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Neuere Russische Literatur

Von Margarete Lausberg

Die Periode der Neueren russischen Literatur fängt im 17. Jahrhundert an. Neue Gattungen wie die syllabische Lyrik, eine abstrakte Dramatik oder auf dem Gebiet der Prosa anekdotische Erzählungen, satirische Novellen, Abenteuer- und Schelmenromane beginnen die bisherige von Hagiographie, Predigten und Chroniken dominierte Literatur zu verdrängen.

Mit der „Europäisierung“ Russlands durch Peter den Großen, die in Wirklichkeit eine „Westeuropäisierung“ war, wird der Einfluss der westeuropäischen Literaturen, namentlich der deutschen, französischen, italienischen und englischen, vorherrschend. Der von Peter dem Großen geschaffene neue Adel wird zu einer neuen, breiten Bildungsschicht, die vorerst auch die literarischen Entwicklungen trägt. Im Laufe des 18. Jahrhunderts werden in der Literatur die westeuropäischen Einflüsse an die russischen Verhältnisse und an die russischen Literatursprache, die sich dabei erst herausbildet, angepasst und so entsteht in dieser Zeit eine eigenständige russische Literatur, die mit Puschkin ihren Höhepunkt erreicht und zu einer der großen europäischen Literaturen wird.

Am 25. Januar 1721 wurde durch das Geistliche Reglement eine Staatsbehörde geschaffen, der Heiligste Dirigierende Synod (das Geistliche Kollegium), der die Stelle des Patriarchats einnahm. Die Mitglieder schworen dem Zaren einen Amtseid, so dass diese Institution vom Zaren abhängig wurde. Zar Peter I. hatte sozusagen ein Ministerium für kirchliche Angelegenheiten geschaffen und gleichzeitig die kirchliche Eigenständigkeit abgeschafft. Die kirchliche Gerichtsbarkeit wurde eingeschränkt, genauso wie der Besitz der Klöster, denen er auch die Zahl der Mönche beschnitt.[1]

Energisch setzte sich Peter der Große für die Förderung von Kultur, Bildung, und Wissenschaft in seinem Reich ein.[2] Bei der Verwirklichung seiner Reformabsichten – die ihn insbesondere bei seinen kürzeren Auslandsaufenthalten im Heiligen Römischen Reich 1711 und 1712/3 geprägt hatten, bediente sich der Zar vor allem der deutschen Frühaufklärung, die in Russland im 18. Jahrhundert zur vorherrschenden Denkrichtung werden sollte. Insbesondere die ersten bedeutenden russischen Wissenschaftler Wassili Nikititsch Tatischtschew, Michail Wassiljewitsch Lomonossow und Wassili Kirillowitsch Trediakowski waren in höchstem Maße von deutschen Gelehrten wie Leibniz und Wolff beeinflusst.[3]

Der hohen Bedeutung, die der Zar der Bildung für die Entwicklung einer modernen Gesellschaft beimaß, zeigten seine zahlreichen Erlasse, durch die Schulen der verschiedensten Typen ins Leben gerufen wurden. Dennoch blieb das weltliche Schulwesen im Argen, weil es an Geld und Lehrern fehlte. Ein weiteres Projekt, das Zar Peter in Angriff nahm, war die Etablierung einer Akademie der Wissenschaften, die im Dezember 1725 nach seinem Tod von seiner Nachfolgerin Katharina I. als Russische Akademie der Wissenschaften gegründet wurde. In enger Verbindung mit der Akademiegründung standen die von ihm befohlene Erkundung und Erforschung seines riesigen Reiches. Die von Peter I. inspirierten Forschungsexpeditionen bis in den Fernen Osten, wie z. B. die Expeditionen Berings vermittelten der russischen Wissenschaft wichtige Impulse und förderten die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Reiches.[4]

Eine Veränderung der alten Ordnung (starina) erfolgte beispielsweise durch eine Kalenderreform, wobei der byzantinische Kalender abgeschafft wurde. So wurde der 1. September 1699, der in Moskau der Anfang des Jahres 7208 hätte sein sollen, nicht gefeiert, sondern stattdessen auf weltliche Weise der 1. Januar 1700. Es kam damit zur Einführung des julianischen Kalenders (er war in protestantischen Ländern im Vergleich zum gregorianischen Kalender üblicherweise 11 Tage zurück).[5]

