunismus getrieben von der ArbeiterInnenklasse sollte mit Sicherheit in unseren Dokumenten und Programmen angeführt werden. Aber sollte es noch mehr in unseren Prospekten und im Namen unserer Organisationen erwähnt werden?Meine Antwort ist: es kommt darauf an. In einigen Ländern hat das Wort Kommunismus bei den meisten militanten ArbeiterInnen eine positive Konnotation. Dies liegt vor allem an der historischen Selbstaufopferung und dem Kampf von Kommunistischen Parteien, ungeachtet ihrer Schwächen. Offenbar ist dies zum Beispiel in Südafrika der Fall, wo unsere Co-DenkerInnen die Zabalaza Anarcho-Kommunistische Front bildeten.Aber in anderen Ländern hat Kommunismus eine sehr negative Konnotation. Dies hat nicht nur mit der negativen bourgeoisen Propaganda, sondern auch mit seiner 75 Jahre langen Identifikation mit der totalitären Realität der Sowjetunion zu tun. Jenes Regime nannte sich kommunistisch, wie auch seine Marionetten und Nachahmer in Osteuropa, China, etc. In anderen Ländern waren die KommunistInnen für ihre sklavenartige Anbetung der UdSSR bekannt, für die starke Herrschaft über ihre AnhängerInnen, und für ihren Reformismus. Aufgrund dessen glaube ich, änderte die Anarcho-Kommunistische Föderation (Anarchist Communist Federation) in Großbritannien ihren Namen zu Anarchistischer Föderation (Anarchist Federation). Das irische Workers Solidarity Movement inkludiert offensichtlich nicht das wort Kommunismus in seinem Namen. Aber der Verzicht auf das Wort Kommunismus in unserem Namen bedeutet nicht unbedingt die kommunistische Tradition aufzugeben.Ich glaube, dass die Vereinigten Staaten in die zweite Kategorie fallen. Das Wort Kommunismus in unseren Namen zu setzen schafft nur unnötige Barrieren zwischen uns und den meisten US-ArbeiterInnen. Es macht es schwierig uns von staatlichen Tendenzen zu unterscheiden, die sich auch als kommunistisch bezeichnen. Deshalb rate ich davon ab, vor allem falls wir jemals einen Nordamerika-weiten Verband bilden.Der Begriff “Sozialer Anarchismus” wird üblicherweise unter AnarchistInnen verwendet, um uns von IndividualistInnen und “libertären” UnterstützerInnen des Kapitalismus zu unterscheiden. Ich bevorzuge den Begriff “Sozialistische/r AnarchistIn”. Malatesta stimmt zu: “Wir … haben uns immer sozialistische Anarchisten genannt” (S. 143). Sozialist ist ein undeutlicherer Begriff als Kommunist. Für manche bedeutet er Reformismus, weil er viel von SozialdemokratInnen (“demokratischen SozialistInnen”) verwendet wird, sowie von KommunistInnen. Aber zumindest impliziert er nicht totalitären Massenmord, was das eigentliche Problem ist. Die Trotskyisten nannten sich “revolutionäre Sozialisten”, um sich von den Stalinisten zu unterscheiden, und nicht-Trotskyisten haben sich auch als revolutionäre Sozialisten bezeichnet. Generationen lang wurde der Begriff “libertäre/r SozialistIn” auch zur Bezeichnung von AnarchistInnen verwendet.Meinen Vorzug für “sozialistische/r AnarchistIn” und “libertäre/r SozialistIn” über “Anarcho-KommunistIn” ist meine persönliche Meinung, die möglicherweise eine Minderheitsmeinung innerhalb der US-Anarcho-KommunistInnen ist. In jedem Fall ist es nicht eine Frage des Prinzips. Es ist nicht das Etikett, sondern der Inhalt, der am wichtigsten ist.
Die Gesellschaft, in der wir leben, befindet sich heute in einem dauerhaften Krisenzustand: ökonomische und ökologische Krisen, Verschärfung der globalen Probleme, Massenarmut und -arbeitslosigkeit, Prekärisierung der Lebensverhältnisse weiter Teile der Weltbevölkerung, Rassismus, Nationalismus, Kriege, nationalistische Demagogie, Stagnierung der Löhne etc. Gleichzeitig wird von den unkritischen und fortschrittsoptimistischen Apologeten des Kapitalismus in Politik, Ökonomie, Wissenschaft und Kultur von den Chancen der "New Economy" gesprochen, von den Vorteilen flexibler Arbeitsverhältnisse und der "Internetgesellschaft" gesprochen. Kritisches Denken ist heute nicht unbedingt in Mode, obwohl oder gerade da die soziale Situation der Menschen sich permanent verschärft. Ist all dies aber Anlaß genug, um in einen Kulturpessimismus zu verfallen und vom baldigen Ende der Menschheit auszugehen? Keineswegs. Die Welt kann bleiben wie sie ist, dann sind solche Befürchtungen nicht unrealistisch. Das kapitalistische Weltsystem befindet sich in einer Entwicklung, die die Herrschaft über Menschen und die Zerstörung der Natur konsequent vorantreibt.Die Welt darf allerdings nicht bleiben, wie sie ist. Nur die Etablierung einer qualitativ anderen Gesellschaft wäre die Basis für die Lösung der globalen Probleme. Dazu bedarf es aber dem aktiven gesellschaftstransformierenden und emanzipatorischen Handeln des Menschen. Welche Rolle kann dabei die Gesellschaftstheorie und -kritik einnehmen? Ein kritisches praktisches Handeln muß wissen, worauf es sich bezieht, was es verändern will und wogegen bzw. wohin eine Aufhebungsbewegung stattfinden soll. Eine kritische Theorie der Gesellschaft kann dabei die Rolle spielen, bestehende Verhältnisse und die Möglichkeit deren Veränderung zu verdeutlichen. Was sie nicht kann und nicht soll, ist den Menschen vorzugeben, wie ein alternativer Gesellschaftsentwurf auszusehen hat. Denn eine Transformations- und Aufhebungsbewegung in Richtung einer anderen Gesellschaft kann nur eine von unten sein. Was Kritische Theorie leisten kann, ist das Bewußtmachen der Möglichkeiten, zu denen die geschichtliche Situation selbst herangereift ist. Sie umfaßt immer auch die Anregung zur Phantasie, denn als Einbildungskraft bezeichnet diese "einen hohen Grad der Unabhängigkeit vom Gegebenen, der Freiheit inmitten einer Welt von Unfreiheit. Im Hinausgehen über das Vorhandenen kann sie die Zukunft vorwegnehmen" (Marcuse 1937, S. 122).Das aktive selbstorganisierte Handeln der Menschen ist also von grundsätzlicher Bedeutung. Und hier kommt nun ein neues wissenschaftliches Paradigma ins Spiel: Die Theorie der Selbstorganisation. Dieser interdisziplinäre Ansatz kann emanzipatorisch gefaßt die Möglichkeiten gesellschaftskritischen Handelns näher analysieren sowie Grenzen und Perspektiven verdeutlichen. Ziel der Arbeit "Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus" ist, eine kritische Bestandsaufnahme des postfordistischen Kapitalismus zu geben und Möglichkeiten von emanzipatorischer sozialer Selbstorganisation heute und in anderen Gesellschaftsformationen (als potentiellen Zukünften) zu verdeutlichen.
Im Anarchismus wird eine Vorstellung von Demokratie als Repräsentativdemokratie abgelehnt, da dies die Verwaltung einer Mehrheit durch eine Minderheit bedeute, also die Herrschaft von gewählten RepräsentantInnen, die im Parlament Entscheidungen treffen, über das Volk. Nichtsdestotrotz gibt es Ansätze, die Anarchie als Demokratie begreifen. Demokratie nicht im Sinne einer Repräsentationsherrschaft, sondern im Sinn einer unmittelbaren, direkten Selbstbestimmung von Entscheidungen durch die Betroffenen. Die bürgerliche Demokratie koppelt dazu im Gegensatz stehend Entscheidung von den Betroffenen ab."Demokratie" kommt von den Wörter "demos" (Volk) und "kratein" (herrschen, Macht ausüben) und bedeutet damit eigentlich "Volksherrschaft". Herrschaft wird aber über jemanden ausgeübt. Damit wären eine Vereinbarung von Demokratie und Selbstorganisation also geradezu ausgeschlossen. Wird allerdings Demokratie als die Möglichkeit und Macht des Volkes, sämtliche Entscheidungen selbst zu treffen, gesehen oder als "Volks-Selbstbestimmung" (Burnicki 1998, S. 9), so kann Anarchie sehr wohl als direkte Form der Demokratie bezeichnet werden. "Direkte Demokratie meint also die unmittelbare 'Volk'-Selbstbestimmung. [...] [Das Volk] sind alle Leute, die von einer Politik betroffen sind, egal, welche Sprache, Religion, Hautfarbe oder Ohrengröße sie haben. [...] Anarchie heißt Herrschaftslosigkeit. Die Umsetzung von Herrschaftslosigkeit bedeutet Direktdemokratie. Das, was Anarchie beinhaltet, ihr Gegenstand also, ist Direktdemokratie. Direktdemokratie bedeutet, daß sich die Menschen - ohne Eliten zu bilden - selbst organisieren" (Burnicki 1998, S. 9f). Damit ist der Zusammenhang Anarchismus - Demokratie - Selbstorganisation hergestellt, es bedarf aber noch einer genaueren Untersuchung, inwiefern dieses Verständnis von Selbstorganisation mit einem Konzept sozialer Selbstorganisation vereinbar ist.Im Gegensatz zu einem unreflektierten und undialektischen Verständnis von Demokratie, das die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem gewisser Begriffe vernachlässigt, erscheint die anarchistische Philosophie bei näherer Analyse als eine eigenständige Konzeption von Demokratie. Unterschiedliche anarchistische Ansätze wie Mutualismus, Individualanarchismus, kommunistischer Anarchismus, libertärer Kommunalismus und Anarchosyndikalismus vereint ein Verständnis, das sich gegen jede Form der Herrschaft wendet. Insbesondere wird in Frage gestellt, daß es einer staatlichen Autorität bedarf, um Entscheidungen verantwortungsvoll zu treffen. Der Staat wird als eine Instanz gesehen, die die kapitalistische Gesellschaft durch Gewalt, Repression und Zwang aufrechterhält. Dazu ist die staatliche Autorität und die Zurechtweisung der BürgerInnen durch Gesetze notwendig. Das Menschenbild des Anarchismus ist eines, das davon ausgeht, daß die Menschen bei Aufhebung der bestehenden kapitalistischen Widersprüche die Kompetenz erlangen können, Entscheidungen verantwortlich zu treffen und ein hohes Maß an Solidarität, Altruismus, Kooperation und Gemeinsinn zu zeigen. Dazu sind partizipatorische Strukturen notwendig, die den Menschen ein hohes Maß an Autonomie ermöglichen und ihnen die Möglichkeit geben, an allen Entscheidungen, die sie betreffen, teilzunehmen. Die entsprechenden in Betracht gezogenen Organisationsformen sind zumeist Rätemodelle auf der Basis von Versammlungen von Betroffenen.Unter sozialen Informationen können wir allgemein Strukturen verstehen, die aus dem Zusammenwirken mehrerer Individuen emergieren. Emergenz heißt dabei, daß eine Einzelperson die entsprechende Struktur nicht etablieren könnte und daher mit anderen zusammenwirken muß. Als eine Art sozialer Information können Gesetze gesehen werden. Der Anarchismus wendet sich gegen Gesetze, da er sie als staatliche Mittel zur Entmächtigung, Beherrschung und Disziplinierung der Individuen begreift. Peter Kropotkin (1985) beschrieb in diesem Zusammenhang Gesetze als modernen Fetisch. Die meisten Menschen können sich demnach ein Zusammenleben ohne Gesetze nicht vorstellen, die Ermöglichung des gesellschaftlichen Umgangs wird Gesetzen zugeschrieben. Der tatsächliche Zweck der Gesetze ist jedoch der Schutz von Privateigentum und Kapitalismus.Wenn AnarchistInnen sich gegen Gesetze aussprechen, was sind dann die sozialen Informationen der Gesellschaft, die sie sich vorstellen? Es wird davon ausgegangen, daß im Anarchismus Entscheidungen getroffen werden können, mit denen die Menschen leben können, da sie selbst an der Ausarbeitung als Betroffene teilgenommen haben. Nichtsdestotrotz gibt es in jeder Form der Gesellschaft soziale Normen und Werte. Der Anarchismus geht davon aus, daß diese Normen und Werte darin bestehen, daß die Menschen in einer herrschaftsfreien Gesellschaft verantwortungsvoll, solidarisch und altruistisch handeln und daß sie die Eigennutzenmaximierung zu Gunsten der Berücksichtigung allgemeiner Interessen aufgeben. Durch eine Sozialisierung in einem gesellschaftlichen System, das auf Werten wie Kooperation, Solidarität und Altruismus an Stelle von Konkurrenz, Eigennutzenmaximierung und Egoismus basiert, kann dies sehr wohl möglich sein. So etwas ist aber für viele Menschen unter den bestehen Verhältnissen nur schwer vorstellbar, da im Kapitalismus alle gesellschaftlichen Bereiche dem Konkurrenzprinzip unterworfen sind. Soziale Informationen im Anarchismus sind also Entscheidungen und Werte wie Solidarität, Kooperation, Altruismus, Verantwortung und Selbstbestimmung.Wie sieht es nun mit dem Selbstorganisationsgrad anarchistischer Entscheidungsstrukturen aus? Unter sozialer Selbstorganisation wird verstanden, daß Individuen, die von Strukturen betroffen sind, Eintreten, Form, Verlauf und Ergebnis des Prozesses der Strukturetablierung selbst bestimmen und gestalten können, indem sie durch Wechselwirkungen auf der Mikroebene Strukturen auf der Makroebene hervorbringen. Wir können von einem mangelnden Selbstorganisationscharakter repräsentativdemokratischer Modelle ausgehen; des weiteren ist direktdemokratischen Strukturen - wie sie auch im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft verwirklicht sind - , bei denen die Entscheidungsausarbeitung von den Betroffenen entkoppelt wird, die Gefahr eines Übergangs zu plebiszitären Modellen immanent, bei denen jegliche Selbstorganisation erlischt und durch Führungspersonen verunmöglicht wird. So war beispielsweise das Gesellschaftsmodell des Nationalsozialismus an Vorstellungen eines plebiszitären Führersystems angelehnt.Der Anarchismus koppelt die Entscheidungsfindung unmittelbar und relativ vollständig an die Betroffenen. JedeR soll dieselbe Möglichkeit haben, Entscheidungen, die ihn/sie betreffen, mitzugestalten. Staatskritik wird dabei immer auch als Parlamentarismuskritik verstanden, da in einem derartigen politischen System den Menschen die Verantwortung, Entscheidungen zu treffen, abgesprochen werde, um die Beherrschung einer Mehrheit durch eine Minderheit (vgl. z.B. Bakunin 1995, S. 118; Bakunin 1999, S. 130f) aufrechtzuerhalten. Moderne Staatswesen können daher kaum als Demokratien im Sinn der unmittelbaren Volksselbstbestimmung in allen gesellschaftlichen Belangen aufgefaßt werden, sondern vielmehr als oligarchische Systeme. AnarchistInnen wie Murray Bookchin sehen den Anarchismus als die Form tatsächlicher Demokratie, da es hier keine Entmächtigung des Volkes durch die Wahl von RepräsentantInnen und die Entkopplung der Entscheidungsfindung von den Menschen, die mit den einmal getroffenen Entscheidungen leben müssen, gäbe (vgl. z.B. Bookchin 1992, 1996). Anarchistische Entscheidungsmodelle entsprechen daher der Vorstellung von sozialer Selbstorganisation besser als die modernen Staatswesen, die auf repräsentativ- und in eingeschränktem Ausmaß auf direktdemokratischen Mechanismen beruhen. Es gilt in der anarchistischen Theorie geradezu als wesentliches Ideal, daß Betroffene kooperieren, um durch Wechselwirkungen Entscheidungen, die einen basisdemokratischen Rückhalt haben, hervorzubringen. Und dies ist auch der Inbegriff sozialer Selbstorganisation.Exklusvie soziale Informationen werden in einem sozialen System etabliert, in dem es soziale Hierarchien gibt. Dabei üben Teilsysteme, die in der Hierarchie weiter oben stehen, Herrschaft über weiter unten stehende Teilsysteme aus. Außerdem zeichnet sich diese Hierarchie durch eine asymmetrische Machtverteilung aus. In einem solchen hierarchischen sozialen System entstehen häufig Entscheidungen dadurch, daß sie von mächtigeren Teilsystemen getroffen werden, indem sie die Vorteile, die sie dadurch besitzen (z.B. bessere Verfügbarkeit von notwendigen Ressourcen, Informationen, usw.), nutzen. Die Ergebnisse solcher Entscheidungen bezeichnen wir als exklusive soziale Informationen; die sozialen Informationen in Gesetzesform, die unsere moderne Gesellschaft wesentlich prägen, sind exklusiv, da sie von einer Minderheit, die sich alle paar Jahre durch Wahlen legitimieren läßt und sich dadurch auch verändern kann, unter dem Ausschluß der Mehrheit getroffen werden. Gesetze stellen also grundsätzlich immer eine Form der exklusiven sozialen Information dar und sind daher den sozialen Selbstorganisationspotenzen der Menschheit entgegengesetzt.Der Anarchismus wendet sich gegen Herrschaft, Hierarchien und asymmetrische Machtverteilungen. Es ist daher naheliegend, daß es ihm um die Eliminierung der Dominanz exklusiver sozialer Informationen geht. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, daß die Vorstellungen über anarchistische Entscheidungsprozesse tatsächlich durch inklusive soziale Informationen geprägt sind. Als inklusive soziale Informationen sehen wir soziale Informationsstrukturen, die sich dadurch auszeichnen, daß alle Elemente eines sozialen Systems, die von der Anwendung der entstehenden sozialen Information betroffen sind, diese durch Wechselwirkungen gemeinsam hervorbringen und daß jedes Individuum dieselben Möglichkeiten und Mittel hat, um die entstehende Informationsstruktur in seinem eigenen Sinn zu beeinflussen. Dem Anarchismus geht es um die unmittelbare Entscheidungsfindung durch Betroffene unter Abwesenheit von Autorität, Herrschaft und Hierarchie. Die Abwesenheit solcher Strukturen, Verhältnisse und Prozesse kann als Annäherung an eine Symmetrisierung der Machtverhältnisse gesehen werden. Symmetrische Macht bedeutet, daß jedeR Betroffene dieselben Möglichkeiten und Ressourcen besitzt, entsprechende Entscheidungen im eigenen Sinn zu beeinflussen. Partizipatorische Basisdemokratie, alle Betroffenen entscheiden alles, das sie betrifft - so könnte ein Ideal des Anarchismus formuliert werden. Und dieses Ideal kommt der Vorstellung der Etablierung inklusiver sozialer Information durch Prozesse der sozialen Selbstorganisation sehr nahe.Es kann gesagt werden, daß der Anarchismus i.A. von kleinen organisatorischen Einheiten ausgeht, in denen basisdemokratische Entscheidungen getroffen werden. Dabei ist es eine Streitfrage, ob ein Konsens erzielt werden sollte oder ob Mehrheitsabstimmungen über Entwürfe, an deren Ausarbeitung alle Betroffenen beteiligt waren, stattfinden sollten. Mehrheitsbeschlüsse erhöhen den Exklusionsgrad demokratischer Prozesse, da der Mehrheitswille verbindlich gilt und der Wille der Minderheit unberücksichtigt bleibt. Der Selbstorganisationsgrad sinkt dadurch also und soziale Informationen, die in dem Sinn inklusiv sind, daß jedeR dieselbe Möglichkeit der Gestaltung und Mitbestimmung hat, bekommen einen zusätzlichen, nämlich exklusiven Charakter. In einer anarchistischen Entscheidungsstruktur mit Mehrheitsprinzip haben Entscheidungen einen inklusiv-exklusiven Charakter: Die Exklusion besteht im Mehrheitsprinzip, die Inklusion in dem hohen Maß der Beteiligung aller Betroffenen. Konsensentscheidungen wären also die Idealform, um inklusive soziale Informationen zu etablieren.Allerdings müssen auch jene Einwände gegen das Konsensprinzip beachtet werden, die Murray Bookchin und andere einbringen (vgl. z.B. Bookchin 1994): Es kann nicht von homogenen Interessen und Meinungen ausgegangen werden, daher werden mehrheitsfähige Meinungen Minderheitenpositionen möglicherweise unterdrücken oder jene, die sich der Mehrheit nicht anschließen wollen, aus dem Entscheidungsprozeß hinausdrängen. Dann entsteht ein formaler Konsens, eine formelle inklusive soziale Information, die jedoch in dem Sinn wiederum exklusiv ist, daß der Konsens nur ein Konsens der Mehrheit ist, die sich gegen Minderheiten wendet.Es kann wohl keine allgemeine Empfehlung für die Anwendung von Konsens- oder Mehrheitsprinzip von AnarchistInnen gegeben werden, da dies eine praktische Frage ist, die einzig von Gruppen, die einen basisdemokratischen Anspruch haben, in konkreten Situationen gelöst werden kann. Sehr wohl aber meinen die meisten AnarchistInnen, daß ein Konsens darüber erreicht werden sollte, ob in einer konkreten Entscheidungssituation das Konsens- oder das Mehrheitsprinzip anzuwenden ist. Ansonsten entsteht nämlich sehr leicht Handlungsunfähigkeit.Charakteristisch für Rätemodelle, auf die sich der Anarchismus häufig bezieht, sind föderalistische Vorstellungen, nach denen Entscheidungen, die nicht nur eine Organisationseinheit betreffen, sondern mehrere, in der Form von Föderationsräten behandelt werden sollten. Im allgemeinen wird in der Demokratietheorie davon ausgegangen, daß direkt- und basisdemokratische Entscheidungsmechanismen in großen Organisationsstrukturen schwierig sind und für kleinere organisatorische Einheiten geeignet sind. Im Fall von Versammlungsmodellen scheitert ein Rat, in dem alle Betroffenen direkt miteinander diskutieren, spätestens dann, wenn es zu viele Menschen sind, die eine Entscheidung miteinander gestalten wollen. Zehntausende können nicht auf demokratische Weise in einer Versammlung direkt miteinander kommunizieren. Daher sind Föderationsmodelle für den Anarchismus naheliegend.Nach anarchistischen Vorstellungen sind in Föderationsräten Delegierte der unterhalb der Föderation liegenden organisatorischen Einheiten vertreten. Die unterschiedliche Gestaltungsweise dieser Räte hat Einfluß auf den Inklusions- und Exklusionsgrad der entstehenden sozialen Informationen. Eine wesentliche Frage besteht darin, ob Delegierte entscheidungsbefugt sind oder ob sie als reine kommunikative Schnittstellen betrachtet werden. Viele Rätemodelle gehen davon aus, daß Delegierte von ihrer Basis gewählt werden sollen und jederzeit von ihr abberufen werden können. Damit ist die Vorstellung verbunden, daß diese Delegierten im eigenen Ermessen in Föderationsräten entscheiden. Es entsteht damit aber die Gefahr der Loslösung von Entscheidungen von ihrer Basis. Insbesondere ist dies problematisch, wenn es mehrere Föderationsstufen gibt und dieselben Delegierten die Möglichkeit haben, in mehreren Stufen vertreten zu sein und unabhängig von ihrer Basis Entscheidungen zu treffen. Es kann dann sehr leicht, so eine häufig lautende anarchistische Kritik, zur Ausbildung von Hierarchien und asymmetrischer Machtverteilung kommen. Ist dies der Fall, so werden der Selbstorganisations- und Inklusionsgrad der in den Föderationsräten entstehenden sozialen Informationen deutlich abgeschwächt. Entscheidungen, die in Föderationsräten entstehen, betreffen viele Menschen. Im beschriebenen Fall, hat aber nicht mehr jedeR dieselbe Möglichkeit, Entscheidungen zu beeinflussen. Delegierte haben dann mehr Macht als ihre Basis.Wiederum anders zu betrachten ist ein horizontales Modell, das davon ausgeht, daß Delegierte keinen Spielraum zur selbständigen Entscheidung bekommen sollten, sondern Kommunikationsschnittstellen zwischen organisatorischen Einheiten oder Interessensgruppen darstellen. Soll eine Entscheidung getroffen werden, so treffen Delegierte aller Einheiten und Interessensgruppen, die davon betroffen sind, zusammen und diskutieren das Problem. Sie können allerdings keine Entscheidungen treffen, müssen also wiederum Rücksprache mit ihren Basen halten, deren Meinung sich durch den übergreifenden Diskussionsprozeß möglicherweise geändert hat. Die Delegierten vertreten die Interessen ihrer Basis in Diskussionen mit anderen Gruppen und sind Kommunikationsschnittstellen zwischen ihrer Basis und den Menschen, die sich in anderen Gruppen und Einheiten organisieren.Der Selbstorganisations- und Inklusionsgrad des horizontalen ist im Vergleich zum hierarchischen Rätemodell höher, da die Delegierten darin nicht eine Kompetenz erlangen, die es erlaubt, Entscheidungen von ihrer Basis loszulösen. Denkbar ist es z.B., daß in derartigen Föderationsräten sehr wohl ein Konsens hergestellt werden kann, indem die Delegierten im Auftrag ihrer jeweiligen Basis miteinander diskutieren und die Interessen und Meinungen ihrer jeweiligen Basis darlegen. Auch Mehrheitsentscheide in der Form von Wahlen, bei denen die Stimmen einzelner organisatorischer Einheiten gewichtet werden, um Machtasymmetrien auf Grund verschiedener Größen der Einheiten zu minimieren, sind vorstellbar. Eine weitere Möglichkeit sind Mehrheitsentscheidungen, bei denen die Delegierten des Föderationsrates im Auftrag ihrer jeweiligen Basis abstimmen. Dabei muß zuerst eine eindeutige Festlegung der Basis erfolgen, was bei einer Abstimmung, an der alle Betroffenen direkt beteiligt sind, nicht der Fall ist. Es muß jedoch gesagt werden, daß auch derartige Mehrheitsentscheide auf föderaler Basis den Inklusions- und Selbstorganisationscharakter der entstehenden sozialen Informationen schwächen.Allgemein kann festgehalten werden, daß anarchistische Entscheidungsmodelle, die sich durch Dezentralität, Basisdemokratie, kleinere organisatorische Einheiten, Rätemodelle, den Föderationsgedanken und die Selbstbestimmung Betroffener charakterisieren lassen, der Vorstellung von sozialer Selbstorganisation näher kommen als etablierte repräsentativ- und direktdemokratische (Volksentscheid, Volksbegehren, Volksinitiative usw.) Modelle und Elemente, da sie die Etablierung inklusiver sozialer Informationen zu einem wesentlichen Bestandteil ihres Ansatzes machen. Es geht dabei um die Vorstellung, daß Betroffene die Entscheidungsprozesse, als deren Ergebnisse soziale Informationsstrukturen entstehen, selbst bestimmen und gestalten können und daß sie unter veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch die Fähigkeiten entwickeln können, dies in der Praxis durchzuführen. Es wird von anarchistischer Seite argumentiert, daß der bestehende Gesetzes- und Staatsfetisch sowie die kapitalistischen Verhältnisse dazu beitragen, daß unter den herrschenden Bedingungen eine radikale Basisdemokratie, wie sie der Anarchismus befürwortet, für die Menschen nur schwer vorstellbar ist.Der Selbstorganisationscharakter von Repräsentativmodellen ist gering, da Entscheidungen, von den Menschen, die von den resultierenden (exklusiven) sozialen Informationen betroffen sind, entkoppelt werden. Moderne direktdemokratische Vorstellungen, die sich auf große Staatswesen beziehen, tragen die Gefahr in sich, daß damit autoritäre und plebiszitäre Elemente transportiert werden. Die Geschichte hat gezeigt, daß Systeme mit Führungsfiguren und plebiszitären Entscheidungsstrukturen zum Erlöschen jedes Selbstorganisationscharakters führen. Der Selbstorganisationsgrad von direktdemokratischen Mechanismen kann i.A. höher eingestuft als jener von repräsentativdemokratischen. Dieser Selbstorganisationsgrad ist aber noch immer ein sehr eingeschränkter, der vielfältigen Limitierungen und Exklusionen unterliegt. Anarchistische Entscheidungsmodelle können als eine Alternative zum bestehenden Mangel an inklusiver sozialer Information betrachtet werden, sie betonen die soziale Selbstorganisation und können als eine Form partizipatorischer Basisdemokratie betrachtet werden.
Menschen, die nach Herrschaftsfreiheit streben, geraten rasch in Opposition zu Repräsentativdemokratien. Denn in repräsentativen Demokratien entstehen politische und räumliche Strukturen, die soziale Pyramiden bedeuten sowie Zentren und Peripherien konstituieren (z.B. Regierungssitze und Bevölkerung). Je mehr eine gegliederte Arbeitsteiligkeit existiert mit politischen EntscheidungsträgerInnen samt Verwaltung auf der einen Seite und der Bürgerschaft auf der anderen Seite, je mehr also eine Trennung der Lebens- und Entscheidungsbereiche praktiziert wird, desto eher erlauben die gesellschaftlichen Verhältnisse hierarchische Spaltungen. Und je deutlicher Politik und BürgerInnen, Entscheidungszentralen und Entscheidungsbetroffene auseinanderdividiert sind, desto eher wird der Zustand einer politischen Hierarchie stabilisiert. Auch gewählte Regierungen sind aus anarchistischer Sicht ein Ausdruck asymmetrischer Verhältnisse und wie auch fehlender politischer Gleichberechtigung, denn der/die einzelne BürgerIn verfügt weder jederzeit noch in gleichem Maße über Entscheidungsbefugnisse wie eine Regierung. Konsequenterweise beinhaltet die Gesellschaftsvorstellung des Anarchismus auch keine Wahl von RepräsentantInnen, sondern es sollen jederzeit alle Menschen an sie betreffenden Entscheidungen mitwirken. Vor diesem Hintergrund wird eine Regierung geradezu als Zumutung betrachtet. Am Parlamentarismus wird kritisiert, dass die gewählten EntscheidungsträgerInnen „prinzipiell unzugänglich“ bleiben. Es wird die Entscheidungsmacht der Abgeordneten und damit das Fehlen von Verpflichtung gegenüber ihren WählerInnen bemängelt. Es wird kritisiert, dass eine Mehrheit über eine Minderheit mitentscheidet – ohne jegliches Vetorecht der Betroffenen. Außerdem wird problematisiert, dass es faktisch den „Beruf der professionellen PolitikerIn“ gibt, was zu einer Machtanhäufung in den Händen Weniger führt. Schließlich wird kritisiert, dass parlamentarischer „Pragmatismus“ zur Stagnation des Politischen führt, weil parlamentarische NachfolgerInnen nicht losgelöst von der Politik der VorgängerInnen agieren können. Entscheidend aber bleibt eine grundsätzliche Kritik. Parlamentarische Repräsentation bedeutet, dass eine BürgerInnenschaft EntscheidungsträgerInnen in ein Parlament wählt, ohne dass diese nach der Wahl irgendeiner direkten Kontrolle der WählerInnenschaft unterliegen, noch dass sie durch die WählerInnenschaft vor Ablauf der festgelegten Zeit absetzbar sind. Das ist aus anarchistischer Sicht völlig herrschaftlich. Auch wird kritisiert, dass eine Mehrheit der WählerInnenschaft, deren gewählte Partei die Regierung stellt, über die Geschicke einer Minderheit mitentscheidet. Minderheiten scheinen nach einer Wahl bestenfalls noch als Opposition geeignet. Doch warum sollte eine Minderheit von Nicht-Einverstandenen die kollektive Entscheidung einer Mehrheit überhaupt hinnehmen? Die bloße Gewohnheit oder spekulative Aussicht, irgendwann selbst einmal Mehrheit zu werden, rechtfertigt eine solche Hinnahme ebenso wenig wie der historische Prozess, der ergab, dass Mehrheitsentscheidungen für alle Mitglieder einer Gesellschaft (also auch für Minderheiten) als bindend angesehen wurden.
Die in anarchistischen Medien wiederkehrende Kritik am Parlamentarismus zielt u.a auf drei wesentliche Punkte: 1. RepräsentantInnen zu wählen, die zudem für einen längeren Zeitraum mit Entscheidungsbefugnissen ausgestattet sind, läuft dem Anspruch auf politische Partizipation zuwider. 2. Mit der Wahl von RepräsentantInnen entscheidet eine Mehrheit gegen den Willen einer Minderheit. Diese Minderheit muss ihren Willen „zurückstecken“. Es ist problematisch, dass ein Mehrheitsvotum mehr wiegt als das Votum von Minderheiten. 3. RepräsentantInnen produzieren und übergehen Betroffene, indem sie Gesetze einbringen und Beschlüsse fassen, die Bevölkerungsteile benachteiligen (z.B. Maßnahmen für eine Ökonomisierung der Bildung, das Recht auf Asyl abschaffen oder verschärfen, Kürzung der Sozialhilfe, usw.). Diese Gesichtspunkte stimmen gegenüber parlamentarischen bzw. repräsentativen Demokratien bedenklich. Allein der dritte Aspekt verdeutlicht, dass sich in parlamentarischen Demokratien „Herrschaft“ im Sinne von Befehls- und Gehorsamsverhältnissen (Max Weber) äußert. Die von einer Regierung (in Abstimmung mit weiteren staatlichen Institutionen) durchgebrachten Gesetze haben den Charakter allgemeiner Verbindlichkeit, d.h. die Betroffenen an der „Bevölkerungsbasis“ haben sich zu fügen, sich danach auszurichten, zu gehorchen. Wie gesagt zeigen sich Hierarchien aber bereits darin, dass es in einer Sozialordnung Teilsysteme gibt, die über größere Chancen verfügen Interessen durchzusetzen, als andere. Für einige dieser Teilsysteme ist dabei charakteristisch, dass sie über mehr Einfluss auf die Herstellung kollektiv-bindender Entscheidungen verfügen, als andere. Dies beinhaltet die prinzipielle Chance, eigene Präferenzen zu Lasten derjenigen durchzusetzen, die in der hierarchischen Ordnung weiter unten angesiedelt sind. Mit der Wahl von RepräsentantInnen, die für eine längere Zeitspanne mit Entscheidungsbefugnissen ausgestattet sind, wird genau jenes Teilsystem eingesetzt, das über einen großen Einfluss auf die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen verfügt. Innerhalb der Legislaturperioden sind RepräsentantInnen niemandem verpflichtet. Betroffene von Entscheidungen müssen demnach nicht bei Entscheidungen berücksichtigt, geschweige denn persönlich hinzugezogen werden. Sie können also gegen ihren Willen übervorteilt werden. Indem in parlamentarischen Demokratien das Votum einer Mehrheit gegenüber einer Minderheit privilegiert ist, wird wiederum eine „Rangordnung“ hergestellt. Eine Opposition ist schnell zum verbalen Korrektiv herabgestuft und mit geringen Einflussmöglichkeiten im politischen System ausgestattet. Etliche Oppositionsmeinungen, die z.B. eine Prozenthürde nicht überspringen konnten oder von den Medien als uninteressant eingestuft werden, finden sich überhaupt nicht öffentlich repräsentiert. Ebenso wie – und das ist der Widersinn einer repräsentativen Demokratie – diejenigen Bevölkerungsteile, die ansässig sind, aber gar nicht über das Wahlrecht verfügen.
Im Gegensatz zu AnhängerInnen einer repräsentativen Demokratie drängen AnarchistInnen darauf, dass Betroffene gleichberechtigt an politischen Entscheidungen partizipieren können und dass politische Entscheidungen in einen „öffentlichen gesellschaftlichen Raum“ (Wofgang Haug) zurückgeholt werden. Um dies näher zu beschreiben, griffen in der Tradition des Anarchismus stehende Theoretiker wie z.B. Cornelius Castoriadis auf den Begriff der „autonomen Gesellschaft“ zurück. Diese autonome Gesellschaft sei dadurch gekennzeichnet, dass sie sich zwar Institutionen schafft, diese allerdings ständig hinterfragt und verändert, anstatt von ihren selbstgeschaffenen Institutionen bestimmt zu werden. Alle haben hier die gleichen Mitspracherechte, alle haben die jederzeitige Chance, mitzuwirken. Hier fußen Bedeutungen auf dem alltäglichen Leben, hier wird Gesellschaft von den Betroffenen gemacht statt umgekehrt. Solche Formen sozialer Selbstkonstituierungen sind in der Geschichte der politischen Bewegungen immer wieder realisiert worden: in den Town-Meetings in der amerikanischen Revolution, in Sektionen der Französischen Revolution, in der Pariser Kommune, bei den Arbeiterräten und den Sowjets in der Frühform, bei den ArbeiterInnenräten der 1920er Jahre und in der anarchistischen Rätevorstellung, wie sie beispielsweise heute in der Freien ArbeiterInnen-Union (FAU) praktiziert wird. Ihnen allen ist gemein, dass die Repräsentation bei politischen oder anderen Entscheidungen als kein Modell betrachtet wird, das automatisch zur Demokratie gehört, sie wird sogar als „ein der Demokratie fremdes, aristokratisches Prinzip“ (S. Münster) gesehen. Aus dem Blickwinkel der von Castoriadis befürworteten autonomen Gesellschaft sind Hierarchielosigkeit bzw. (soziale, politische und ökonomische) Gleichberechtigung die Voraussetzung für einen emanzipativen Prozess der Selbstbestimmung. Der öffentliche Raum und die sozialen Beziehungen in ihm bedürfen der völligen Gleichstellung der Individuen, um Prozesse unparteilichen Denkens zu ermöglichen. Dabei sei eine „gesellschaftlich verallgemeinerte Autonomie nicht etwa nur eine demokratietheoretische Frage im Sinne einer abgespaltenen Sphäre“, sondern es geht um die Gesamtheit sozialer Verhältnisse und Beziehungen: „Eine autonome Gesellschaft kann nicht entstehen und bestehen, wenn die Spaltungen in Führer und Geführte, in Befehlende und Ausführende, Eigentümer und Eigentumslose usw. aufrechterhalten bleiben“ (S. Münster). Damit mündet die soziale Frage in die Forderung nach der umfassenden Abschaffung sozialer Asymmetrien.
Die gesellschaftlichen Institutionen in einer autonomen Gesellschaft hätten dem Anspruch auf soziale Gleichberechtigung nicht entgegenzustehen, sondern ihn umzusetzen. In einer autonomen Gesellschaft gäbe es keine über Jahrzehnte feststehenden institutionell gesicherten Formen der Kommunikation wie etwa das Parlament. Stattdessen gäbe es idealerweise nun allerorten eine Mitentscheidung im Rahmen einer allgemeinen und öffentlichen Kommunikation, die sich mit der praktischen Frage befasst, wie die Menschen miteinander leben wollen und werden. Partizipation geriete hier vom fernen Mithören der Parlamentsdebatten zur direkten Kommunikation, zur eigenen Beteiligung, zum direkten und wechselseitigen Hineinhorchen in den Willen der anderen, der versammelten Gemeinde, und zur Herstellung gemeinschaftlicher Entscheidungen. Gesellschaftliche Einrichtungen oder Gesprächsräume würden nicht installiert, um Gremien von Fachleuten ein Forum zu bieten, sondern um viele öffentliche Diskussionsforen und Entscheidungsgelegenheiten zu ermöglichen und Entscheidungen von dem fortschreitenden Willen der Menschen abhängig zu machen. Regeln hätten einen bewusst vorläufigen Bestand, wodurch das „Abseits der Regel“ möglichen Auftrieb erhält. So wäre diese Gesellschaft ständig “im Flusse“, ein permanenter Prozess der Delegitimation von Erkenntnissen und „politischen Autoritäten“, abseits von fest verteilten Aufgaben und Funktionen. Dies erscheint als eine politische Ordnung, die gegenüber der repräsentativen Demokratie offener wäre für das, was unmittelbar geschieht, offener für das Ereignis. Ein „open-ear“-Prozess und eine „face-to-face“-Partizipation wären Grundlage einer fraktalen Gesellschaftsordnung, in der sich die Frage nach der Legitimation von Herrschenden erledigt hat und durch den Blick auf die persönlichen kooperativen Möglichkeiten ersetzt wird. Die Institutionen sind dazu da, eine Vergrößerung dieser kooperativen Möglichkeiten zu erwirken, sie sind von der Bevölkerungsbasis gestaltet, von ihr abhängig und offen für Meinungswandel – der Fluss der Kommunikation fließt gleichsam durch sie hindurch und nicht an ihnen vorbei. Die Offenheit dieser Institutionen für Öffentlichkeit wäre idealerweise der Garant für Partizipation. Dies wäre dann Direktdemokratie oder Basisdemokratie unter anarchistischen Vorzeichen, oder (weil in Teilen der anarchistischen Bewegung Bedenken bestehen, den Begriff der Demokratie zu nutzen) auch schlicht Selbstverwaltung – synonyme Begriffe für denselben Versuch, der demokratischen Schwäche der repräsentativen Demokratie eine Alternative entgegenzuhalten, in der sich die oben genannten Problematiken des Repräsentationsprinzips auflösen. In den Einrichtungen dieser selbstverwalteten Gesellschaft könnte die angestrebte Mitwirkung aller Menschen an sämtlichen Entscheidungen, die sie betreffen, umgesetzt werden. Ebenso könnten diejenigen, die von einer angestrebten Entscheidungsperspektive Nachteile erfahren würden, ein Vetorecht ausüben. Ein höhergestelltes Entscheidungsgremium als die Versammlung der (von einer Entscheidungsperspektive) Betroffenen gäbe es nicht. Dies setzt die Dezentralisierung politischer Entscheidungen voraus sowie, dass jetzige Entscheidungszentren durch Basisentscheidungen vor Ort ersetzt würden. Wie eine solche Gesellschaft nun aber nicht nur angedacht und angestrebt, sondern tatsächlich erreicht werden kann, das ist eine Frage, die sich hier nicht in Kürze beantworten lässt, auf die aber jeder und jede eine persönliche Antwort finden kann. Und damit beginnt oder scheitert die Idee bereits. Das Modell der autonomen Gesellschaft wird allerdings durch einen großzügigen Optimismus getragen. Denn die von Castoriadis und AnarchistInnen befürwortete autonome Gesellschaft fußt letztlich auf der Annahme, dass ein breiter Wille der Bevölkerung zur politischen Partizipation überhaupt (jetzt oder irgendwann) vorliegt.
Freiheit ist eine wichtige Idee im Mittelpunkt des anarchistischen Denkens. Er unterscheidet den Anarchismus ausserdem vom Marxismus. Obwohl die Anarchist/innen die wirtschaftlichen Argumente der Marxist/innen anerkennen [4], halten sie dagegen, dass nicht jede Ungleichheit aus wirtschaftlicher Ungleichheit besteht. Sie kann auch aus ungleichen Machtverhältnissen entspringen, in denen eine Einzelperson oder Gruppen von Einzelnen andere unterwerfen können.Für Anarchist/innen würde das Wesen einer zukünftigen Gesellschaft in der Fähigkeit der Leute bestehen, freiwillig auf gleichberechtigter Grundlage zusammenzukommen und zu entscheiden, was für sie als Ganzes das Beste sei. Wir meinen, dass wenn die Gesellschaft nicht auf freier Vereinbarung aufbaut und die menschlichen Beziehungen nicht frei, gleich und ohne Zwang eingegangen werden, dann würde eine ungleiche Gesellschaft [neu] entstehen, die auf ungleichen Machtverhältnissen aufbaut. Jede neue Gesellschaft müsste, anstatt von oben nach unten zu verwalten, direkt von der arbeitenden Klasse von unten nach oben verwaltet sein. [5] Mit anderen Worten: Die Leute müssen gleichberechtigt zusammenkommen, um ihre gemeinsamen Bedürfnisse und deren Erfüllung abzustimmen. Wenn dieses Vorgehen nicht eingehalten würde, bliebe die Macht in den Händen Weniger und die soziale Ungleichheit würde weiterbestehen. Und da nicht jede Ungleichheit aus dem Wirtschaftssystem herkommt, bekämpfen wir auch die marxistische Lehre von der wirtschaftlichen Vorherbestimmung ["ökonomischer Determinismus"].
Im Mittelpunkt der marxistischen Argumentation steht die Idee von Marx, dass die Eroberung der politischen Macht das erste Ziel des Proletariats sei. Er ging davon aus, dass dies zur Kontrolle des Staates durch die Arbeiter/innen führt, wodurch der Kapitalismus abgeschafft würde. Das Hauptanliegen der Marxist/innen ist daher die Gründung politischer Gruppen zur Übernahme der politischen Macht. Wenn sie ersteinmal den Staat kontrollieren, dann würden die Arbeiter/innen diese Macht nutzen, um das Land und die Industrie von den Kapitalist/innen und Landbesitzer/innen zu enteignen. Die Wirtschaft würde dann vom Staat zum Wohle der arbeitenden Klasse verwaltet. Wenn die Arbeiter/innen diese Kontrolle nicht durch Wahlen erreichen können, dann müsse es eine politische Revolution geben, um die Staatsmacht zu ergreifen. Dadurch würde eine Regierung auf der Grundlage der "Diktatur des Proletariats" errichtet.Im Mittelpunkt des marxistischen Denkens steht die Idee, dass die soziale Revolution nur nach der politischen Revolution stattfinden könne, da diese vorher die Kontrolle über den Staat gewinnen muss. Die Anarchist/innen damals wie heute lehnen die Idee ab, dass der Staat als ein Werkzeug für die Emanzipation der Arbeitenden benutzt werden könne. Für Anarchist/innen ist die Tatsache, dass das kapitalistische Parlament abgeschafft wird, nicht genug. Damit wird noch nicht sichergestellt, dass der Staat im Interesse der arbeitenden Klasse handelt. Wir halten sogar dagegen, dass die staatliche Kontrolle durch die Natur ihrer Sache [immer] auf der Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit aufbaut.Darüber hinaus weisen wir Anarchist/innen die Ansicht von Marx zurück, dass in einem "Volksstaat", den er sich vorstellte, das Proletariat in den Rang der herrschenden Klasse erhoben würde. Wenn die arbeitende Klasse also die überwältigende Mehrheit die herrschende Klasse werden würde, so fragen sich die Anarchist/innen: Über wen würde sie dann herrschen?
Für Anarchist/innen bedeutet die Aussicht auf die Abschaffung von Marktkapitalismus und Privateigentum nicht, dass der Staat eine soziale Gerechtigkeit hervorbringen wird. Wir lehnen die marxistische Vorstellung, dass in dem neuen Arbeiter/innenStaat die "erfahrenen Sozialist/innen" die Gesellschaft im Sinne der Arbeiter/innen verwalten würden, als naiv und bevormundend ab. Stattdessen, so sagten die Anarchist/innen [schon im 19. Jahrhundert] voraus, würden die "erfahrenen Sozialist/innen" viel eher ihre Macht dazu benutzen, um eine neue Herrschaftselite zu werden. Daher wird ein marxistischer Staat nicht durch die Diktatur des Proletariats geformt, sondern durch die Diktatur einer neuen privilegierten, politischwissenschaftlichen Klasse der "erfahrenen Sozialist/innen". Aus anarchistischer Sicht begründen diese neuen sozialistischen Diktator/innen ihre Macht über die Mehrheit durch ihre oberste Kontrolle der Wirtschaft ebenso, wie die jetzigen Staaten ihre Macht über die Mehrheit auf Grundlage des wirtschaftlichen Eigentums ausüben.[6] Das Ergebnis davon ist, dass die soziale Gleichheit dort ein Traum bleiben wird. Als Anarchist/innen sind wir überzeugt, dass die Staatsmacht, egal ob durch eine verfassungsgebende Versammlung oder eine revolutionäre Diktatur begründet, die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit bedeutet und daher grundsätzlich undemokratisch ist. Unabhängig von der Staatsform werden diejenigen, die den Staat formen und verwalten, als die herrschende Klasse handeln. Sie werden die Macht und die Privilegien einer herrschenden Klasse annehmen. Als solcher ist der Staat nicht nur der ausführende Agent einer bestimmten Klasse, die die Produktionsmittel besitzt. Er ist auch als eine Klasse an sich anzusehen, die in ihrem eigenen Auftrag handelt. Ausserdem hat eine herrschende Klasse, die sich auf der Kontrolle des Staates begründet, auch die Mittel um eine der mächtigsten Eliten der Geschichte zu werden. Denn der marxistische Staat kontrolliert nicht nur die Wirtschaft, sondern auch den ganzen Staatsapparat samt Armee und Polizei.
Die zentralen Gründe um staatliche Macht abzulehnen und stattdessen die freie Vereinigung zu bevorzugen, die den Anarchismus seither bezeichnet, wurden in der Zeit der Ersten Internationale entwickelt. Ein Ergebnis davon war, dass seine Gegner/innen im Anarchismus nicht viel mehr als eine radikale Form des liberalen Individualismus gesehen haben, der die persönliche Freiheit über die Notwendigkeiten der gesamten Gesellschaft setzt. Dies ist jedoch ein Missverständnis gegenüber dem Anarchismus. Die anarchistische Sichtweise der persönlichen Freiheit wurde während der 1848erRevolution in Frankreich begründet. Sie war der befreiende Schrei, dass die Versklavung eines kleinsten Teils der Menschheit auch die Sklaverei über alle bedeutet. Die Freiheit des Einzelnen ist die Grundlage der gemeinsamen Freiheit. Da menschliche Wesen ihre Menschlichkeit nur innerhalb der Gesellschaft ausdrücken können, ist die Freiheit der Anderen bloss eine Spiegelung der eigenen Freiheit. Kurz gesagt: Es ist unmöglich frei zu sein, wenn nicht alle um dich herum auch frei sind.
Die Anarchist/innen lehnen die liberale Vorstellung vom Individuum ab. Diese ist in der christlichen Idee verwurzelt, dass die Menschen nicht durch die Gesellschaft entstanden sind, sondern von Gott ausserhalb und unabhängig der Gesellschaft geschaffen wurden. Folglich sieht das liberale sozialdemokratische Denken die Menschen als vorgesellschaftlich an. Es sei nicht die Gesellschaft, die den Menschen hervorbracht hat, sondern die Menschen hätten die Gesellschaft geschaffen. In diesem Denken ist die Gesellschaft nur eine lose Ansammlung von Einzelnen, die zusammenkommen, um besondere Aufgaben (wie Arbeit) zu erfüllen. Für die Liberalen ist die wichtigste Aufgabe der Gesellschaft, dass die Freiheit der Einzelnen beschränkt wird. Dies geschehe, weil unser freier Wille durch das reine Selbstinteresse angetrieben werde. Er würde uns dazu bringen die Anderen anzugreifen, um unsere unmittelbaren Bedürfnisse zu befriedigen. Daher müsse also ein "Gesellschaftsvertrag" zwischen den Menschen eingehalten und durchgesetzt werden. Dafür müsse der Staat geschaffen werden, als eine "äussere Autorität" zur Regelung der menschlichen Beziehungen. Die liberale Theorie folgert: Würde man diese Autorität entfernen, dann würden wir zu unserem natürlichen Zustand zurückkehren und das Chaos würde ausbrechen. Daher ist das liberale sozialdemokratische Denken auf einer Vorstellung von Individualismus begründet, die die Gesellschaft als einen Vertrag ansieht, damit wir uns nicht gegenseitig zerfleischen.
Der Anarchismus allerdings hält eine weitaus vielschichtigere Sicht auf die menschliche Gesellschaft dagegen. Eine Sicht, die die Menschen als ein Ergenbis der Gesellschaft betrachtet, ohne die sie nicht leben könnten. Wir behaupten, dass die Menschen nur aus dem Zustand der [natürlichen] Brutalität herausgetreten sind, weil sie ihre Organisation und Arbeit gemeinsam gestaltet haben. Dadurch waren die Menschen in der Lage die Bedingungen zu schaffen, die ihre gegenseitige Gleichberechtigung ermöglicht haben. Mit anderen Worten: Die Menschen können nur durch die Gesellschaft menschlich und gleichberechtigt werden. Menschlichkeit wird also durch die Gesellschaft geschaffen und nur durch die Gesellschaft werden wir menschlich. Ausserhalb der Gesellschaft ist der Mensch nicht menschlich, allein und nur in der Lage mit sich selbst zu sprechen und sich selbst bewusst zu sein. Menschen können sich ihrer selbst nur innerhalb der Gesellschaft (und nur durch das gemeinsame Handeln der gesamten Gesellschaft) bewusst werden. Nur durch gemeinsame und soziale Arbeit sind wir von der Last der äusseren Natur befreit. Nur diese Arbeit kann unsere Umwelt der Entwicklung der Menschheit anpassen. Bildung und Übung sind also in erster Linie soziale Funktionen. Vereinzelte Individuen können daher unmöglich ihrer Freiheit bewusst werden. Die Vorstellung, dass die soziale Revolution durch die Kontrolle über den Staat entstehen könne, vertraut vollkommen auf die marxistische Lehre der wirtschaftlichen Vorherbestimmung [Determinismus]. Sie geht von der Annahme aus, dass die Natur eines Wirtschaftssystems auch die Natur der ganzen Gesellschaft bestimmt. Daher seien die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen von der Wirtschaft bestimmt. Um also diese Bedingungen zu ändern, müsse man [nur] die Wirtschaftsweise ändern. Und so würde der eigentliche Akt der Abschaffung des Kapitalismus durch die Arbeiter/innen und die Übernahme der wirtschaftlichen Kontrolle automatisch die Ausbeutung beenden und soziale und politische Gleichheit hervorbringen.Diese Lehre von der Vorherbestimmung wurde auch auf die marxistischen Staatstheorien übertragen. Der Staat wird als Handlanger der herrschenden wirtschaftlichen Klasse angesehen, der die Gesellschaft in deren Sinn verwaltet. Wenn der [private] Kapitalismus erst einmal abgeschafft und die Wirtschaft in gemeinsamem Besitz wäre, dann würde der Staat zu einem Werkzeug der Arbeiter/innen werden. So könnte mit der [staatlichen] Verwaltung der Wirtschaft im Sinne der Arbeitenden begonnen werden.Ein weiteres marxistisches Argument ist, dass ja der Staat am Anfang die Wirtschaft kontrollieren müsse, da die Arbeiter/innen nicht das Fachwissen hätten, um die Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Die Marxist/innen sehen diese "Diktatur des Proletariats" nur als eine "Übergangszeit" an. Währenddessen müssten die Arbeitenden angelernt werden, um die Gesellschaft [irgendwann] selbst am Laufen zu halten. Im Sozialismus würde der Staat eines Tages also überflüssig werden und [von alleine] absterben.
Die marxistischen Staatsvorstellungen hatten sich über die Jahre hinweg vom kruden Determinismus des 19. Jahrhunderts weiterentwickelt. Diese Vorherbestimmungslehre hatte die deutsche Sozialdemokratische Partei [SPD] zu ihrem Programm geführt, dass "die Eroberung der politischen Macht die unerlässliche Bedingung für die wirtschaftliche Emanzipation des Proletatiats" sei. Sie musste sich weiterentwickeln, besonders nachdem die russische Revolution [1917] die Eroberung der Staatsmacht durch eine hochorganisierte marxistische Partei [Bolschewiki] hervorgebracht hatte.Was danach [in der Sowjetunion] geschah, bestätigte nur die schlimmsten Befürchtungen, die die Anarchist/innen gehabt hatten. Ein totaler Staat wurde errichtet, der letztlich [1989] an seinen inneren Widersprüchen zusammengebrochen ist.Dies hat die marxistischen Theoretiker/innen dazu geführt, alle möglichen Änderungen und Weiterentwicklungen der ursprünglichen marxistischen Idee zu entwickeln. Von [dem Bolschewisten] Lenin bis zu den modernen Denker/innen haben sie alle die Quadratur des Kreises versucht. Sie wollen erklären, wie sowas in Zukunft nicht mehr passieren könne. Aber die Grundlage ihrer Ideen ist immernoch die unverrückbare Vorstellung, dass die Staatsmacht auf dem einen oder anderen Weg erobert werden müsse. Und dafür brauchen sie eine politische Partei.
Der Anarchosyndikalismus wurde entwickelt als eine Alternative zu den politischen Parteien und der Übernahme der Staatsmacht (und entgegen der Kritik, dass der Anarchismus keine funktionierende Alternative vorschlägt). Diese eigenständige Bewegung baut auf den Grundsätzen von Solidarität, Gleichheit und Freiheit auf, die auch für eine zukünftige Gesellschaft vorgesehen sind. Staat und Kapitalismus muss etwas entgegengesetzt werden, aber das kann nur in einer Organisation geschehen, die den wirtschaftlichen und den politischen Kampf verbindet und nicht voneinander abtrennt.In einer anarchistischen Gesellschaft hängt die ganze Entwicklung der Einzelnen von der gemeinsamen Bereitstellung der nötigen Mittel ab und von der vollständigen sozialen und wirtschaftlichen Gleichheit. Daher wird die Weiterführung und Entwicklung der gemeinsamen Gesellschaft von der Fähigkeit der Einzelnen abhängen, an ihr vollkommen und gleichberechtigt teilzunehmen. Das Ziel ist die Entwicklung der gesamten Fähigkeiten [der Menschheit]. Ohne die Freiheit der Einzelnen bleibt die gesellschaftliche Gleichheit unerreichbar. Und ohne soziale Gleichheit kann es keine persönliche Freiheit geben. Anarchist/innen streben eine Form von Gesellschaft an, in der die Bedingungen für alle Individuen geschaffen werden, um alle ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Wenn die Einzelnen ihre vollen Möglichkeiten erreichen, werden sie die Summe des menschlichen Wissens erweitern. Dieses Wissen erweitert im Gegenzug die Möglichkeiten der Einzelnen.
Der Anarchosyndikalismus schlägt daher vor, dass die revolutionäre Gewerkschaft die Grundlage des Kampfes sein soll. Innerhalb der Gewerkschaft kann die arbeitende Klasse die Ideen und Möglichkeiten entwickeln, um den Wandel herbeizuführen. Dies würde Staat und Kapitalismus in einem andauernden wirtschaftlichen und politischen Kampf geradewegs etwas entgegensetzen. Gleichzeitig können so die Gewerkschaftsmitglieder in einer alternativen kulturellen und sozialen Struktur aktiv werden, in der die Ideen der neuen Gesellschaft heranwachsen können.Für Anarchist/innen ist die Überwindung des Kapitalismus der Ausgangspunkt, um die Bedingungen für Gleichheit zu schaffen. Vom Anbeginn der Revolution muss die Gesellschaft nach demokratischen Grundsätzen geformt sein, um das Ziel der sozialen Gleichheit zu erreichen. Anstatt dass die Revolution zu der Kontrolle über den Staat und damit zu Ungleichheit führt, muss die arbeitende Klasse die tatsächliche Gestaltung der Gesellschaft selbst übernehmen.
Daß die kapitalistische Marktwirtschaft eine Kapitalkonzentration mit sich bringt, wurde auch schon in den ökonomischen Theorien des letzten Jahrhunderts analysiert. Doch es war der Staat, der die nationalen Kapitale vor ausländischer Konkurrenz schützte, koloniale Einflußsphären, neue Absatzgebiete und den billigen Rohstofftransfer militärisch absicherte und sich dafür ausbezahlen ließ. Die Unterdrückung und Befriedung der innenpolitischen Opposition und freiheitlicher oder sozialistischer Bewegungen sollte sich das Kapital zumindest in den industriekapitalistischen Ländern etwas kosten lassen: in ihrem eigenen Interesse wurden Unternehmen besteuert, ArbeiterInnen gegen Krankheit und Alter geschützt und das Los der Arbeitslosen durch Versicherungsgelder und schließlich Sozialhilfe gerade so erträglich gemacht, daß Revolten vermieden werden sollten. Es war der Sozialstaat, durch den sich staatliche Organisation im 20. Jahrhundert grundlegend von der stärker repressiven Qualität des Staates im 19. Jahrhundert unterschied. Und selbst als der Konzentrationsprozeß des nationalen Kapitals und seine Expansion jäh gestoppt wurden dadurch, daß der deutsche Staat in diesem Jahrhundert zwei Kriege verlor, reorganisierte sich mit dem Kapitalismus auch wieder der Sozialstaat: die Weimarer Reichsverfassung kannte sogar soziale Grundrechte, während das Sozialstaatsprinzip in der Bundesverfassung von 1949 lediglich ein Postulat ohne nähere Bestimmungen ist, aber sich die BRD immerhin nach Art. 20 und 28 GG als "sozialer Rechtsstaat" definiert. (3) Manche rechtsstaatlichen IdealistInnen meinen in der gegenwärtigen Sozialstaatsdiskussion gar, der Sozialstaat könne gar nicht abgebaut werden, weil es einen Rechtsanspruch eines jeden Individuums auf Schutz vor Hunger und Obdachlosigkeit, auf unentgeldliche Krankenbehandlung und gar auf Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben gebe. (4) Sozialdemokratische und bürgerliche SozialwissenschaftlerInnen wie JournalistInnen haben den Sozialstaat wie übrigens auch den autoritären "Real-Sozialismus" als einen Mechanismus beschrieben, der gegen die reine Willkür des kapitalistischen Profitstrebens erfolgreich in Stellung gebracht werden konnte:"Wohlfahrtsstaat und Sozialismus haben dieselben Ahnen, im Prinzip dieselbe Ethik und schlagen denselben Staatsinterventionismus zur Lösung wirtschaftlicher Probleme vor. (...) Beide gehen von einem 'Recht auf Arbeit', 'Recht auf Wohnung', 'Recht auf Bildung', ja sogar möglichst einem 'Recht auf gewohnte Lebenshaltung' durch öffentliche Bereitstellung von Gütern, Dienstleistungen oder monetären Zuwendungen aus. Beide leben vom Widerspruch gegen den Markt, gegen das, was sie 'Egoismus' und 'Ellenbogengesellschaft' nennen." (5) Seit geraumer Zeit ist nun die Rede davon, daß der staatsinterventionistische Eingriff in die kapitalistische Wirtschaft zum Zwecke der sozialen Abfederung ihrer Folgen nicht mehr greife. Der Staatssozialismus ist 1989 quasi implodiert, doch auch der klassisch sozialdemokratische Sozialstaat in den westlichen Industriestaaten steckt spätestens seit der ersten Ölkrise 1973 in immer wiederkehrenden Krisen. Noch zu Zeiten der sozialdemokratisch geführten Regierung in Bonn begann die finanzielle Beschneidung jener sozialstaatlichen Leistungen, auf die gerade die SPD so stolz war. Gleichzeitig waren damit Steuererleichterungen für die Kapitalunternehmen zur Erhöhung von deren "Investitionsbereitschaft" und Forschungssubventionierungen verbunden. Kapitalistische Lobbyarbeit bis hin zu Korruptions- und Bestechnungsskandalen wie der Flick-Affäre sorgten dafür, daß der Staat die Gelder für seine Sozialleistungen von ArbeiterInnen und SteuerzahlerInnen beiholte - oder sie eben kürzte. Das Gerede vom "Sozialabbau" ist also nicht neu, sondern begleitet uns seit langen 25 Jahren - und ebenso lange währt der anpasserische, weitgehend erfolglose gewerkschaftliche Widerstand gegen die "Sparpolitik". Zynisch formuliert: gemessen an dem, wie lange schon Widerstand gegen den "Sozialabbau" geleistet wird, dürfte vom Sozialstaat schon längst nichts mehr übrig sein. Wo also liegt die spezifische Dramaturgie der Gegenwart? Warum werden auch AnarchistInnen immer mehr dazu gedrängt, nun auch den Sozialstaat zu verteidigen?
Der bekannte US-amerikanische Anarchist Noam Chomsky sieht die neue Qualität des Kapitalismus in dessen transnationaler Ausdehnung seit 1989 und vor allem in der Entkoppelung von Markt und Staat. Wie im 19. Jahrhundert ist das Kapital heute entfesselt und es gelingt dem Sozialstaat immer weniger, ihm Almosen abzutrotzen. Daher die ständig steigenden Gewinne der transnationalen Konzerne und die dagegen wie eine Schere aufklappende zunehmende Verschuldung der Staatshaushalte. Sozialstaatliche Politik rücke heute nicht mehr der Willkür des Kapitals zuleibe, sondern setze das kapitalistische Rollback von oben nach unten bis hinein in die Kommunalpolitik um. Als Beispiel nennt Chomsky u.a. die Politik des Bürgermeisters von New York, Rudolph Giuliani:"Reduktion der Besteuerung der Reichen ('sämtliche Steuersenkungen des Bürgermeisters nützen der Wirtschaft', bemerkte die New York Times im kleingedruckten Teil) und Erhöhung der Besteuerung der Armen (verborgen als Anstieg in den Tarifen für den öffentlichen Verkehr für Schulkinder und Werktätige, höhere Schulgelder an öffentlichen Schulen usw.). Verbunden mit tiefgreifenden Einschnitten bei öffentlichen Mitteln, die den allgemeinen Bedürfnissen der Bevölkerung dienen, sollte diese Politik den Armen helfen, anderswohin zu gehen, erklärte der Bürgermeister." (6) Wir brauchen gar nicht so weit zu blicken, um Vergleichbares bei den Sozialstaatsdiskussionen der BRD zu finden. Anfang April wurde etwa die weitere Senkung der Sozialhilfe vorgeschlagen, um das "Lohnabstandsgebot", den erklärten Unterschied zwischen Lohnniveau und Sozialhilfe, aufrechtzuerhalten. Wenn die Reallöhne sinken, werden nicht etwa von den riesenhaften Gewinnen der Unternehmen sozialstaatliche Abgaben eingefordert, sondern es wird an der sozialstaatlichen Absicherung der Bedürftigsten gekürzt. Das geht heute sogar soweit, daß angefangen wird, die Vermögensverhältnisse von SozialhilfeempfängerInnen festzustellen, weil deren Vermögen 2 500 DM nicht überschreiten darf. In England gibt es bereits Möglichkeiten, NachbarInnen anonym zu denunzieren, wenn sie als SozialhilfeempfängerInnen erkennbar über ihre Verhältnisse leben.Der Staat, so nicht nur Chomskys These, sondern etwa auch diejenige des sozialistischen Theoretikers Joachim Hirsch (7), sei zu wirtschaftlicher Steuerung gar nicht mehr in der Lage, er handle nur noch nach weltmarktabhängigen "Sachzwängen". Ein "nationaler Wettbewerbsstaat" entwickle sich im Zuge der bekannten "Standortdebatten", der sich dadurch auszeichne, daß er möglichst kapitalfreundliche Rahmenbedingungen biete - Sozialstaatsstandards zählen dazu nicht.Chomsky provozierte einen grundsätzlichen Streit mit dem Ökoanarchisten Murray Bookchin, weil er zwar langfristig an den libertären Visionen festhalten wolle, aber kurzfristig nahezu das Gegenteil für nötig halte: "Meine kurzfristigen Ziele liegen in der Verteidigung und sogar Stärkung von Elementen der Staatsautorität, die, obwohl in grundlegender Weise illegitim, gerade jetzt von kritischer Notwendigkeit sind, um den heftigen Anstrengungen, den bei der Ausdehnung von Demokratie und Menschenrechten erreichten Fortschritt 'zurückzurollen', zu begegnen. (...) Ich denke, daß in der heutigen Welt die Ziele eines engagierten Anarchisten darauf gerichtet sein sollten, einige der Staatsinstitutionen gegen den Angriff auf sie zu verteidigen und dabei gleichzeitig zu versuchen, sie für mehr tatsächlich relevante Teilnahme der Öffentlichkeit zu öffnen." (8) Chomsky will durch das Erlernen demokratischer Kontrolle unter öffentlichem Schutz letztlich dazu vordringen, demokratische Kontrolle dereinst auch wieder auf den wirtschaftlichen Bereich auszudehnen.
An Chomskys Argumentation sind meines Erachtens mehrere Widersprüche ganz offensichtlich. Wenn es tatsächlich eine Entkoppelung von willkürlich agierendem Marktradikalismus und Staat gibt, der Staat also sowieso wirtschaftlich keine Eingriffsmöglichkeiten mehr hat, warum dann den Sozialstaat überhaupt verteidigen? Gerät libertäre Politik auf diese Weise nicht in sozialdemokratisches Fahrwasser und droht, darin unterzugehen? Heraus kommt bei solchen kurzfristigen Taktiken letztlich doch nur die Renaissance der Staatlichkeit im Bewußtsein der Beherrschten:"Letztlich geht es um eine Theorie des Verhältnisses von Markt und Staat unter den Bedingungen kapitalistischer Globalisierung. In einer eigentümlichen Schlichtheit der Analyse wird der Kollaps der politischen Regulation konstatiert und Staatlichkeit lediglich neu eingefordert. Auf diesem Weg wird die Idee einer allein durch Staatlichkeit konstituierbaren Gesellschaft transportiert." (9) Ein zunächst noch als undemokratisch beschriebener Staat soll unter dem Schutz zu verteidigender sozialstaatlicher Institutionen gerade demokratisiert werden und diese Demokratie dann auf den wirtschaftlichen Bereich ausgedehnt werden. Einmal davon abgesehen, daß das Militär und die patriarchale Familie ebenso ihrer Demokratisierung harren wie die Wirtschaft: hier wird das Bewußtsein auf die potentiell soziale und freiheitenschützende Funktion des Staates gerade hingelenkt und dort verankert. Doch das ist keineswegs neu, sondern war bereits Bestandteil libertärer Kritik des Sozialstaats.Der Anarchismus des 20. Jahrhunderts hatte es im Gegensatz zu seiner ersten Phase als Massenbewegung im 19. Jahrhundert nicht mehr nur mit primär unterdrückenden Funktionen des Staates zu tun, die den Haß auf den Staat leicht erzeugten. Nun, im 20. Jahrhundert, war der Anarchismus gerade mit der Sozialstaatsfunktion konfrontiert. Bereits manche Diskussionsbeiträge innerhalb der FAUD, der anarchosynidkalistischen Gewerkschaft der 20er Jahre, etwa Rudolf Rockers "Der Kampf ums tägliche Brot" von 1935 (10) versuchten, sich dem Problem zu stellen. In den 50er Jahren befaßten sich u.a. Helmut Rüdiger und die ihn beeinflussenden Diskussionen der schwedischen libertären Gewerkschaft SAC mit dem "Freiheitliche(n) Sozialismus im Wohlfahrtsstaat", so der Titel einer ins Deutsche übersetzten Broschüre von Evert Arvidsson. Überhaupt zu berücksichtigen, daß der Staat im 20. Jahrhundert von den meisten Menschen in den Industrienationen nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen wird, wurde schließlich auch Ausgangspunkt graswurzelrevolutionärer Analysen, etwa zu "Staatlichkeit und Anarchie heute":"Da der Staat mehr und mehr gesellschaftliche Schutzfunktionen übernommen hat, erscheint er als einziger Garant von Schranken gegen eine schrankenlose Willkür privater und partikularer Gewalten, als Schützer der Schwachen, der Natur ... - gerade gegen den ökonomischen Expansionismus und die autoritäre Politik, die er tatsächlich verkörpert." (11) Die Frage war aber weniger, ob der Anarchismus dieses Problem thematisierte, sondern wie er darauf reagierte, reformistisch (Chomsky, aber auch schon Rüdiger) oder doch auf eine neue Weise revolutionär? Denn immerhin gab es ja auf dem Höhepunkt funktionierender Sozialstaatsmechanismen den Pariser Mai von 1968 und die neuen sozialen Bewegungen, die in den frühen 70er Jahren mit Frauen- und Anti-AKW-Bewegung begannen und viele neue, gewandelte, trotzdem anarchistische Elemente, kulturelle Formen (von Hippie bis Punk), Gruppen und Aktions- bzw. Organisationsformen entwickelten. Warum konnte sich der Anarchismus durch und während der Hochzeit des Sozialstaates, die - wie wir wissen - immer kurz vor dem Fall kommt, so vergleichsweise frisch und rundumerneuert präsentieren? Nicht weil soziale Absicherung etwa vom Anarchismus bekämpft worden wäre - das traf keineswegs auch nur den Ansatz eines gesellschaftlichen Bedürfnisses in den Industrienationen. Sondern weil sich zeigte, daß im Sozialstaat nicht tatsächliche Demokratie, Basisdemokratie oder ähnliches verwirklichbar war, sondern daß der Sozialstaat im Kern bürokratisch war, zu einer Enteignung von Subsistenz- und Selbstorganisationsfähigkeiten führte und vor allem: weil finanzielle Zuwendung immer und unmittelbar mit sozialer Kontrolle verknüpft war. Die Bürokratisierung des Sozialstaats basierte auf kontrollpolitischen Erfassungen wie Volkszählung, Rasterfahndung, Registrierung, Verrechtlichung aller Lebensbereiche. Je differenzierter die gesellschaftliche Organisation, je bürokratischer der Apparat, der die Chose am laufen hielt, desto hysterischer die Reaktion auf oppositionelles Verhalten, das irgendwo einen Keil in die verzahnten Abhängigkeiten treiben konnte. Atomstaat, Polizeistaat, "Sicherheitsstaat" (Joachim Hirsch in den 70er Jahren) waren die unabwendbaren Begleiter des Sozialstaats selbst auf dem Höhepunkt seiner Ausformung.
Nun ist es allerdings so, daß die Funktionen der Staatlichkeit gegenwärtig keineswegs gegen Null tendieren, nicht mal auf dem Sektor des wirtschaftlichen Staatsinterventionismus: daß etwa die USA seit 1992 eine wirtschaftliche Blockadepolitik gegen Kuba fährt, wo Kuba doch gerade Handel treiben und seinen Markt wie China öffnen will, daß jüngst Gesetze gegen Investitionen im Iran und in Libyen verabschiedet wurden oder auch politische Manöver gegen China den Wirtschaftsinteressen der US-Konzerne ungelegen kommen, weist zwar auf eine intakte ideologische Funktionsfähigkeit des US-Staates hin. Auch in der BRD wird zukünftig die militärische Absicherung nationaler und wirtschaftlicher Interessen durch die Bundeswehr die Funktionen des Staates eher ausweiten als reduzieren. Schließlich zeigt die Renaissance des Nationalismus im Krieg von Ex- Jugoslawien, daß staatliche Rahmenbedingungen heute wichtiger denn je sind, um etwa einen relativen Wohlstand von EU-Randgebieten wie Slowenien und Kroatien mit sicherem, deutschfreundlichem Investitionsklima von wirtschaftlich und sozial "wertlosen" Gebieten wie Albanien abzugrenzen.Bei der gegenwärtigen Diskussion um eine anarchistische Unterstützung des Kampfes gegen "Sozialabbau" geht es also nicht um obsolet gewordene staatliche Funktionen, und auch nicht um die Sinnhaftigkeit sozialer Absicherungen. Solange die Selbstverwaltungs- und Selbstorganisationsfähigkeiten des Großteils der Bevölkerung so verkümmert und gering sind wie in der BRD heute, ist die finanzielle Absicherung durch sozialstaatliche Restbestände einer rechtsnationalistischen Organisierung der Opfer in Rackets selbstverständlich vorzuziehen. Und auch für die USA ist die anarcholiberalistische Kritik des Sozialstaats der "Libertarians" meines Erachtens mit Chomsky durchaus als zynisch gegenüber den Opfern zu bezeichnen. (12) Die Alternative Sozialstaat oder anarchistische Selbstorganisation ist falsch, aber auch der von Chomsky ausgemachte Widerspruch kurzfristiger Ziele versus langfristiger Visionen ist falsch - und er war es schon immer: als die US- ArbeiterInnen im 19. Jahrhundert für den 8-Stunden-Tag agitierten, sorgten die Libertären dafür, daß durch die direkte Aktion und die Formen der dabei sich entwickelnden Selbstorganisation das kurzfristige Ziel nicht als Widerspruch, sondern als Teil, als Zugeständnis, als Vorbereitung auf die Vision "freiheitlicher Sozialismus" verstanden wurde. Die libertäre Differenz zur sozialdemokratischen Verteidigung des Sozialstaats liegt in der strategischen Perspektive, die sich aus unterschiedlichen Kampf- und Organisationsformen ergibt. Dazu gehört es allerdings, mit anarchistischem Selbstbewußtsein gerade an denjenigen Punkten aufwarten zu können, an denen die Gewerkschaften gemeinhin kapitulieren, etwa wenn Betriebe nicht mehr auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sein können oder Unternehmensverbände mit Kapitalabwanderung drohen. Ein libertäres Selbstbewußtsein unter ArbeiterInnen und Arbeitslosen würde auf solche Drohungen hin nicht kleinbeigeben oder in nationalistische oder rassistische Regression verfallen, sondern Vertrauen in die bei sozialen Kämpfen entdeckten und entwickelten Selbstverwaltungsfähigkeiten fassen: soll das Kapital doch abwandern, wir bleiben hier!Davon sind wir durch die bürokratisch-entmündigende Form gewerkschaftlichen Protestes gegen "Sozialabbau" heute weit entfernt. Dabei ist es durchaus möglich, daß sich die auseinanderklaffende Schere zwischen Kapitalprofiten und staatlicher Verschuldung weiter öffnet, vielleicht sogar in einen Crash oder einen Krieg - etwa mit islamistischen Ländern - mündet. Das bewußtlose Publikum kann mit den uns AnarchistInnen so skandalös ungerecht erscheinenden Tendenzen der Kapitalkonzentration nichts anfangen: die Mystifikationen milliardenschwerer Gewinne transnationaler Konzerne werden solange nicht durchschaut wie ein gewisses Niveau individuellen Lebensstandards gesichert bleibt, wenn es sein muß auf Kosten der Natur, der Frauen, der ImmigrantInnen, der Menschen in der "Dritten Welt". Wenn es allerdings zu plötzlichen Staatspleiten wie in Albanien kommt oder anderweitig Privilegien durch plötzliche Schläge weggefegt werden, kann die trügerische Ruhe sehr schnell kippen. Strategisch geht es um die Frage, wohin sich das Bewußtsein der Opfer des laufenden Prozesses orientiert: hinein in die Staatlichkeit, in die entmündigte Abhängigkeit, die, wenn der Sozialstaat tatsächlich zusammenbricht, nur den Ausweg zu Willkür, Rackets, individualistisch-bornierter wie nationalistischer Überlebenssicherung, notfalls durch bewaffnete Gruppen oder mafiose Strukturen wie etwa in Rußland, zuläßt. Oder: hinaus aus der Staatlichkeit durch die anarchistische Vorbereitung dafür, den Sturz aus dem Sozialstaat aufzufangen, zu mildern und den Widerstand gegen die wirklich Schuldigen zu organisieren. Nicht unter staatlichem Schutz - wie Chomsky meint - kann das Einüben basisdemokratischer Fähigkeiten gedeihen, sondern gerade außerhalb und dagegen. Wenn Chomsky meint, das gegenwärtige Rollback versetze die Menschen in die Lage, in der sie im 19. Jahrhundert schon einmal waren, dann kann anarchistische Politik gerade nicht in der "Stärkung von Elementen der Staatlichkeit" bestehen, sondern in dem Beginnen von Bewußtseinsarbeit für die radikale Alternative zum Sozialstaat. Wir brauchen eine neue Strategie der anarchistischen "Eroberung des Brotes", wie Kropotkin sie genannt hatte. Anarchistische Selbstverständlichkeiten des 19. Jahrhunderts müssen zwar nicht platt auf heute übertragen, aber doch in ihrer Gerechtigkeit und ihrer damaligen Selbstverständlichkeit überhaupt wieder ins Gedächtnis und Denken der Menschen geholt werden. Im Mittelpunkt steht die Propaganda für die Idee der Expropriation, die sozialistische Enteignung - im Gegensatz zur autoritär-kommunistischen Verstaatlichung. Es ist m.E. Aufgabe der AnarchistInnen, die Expropriation überhaupt erst wieder denkmöglich zu machen. Nehmen wir zum Beispiel die Unentgeldlichkeit der Wohnung. Kropotkin hat das Bewußtsein dafür auf folgende Weise geschärft:"Das Haus ist nicht vom Eigentümer erbaut worden; es ist aufgerichtet, geputzt, tapeziert worden von Hunderten von Arbeitern... (...) Der Wert eines Hauses in bestimmten Vierteln von Paris beträgt eine Million, nicht weil es für eine Million Arbeit enthält, sondern weil es in Paris liegt; weil seit Jahrhunderten Arbeiter, Künstler, Denker, Gelehrte und Schriftsteller ihre Mühen vereinigt haben, um Paris zu dem zu machen, was es heute ist... (...) Wer hat da das Recht, den kleinsten Teil dieses Terrains oder das letzte der Häuser sein Eigen zu nennen, ohne eine schreiende Ungerechtigkeit zu begehen? Wer hat da ein Recht, das kleinste Teilchen des gemeinsamen Erbteils zu verkaufen, an wen es auch sei?" (13) Dasselbe wäre über Bekleidung, Nahrungsmittel, medizinische Versorgung und schließlich Besitzverhältnisse von Produktionsmitteln allgemein zu sagen. Dies gilt es, zunächst einmal wieder als Idee unter die Bevölkerung zu bringen. Warum sollten durch "Sozialabbau" Betroffene, die sich kein Haus und keine teure Mietwohnung mehr leisten können, nicht zum Mittel der Hausbesetzung greifen, wenn die Zeit reif ist? Es kommt darauf an, diese Ideen jetzt zu verbreiten, sonst treffen kommende Brüche alle so unvorbereitet wie 1989, als die massenhafte Umbruchssituation schneller kam als alle vermuteten, aber die Inhalte der Ökologie- und Oppositionsgruppen so wenig verbreitet und Basisdemokratie so wenig eingeübte Praxis war, daß westliche Ideologien leichtes Spiel hatten - nur daß es jetzt wahrscheinlich regressive, chauvinistische und militaristische Ideologien (wie etwa in Albanien, wo sich militaristische, mafiose und emanzipative Elemente auf noch unübersehbare Weise vermengen) sein werden. Das heißt nicht, daß gewerkschaftlicher Widerstand gegen "Sozialabbau" von AnarchistInnen bekämpft werden soll, er kann sogar Zeit für die jetzt notwendige libertäre Bewußtseinsarbeit bringen. Aber gerade für die kurzfristige anarchistische Taktik ist keine Zeit mit Staatlichkeitshirngespinsten mehr zu verlieren. Kropotkin, um nochmal beim Beispiel der Wohnung zu bleiben, meinte, das Opfer der Eigentumsverhältnisse sollte "wissen, daß eine Mietsfreiheit nicht allein die Folge einer zufälligen Desorganisation der exekutiven Macht sein darf (wie etwa 1989, als es zu zeitweiligen Massenhausbesetzungen in Berlin und anderen ostdeutschen Städten kam, d.A.). (Es) muß wissen, daß die Unentgeldlichkeit der Wohnung im Prinzip anerkannt und ... gewissermaßen sanktioniert ist..." Die RevolutionärInnen müßten "darauf hinarbeiten, daß die Expropriation der Häuser eine vollendete Tatsache wird. Sie sollten darauf hinarbeiten, daß der allgemeine Ideengang eine derartige Richtung annimmt..." (14)Und selbst wenn dereinst aus solchen Ideen erwachsende Bewegungen Niederlagen gegen die militärische Macht erleiden sollten, dann könnte daraus als Zugeständnis immer noch eine Renaissance des Sozialstaats entstehen. Der Sozialstaat war nämlich von Anfang an Zugeständnis an besiegte und unterdrückte soziale, sozialistische oder libertäre Bewegungen: die Bismarck'sche Sozialgesetzgebung wäre undenkbar ohne die Sozialistengesetze. Und ohne die entmachtete Résistance gäbe es heute in Frankreich keine umlageorientierte Sécu mit gewerkschaftlicher Verwaltung der Kranken- und Rentenkassen und Pensionspflicht der Unternehmer für ihre entlassenen ArbeiterInnen - die ganzen sozialen Kämpfe in Frankreich gehen um staatliche Pläne zur Destruktion dieser stärker staatsentkoppelten Sozialversicherung. Wer wirklich kämpft, kann verlieren, wer wie die Gewerkschaften in der BRD im Interesse nationaler Standortsicherung nicht kämpfen will, hat schon verloren.
In den Ländern der westlichen Welt waren die sozialen Gegebenheiten nach dem Zweiten Weltkrieg nur schwer vergleichbar mit jenen von 1918. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Arbeiterschaft sehr selbstbewusst hervorgetreten, die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften wuchsen sprunghaft an, eine Reihe sozialpolitischer Erfolge konnte so errungen werden. Die weit reichenden Emanzipationshoffnungen waren geweckt durch die Einflüsse der Russischen Revolution und der Rätesysteme in Deutschland bzw. Ungarn. In Italien kam es zu zahlreichen Unruhen und Streiks, die ihren Höhepunkt im Herbst 1920 erreichten, als die Arbeiterinnen und Arbeiter die Fabriken in den Industriebezirken besetzten. Im ländlichen Raum wurden zahlreiche Güter von der Landarbeiterschaft übernommen und in Kooperativen umgewandelt. Ein dichtes Netz sozialistischer Konsumgenossenschaften sorgte für die Verteilung der produzierten Güter. Auch in Österreich standen Betriebsübernahmen durch die Arbeiterschaft und die Sozialisierung von Unternehmen auf der Tagesordnung. (Abendroth 1975, S. 87ff)Völlig anders hingegen gestalteten sich die Dinge nach 1945. Dem Faschismus war die weitgehende Zerschlagung der Arbeiterbewegung gelungen. Im Vordergrund stand für die Menschen der ökonomische Wiederaufbau, an den in den 1950er Jahren das so genannte Wirtschaftswunder anschloss. Das Investitionsklima gestaltete sich bis in die 1960er Jahre günstig, der Kapitalstock wuchs, die Arbeitslosigkeit blieb gering, inflationäre Prozesse hielten sich in Grenzen. Mit der Modernisierung der Wirtschaft fand der Fordismus – gekennzeichnet durch ein steigendes Lohnniveau, einem in Gang kommenden Massenkonsum, sozialstaatliche Absicherungsmaßnahmen und garantierte Wohlfahrtsrechte – seine Ausbreitung. Vieles schien nun möglich, mit dem Einrücken smarter Technokraten in die Schaltstellen der Gesellschaft wurde der Fortschrittsglaube zu einer Art neuer Religion. (Senft II, S. 9f)Die in der Zwischenkriegszeit noch lebendige Kultur des libertären Sozialismus gehörte ohne Zweifel zu den Opfern der faschistischen Ära: „Verfolgung, Vertreibung, Deportation, Gefängnis, Hinrichtungen und die hohen Opfer im Widerstand hatten die Zahl aktiver Anarchisten dahinschmelzen lassen.“ (Stowasser 1995, S. 332) Eine größere libertäre Restinsel bestand in Südwestfrankreich, wohin sich zahlreiche Überlebende der Spanischen Revolution der 1930er Jahre zurückgezogen hatten. Exilgruppen der spanischen Anarchosyndikalisten fanden sich auch in Nordafrika, in Australien oder in Lateinamerika. In Italien verhinderten interne Querelen und Fraktionskämpfe eine Wiederbelebung der unter Mussolini verbotenen Organisationen. Wichtige Impulse kamen jedoch aus Großbritannien, aus den Niederlanden und der Schweiz sowie aus den Vereinigten Staaten. Eine zentrale Rolle spielte Schweden, wo die 1910 gegründete syndikalistische Sveriges Arbetares Centralorganisation (SAC) mit ihren etwa 30.000 Mitgliedern auf eine stetig gewachsene Infrastruktur zurückgreifen konnte. Von der „Auslandshilfe“ der SAC profitierte vor allem der Anarchismus in Deutschland. Dort bemühten sich versprengte Libertäre im Rahmen der Föderation Freiheitlicher Sozialisten (FFS), der Nachfolgeorganisation der alten Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD), um eine inhaltliche und organisatorische Neuorientierung. (Stowasser 1995, S. 331ff)
Die gesellschaftlichen Veränderungen fanden auch im anarchistischen Wirtschaftsdenken nach 1945 ihren Niederschlag. So stellt Augustin Souchy fest, dass der westliche Kapitalismus durch vermehrte staatliche Eingriffe und Fördermaßnahmen wie dem US-Marshallplan eine erstaunliche Regenerationsfähigkeit entwickelt habe und daher mit einem „Zusammenbruch“ im Sinne marxistischer Theoretiker so bald nicht gerechnet werden könne. (Souchy I, S. 25ff) Der in den Vereinigten Staaten sesshaft gewordene Rudolf Rocker zeigt sich überzeugt, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem jedoch nichts von seiner negativen Dynamik eingebüßt habe. Besonders in der Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten und im ausgedehnten Rohstoffbedarf der industrialisierten Länder sieht er eine weiterhin schwelende Kriegsgefahr. Die Unfähigkeit der westlichen Welt, geeignete Umgangsformen mit ehemaligen Kolonien in Afrika, Asien oder Lateinamerika zu entwickeln, betrachtet Rocker als zusätzlichen Faktor der Instabilität. (Rocker I, S. 13f) Es gehe nun darum, so Rocker, sich von konfliktträchtigen ideologischen Mustern wie dem Malthusianismus („Der Tisch ist nicht für alle gedeckt“) und dem Sozialdarwinismus („Kampf ums Dasein“) zu verabschieden, um mit den vorhandenen Ressourcen einen vernünftigen „Wohlstand für Alle“ sicherzustellen. Keine andere Form menschlichen Handelns bringe eine solch gewaltige sinnlose Verschwendung hervor wie der Krieg. (Rocker I, S. 15)Interessant ist die Einschätzung des Kapitalsektors bei Rudolf Rocker. Kapital, so führt er aus, sei nicht mehr und nicht weniger als „vorgeleistete Arbeit“, kombiniert mit den vorhandenen natürlichen Ressourcen. Jedes moderne ökonomische System sei auf Kapital angewiesen, zu verurteilen seien jedoch die ungleich verteilten Verfügungsrechte, was zu einer einseitig orientierten Profitwirtschaft, zur Ausbeutung der „Have-Nots“ führen müsse. (Rocker I, S. 16) Fritz Linow präzisiert: Nicht erst „die Trusts und Kartelle, die Preisabreden und Marktregelungen“, sondern bereits das „unhaltbare private Besitzrecht an den Produktionsmitteln macht die Wirtschaft zur Monopolwirtschaft“. (Linow II, S. 3)In derartige Überlegungen einbezogen werden auch die mit der Umwälzung der Eigentumsverhältnisse (Stichwort: Shareholder) und Entscheidungsbefugnisse (Stichwort: Manager) verbundenen Tendenzen in Richtung großbetrieblicher Strukturen und Zusammenhänge. Helmut Rüdiger bezieht sich in seinen Betrachtungen auf den US-amerikanischen Autor James Burnham, der im Juni 1941 sein Buch „The Managerial Revolution“ vorgelegt hatte. (Rüdiger II, S. 51) Burnham behauptet darin die Entstehung einer Gesellschaftsformation, in der Manager und technische Experten als neue „herrschende Klasse“ auftreten. Das Managementprinzip – so seine Prognose – werde sich auf allen Ebenen durchsetzen und zur einer „total verwalteten Gesellschaft“ führen. (Burnham 1951, S. 42f) Während Ökonomen wie Joseph A. Schumpeter (1980, S. 213ff) Veränderungselemente wie dieses als Mittel einer effizienter organisierten Wirtschaft und als Vorbote eines „sozialistischen Systems“ deuteten, warnten die Anarchisten vor überhand nehmenden Kontrollzwängen in der Gesellschaft. (Rüdiger III, S. 74)Unisono wird auf libertärer Seite davor gewarnt, sich im Diskurs um den Sozialismus rein auf die „Magenfrage“ zu beschränken. Das sozialistische Denken habe primär zu tun mit den Ideen der Gleichheit und der sozialen Integration, mit den Zielen eines selbstbestimmten Lebens und dem allseitigen Wohlbefinden des Individuums in der Gesellschaft. „Sozialismus“, so stellt Fritz Linow fest, „ist die Vereinigung der Produzenten in genossenschaftlichem Geist und ein System der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten, welches in echter Demokratie den Bürger in einer zweckentsprechend gegliederten Gemeinde zum Träger der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Initiative macht.“ (Linow IV, S. 48) Die von anarchistischer Seite vorgeschlagene selbstverwaltete Gesellschaft besteht somit als ausdrücklicher Gegenentwurf zum Technokraten-Modell à la Schumpeter. Vergleichbar den staatskapitalistischen Systemen in Osteuropa gerate die Gesellschaft unter technokratischen Bedingungen mehr und mehr in den Vormundschaftsbereich einer Managerelite, die – getrieben vom kapitalistischen Profitmotiv – jede Lebensäußerung zentralistisch und bürokratisch zu erfassen versuche. – Ein neuer Totalitarismus sei die Folge. (Linow V, S. 53)Dass auch in den Gewerkschaften das den ursprünglichen Ideen der Arbeiterbewegung zuwiderlaufende Managementprinzip Einzug gehalten habe, muss in einem Umfeld, das noch von den Traditionen des Syndikalismus und des Gildensozialismus geprägt ist, als besonders bedenklich eingestuft werden. (Linow II, S. 11f) Funktionäre systemkonformer Gewerkschaften – so zeigt sich Fritz Linow überzeugt – seien inzwischen Teil einer zentralistischen Unterwerfungsordnung geworden; kein „Mitbestimmungsrecht“ könne darüber hinwegtäuschen. (Linow III, S. 10, 12) Nicht eine statistiklastige „Kommandowirtschaft“ könne das Ziel sein, bekräftigt Rocker im Gedankenaustausch mit Linow, sondern eine ökonomische Ordnung, die Gestaltungsfreiheit, Raum für Experimente sowie die Begegnung von Produzenten und Konsumenten unter herrschaftsfreien Bedingungen ermögliche. (Rudolf Rocker im Brief an Fritz und Lisa Linow vom 29. 8. 1949, S. 5, Archiv: Hans Jürgen Degen) „Dezentralisation und Föderalismus in der Wirtschaft, auf jedem Gebiete des sozialen Lebens, ist heute das Gebot der Stunde.“ (Ebd., S. 4) Solche Ausführungen sind jedoch nicht als Absage an planwirtschaftliche Elemente zu lesen. Rudolf Rocker: „Wie man kein Haus bauen kann, ohne einen bestimmten Plan zu haben, so ist auch das Wirtschaftsleben ohne Planung nicht denkbar.“ (Ebd., S. 6) Aber, ergänzt Linow, „wir verstehen unter Planwirtschaft etwas anderes als die kapitalistischen Konzernpolitiker und die Machthaber des Ostens. Wir verstehen darunter eine Wirtschaft, in der nicht der Mensch zum Sklaven der Planung wird, sondern wo die Planung bei den Bedarfsträgern beginnt, um an die Produktionsstätten weitergegeben zu werden. […] Bedarf und Erzeugung müssen miteinander in Übereinstimmung gebracht werden, und wenn die Erzeugung in Produktionsgenossenschaften geübt wird, dann dürfte es sich als notwendig erweisen, den Bedarf in den Verbrauchsgenossenschaften zu organisieren.“ (Linow I, S. 60)Die formulierten Vorstellungen wiesen durchaus Realitätsnähe auf, wie die Planification in Frankreich, eine spezifische Variante der Wirtschaftsplanung, seit 1946 zeigte. Diese hatte nichts gemein mit der Planwirtschaft in Osteuropa, sondern bestand in erster Linie aus einer mittelfristigen Finanz- und Investitionsplanung. Voraussetzung war, dass vor allem der Bankensektor unter öffentliche Kontrolle gestellt war. Im Gegensatz dazu blieben die Entscheidungsspielräume des Produktionssektors weitgehend unangetastet. Der erste 1946 verabschiedete Plan gab Prioritäten für Problembereiche wie Energie, Verkehr, Bauindustrie und Landwirtschaft vor. Mit wachsendem Erfolg wurde die Planification zu einem Aushängeschild des französischen Weges einer gelenkten Modernisierung. Ab Mitte der 1950er Jahre verlor die Planification zwar nach und nach an Bedeutung, als Ort des sozialen Dialogs oder als Prognose- und Beratungsstelle blieb sie jedoch bis 1974 erhalten. (Pütz 1979, S. 43ff)Im Gegensatz zur französischen Planification weist die libertäre Wirtschaftsprogrammatik deutlich stärker in Richtung dezentraler und föderalistischer Strukturen. Als relativ häufig zitiertes Referenzmodell taucht bei den Anarchisten nach dem Zweiten Weltkrieg die israelische Kibbuzökonomie auf. (Souchy II, S. 8) Wirtschaften beginnt im lokalen Rahmen, übergeordnete Zusammenhänge sind aber nicht weniger wichtig. Auf der Basis des Föderationsprinzips wird für Helmut Rüdiger (1949!) sogar ein vereintes Europa vorstellbar. (Rüdiger I, S. 64ff) „So viel Plan wie möglich – so viel Markt wie nötig“, scheint dabei das Motto der Libertären zu lauten. Ein völliger Marktverzicht sei jedoch auszuschließen, wie etwa der schwedische Syndikalist Bengt Hedin anmerkt. Marktwirtschaftliche Elemente hätten durchaus ihren Nutzen (z. B. Preis als Knappheitsindikator), nur dürfe der Markt nicht von kapitalistischen Produzenten beherrscht werden. In jedem Fall aber sei die Selbstregulierung des Marktes einem staatlichen Dirigismus vorzuziehen. (Hedin 1953, S. 24ff)
In der Literatur wird die anarchistische Lehre zumeist als ein Ideenkonglomerat mit einer gemeinsamen Zielausrichtung, nämlich der Herrschaftsfreiheit, beschrieben. Die Klassiker des Anarchismus zeigen hinsichtlich ihrer Wirtschaftsauffassungen ein breites Spektrum unterschiedlicher Denkansätze:
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wirkte vor allem das Proudhonsche Gedankengut ungebrochen weiter. War es doch der französische Anarchist gewesen, der in eine breite Auseinandersetzung mit der klassischen Nationalökonomie eingetreten war, und der die Basis einer den Anforderungen einer funktionellen Demokratie entsprechenden Wirtschaftsordnung geliefert hatte. Allerdings fehlte es nach 1945 an einer umfassenden Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen akademischen Wirtschaftslehre, die in einen temporeichen Prozess der Ausdifferenzierung eingetreten war (Arbeitsmarkttheorie, Außenwirtschaftstheorie, Geldtheorie, etc.). Man konnte und man kann den Wirtschaftswissenschaften vieles anlasten – etwa unrealistische Annahmen beim Menschenbild oder hinsichtlich der Markttransparenz, bedenkliche Gradmesser des Wohlstandes (z. B. Bruttosozialprodukt), mit dem Profitmotiv gekoppelte mechanistische Vorstellungswelten –, die Weichenstellung in Richtung Programmatik bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Theorie, das Ausklinken aus dem ökonomischen Diskurs stellte aber ein hausgemachtes Problem des libertären Lagers dar. Immer deutlicher zeigte sich, dass den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen nur begrenzt mit der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts begegnet werden kann. Personen wie der analytisch begabte Rudolf Rocker wurden immer mehr zu Ausnahmeerscheinungen. In den 1950er Jahren machte sich das Fehlen einer Nachfolgegeneration bereits schmerzlich bemerkbar; die anarchistische Bewegung drohte zu vergreisen.Erst im Gefolge des Jahres 1968 wurde wieder ein Auftrieb für die libertäre Ideenwelt spürbar. Was als Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg begonnen hatte, mündete in einen Kampf gegen das Autoritätsprinzip – insbesondere in den Bereichen Erziehung und Bildung –, gegen sexuelle Repression oder für Minderheitenrechte. In den Vereinigten Staaten, in Westeuropa, aber auch im sowjetischen Herrschaftsbereich setzten tief greifende gesellschaftliche Veränderungen ein. Das frisch entfachte Interesse am Anarchismus wurde von den Altanarchisten allerdings mit zum Teil erheblicher Skepsis aufgenommen. Die 68er-Bewegung verstand sich in erster Linie als Kulturbewegung, deren Zielausrichtung in ökonomischer Hinsicht jedoch nicht klar erkennbar war. Der Anarchismus wurde nun vielfach zu einem romantischen „Gefühls-Anarchismus“, dessen Unvereinbarkeit mit einem stringenten ökonomischen Theoriegebäude auf der Hand lag. Mit einer gewissen Folgerichtigkeit wurden Denkansätze benachbarter Strömungen als „Lückenfüller“ übernommen. So kam es auf der einen Seite zum Crossover zwischen „Bakunin“ und „Marx“, auf der anderen Seite erfolgte eine Annäherung an die Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells, dessen Anhängerschar überwiegend eine sozialliberale Orientierung angenommen hatte. (Senft I, S. 213ff)Freilich gab es noch die Analysen des Italieners Luciano Lanza, Herausgeber des Blattes „A-rivista anarchica“, der unermüdlich die Bedeutung des wirtschaftlichen Sektors betonte. Eine seiner zentralen Thesen lautet: Herrschaft ist als eine Art „anthropologische Grundkategorie“ zu betrachten. Das Prinzip der Herrschaft verfolgt den Menschen seine gesamte Geschichte hindurch, wobei herrschaftliches Handeln besonders in dem Bestreben zum Ausdruck kommt, innerhalb der Gesellschaft die strategisch „günstigste“ Position zu besetzen. So geht die Herrschaft heute weltweit von einem hegemonial positionierten ökonomischen Sektor aus. Nur von dort aus sei der einzelne Mensch uneingeschränkt zu kontrollieren, zu manipulieren und zu unterwerfen. (Lanza I und II)Angesichts solcher auf den ersten Blick nicht gerade ermutigender Einsichten war es wenig überraschend, dass der Utopismus wieder einen gewissen Zuspruch erlebte. Eine vor allem im deutschsprachigen Raum beachtliche Popularität erreichte der Entwurf „bolo’bolo“ des Züricher Ökonomen und Philosophen P. M., der an die Vorstellung einer aus vielen kleinen autonomen Gemeinschaften bestehenden Welt anschließt: „bolo“ steht für eine sich selbst versorgende Kommune, „bolo’bolo“ für ein Netz derartiger Gemeinschaften, wobei die „bolos“ auf Tauschbasis miteinander verkehren. Unzweifelhaft ist der Autor von der Selbstorganisationsfähigkeit der Gesellschaft und von der Möglichkeit einer gemeinsamen Regulation der Märkte überzeugt. Grundlage der politischen Entscheidungsfindung ist nach P. M. die Vollversammlung im „bolo“, übergeordnete Belange werden mittels delegierter Räte zwischen den Gemeinschaften ausverhandelt. (P. M. 1983) „bolo’bolo“ stand paradigmatisch für verschiedene Anliegen, wie sie seit Mitte der 1970er Jahre innerhalb der Autonomenszene formuliert wurden. Weder parteipolitisch noch sonst formal organisiert zielten die Autonomen auf Herstellung selbstbestimmter Freiräume, indem sie auf aktionistischem Wege die wunden Punkte des modernen Kapitalismus aufzeigten. Im Umfeld der sehr heterogenen Szene formierten sich die Hausbesetzerbewegung, die AKW-Gegner oder verschiedene Antifa- und Friedensgruppen. (Gross; Schultze 1997, S. 147ff )
Das eigenartige an dieser Entwicklung war, dass gerade zu einem Zeitpunkt, als der libertäre Bezug zur ökonomischen Theorie abhanden kam, Personen aus dem Forschungsestablishment ihr Interesse für die „Anarchie“ zu bekunden begannen. Mitte der 1970er Jahre erschien James M. Buchanans Buch „Limits of Liberty. Between Anarchy and Leviathan“, etwa zeitgleich trat Robert Nozick mit seinem Werk „Anarchy, State and Utopia“ („Anarchie, Staat, Utopia“) hervor, in dem er einen Minimal- bzw. Nachtwächterstaat zu begründen versucht, der sich auf den Schutz der Rechte und des Eigentums seiner Bürger beschränkt. Argumentativ vertritt Nozick darin u. a. die Position, dass jede mittels freien und einvernehmlichen Austauschs zwischen mündigen Personen herbeigeführte Verteilung von Gütern gerecht sei, selbst wenn durch diesen Prozess gravierende Ungleichheiten und somit auch Machtdifferenzen entstehen. (Nozick 1974, S. 150ff) Mit dem klassischen Anarchismus hatte all dies nicht mehr das Geringste zu tun. In Wahrheit handelt es sich bei Buchanan und Nozick um konservative Ideologen, ebenso wie bei dem 1976 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichneten Milton Friedman, der uns auf diversen Internetforen bis heute als „liberaler Anarchist“ präsentiert wird.Durchaus ähnlich gelagert erscheinen die Dinge im Fall des so genannten Anarchokapitalismus. Hierbei handelt es sich um eine sozialphilosophische Konzeption, die für einen freien Markt, für das Privateigentum und für freiwillige vertragliche Bindungen innerhalb der Gesellschaft eintritt, wobei staatliche Institutionen und Eingriffe ausgeschlossen sind. Der Begriff Anarchokapitalismus geht auf den nordamerikanischen Wirtschaftswissenschaftler und Philosophen Murray N. Rothbard zurück, der Elemente des klassischen Liberalismus, der Österreichischen Schule der Nationalökonomie und der Programmatik der US-Libertarians zu verbinden versucht. (Rothbard 1978) Im Zentrum der Herrschaftskritik Rothbards – der sich selbst als „Right-Wing Intellectual“ definiert – steht der Staat, sonstige gesellschaftliche Machtverhältnisse spielen bei ihm nur eine untergeordnete Rolle. Rätselhaft bleibt die Konnotation dieser oder ähnlicher Theoriegebilde mit dem Begriff des Anarchismus. Aber vielleicht stand nur das Vorhaben im Raum, einer inzwischen endlos abgeleierten wirtschaftsliberalen Kennmelodie ein paar wuchtige „Beats“ hinzuzufügen, um damit ein dynamischeres Erscheinungsbild zu erzeugen …Die „anarchokapitalistische“ Position passte ideologisch jedenfalls ausgezeichnet in die Umbruchszeit der späten 1970er Jahre, in die Phase der krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklungen, in der „Keynesianische“, also interventionistische wirtschaftspolitische Bewältigungsversuche nicht mehr so richtig zu greifen schienen. Dem verlangsamten Wirtschaftswachstum, den sinkenden Produktivitätszuwächsen und dem durch die Erdölkrisen ausgelösten Preisgalopp sollte mittels angeblich neuer wirtschaftspolitischer Vorgaben zu Leibe gerückt werden. Mehr Vertrauen in die Marktkräfte wurde gefordert, die Nachfrageorientierung in der Wirtschaftspolitik sei durch eine Ausrichtung an so genannten Supply-Side-Economics (angebotsorientierte Ökonomie) zu ersetzen. Der private Wirtschaftssektor mit seiner Innovationskapazität wäre stark genug, alles wieder ins Lot zu bringen. In der Phase gesättigter Massenmärkte schürte die Verkündung einer neuen („postindustriellen“) deregulierten Dienstleistungsgesellschaft erhebliche Hoffnungen. Weltweit machten sich die Staatsführungen daran, Liberalisierungs-, Privatisierungs- und Flexibilisierungsprogramme auf breiter Ebene durchzusetzen. Doch weder die brutal vollzogene „Rückkehr ins Dienende“ auf dem Wege des „Outsourcings“ und im Zuge der Steigerung der Zahl der „Ich-AGs“, noch die Versprechungen einer „New Economy“ haben auf wirtschaftlicher Ebene etwas zum Besseren bewegt – viel mehr muss heute vom Gegenteil ausgegangen werden. (Hamelink 2000, S. 173)
Zweifellos wohnten dem Aktionismus, mit dem der Anarchismus im Gefolge der Bewegung von 1968 die Aufmerksamkeit auf sich zog, zahlreiche aufklärerische Momente inne. Nicht nur der Anarchosyndikalismus erlebte nun seine Wiederauferstehung. (Drücke 1998, S. 190ff) Aufsehen erregend wirkten auch die konsumkritischen Aktivitäten aus dem Umfeld der Situationistischen Internationale. Einen legendär gewordenen Auftritt lieferte etwa eine Londoner Künstlergruppe, die als Weihnachtsmänner verkleidet in einem Kaufhaus Spielzeug an sich nahm und an die anwesenden Kinder verteilte. Die herbeigerufene Polizei nahm den Kleinen die Waren wieder ab und verhaftete – unter den fassungslosen Blicken der Kinder – die Weihnachtsmänner.Nicht zu vergessen sind verschiedene „realwirtschaftliche Projekte“, die als Hoffnungsträger einer libertären Linken fungierten. Im Jahr 1971 wurde in Dänemark die Freistadt Christiania als alternatives Siedlungsprojekt ins Leben gerufen. Die autonome Kommune umfasst ein ca. 34 ha großes Gebiet, das im Kopenhagener Stadtteil Christianshavn liegt. Hier gelang der Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur, alle erforderlichen Dienste, von der Straßenreinigung über die Post bis hin zu Kindergärten und Schulen, bestehen bis heute in selbstorganisierter Form. (Bischoff 1995) In Portugal machte die Nelkenrevolution 1974 den Weg frei für eine in etlichen Bereichen vom Geist des iberischen Anarchosyndikalismus angeregte Umgestaltung der Wirtschaft. In zahlreichen Fabriken bildeten sich räteähnliche Strukturen, noch vor dem Einsetzen der großen Agrarreformen war es unter dem Motto „A terra aquem a trabalha“ („Das Land denen, die es bearbeiten“) zu spontanen Landbesetzungen und zur Bildung genossenschaftlicher Zusammenschlüsse gekommen. In den Städten wie im ländlichen Bereich wurden basisdemokratisch organisierte Kommunalräte installiert. Konsumgenossenschaften, gewerbliche Produktionskollektive sowie Assoziationen im Baugewerbe oder im Wohnbaubereich ergänzten die bestehende Wirtschaftsstruktur. (Senft III, S. 19ff)Die meisten der einstigen Hoffnungsgebiete sind inzwischen wieder in der kapitalistischen Normalität angekommen. Dennoch bleiben vom letzten Viertel des 20. Jahrhunderts genug gedankliche Ansätze, deren Weiterentwicklung lohnend erscheint. Als ein vielbeachteter Kritiker des modernen Kapitalismus trat Noam Chomsky hervor. In seiner Auseinandersetzung mit dem Machtphänomen in der Wirtschaft übernahm er mehrere Kritikpunkte der amerikanischen Schule des Institutionalismus. Die Idee eines vollkommenen Wettbewerbes hält er demgemäß für eine Chimäre, die bestimmende Rolle in der Wirtschaft habe eine anonyme Führungsschicht übernommen, die aus dem engen Zusammenspiel von Großunternehmen und staatlichen Institutionen hervorgegangen sei. Die Gesellschaft werde von einer Elite manipuliert, um die Fertigungskapazitäten der Konzerne auszulasten und Absatzziffern zu steigern. So gehe es heute nicht mehr darum, für den Verbrauch zu produzieren, sondern für die Erzeugung zu konsumieren. (Chomsky 2004, S. 258) Widersprüche ortet Chomsky auch im Zusammenhang mit dem spekulativen Kapital, dessen Anteil an dem für internationale Transaktionen zur Verfügung stehenden Kapital zwischen 1970 und Mitte der 1990er Jahre von 10 auf 95 Prozent angewachsen sei. (Ebd., S. 447f) Politische Steuerungsmaßnahmen seien so gegenüber Spekulationsbewegungen immer unwirksamer geworden. Anarchisten sind seit jeher gegen den nationalen Protektionismus aufgetreten (Rocker II, S. 53), doch Chomsky hat auch gegenüber der Freihandelsdoktrin seine Vorbehalte. Er weist insbesondere darauf hin, dass die ursprünglichen Vertreter der Freihandelidee nur von einer Mobilität der Güter, nicht hingegen von einer Mobilität des Kapitals ausgegangen waren. Chomsky plädiert heute dafür, die sozialen Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates zu verteidigen, und er reiht sich damit unter die so genannten revisionistischen Anarchisten ein. (Chomsky 2004, S. 409)Einen wertvollen Diskursbeitrag lieferte der Sozialökologe Murray Bookchin mit seiner Darlegung des Begriffs der ökonomischen Knappheit. (Bookchin II, S. 1ff) In den Wirtschaftswissenschaften wird Knappheit als ein relativer, nämlich auf des Menschen letzte Ziele bezogener Begriff verstanden, wobei diese Ziele in ihrer Vielfältigkeit einen Mittelaufwand erforderten, der weit über jeden erdenklichen Vorrat an Hilfsquellen hinausgehe. Daher das gebetsmühlenartig wiederholte Credo der Fachgelehrten: „Wir leben in einer Welt der knappen Güter.“ In diesem Punkt wählt Bookchin einen anderen Zugang. Mit Hilfe qualitativ neuer Technologien sei es inzwischen möglich geworden, mit vermindertem Arbeitsaufwand Subsistenzmittel und Luxusgüter in großer Zahl zu erzeugen, wobei sich gleichzeitig mit den freigewordenen Energien die gesellschaftlichen und kulturellen Möglichkeiten im Hinblick auf eine erhöhte Lebensqualität vervielfacht hätten. Bookchin erkennt darin eine neue Art von Reichtum: „zum erstenmal in der Geschichte stehen wir an der Schwelle einer Nach-Mangelgesellschaft.“ (Bookchin I, S. 10) Die Kritik Bookchins am technokratischen Modernisierungskonsens relativiert seinen im Grunde technologiefreundlichen Standpunkt keineswegs. Er ist nur von den Vorteilen einer radikalen Dezentralisierung der gesellschaftlichen Strukturen überzeugt; es gehe darum, regionale Ressourcen wieder verstärkt zu nutzen und das lokale Wirtschaften im Interesse einer verringerten Umweltschädigung zu fördern. Auch bedeute eine am Motto „small and diversity are beautiful“ (Ebd., S. 69) ausgerichtete Produktion eine zukunftsfähigere Wirtschaft für die Dritte Welt. Bestätigt wird Bookchin neuerdings durch Frithjof Bergmann, der ebenfalls eine erhöhte Konvivialität in den neuen Technologien zu erblicken vermeint. (Bergmann 2004, S. 193ff) Bereits heute – erläutert Bergmann – werde der Computer immer mehr eingesetzt, einen eigenen und unabhängigen Lebensstil zu kreieren. Eine „zweite Ökonomie“ jenseits der industriellen Massenfertigung werde in Zukunft auf dem dezentral installierten „Personal Fabricator“ beruhen, einer kleinen Werkbank, die mit Laser und Wasserjet Materialien zu bearbeiten und in beliebige Formen zu bringen vermag. Solcherart würden auch überschaubare Gemeinschaften künftig in die Lage versetzt, mehr oder weniger komplizierte Güter in Eigenregie auf lokaler Ebene herstellen zu können. (Ebd., S. 317ff)In enger Kooperation mit Murray Bookchin entwickelte Janet Biehl ihre Thesen zu einem neuen revolutionären Feminismus. (Biehl 1991, S. 46) Der radikale Feminismus steht, im Einklang mit der gesamten Frauenbewegung, für die Distanz gegenüber patriarchalen Werthaltungen und Rollenzuweisungen, die in der Sphäre der Ökonomie als geschlechtsspezifische Segregation zum Ausdruck kommen. Als typisch ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass keine der gängigen Arbeitsmarkttheorien die besonderen Problemlagen von Frauen – Aspekte der Berufswahl, Einkommensdiskriminierung, spezielle Krisenbetroffenheit – adäquat widerspiegelt. Vom bürgerlichen Flügel der Frauenbewegung unterscheidet sich der radikale Feminismus durch seine Nähe zum Anarchismus, von dem er nicht nur das Verständnis von sozialer Hierarchie und Autorität, sondern auch das revolutionäre Element übernimmt. (Lohschelder 2000, S. 158) Janet Biehl setzt ihre Hoffnungen auf ein Zukunftsmodell: Schaffung einer kommunalen Ökonomie, die eine den lokalen Bedürfnissen angepasste sinnvolle Arbeit ermöglicht; hier liege die Chance für eine gleichberechtigte und vollwertige Teilnahme von Frauen am wirtschaftlichen Leben. (Biehl 1991, S.26)Hinzuweisen ist schließlich auf Kurt Zube, der den Anarchismus mit einer Reihe sozialliberaler Positionen (v. a. Theodor Hertzka, Franz Oppenheimer) verknüpft. In seinem 1977 veröffentlichten Manifest tritt er für die „gleiche Freiheit Aller“ (Zube 1977, S. 236) und somit für die Ausschaltung sämtlicher „staatlicher und privater Machtpositionen“ ein. (Ebd., S. 181) In ökonomischer Hinsicht thematisiert er vor allem den Produktionsfaktor Grund und Boden sowie das herrschende Geld- und Kreditsystem. Jedes Verfügungsrecht über den Boden, das über die persönlichen Nutzungs- und Bearbeitungsmöglichkeiten hinausgehe, sei problematisch. Das Privateigentum an einem nicht beliebig erweiterbaren, aber von jedem Menschen benötigten Faktor trage nämlich grundsätzlich eine Sperr- und damit eine Monopolfunktion in sich. Der eingeschränkte Zugang zum Boden führe in der Konsequenz zu beträchtlichen sozialen Defekten, zur privaten Abschöpfung der Grundrenten und der Bodenwertsteigerungen sowie zu Spekulationsgewinnen auf Kosten der Gesamtheit. (Ebd., S. 243f) Von noch größerer Auswirkung sieht Zube das vom Staat an die Notenbanken übertragene Recht der Geldschöpfung. Die ausgegebenen Banknoten seien nämlich nicht nur mit einem Annahmezwang, sondern auch mit dem Privileg der Zinsforderung ausgestattet, sodass von einer „direkt vom Staat ausgehenden […] monopolistischen Ausbeutung durch Konkurrenzausschluß“ gesprochen werden könne. (Ebd., S. 249f) Zube plädiert für die Bildung „autonomer Rechts- und Sozialgemeinschaften“ (Ebd., S. 260), antimonopolistisch ausgerichtete „offene Betriebsassoziationen“ sollten „den freien Zugang zu den Produktionsmitteln“ sichern. (Ebd., S. 267ff) Die ungehinderte Geldschöpfung durch die Bürgerinnen und Bürger könnte – so Zube – zu einem Kreditsystem führen, in dem der Zins bzw. der Profit des Finanzkapitals gegen Null tendiert. (Ebd., S. 325) Viele der bekannten Phänomene der kapitalistischen Marktwirtschaft, von Arbeitslosigkeit bis zu den zahlreichen Mangelerscheinungen, wären mit solchen Maßnahmen zumindest zu mildern. (Ebd., S. 295)
Zeitgleich mit dem Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA am 1. Jänner 1994 begann der Aufstand der Neo-Zapatisten im mexikanischen Chiapas. Manche sehen darin die erste „postmoderne Revolte“ bzw. ein Aufbegehren, das mit den Ordnungsvorstellungen und Zielen der mit dem Industriesystem verbundenen Moderne nicht mehr übereinstimmt. (Bewernitz 2005, S. 132) Zu den Merkmalen postmodernen Denkens gehört, dass die Grundlagen der Erkenntnistheorie als unzuverlässig angesehen werden – „Fragend schreiten wir voran“, ist daher ein zentrales Motto des neo-zapatistischen Politikverständnisses (Ebd., S. 125) –, die Geschichte erscheint nicht mehr zielgerichtet, wodurch auch der Fortschrittsgedanke seine Bodenhaftung verliert. Die Neo-Zapatisten stehen in Opposition zu allen neokonservativ-wirtschaftsliberalen Politikvorstellungen, wobei sie für „Land, Freiheit und Gerechtigkeit“, für eine weitergehende Demokratisierung sowie für die Anerkennung der Rechte und der Kultur der Indígenas eintreten. (Huerta 2001, S. 76 ff, S. 84) Das beachtliche Echo, das die Neo-Zapatisten ausgelöst haben, ist nur ein Hinweis auf einen länderübergreifenden Perspektivenwechsel, der ökologischen Fragen und neuen sozialen Bewegungen einen höheren Stellenwert zuordnet.Jenseits eines Verständnisses von Freiheit, das nur eine warenförmige Individualität kennt, haben sich mittlerweile zahlreiche Projekte herausgebildet, die auf nicht-hierarchische, zwangsfreie und sozial gerechte Zusammenhänge in der Gesellschaft hinarbeiten:
Klar ist, dass keinem der angeführten Projekte die System überwindende Kraft innewohnt. Aber die Gesellschaft lernt durch Experimente, und so besteht die berechtigte Hoffnung auf eine Ökonomie, die sich nicht mehr verhält wie eine Armee im Feindesland. Eine solche Ökonomie ist angewiesen auf eine erneuerte Wirtschaftstheorie, die bereits in der Wortwahl achtsam verfährt. Manche Ausdrücke vermitteln sehr viel, etwa wenn Märkte erobert, feindliche Betriebsübernahmen abgewehrt oder neue Währungssysteme im Gleichschritt eingeführt werden. Neue analytische Zugänge könnten auch helfen, zu einem fundierten Begriff von sozialer Gerechtigkeit zu gelangen, der sowohl Reziprozitätsmechanismen als auch dem Solidaritätsprinzip entsprechenden Raum gibt. (Bewernitz 2005, S. 128f) Die beste Voraussetzung für eine gelingende Praxis ist, so wissen wir, eine gute Theorie.
Keine grössere Gefahr für die Arbeiterklasse als der Nationalismus, er ist die wahre Ideologie des Staates und der Diktatur. Wenn der Staat ein Volk in den Krieg getrieben hat, in die Niederlage und in das Elend - dann ist es der Nationalismus, der ablenkt: nicht die eigene Regierung, nicht der eigene Staat, nicht der eigene Kapitalismus ist schuld - sondern der ausländische Kapitalismus, der andere Staat, die andere Regierung. Aber niemals ist der Nationalismus etwas anderes gewesen als der Schrittmacher für die Interessen, für die Profite der herrschenden Klasse. Denn die herrschende Klasse versteht den Patriotismus auf ihre Art. Sie organisiert ihre "blutige Internationale" und macht auf Kosten der Völker ihre patriotischen Geschäfte mit Freunden und Feinden. Sie kennt keine Parteien und keine Nationen. Wenn es sich um Profite handelt und um Unterdrückung der Arbeiterklasse, dann ist der Kapitalismus international, und dann wird sogar der Erbfeind zum Verbündeten. Zur selben Zeit, während des Ruhrkrieges, als die nationalen Parteien im Reichstag den Abbruch aller Beziehungen mit Frankreich forderten, verhandelte Stinnes mit dem Oberbefehlshaber der französischen Besatzung, dem General Degoutte, um die Aufhebung des 8-Stundentags zu erwirken! Man vergesse das nie!Die internationale Solidarität der Arbeiterklasse, die eine Selbstverständlichkeit für jeden Sozialismus ist, setzt die Verneinung des nationalen Staates voraus; diese Solidarität ist der Todfeind jedes Nationalismus.Es Bedarf keiner weiteren Überlegung, dass der Klassenkampf durch die "Arbeitsgemeinschaft" und durch die Versöhnung von Kapital und Arbeit ersetzt ist, wo die "wertvolle Gegenwart der Republik" an die Stelle der staatenlosen Gesellschaft getreten ist, die auch Marx als die wahre und einzig mögliche Form des Sozialismus ansah - da ist natürlich auch freie Bahn für den Nationalsozialismus. Und Jahrzehnte hat die deutsche Arbeiterschaft die nationalistische (und militaristische) Propaganda einer nationalen Sozialdemokratie über sich ergehen lassen müssen. Dass die revolutionären Sozialdemokraten, die Kommunisten immer wieder in dasselbe Horn blasen und auf die nationalistischen Instinkte des deutschen Proletariats - und Kleinbürgertums! - spekulieren, beweist den charakterlosen und gefährlichen Opportunismus dieser Partei, der zur Erreichung ihrer Ziele alle Mittel recht sind. Das ist ja bekanntlich die höchste politische Weisheit in Moskau. Diese Politik wird ausserdem bestimmt durch die Interessen der Auslandspolitik des staatskapitalistischen Russlands, denen immer wieder die elementarsten Interessen des Proletariats der anderen Länder geopfert werden.Und so war es möglich, dass 1923 die deutsche Kommunistische Partei in inniger Zusammenarbeit mit der deutschen Reaktion das deutsche Proletariat zum Kriege gegen Frankreich hetzte. Diese Politik wurde eingeleitet durch die Rede Karl Radeks in der Exekutive der Kommunistische Internationale am 28. Juni 1923 über Leo Schlageter, "den Wanderer ins Nichts", den "mutigen Soldaten der Konterrevolution", der einen Monat vorher wegen Sabotageakten im Ruhrgebiet von den Franzosen erschossen worden war. Dann begann die Propaganda für die "nationale Revolution". Die KPD erklärte plötzlich dem deutschen Proletariat, nicht mehr die Weltrevolution, sondern die "nationale Befreiung" sei die Vorbedingung für die wirtschaftliche Befreiung. Die konservativen Ideologen der Reaktion bestätigten es der "Roten Fahne". Es war die glorreiche Zeit, da der Graf Reventlov als Mitarbeiter der "Roten Fahne" bereit war ein "Stück des Wegs" mit der Revolution zu gehen. Trotz allem "Trennenden" fand die KPD den Schnittpunkt von Bolschewismus und Faschismus, die nationale Befreiung Deutschlands. "Wir Kommunisten" - so schreibt die "Rote Fahne" - "sagen diesen Offizieren: alle jenen ehrlichen Elemente, die Deutschland vom französischen Imperialismus befreien wollen, müssen an der Seite der Proletarier kämpfen". Und einer von ihnen - der ehemalige Offizier Hans von Hentig - bestätigte den KPD-Mitgliedern: "Zur Nation zu stehen, die sich in der Arbeiterschaft verkörpert, wird für den deutschen Offizier nichts Neues, nur Pflichterfüllung sein."Als der deutsche Kapitalismus nicht geneigt schien, den passiven Ruhrkampf in einen aktiven umzuändern, schrieb Radek: "Wenn die deutsche Bourgeoisie kapituliert, wird die Arbeiterklasse die Interessen des ganzen Volkes verteidigen, sie wird siegen, indem sie ihren Klassenkampf mit dem nationalen Freiheitskampf verbindet." Und der Kommunist Paul Fröhlich ergänzte: "Wer vom Klassenkampf ausgeht wie wir, dem erwächst die Aufgabe der Errettung der Nation!"In unverfälscht nationalistischer Terminologie wandte die Zentrale der KPD sich gegen "die Regierung der nationalen Schmach", und am 25. Juli wandte sie sich an die "Volksgenossen" und erklärte: "Der Kampf an der Ruhr muss geführt werden, und wir lehnen prinzipiell kein Mittel dieses Kampfes ab." Die Kriegsparole hiess: "Für das Bündnis mit Sowjetrussland zum Kampf gegen die Entente". Während in dieser Weise die KPD die nationalistischen Instinkte der Arbeiterschaft aufzupeitschen versuchte während sie mit den reaktionärsten Mächten in Deutschland paktierte und öffentlich den Krieg propagierte, arbeiteten nationalistische Kreise zusammen mit der Reichswehr daran - wie die Enthüllungen des Hochmeisters des Jungdeutschen Ordens, Mahraun, es später bewiesen - den Krieg zu organisieren. Aber so weit kam es nicht, da die Politik der Schwerindustrie weitsichtig genug war, um von solch einem abenteuerlichen Unternehmen keinen Erfolg zu erwarten.In den nächsten Jahren kam dann die offizielle "Verständigungspolitik", Locarno, Thoiry und der "Eisenpakt"! Für die nationalistische Parole vom "Kampf gegen die Entente" war es eine schlechte Konjunktur. Auch für die KPD waren es also schlechte Zeiten. Die nationale Politik hiess jetzt: Völkerbund, Abrüstung, Verständigung. Es kamen herrliche Zeiten für die SPD, ohne dass allerdings Breitscheid Aussenminister wurde! Man war ja auch mit Stresemann zufrieden: er vertrat genau die kapitalistische Aussenpolitik wie die SPD sie verstand. Die Regierung Hermann Müller baute dann den ersten Panzerkreuzer. (Doch der zweite folgte sogleich.) Trotz Völkerbund, Abrüstung und Verständigung. Trotz des Plakats - es war leider nur ein Wahlplakat, also nur Schwindel, - der hungernden Kinder: "Wählt SPD!". Mit dem grössten Erfolg dieser Politik, der Befreiung des Rheinlands, war ihr Höhepunkt bereits überschritten. Der Abmarsch der Franzosen war das Signal zu einer ungeheuren nationalistischen und militaristischen Orgie. Wie die Verständigung aussah, zeigte der Aufmarsch der Stahlhelm-Armee in Coblenz. Er wurde jenseits der Grenze verstanden! Dieser Aufstieg des Nationalismus ging wie in einer kommunizierenden Röhre - zusammen mit dem Niedergang der Wirtschaft. Die Rationalisierung seit dem Ende der Inflation auf Kosten der Arbeiterschaft hatte nur eine Scheinprosperität gebracht. Die Rationalisierung der technischen Methoden, die Zusammenlegung und Aufhebung von Unternehmungen, die Bildung von Kartellen und Konzernen, national und international, hat die Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft nicht aus der Welt schaffen können. Von Hunderttausenden wuchs die Arbeitslosigkeit zu Millionen. Das Verhältnis von Produktion und Konsumtion war zu einem unlösbaren Widersinn geworden. 1928 begann bereits die "Krise". Seit dem "Krach" der New-Yorker Börse im Herbst 1929, dem Beginn der "Weltwirtschaftskrise", wuchs sie zu einem in der Geschichte des Kapitalismus ungekannten und drohenden Massstabe an. Die kapitalistische Krise, diese ganze Entwicklung des Kapitalismus zur Ausschaltung der freien Konkurrenz und die Bildung eines Monopolkapitalismus und der Preisdiktatur wirkte sich jetzt nicht nur in einer Verschlechterung der Lage der Arbeitnehmer aus, der gesamtproletarischen Klasse, sondern wirkte sich geradezu katastrophal auf die ganze Mittelschicht des Kleinbürgertums aus. Die ökonomische und soziale Basis zu einem Aufstieg einer faschistischen Bewegung in grossem Umfange war damit gegeben.Und eine neue Hochkonjunktur des Nationalismus begann. Zwischen sozialistischen Phrasen und kapitalistischen Geldgebern bahnte der National-Sozialismus sich mit einer Anhängerschaft von Millionen den Weg zur Staatsmacht. Je unklarer sein Programm, um so deutlicher seine Demagogie. Die Parolen : gegen die Novemberverbrechen, Brechung der Zinsknechtschaft, gegen Marxismus und gegen Juden und sonstige demagogische Phrasen - sie hatten Anziehungskraft, weil sie für Millionen auf einem zweifach realen Boden blühten: dem der wirtschaftlichen Entwurzelung und des Bankrotts der Demokratie. Und deshalb konnte das Ziel des National-Sozialismus: die nationale Diktatur zur Befreiung Deutschlands, das Ziel und die Hoffnung eines grossen Teiles des Volkes werden, da es die Rettung verhiess aus diesem zweifachen Sumpf: der parlamentarischen Parteiwirtschaft und der wirtschaftlichen Verelendung.Die "Befreiung Deutschlands", der "Kampf gegen Versailles" stand mal wieder auf der Tagesordnung. Die neue Parole hiess jetzt: gegen die "Young-Versklavung". Also war auch wieder die Zeit für den National-Bolschewismus gekommen. Die Phrasen des kommunistischen Wahlmanifestes zur Reichstagswahl im September waren dem Programm des National-Sozialismus entnommen - oder hätten es sein können. Die KPD machte wieder in Nationalismus. Statt "internationaler Klassenkampf" hiess es: Kampf gegen die Youngversklavung. Die kommunistischen Arbeiter mussten wieder einmal die Befreiung der Arbeiterklasse von der nationalen Befreiung erwarten. Weshalb sollten die Faschisten sich nicht der KPD anschliessen? Sie erstrebte ja die beiden selben Ziele: Diktatur und Kampf gegen den Young Kapitalismus. Leutnant Scheringer war dieser Ansicht: er ging von den Faschisten zu den Kommunisten. Er wurde als Repräsentant einer Avantgarde - und ausserdem als militärischer Sachverständiger und "begabter Gasoffizier" - begrüsst. Ist die deutsche Arbeiterklasse denn nicht durch die Young-Ketten versklavt? Wird nicht insbesondere die deutsche Arbeiterklasse von dem internationalen Kapital ausgebeutet? Gewiss. Aber dies ist doch nur dadurch möglich, dass die Arbeiterklasse in erster Linie dem eigenen, dem deutschen Kapitalismus "versklavt" ist. Er wälzt die Lasten auf die Arbeiterklasse ab. Ohne den deutschen Kapitalismus und seine Ausbeutung gäbe es auch keine internationale Ausbeutung.Die Befreiung vom deutschen Kapitalismus bedeutet auch die Befreiung vom Young Kapitalismus. Wenn die deutsche Arbeiterschaft sich von dem eigenen Kapitalismus befreit haben wird, wird kein anderer Kapitalismus imstande sein, sie aufs neue zu versklaven. Der Kapitalismus ist international, aber das Proletariat ist national an die Versklavungsketten der Ausbeutung geschmiedet. Und hier - und auch nur auf dem ökonomischen Gebiet des Kapitalismus, auf dem Gebiet der Arbeit - können die Ketten gebrochen werden. Die Befreiung der Arbeiterklasse erfordert nicht den nationalen Kampf gegen den ausländischen Feind - sondern den internationalen Kampf gegen den inneren Feind. Eine solche Befreiung vom eigenen, nationalen Kapitalismus wird ausserdem eine wahre internationale, eine Welt-Befreiung sein.
Der Sozialismus hat die Schwierigkeiten, der Staatsmacht Grenzen zu setzen, noch vermehrt. Der moderne demokratische Wohlfahrtsstaat hat durch die Erweiterung seines Wirkungsbereichs zwar seinen Bürgern neue materielle Annehmlichkeiten gebracht, doch ist er dabei gleichzeitig hinsichtlich seiner Macht über den einzelnen immer monopolistischer geworden. Es ist keine Übertreibung festzustellen, daß wir uns heute vor dem Leviathan fürchten, weil das Geschöpf, das wir hervorgebracht und in den vergangenen Jahrhunderten gehegt haben, sich jetzt unserer Kontrolle zu entziehen scheint und so unsere Existenz als freie Gesellschaft bedroht. Auf dieses Problem, das von den heutigen Politikwissenschaftlern weitgehend ignoriert wird, zielt im Grunde die Philosophie des Anarchismus. Der bezeichnendste Zug der anarchistischen Theorie besteht nach Meinung ihrer Verfechter darin, daß es sich bei ihr um die einzige moderne Soziallehre handelt, die eindeutig das Konzept des Staates mit seinen allgegenwärtigen Übeln der politischen Macht und der Autorität verwirft. In den frühen Jahren der Amerikanischen Republik hat es auch eine Zeit gegeben, in der die Demokratie Jeffersonscher Prägung es für weise hielt, der Macht der Regierung Grenzen zu setzen. Aber wenn auch Jefferson mit Hamilton (2) darüber verschiedener Meinung war, welchen Zielen die Staatsmacht legitimerweise dienen sollte, so ging er doch nie so weit, deren vollständige Abschaffung zu befürworten. Anarchisten sehen in Jeffersons Neigung, mit der politischen Macht Kompromisse zu schließen, die verhängnisvolle Schwäche der demokratischen Theorie. Andere liberale Demokraten in der Geschichte Amerikas haben die Klugheit, nämlich im Bereich der Ausübung politischer Macht Zügel und Sicherungen beizubehalten, gelobt, ohne sich je darüber klar zu werden, daß sie sich damit eine unerfüllbare Aufgabe gestellt hatten. Die Philosophen des politischen Pluralismus haben unbeugsam ihrer Opposition gegen die wachsende Macht des Staates Ausdruck verliehen und darauf gedrungen, daß seine sich ständig ausweitende Herrschaft über den Bürger mit den größeren, vorwiegend sozialen Gruppierungen geteilt werden müsse, was uns heute als eine der letzten echten Anstrengungen der Liberalen erscheint, den Leviathan unter Kontrolle zu halten. Aber wie Professor William Emest Hocking seinerzeit nachgewiesen hat, lehnten es die Pluralisten ab, den entscheidenden Schritt zu tun und den Staat seines Monopols über die Instrumente der Gewalt und des Zwangs zu entkleiden. Es war völlig unrealistisch anzunehmen, wie das die Pluralisten taten, daß eine Vielzahl von Vereinigungen innerhalb der Gesellschaft an der politischen Macht Anteil haben würde, während der Staat über ihnen stand, ausgerüstet mit den Mitteln, sie alle seinem höheren Willen dienstbar zu machen. (3) Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, daß die Verfechter der pluralistischen Idee aus unserem heutigen Gesichtskreis vollständig verschwunden sind und außer dem Anspruch, daß man sich ihrer als einer interessanten historischen Bewegung erinnert, nichts hinterlassen haben. Ebensowenig ist es verwunderlich, daß die Idee des Liberalismus selbst im Sterben zu liegen scheint. Die Idee des Anarchismus mag andere Fehler haben, aber man kann sie keinesfalls mit der Begründung kritisieren, als würde sie ihre Grundprinzipien den Erfordernissen der Macht anpassen. Der Anarchismus unterscheidet sich gerade dadurch von anderen politischen Philosophien, daß er Macht und formale Organisation verwirft. Politische Macht zu verwerfen aber heißt den Staat verwerfen. Der Anarchismus ist deshalb gezwungen, den komplizierten Beweis dafür zu erbringen, daß es überhaupt keinen Staat geben sollte, weil dessen Wirkung insgesamt eher negativ als positiv ist. Das ist zweifellos eine herkulische Aufgabe. Und doch läßt sich eine eindrucksvolle Zahl zuverlässiger Beobachter anführen, die diese These des Anarchismus bestätigen. Die vielleicht schärfste Anklage, die je gegen den Staat vorgebracht wurde, stammt von dem Historiker Henry Thomas Buckle, der im ersten Band seiner «History of Civilization in England» (Bd.I, New York 1857) schrieb, daß «keine wichtige politische Verbesserung, keine große politische Reform, ob sie nun die Legislative oder die Exekutive betraf, jemals in irgendeinem Land von dessen Herrschern ausgegangen ist». Freilich sind moderne Gesetzgeber ständig damit beschäftigt, in mühsamen Verfahren gesetzliche Verfügungen hervorzubringen. Aber, so meinte Buckle, alle Reformen, die sie durchgeführt haben, waren nicht darauf gerichtet, etwas Neues und Positives zu schaffen, sondern Unrecht zu beseitigen, das selbst ursprünglich das Ergebnis gesetzgeberischer Maßnahmen war. Die politische Wissenschaft sollte sich übrigens nicht durch die Tatsache, daß der Staat schon sehr, sehr lange existiert, zu der Annahme verleiten lassen, daß er für das soziale Leben eine absolute Notwendigkeit sei. Diejenigen, die sich ein klares Bild vom Staat und seinem Wesen machen wollen, müssen darauf achten, daß sie nicht von der großen Macht und dem Einfluß, die der Staat heute gegenüber den Menschen in der Gesellschaft besitzt, eingeschüchtert werden (4). Es besteht zwar kein Zweifel daran, daß das soziale Leben, wie es sich heute darstellt, in hohem Maße auf der Kontrolle der Regierung über die Bevölkerung beruht. Aber es ist ein Irrtum anzunehmen, daß der Staat eine natürliche und unvermeidbare Erscheinung des sozialen Lebens ist. Tatsächlich ist der Staat nämlich nicht etwas, was die Menschen spontan von sich aus hervorbringen, wie Locke vermutete. Im Gegenteil: Der Staat entspringt nicht dem «Instinkt der Assoziation», sondern dem «Instinkt der Herrschaft» (5). Der Staat und seine Macht entstehen außerhalb des sozialen Lebens und werden den Menschen von ihren Führern aufgezwungen, die dann im Sinne ihrer eigenen Ziele über sie herrschen. Schon bei A. Bellegarrigue, einem Anhänger Proudhons, heißt es: «Die Macht muß mit Notwendigkeit zugunsten derer verwendet werden, die sie haben, und zum Nachteil derer, die sie nicht haben; es ist nicht möglich, sie anzuwenden, ohne den einen zu schaden und die anderen zu begünstigen.» (6) Robert Michels, der seine «Politische Parteien» mehr als ein Dutzend Jahre später verfaßte, mag von Bellegarrigue beeinflußt worden sein, wenn er erklärte, daß die Oligarchie ein Wesenszug der organisierten Macht sei und daß ein Volk, das seine Autorität delegiert, im Grunde seiner Souveränität entsagt. Jede politische Wissenschaft, die diesen Namen verdient, muß von der Anerkennung dieser Voraussetzungen ausgehen. Nur zu oft haben die Politikwissenschaftler den Anarchismus mit spöttischem Unterton behandelt. Der Anarchist, der die Abschaffung der Regierung und die Zerstörung ihres Machtmonopols fordert, erscheint denen, die sich näher mit den Wegen und Funktionen der politischen Macht beschäftigen, als lächerliche Figur. Die Politikwissenschaftler - von einer kleinen Zahl unerschütterlicher Nonkonformisten abgesehen - stimmen im allgemeinen darin überein, daß die Macht diejenige Kraft ist, die die politische Welt überhaupt erst in Bewegung setzt. Wie können die Anarchisten erwarten, ernstgenommen zu werden, wenn die Hauptrichtung ihrer Beweisführung so vollständig der fundamentalen These widerspricht, auf der das ganze Gebäude der modernen politischen Wissenschaft ruht? Die Anarchisten sämtlicher Richtungen sind allerdings der Meinung, daß hier nicht sie selbst, sondern die Politikwissenschaftler im Irrtum sind. Daß es notwendig sei, die soziale Welt im Sinne der politischen Macht zu organisieren, ist ihrer Meinung nach nämlich keine Tatsache, sondern eine Vermutung. Es kann selbstverständlich empirisch bewiesen werden, daß die Menschen Macht suchen und auf sie ansprechen, ja daß sie, so wie die Gesellschaft heute beschaffen ist, in den Beziehungen zwischen den Menschen eine bedeutende Rolle spielt. Nach Meinung der Anarchisten aber besteht der Irrtum der Politikwissenschaftler darin, diese Hypothese als endgültig und unvermeidlich zu akzeptieren. Wie George Woodcock mit sicherem Gespür bemerkt hat, besteht das Wesen des Anarchismus weniger darin, eine rein politische Lehre zu sein, als vielmehr darin, fundamentale Fragen moralischer Natur zu behandeln (7). Wenn folglich Politikwissenschaftler behaupten, die Macht sei eine grundlegende «Tatsache» der politischen Welt, dann erwidern die Anarchisten, daß alle Tatsachen sich nur auf die jeweilige soziale Situation beziehen. Es mag wohl sein, daß die Menschen auf Macht ansprechen, wie Hobbes so eindringlich verkündet hat. Aber es ist ebenso wahr, daß ihre Reaktion auf die Macht davon abhängt, ob sie die Autorität als legitim akzeptiert haben. Wenn sie nur einmal die Herrschaftsrechte derer, die über sie gebieten, in Frage stellen, dann bricht das ganze Gefüge der Macht unter seinem eigenen Gewicht zusammen. Die Tatsachen von heute, so behaupten die Anarchisten beharrlich, sind die toten Lügen von morgen. In Wirklichkeit geht es hier nicht so sehr darum, ob es so etwas wie politische Macht überhaupt gibt, als vielmehr darum, ob es jemals legitim genannt werden kann, wenn eine Person über eine andere herrscht. Die Anarchisten sind sich sehr wohl dessen bewußt, daß die Macht ein bestimmtes und notwendiges Kennzeichen aller sozialen Gegebenheiten ist. Aber sie unterscheiden sorgsam zwischen sozialer und politischer Macht. Solange es Menschen gibt, wird es natürlich auch hochentwickelte Methoden der sozialen Lenkung geben, die das Leben erträglich machen. Die Anarchisten bestreiten jedoch, daß diese Lenkung ein Element des Zwangs enthalten muß, da gerade das die gesellschaftlichen Ordnungskräfte in politische Macht verwandelt. Die Anarchisten betrachten die Welt aus libertärer Sicht und sind daher der Meinung, daß politische Macht niemals akzeptabel sein kann, weil sie die Freiheit zermalmt. Und wo die Freiheit fehlt, da wird soziales Leben unmöglich. Den libertären Charakter des anarchistischen Denkens hat Peter Kropotkin, der bedeutendste europäische Theoretiker des anarchistischen Kommunismus im 19. Jahrhundert, klar erfaßt. In seiner Erörterung über das Wesen des Staates hat Kropotkin nach einem ausführlichen Rückblick in die Geschichte der Zivilisation dargestellt, daß die Menschen sich von Anbeginn an einer der beiden folgenden Kategorien [öffentlicher Ordnung] zugewandt haben (8). [1.] Auf der einen Seite stehen die, die sich an die römische oder imperiale Tradition halten, in deren Rahmen sie sich auf Hierarchie und formale Organisation verlassen. Die Anhänger dieser Auffassung behaupten, daß öffentliche Ordnung ohne den Staat unmöglich ist und daß die Menschen nicht in der Lage sind, sich ohne die Hilfe formaler Institutionen der sozialen Kontrolle und der Leitung selbst zu regieren. Wo eine organisierte Regierung fehlt, da gibt es nach Meinung der Anhänger der imperialen Tradition auch keine Ordnung und keine Freiheit. Die Zentralisierung der Regierung innerhalb des modernen demokratischen Staates ist von ihnen erzwungen worden, weil sie die Masse der Menschen mit großem Erfolg davon überzeugt haben, daß Leben in der Gesellschaft ohne die leitende Hand des Staates unmöglich ist. Amerikaner brauchen auf der Suche nach einem Beispiel für dieses imperialistische Denken nur bis zu ihrem Landsmann Alexander Hamilton zurückzugehen. [2.] Die andere Tradition, die Kropotkin erwähnt, ist die volksnahe oder föderalistische Tradition. Wenn wir einen Namen suchen, der ihre genaue Bedeutung wiedergibt, schrieb Kropotkin, könnten wir sie die «libertäre Tradition» nennen. Im Gegensatz zur imperialen mißtraut die libertäre Tradition der Hierarchie, der Autorität und der organisierten Regierung. Aus der Überzeugung heraus, daß die Menschen von Natur aus für ein unverfälschtes gesellschaftliches Leben geschaffen sind - wenn auch die Entfaltung ihrer Möglichkeiten noch nicht sehr weit gediehen sein dürfte -, lehnt der Anhänger der libertären Tradition laut Kropotkin die Auffassung ab, wonach organisierter Zwang und Gewalt für die Aufrechterhaltung von Ordnung und Frieden unentbehrlich seien. Kropotkin war im Gegenteil der Meinung, daß menschliche Freiheit nur möglich sei, wenn die Menschen den Staat abschafften und das gesellschaftliche Leben mit Hilfe der Prinzipien des Föderalismus, der gegenseitigen Hilfe und der Selbstdisziplin zu organisieren suchten. Für viele Anarchisten, besonders in Amerika, hat das föderative Prinzip, das Kropotkin in den Vordergrund stellte, keine wesentliche Bedeutung. Aber der Nachdruck, mit dem Kropotkin die Notwendigkeit unterstrich, auf die formale Leitung der Gesellschaft durch die Regierung zu verzichten und sich statt dessen dem Individuum als dem zentralen Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens zuzuwenden, wird von allen Anarchisten gebilligt. Wenn die Anarchisten davon sprechen, daß die Freiheit für ihre Philosophie fundamentale Bedeutung habe, dann ist das keine reine Rhetorik. Nach den Worten eines amerikanischen Anarchisten ist Freiheit «nicht eine feierliche Erklärung oder gar eine Inspiration, sondern eine Wissenschaft» (9). Das ist zweifellos ein großer Anspruch. Aber wir müssen verstehen, daß es dem Anarchisten mit diesem Anspruch vollkommen ernst ist. So wie Plato ein Gebäude der politischen Philosophie mit der Gerechtigkeit als Eckstein entwarf, so stellt sich der Anarchist die politische Wissenschaft als eine Sammlung von Wissen vor, die letzten Endes der Verwirklichung der menschlichen Freiheit dient. Wenn wir Pierre-Joseph Proudhon glauben können, dann läßt die Philosophie des Anarchismus keinerlei absolute Festlegungen zu, da sie sich dessen bewußt ist, daß die soziale Welt ständig in Bewegung ist und folglich keine Wahrheit als endgültig gelten kann. Dennoch bestehen die Anarchisten darauf, daß die Freiheit, wenn sie auch nicht absolut gesetzt werden kann, doch als der höchste aller menschlichen Werte anerkannt werden muß. Freiheit ist sozusagen das wesentlichste Merkmal einer voll entwickelten Menschheit. Sie ist bisher noch in keiner menschlichen Gesellschaft, die wir kennen, voll verwirklicht worden. Trotzdem darf sie als Leitstern aller Wissenschaft von der Gesellschaft nicht aus dem Auge verloren werden, denn Mensch sein heißt frei sein. Politikwissenschaftler, die von den Schriften A. Lawrence Lowells (10) beeinflußt wurden, sind im allgemeinen der Ansicht, daß der politische Bereich zwischen Radikalen, Liberalen, Konservativen und Reaktionären aufgeteilt ist. Aber die feinen Unterschiede, die Lowell zu erkennen glaubte, besitzen in den Augen der Anarchisten nur wenig Substanz. Für den Anarchisten gibt es grundsätzlich zwei, und nur zwei, Überzeugungen. Den Anhängern libertärer Vorstellungen würde er die Anhänger autoritärer Ansichten gegenüberstellen. Der Anarchist oder Anhänger libertärer Vorstellungen ist grundsätzlich antiautoritär eingestellt. Wo die Liberalen, Reaktionäre und sogar einige sogenannte Radikale wie die Staatssozialisten die Autorität des Staates als unentbehrlich für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung akzeptieren, da bestehen die Anarchisten darauf, daß alle Autorität politischer Natur abgeschafft wird. Hier müssen wir beachten, daß der Anarchismus die Autorität als «die Macht des Zwanges, die eine Person über eine andere ausübt», definiert (11). Sobald man sich gründlicher in die Feinheiten des anarchistischen Schrifttums einliest, wird deutlich, daß die Autorität von moralischen Werten, von Ideen und ästhetischer Inspiration nicht mit der gleichen Geringschätzung behandelt wird wie die politische und religiöse Autorität. Viele die anarchistische Philosophie betreffende Mißverständnisse rühren gerade daher, daß die meisten Leute diesen feinen Unterschied übersehen. Auberon Herbert, der bekannte englische Anarchist, hat in seinem Vortrag über Herbert Spencer am 7. Juni 1906 im Sheldonian Theater in Oxford darauf hingewiesen, daß der größte Teil der Verwirrung, die man auf dem Gebiet des politischen Denkens vorfindet, darauf zurückzuführen ist, daß diejenigen, die nach Macht streben, nicht in der Lage sind, den großen Prinzipien der Menschheit treu zu bleiben. Wer die Freiheit wahrhaft hochschätze, so betonte Herbert, sollte sich niemals von der Idee verleiten lassen, daß man die politische Macht dazu benutzen könne, die Freiheit unter den Menschen zu verwirklichen. In diesem Punkt herrscht Einmütigkeit unter den Anarchisten. Max Nomad, selbst so etwas wie ein Anarchist, hat diese Meinung in dem Satz zusammengefaßt, daß alle politischen Organisationen den Wunsch haben, «[ihre] Macht um jeden Preis zu behalten; ein Wunsch, der in der Tat die "Erbsünde" aller Politik und aller Politiker genannt werden kann, ob es sich nun um Konservative oder Revolutionäre handelt» (12). Kein Anarchist, der diesen Namen verdient, kann sich also jemals die Theorie zu eigen machen, daß politische Macht und Organisation zur Verwirklichung der Freiheit innerhalb der Gesellschaft eingesetzt werden können. Es geht nicht nur darum, daß die Menschen von der Macht korrumpiert werden, wie das Liberale, etwa [Lord] Acton, glauben. Wenn sich jemand für die Macht entscheidet, wählt er eher den autoritären als den libertären Weg. Die Anarchisten bestehen hartnäckig darauf, daß alle Wissenschaft von der Gesellschaft so lange in hoffnungslosem Durcheinander steckenbleiben wird, wie die Menschen fortfahren, diese Wissenschaft an die Gegebenheiten der Macht anzupassen. Diejenigen, die weiterhin die Meinung vertreten, daß die Gesellschaft unvermeidlich auf Zwang beruht, werden für immer unfähig zu irgendeiner sinnvollen Verwirklichung von Freiheit sein. Sie mögen eine «wissenschaftliche Feststellung» auf die andere häufen, aber sie werden nie das gelobte Land der freien Gesellschaft erreichen. Nur der libertäre Mensch - das Individuum, das es wagt, in Begriffen einer zwanglosen gesellschaftlichen Lenkung zu denken - kann in seinem Wunsch, die Freiheit auf der Erde verwirklicht zu sehen, ernstgenommen werden. Ein anderes Beispiel für die offenkundigen Mißverständnisse hinsichtlich der anarchistischen Theorie, die einem vernünftigen Verstehen ihres Wesens im Wege gestanden haben, ist die Vorstellung, daß die Anarchisten alle Formen gesellschaftlicher Organisation völlig beseitigen würden. C. Northcote Parkinson gibt uns dafür ein klassisches Beispiel mit seiner Behauptung, daß «Anarchie, wenn sie als eine Form der Herrschaft bezeichnet werden kann, die Weigerung einer großen Zahl von Menschen bedeutet, überhaupt Herrschaft über sich zu dulden» (13). Gerade dieses Mißverständnis führt zu dem oft gehörten Vorurteil, daß Anarchie gleichbedeutend mit dem Zusammenbruch von Gesetz und Ordnung sei. Aber es ist ganz entschieden unwahr, daß die Anarchisten die Beseitigung aller Formen der Organisation befürworten. Einige der extremen Individualisten, wie etwa William Godwin , waren der Meinung, daß jede bewußte Organisation der Gesellschaft unter allen Umständen vermieden werden müßte. Aber die meisten Kollektivisten, und ebenso auch eine ganze Anzahl der Individualisten, haben anerkannt, daß irgendeine Form des sozialen Mechanismus notwendig ist, um die laufenden Angelegenheiten des täglichen Lebens zu regeln. Aber die Verwaltung in einer anarchistischen Gesellschaft würde sich von der Verwaltung in der gegenwärtigen Gesellschaft grundlegend unterscheiden. In Übereinstimmung mit dem Verlangen der Anarchisten, daß die Freiheit das Maß aller Dinge sein müsse, könnte jede gesellschaftliche Organisation nur eine freie Organisation sein, die spontan der natürlichen gesellschaftlichen Disposition der Menschen entspringt (14). Die Anarchisten glauben nicht im entferntesten daran, daß jemals alle Menschen harmonisch Zusammenleben werden, ohne die zerrüttenden Konflikte, die von Zeit zu Zeit zwischen einzelnen oder ganzen Gruppen ausbrechen. Sie sind allerdings der Meinung, daß die Lösung des Konflikts spontan von den Personen ausgehen muß, die daran beteiligt sind, und ihnen nicht von einer außenstehenden Macht, wie etwa einer Regierung, aufgezwungen werden darf. Die Vorstellung des Anarchisten von der Freiheit entspringt seiner Vorstellung vom Menschen. Er lehnt es ab, sich mit einer theologischen oder «wissenschaftlichen» Verurteilung der menschlichen Natur zu beschäftigen. Vielmehr ist er der Meinung, daß keine Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft möglich ist, die nicht von der Annahme ausgeht, daß der Mensch eine unbegrenzte Entwicklungsfähigkeit besitzt. Ohne sich auf irgendwelche fragwürdigen metaphysischen Begründungen einzulassen, geht der Anarchist dennoch davon aus, daß eine freie Gesellschaft nur möglich ist, wenn es eine weit verbreitete Übereinkunft darüber gibt, daß der Mensch von Natur aus ein freies Wesen ist. «Ohne die Idee eines freien Menschen ist die anarchistische Idee hinfällig: Denn ohne ihn kann die zukünftige Gesellschaft nicht existieren, ohne ihn können ihre Anfänge nicht gefördert werden.» (15) Wenn der Anarchist heute von Freiheit spricht, dann hat er das zentrale Problem unserer Zeit im Auge, nämlich seine Identität in einer Welt zu behaupten, in der es immer schwieriger wird, Individualität zu bewahren. Proudhon gehörte zu den ersten Anarchisten, die klar erkannten, daß es zwischen den Interessen des einzelnen und denen der Masse einen grundlegenden Konflikt gibt. Ein Mensch ist soweit ein Individuum, als er dem Verlangen seiner eigenen Natur nach Wahrheit und sozialen Gütern einen grundsätzlichen Vorrang einräumt. Er kann und soll seine Privatinteressen gelegentlich denen seiner sozialen Gruppe unterordnen. Aber wenn er das tut, sollte er nicht seine sozialen Prinzipien preisgeben, die in der Tat die Substanz seiner persönlichen Identität bilden. Wenn sich jemand vollständig einer Gruppe auslielert, wird er automatisch ein Teil der Masse, wobei er jeden Anspruch auf die Unterschiede verliert, die ihn von den anderen trennen. Und gerade um diese Unterschiede geht es bei den Erfordernissen des gesellschaftlichen Lebens, weil das Individuum seiner Natur nach ein gesellschaftliches Wesen ist. Laßt uns nicht abtrünnig werden durch die Jagd nach der Masse, forderte Proudhon, denn die Masse weiß niemals, wohin es geht. Die anarchistische Gesellschaft kann nur die Konsequenz individuellen Handelns sein. David Thoreau Wieck (16) hat den anarchistischen Standpunkt in dieser Frage so zusammengefaßt: «Wenn wir sagen, daß die Menschen nur durch [ihren] Willen, nur durch Taten im Sinne der Freiheit frei werden können, dann jonglieren wir nicht mit Worten. Wir sind der Meinung, daß Freiheit nicht einfach nur das Fehlen von Einschränkungen bedeutet, sondern Verantwortung, Entscheidung und die freie Übernahme von gesellschaftlichen Verpflichtungen.» (17) Was den Anarchismus von anderen Ideologien unterscheidet und ihm in den Augen seiner Anhänger Prestige verleiht, ist der Anspruch, daß allein der Anarchismus die Absicht hat, die Gesellschaft ohne Rücksicht auf die «lähmenden, zerstörenden Prinzipien der Macht, des Monopoleigentums und des Krieges» zu organisieren (18). Die meisten revolutionären Ideologien sind der Logik dieses Arguments zufolge an dem Punkt vom rechten Wege abgekommen, an dem sie den Versuch unternahmen, die Gesellschaft dadurch vor der Selbstzerstörung zu bewahren, daß sie bestimmten Personen Macht gaben, um die «richtige Art» von Institutionen ins Leben zu rufen. So zu denken ist nach Ansicht der Anarchisten verhängnisvoll für das revolutionäre Anliegen. Sobald sich Führer an die Spitze des Volkes setzen, ist die Freiheit verloren. Denn die Bürokratie verlangt, daß der Wille von einzelnen und spontanen Gruppen dem Willen der größeren Organisation untergeordnet wird. Die ganze Geschichte hindurch hat eine Revolution nach der anderen gezeigt, daß alle Pläne, die Gesellschaft durch die Einführung von formaler Organisation und Herrschaft zu retten, gescheitert sind. Dies ist der am häufigsten mißverstandene Aspekt der ganzen anarchistischen Beweisführung. Der Anarchismus, wie ihn seine Verfechter sehen, tritt nicht für eine bestimmte Form der gesellschaftlichen Organisation, sondern nur für eine «Idee» ein. Und diese Idee ist durch die Überzeugung gekennzeichnet, daß der höchste menschliche Wert die Freiheit ist. Keine soziale Aktion ist in den Augen des Anarchisten legitim, die nicht die größtmögliche Befreiung des schöpferischen Potentials des Menschen erstrebt. Man wird in dem Augenblick Anarchist, in dem man diese Idee akzeptiert und sich ihrer Verwirklichung widmet. Der Anarchismus unterstützt deshalb auch keine utopischen Pläne für die Zukunft. Ebensowenig ist er fähig, einen Plan der einzelnen sozialen Entwicklungsstufen zu entwerfen, die sich in der Zukunft herausbilden sollen. Er stützt sich grundsätzlich auf die Annahme, daß eine Gesellschaft von freien Menschen spontan Lebensumstände schaffen wird, die von der Freiheit im anarchistischen Sinne geprägt sind. Es ist unmöglich, sich die Evolution einer solchen Gesellschaft im voraus vorzustellen oder sie zu planen. Zwar hat auch die liberale Demokratie behauptet, ihr letztes Ziel sei die Verwirklichung der menschlichen Freiheit. Aber zwischen diesen beiden Begriffen von Freiheit gibt es einen wesentlichen Unterschied. Der liberale Demokrat, der davon überzeugt ist, daß der Staat als Institution zum Besten der Menschheit benutzt werden kann, steht auf dem Standpunkt, daß die Macht der Regierung ein positiver Faktor bei der Verwirklichung der menschlichen Freiheit ist. Der Anarchist aber vertritt genau die entgegengesetzte Meinung. In seinen Augen sind formale Regierung und politische Macht vorwiegend negative Erscheinungen und zur Erreichung eines guten Zwecks untauglich. Nach anarchistischer Meinung ist die Unterscheidung zwischen den demokratischen und autoritären Staatsformen nur Einbildung, weil beide Staatsformen in zunehmendem Maße dazu gedrängt werden, zur Durchsetzung ihrer Ziele Gewalt in dieser oder jener Form anzuwenden. Es gibt natürlich einen Unterschied, der sich auf das Maß bezieht, in dem jeder von ihnen bereit ist, im Kampf ums Überleben zur Gewalt Zuflucht zu nehmen. Aber dieser quantitative Unterschied ist, vom Standpunkt der menschlichen Freiheit aus gesehen, weitgehend irrelevant, weil demokratische Staaten, wenn sie hart bedrängt sind, in ihren Methoden unvermeidlich autoritär werden. Es ist zweifellos sehr anspruchsvoll, wenn man wie George Woodcock erklärt, daß «der Anarchismus die einzig wahre Lehre von der Freiheit ist» (19). Und doch kann diese Behauptung nicht leichterhand zurückgewiesen werden. Denn wenn Anarchisten wie Woodcock darauf hinweisen, daß der Anarchismus einen besonderen Anspruch auf die Freiheit hat, dann pflegen sie diese These mit eindrucksvollem Material aus den Annalen der modernen Soziologie zu belegen. Man denke beispielsweise nur daran, daß Herbert Read sowohl den Kommunismus als auch die liberale Demokratie mit der Begründung verworfen hat, daß beide, um die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten, zur Delegierung von Autorität und zur Verfügung bindender Zwangsvorschriften greifen und daß beide deshalb letztlich zum Totalitarismus führen (20). Man kann selbstverständlich dagegen einwenden, daß die Herrschaft des Rechts der Herrschaft der Gewalt als Mittel zur Beilegung von Interessen- und Meinungskonflikten unter den Menschen überlegen ist. Aber dieses Argument weicht dem wahren Sachverhalt aus. Es ist zweifellos richtig, daß das Recht als soziale Technik der Gewalt überlegen ist. Und doch ist das Recht nicht notwendigerweise die beste Methode, über die der Mensch zur Aufrichtung einer gesellschaftlichen Ordnung verfügt. «Das Recht ist», wie Bertrand Russell bemerkt hat, «zu statisch, zu sehr auf der Seite dessen, was verfällt, und zu wenig auf seiten dessen, was sich entwickelt.» (21) Außerdem beruht das Recht letzten Endes auf dem Prinzip, daß die, die es nicht beachten, dazu gezwungen werden. Solange die Menschen freiwillig das Recht achten, wird es die Freiheit erfolgreich schützen. In den Fällen aber, in denen es die Menschen nicht über sich bringen, den Regeln der politischen Gesellschaft zu gehorchen, verwandelt das Recht schnell seinen Charakter und wird in der Sicht des einzelnen, der zum Gehorsam gezwungen wird, zu nacktem Zwang und Tyrannei. Deshalb sind die Anarchisten von der Idee des Rechts überhaupt nicht beeindruckt. Der wichtigste Grund aber, warum die anarchistische Idee jahrelang so bedenklich entstellt worden ist, liegt zweifellos darin, daß es sich hier im wesentlichen um eine revolutionäre Theorie und damit um etwas handelt, was die breite Öffentlichkeit fürchten muß. Wie der Marxismus ruft auch diese Theorie dazu auf, den Staat zu zerstören und der Herrschaft der Politiker und Kapitalisten über die Arbeiter und Bürger ein Ende zu bereiten. Im Unterschied zu den Bolschewiki aber geben sich die Anarchisten keinen Illusionen darüber hin, daß man politische Macht zur Erreichung revolutionärer Ziele einsetzen könne (22). Die Frage der gesellschaftlichen Leitung und Richtungsweisung ist eines der hartnäckigsten Probleme für alle Reformbewegungen. Nach einem erfolgreichen Staatsstreich, in dem die Macht den Händen der korrupten Elite entwunden worden ist, wenden sich die Massen jedesmal an ihre eigene revolutionäre Führung, um sich die Richtung weisen zu lassen. Ohne jede Erfahrung im Umgang mit der Freiheit wissen die Leute nicht, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie ihnen plötzlich aufgedrängt wird. Die Führer aber sind glücklich, der revolutionären Leidenschaft die Richtung weisen und sie in vorbereitete Kanäle lenken zu können, denn trotz seiner Reden über die Schönheit und Richtigkeit der Freiheit fürchtet sich der revolutionäre Führer insgeheim davor, daß die Massen der Kontrolle entgleiten und Amok laufen. Deshalb ist die Geschichte der Revolutionen - soweit es um die Freiheit geht - die Geschichte eines Fehlschlags nach dem anderen. Die Antwort auf dieses Problem besteht im Sinne der anarchistischen Auffassung darin, die Revolution nicht als ein politisches Phänomen zu behandeln. Es ist unmöglich, soziale Gerechtigkeit dadurch zu erreichen, daß man eine Art der Tyrannei durch eine andere ersetzt, wie das die Bolschewiki in ihrer Revolution getan haben. Eine echte soziale Revolution darf nach Proudhon, einem der berufensten Interpreten der anarchistischen Theorie, niemals auf ein Fundament von Hierarchie und Leitung gegründet sein. «Die Radikalen werden anerkennen müssen, daß nur eine - politisch und ökonomisch - dezentralisierte Gesellschaft, die keiner Führer bedarf, klassenlos sein kann; und daß die Zentralisierung beständig nach Führern und damit nach gesellschaftlicher Gliederung verlangt» (23). Die Aufgabe, die sich der Anarchist gestellt hat, besteht darin, innerhalb des Gefüges der bestehenden Gesellschaft die Grundlagen für eine dezentralisierte, freie Gesellschaft zu legen. Der Anarchismus drängt auf die vollständige Absage an das autoritäre Prinzip, das die Menschen dazu veranlaßt, von Führern Weisungen zu erwarten. Die moderne Regierung und Kriegführung ist so geartet, daß der Hauptstoß des Widerstandes gegen das Leben in der Organisation notwendigerweise von Personen kommen muß, die fähig sind, sich selbst den Weg zu weisen. In diesem Punkt reicht der Anarchismus zurück bis zu Thoreau, Ballou, Tucker, Emerson, Whitman und vielen anderen Dichtern und Philosophen, die immer betont haben, wie wichtig der individuelle gewaltlose Widerstand gegen den Leviathan ist. Die Bedrohung durch einen Atomkrieg macht uns alle zu Anarchisten, behaupten die Anarchisten. In viel höherem Maße als allgemein angenommen sind der Anarchismus und die Friedensbewegung im Rahmen der amerikanischen Kultur miteinander verbunden, und sie haben sich immer gegenseitig zu neuen theoretischen und taktischen Entwicklungen angeregt. Man hat oft darauf hingewiesen, daß allen Anarchisten die Überzeugung gemeinsam ist, ein Anarchist könne sich unmöglich selbst am Krieg beteiligen oder eine Regierung unterstützen, die Krieg führten (24). Einige der ersten Amerikaner, die die Idee der Anarchie in ihrer Bedeutung klar erfaßt hatten, waren Mitglieder der amerikanischen Friedensbewegung, die zu der Einsicht gekommen waren, daß die moderne Kriegführung seit der französischen Revolution jedem Bürger das «Recht» verliehen hatte, für den Staat kämpfen und sterben zu dürfen (25). Mit der Entwicklung der atomaren Vernichtungsmittel ist es noch deutlicher geworden, daß der Staat, ungeachtet der materiellen Güter, die er dem einzelnen Bürger in Friedenszeiten gewähren mag, im Kriegsfall gegenüber allen moralischen und sozialen Werten, die für sein eigenes Überleben nicht notwendig sind, blind ist. Oder wie es bei Randolph Bourne, einem der berühmtesten Anarchisten Amerikas, heißt: «Der Krieg ist die Gesundheit des Staates», womit er sagen wollte, daß der Staat zur Rechtfertigung seiner Existenz nur eine Möglichkeit hat, nämlich seine Bürger in den Irrsinn eines Krieges zu verwickeln. Kein Anarchist, vorausgesetzt, daß er seinen Überzeugungen treu geblieben ist, hat je die Legitimität des Krieges eingeräumt. Vilfredo Pareto kam dreißig Jahre früher in einem Brief an den amerikanischen Anarchisten Benjamin Tucker zu dem gleichen Schluß, als er schrieb, daß «die wirkliche Opposition gegen das System von denen kommt, die daran glauben, daß das Glück eines Volkes nicht in Eroberungen, sondern in Freiheit, Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Prosperität besteht» (26). Der Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen, das den Vollgenuß seiner Schöpferkraft nur in Gemeinschaft mit anderen gesellschaftlichen Wesen erfahren kann. Aber leider, so behaupten die Anarchisten, hat die moderne soziale Entwicklung zur Verkümmerung der alten «Formen des Gemeinwesens» geführt, in denen die sozialen Fähigkeiten des Menschen noch freien und natürlichen Ausdruck fanden. Heute ist es für den einzelnen nicht mehr möglich, er selbst zu sein, seinem Nächsten zu trauen und umgekehrt für die vertrauenswürdig zu sein, denen er im Rahmen der Gesellschaft Treue schuldet. Das moderne Leben, das die Einflüsse so unnatürlicher Erscheinungen wie Nationalismus und Kapitalismus widerspiegelt, hat zu einer Störung des Gleichgewichts in dem empfindlichen sozialen Mechanismus geführt, der das Individuum antreibt. Dieser Tatsache verdanken wir die Ironie des gegenwärtigen sozialen Lebens. Die Welt ist nicht mehr intakt, weil die Individuen, aus denen sie besteht, sich einander in sozialer und geistiger Hinsicht entfremdet haben. Der einzelne wird aufgerufen, die Waffen gegen seinen Mitmenschen zu erheben, um ihn im Namen von Frieden und Brüderlichkeit zu vernichten. Oder der Bürger wird dazu ermutigt, einer politischen Partei beizutreten und die Regierungsmacht zu ergreifen, um dadurch angeblich gesellschaftliche Ordnung zu errichten. In beiden Fällen wird vom einzelnen gefordert, seine natürlichen sozialen Neigungen zu mißachten, und zwar immer zugunsten des angeblich Besten der ganzen Menschheit. Der Mensch, dessen Vorstellungen über Jahrhu-derte hinweg von dieser verworrenen Argumentation geprägt worden sind, ist nach Meinung der Anarchisten unfähig, seinen Problemen mit Hilfe irgendeiner herkömmlichen sozialen Lösung wie etwa der parlamentarischen Demokratie zu begegnen. Was die moderne Gesellschaft braucht, so behaupten die Anarchisten, ist die weitreichende Lösung, die der Anarchismus vorschlägt. Das soll nun nicht heißen, daß der Anarchismus eine bequeme Formel für die Reform der Gesellschaft zu bieten hat. Er lehnt es im Gegenteil sogar ab, sich mit den praktischen Seiten der Reform überhaupt zu befassen. Viele mangelhaft unterrichtete Beobachter verurteilen den Anarchismus als politische Theorie, weil er keinen detaillierten Plan für die Verwirklichung der Utopie vorzuweisen hat, die er uns angeblich verspricht. Aber die Anarchisten weigern sich, den Wert utopischen Denkens anzuerkennen, und sie wollen auch nicht die Verpflichtung auf sich nehmen, der Gesellschaft einen vollständigen Plan zu ihrer Reformierung auszuarbeiten. Der Anarchismus, um das noch einmal zu unterstreichen, ist auf die Zukunft ausgerichtet, und er stimmt völlig mit der Ansicht überein, daß das heutige Leben vom Standpunkt des Individuums aus unzulänglich und unbefriedigend ist. Außerdem gilt der Anarchismus als gesellschaftliche Theorie seinen Anhängern als unbestreitbar, ob er je praktische Ergebnisse hervorbringt oder nicht. Denn der Anarchismus wendet sich an den einzelnen und nicht an die Masse. Es ist ein Lebensstil, der es dem einzelnen ermöglicht, die physischen Einschränkungen und Begrenzungen, von denen er sich umgeben sieht, zu überwinden. Der Anarchismus mag wohl unfähig sein, das soziale Leben mit sofortiger Wirkung und vollkommen zu ändern. Aber er eröffnet dem empfindsamen Individuum, das die konventionellen gesellschaftlichen und moralischen Normen für oberflächlich und nicht praktikabel hält, einen Ausweg. Jeder Anarchist, von William Godwin bis Paul Goodman (27), war sich darüber im klaren, daß der Anarchismus nur dann die Masse der Menschen erreichen kann, wenn er die Individuen, aus denen die Gesellschaft besteht, überzeugt hat, und zwar eins nach dem anderen. Die Anarchisten befinden sich grundsätzlich im Widerspruch zu Politikwissenschaftlern wie etwa David Spitz, die behaupten, daß man entweder die politische Macht zu seiner eigenen Verteidigung erobern und ausüben oder aber riskieren muß, dank eigener Untätigkeit von ihr vernichtet zu werden (28). Wenn es auch wahr ist, daß die politische Macht nicht über Nacht verschwinden wird, so kann man doch nicht gelten lassen, daß unsere Wahlmöglichkeit so einseitig ist wie Spitz sie erscheinen läßt. Warum können wir die Macht nicht teilen, indem wir auf Dezentralisierung hin wirken, und zwar in der Absicht, sie den einzelnen menschlichen Wesen anzupassen, die jetzt von ihr kontrolliert werden? Die Macht, beteuern die Anarchisten, bleibt nur so lange politisch, wie die Menschen darauf bestehen, ihre sozialen und wirtschaftlichen Probleme mit Hilfe der in den Händen des Staates befindlichen Zwangsmittel zu lösen. Wo die Menschen freiwillig Zusammenarbeiten, um ihre Probleme selbst zu lösen, da wird das Wesen der Macht in wunderbarer Weise verwandelt. Von grundlegender Bedeutung für die anarchistische Lehre ist die Überzeugung, daß es die politische Autorität - die eigentliche Basis des modernen Staates - selbst ist, die den sozialen Schaden anrichtet, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Die Menschen haben sich so an den Gedanken gewöhnt, daß der Staat für ihr Wohlbefinden unentbehrlich ist, daß sie seine Sklaven geworden sind. Erich Fromm hat dieses Problem kurz und bündig so beschrieben: «Die Spaltung zwischen der Gemeinschaft und dem politischen Staat hat dazu geführt, daß alle sozialen Gefühle in den Staat hineinprojiziert werden, der so zum Idol wird, zu einer Macht, die über den Menschen steht. Der Mensch unterwirft sich dem Staat als der Verkörperung seiner eigenen sozialen Gefühle, die er als eine Macht verehrt, die sich von ihm losgelöst hat; in seinem privaten Leben als Individuum leidet er an der Isolierung und dem Alleinsein, die die notwendige Folge dieser Trennung sind. Die Verehrung des Staates kann nur verschwinden, wenn der Mensch die soziale Macht wieder in sich selbst verkörpert sieht und eine Gemeinschaft aufbaut, in der seine sozialen Gefühle nicht etwas sind, was zu seiner privaten Existenz hinzukommt, sondern in der seine private und seine soziale Existenz zusammenfallen.» (29) Die Gedanken, die Fromm hier zum Ausdruck bringt, stimmen wesentlich mit Malatestas Versicherung überein, daß «Autorität oder Regierung abzuschaffen nicht bedeutet, die individuellen oder kollektiven Kräfte, die in der Gesellschaft tätig sind, oder etwa den Einfluß eines Menschen auf den anderen zu zerstören» (30). Die Anarchisten stellen sich Autorität als ein im Grunde auf Zwang beruhendes Instrument vor, mit dessen Hilfe die, die im Kampf um die Macht erfolgreich waren, die Masse der Menschen zwingen, sich ihren Befehlen zu fügen. Das «Volk » wird natürlich nicht mehr zu Sklavenarbeit bei der Errichtung von Pyramiden und anderer, der Eitelkeit seiner Beherrscher schmeichelnder Monumente gezwungen, aber es sieht sich genötigt, in nationalen Kriegen zu kämpfen und Wirtschaftsformen zu unterstützen, die nicht seinen wohlverstandenen Interessen dienen. Aber das Volk tut das nicht aus freier Entscheidung, sondern weil es immer dazu erzogen wurde, seine Pflichten gegenüber der Regierung als absolut zu betrachten. Der Staat hat sein Monopol der politischen Macht schon so lange behauptet, daß die Menschen sich keine anderen Verhältnisse mehr vorstellen können als die, in denen sie gegenwärtig leben. Diese Ausrichtung beginnt in der frühen Kindheit und setzt sich das ganze Leben hindurch fort, was schließlich zu dem Totalitarismus führt, den wir heute überall um uns herum beobachten. Aber sowohl Fromm als auch Malatesta weisen daraufhin, daß das eigentliche gesellschaftliche Leben an dem Punkt beginnt, an dem sich die Menschen, einzeln oder in Gruppen, entscheiden, es selbst in die Hand zu nehmen, ohne die Kontrolle, die ihre Regierungen über sie ausüben. Mit der Autorität zu brechen und seine menschliche Unabhängigkeit zu behaupten ist ein durch und durch anarchistischer Akt. Es ist eine Art feierlicher Erklärung, man vertraue darauf, über die Macht und die Fähigkeiten seiner ursprünglichen Natur zu verfügen, und daß Leben in der Gesellschaft ohne die «wohltätige» Hand des Staates möglich ist. Vom Standpunkt des Individuums aus handelt es sich dabei um eine gewaltige Entscheidung, die eine tiefe psychologische Veränderung einschließt. Denn jetzt kann der einzelne den Staat nicht mehr als eine mächtige Vaterfigur betrachten, die ihn zu Sicherheit und Bequemlichkeit führt. Er muß nun vielmehr davon ausgehen, daß der Staat im Grunde ein Hindernis auf dem Wege seiner gesellschaftlichen Entwicklung darstellt, das beseitigt werden muß, bevor der Fortschritt beginnen kann. Es hat eine Zeit gegeben, in der die Anarchisten dazu neigten, im Akt der Revolution ein umwälzendes Ereignis zu sehen, das die aufgestaute Korruption von Jahrhunderten hinwegfegen und die Masse der arbeitenden Menschen auf einen Schlag befreien würde. Aber heute haben die Anarchisten diese Vorstellung aufgegeben. Sie sind sich heute alle darin einig, daß die soziale Revolution nicht etwas Plötzliches und in sich selbst Abgeschlossenes sein wird, sondern ein langer evolutionärer Prozeß, der im Willen einzelner Personen seinen Anfang nimmt und sich mit Hilfe von Erziehung und Beispiel ausbreitet. Grundlegend für die soziale Revolution ist die Umwandlung des Verhältnisses zum Phänomen Macht, die sich in den Gehirnen der einzelnen vollziehen muß. Während die Menschen heute mit dem Begriff Macht die Vorstellung von organisiertem Zwang und Gewalt verbinden, müssen sie lernen, die Macht als einen Akt freiwilliger Zusammenarbeit zu verstehen, der auf sozial schöpferisches Handeln gerichtet ist. Der Begriff der Macht hat, wie Erich Fromm dargestellt hat, eine doppelte Bedeutung (31). Einerseits bezeichnet er Zwang und Gewalt, die mit dem Ziel angewandt werden, über andere zu herrschen. Andererseits kann man die Macht als die «Potenz» definieren, nicht andere zu beherrschen, sondern mittels Kooperation und Anpassung sozial schöpferisch zu handeln. Herrschaft im letzteren Sinne ist nur in einer Gesellschaft möglich, die von gesunden Individuen gebildet wird, die imstande sind, ihr Leben ohne den Rückgriff auf Gewalt und übergeordnete Autorität zu gestalten. Selbstverständlich verfügen heute nur wenige von uns über die Seelenstärke, die die anarchistische Lösung verlangt. Aber da der Anarchismus nicht wie andere revolutionäre Theorien von der Machtergreifung abhängig ist, kann er logischerweise für ein Programm der sozialen Rebellion eintreten, das auf die allmähliche, aber unaufhaltsame Verwandlung der sozialen Verhältnisse innerhalb der Gesellschaft abzielt, und zwar mit eindeutig gewaltlosen Mitteln. Da der Anarchist davon überzeugt ist, daß politische Macht niemals zum Besten der Menschen dienen kann - wenn er sich auch im klaren darüber ist, daß die überwiegende Mehrheit der Menschen zu jeder Zeit nicht imstande sein wird, die Folgerichtigkeit dieser Behauptung zu durchschauen -, leistet er, Proudhon folgend, permanenten Widerstand gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit, wann und wo immer er ihnen begegnet. Der Anarchist befindet sich so natürlich immer in der Defensive und kann kaum erwarten, irgendwelche entscheidenden Siege zu erringen. Aber im Gegensatz zum Liberalen, der leicht von der Macht, die er naiverweise für gute Ziele zu benutzen sucht, völlig korrumpiert wird, ist es beim Anarchisten wenig wahrscheinlich, daß er dem Lockruf der Sirenen in den eigenen Untergang folgt. Das erklärt auch, warum der Anarchismus dem Utopismus keinerlei Wert beimißt; denn er weiß sehr wohl, daß die menschliche Vollendung kaum je auf dieser Erde zu erreichen ist. Wie schon Plato zur Zeit der Anfänge der politischen Philosophie bewiesen hat, sind der menschliche Machthunger und die daraus folgende Korruption Probleme, die mit jeder Generation aufs neue entstehen. Auf Utopien zu hoffen ist ebenso nutzlos wie es unsinnig ist, die moralische Unvollkommenheit, die für die Menschheit heute typisch ist, als immerwährende Realität zu akzeptieren. Die Anarchisten empfehlen statt dessen «einen permanenten Protest» gegen alle Formen der Unfreiheit und der Ungleichheit, ganz gleich, hinter welchen Parolen sie ihr räuberisches Wesen zu verbergen suchen» (32). Eine solche Handlungsweise ist natürlich geeignet, eine lange Reihe von Märtyrern herorzubringen, und genau darin besteht auch die Geschichte der anarchistischen Idee. Sie hat aber auch einige der einsichtigsten Kritiker der gesellschaftlichen Verhältnisse hervorgebracht, die die moderne soziale Szenerie aufzuweisen hat. Anarchist sein heißt also nicht, den Staat mit Zwang und Gewalt umstürzen, sondern Zwang und Gewalt als Mittel zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung zu verwerfen. So gesehen ist die Philosophie des Anarchismus ein reiches und fruchtbares Feld für phantasievolle soziale Erkenntnis, das von der Politikwissenschaft bisher noch kaum entdeckt worden ist. Diejenigen Politikwissenschaftler, die es wagen, die anarchistischen Ermahnungen in Sachen Freiheit und Herrschaft ernst zu nehmen, werden sicher reichlich dafür belohnt werden und uns aus der Sackgasse retten, in der wir heute gefangen scheinen. .{{anchor|PictureBullets}}