Um die Besteuerung zu rationalisieren, wurde 1718 die Kopfsteuer eingeführt, wonach allen männlichen Landbewohnern gleichmäßig die gesamte Steuerlast eines Dorfes aufgebürdet werden sollte. Eigentlich als Erleichterung für die Bauern gedacht, hatte sich durch die ständigen Finanzforderungen des Zaren und die häufigen Rekrutenaushebungen die Lage der Bauern erheblich verschlechtert. In allen Bevölkerungsschichten gab es erheblichen Widerstand gegen die Reformpolitik, der sich in verzweifelten Volksaufständen äußerte, die wiederum auf Befehl des Zaren mit brutaler Gewalt niedergeschlagen wurden. Dass die drückende Steuerlast, die Schollenbindung und Leibeigenschaft der Bauern Hauptursachen für die nur langsamen Fortschritte im Russischen Reich waren, wurde von Zar Peter I. nicht gesehen.

Zar Peter der Große hatte den Eindruck, dass im Russland seiner Zeit zu sehr an althergebrachten Traditionen festgehalten werde und das Land auf manchen Sektoren einer Modernisierung bedürfe.[6] In seiner Meinung bestärkten ihn Eindrücke, die er auf seiner Reise ins westliche Europa gewonnen hatte. Unter anderem waren wallende Vollbärte in den von ihm besuchten Ländern eher selten zu sehen und auch die Kleidung der bereisten Länder erschien ihm funktioneller, als die Gewänder seiner Untertanen. Er nahm sich daher vor, Verschiedenes in seinem Reich zu ändern.[7]

Als er vom Auslandsaufenthalt heimgekommen war, wurde im Schloss von Preobraschenskoje, zu jener Zeit der Zarensitz vor Moskau, ein Empfang gegeben, zu dem viele Würdenträger erschienen. Peter der Große erschien die Gelegenheit günstig, gleich ein Zeichen für neu anbrechende Zeiten zu setzen.[8] Er ließ sich Barbierzeug geben und schnitt eigenhändig die langen Bärte seiner Besucher ab. Nur drei Personen entgingen ihrem Bartverlust: Sein früherer Vormund Tichon Strešnev (1644–1719), der russisch-orthodoxe Patriarch Adrian I. und der schon sehr alte Fürst Čerkasskij. Einige Tage danach gab der Zar seinem Hofnarren den Auftrag, die Prozedur des Bartabschneidens bei Hofe fortzusetzen. An der Tafel des Zaren war nunmehr stets ein des Barbierens kundiger Bediensteter eingesetzt, der jedem erscheinenden Bartträger noch während der Dauer des Mahls die Haare stutzte.

Damit nicht genug, gab Peter am 5. September 1698 einen Ukas heraus, der Männer, ausgenommen Geistliche und tendenziell Bauern, anhielt, sich ihren Vollbart abzurasieren. Doch Widerstände von Betroffenen blieben. Daraufhin belegte er Vollbartträger mit einer Abgabe, die 1701 und 1705 vom Zaren erneut angeordnet wurde. Bauern, die in eine Stadt kamen, mussten die Abgabe bezahlen, wollten sie ihren Bart behalten.

1722 wurde im Zuge der Adelsreform eine Rangtabelle eingeführt. Sie ermöglichte den unmittelbaren Vergleich ziviler und militärischer Dienstgrade, sollte die Vormachtstellung des alten Erbadels, der Bojaren, brechen und einen von der Krone abhängigen Dienstadel schaffen. Nur ein Drittel des Adels durfte sich dem zivilen Dienst widmen; das Militärische genoss Vorrang.

Um St. Petersburg, die Stadt an der Ostsee, zu stärken, mussten viele russische Adelige dort, in einer Stadt ohne Hinterland und mit ungesundem Sumpfklima, diese aufbauen.[9] Denn wer in Peters Reich vorankommen wollte, musste sich seiner Meinung nach der notwendigen Modernisierung anpassen. Unter Peter stiegen viele Leute aus dem Landadel oder bescheideneren Verhältnissen auf, so etwa Andreas Ostermann, Alexander Menschikow und Peter Schafirow. Doch auch die alten Bojarenfamilien, die Scheremetjews, Dolgorukis, Apraxins und Peter Tolstoi nahmen westeuropäische Titel wie Fürst oder Graf an. Andere Leute, die einen unerwartet schnellen Aufstieg erlebten, waren Zarin Katharina I., die eine litauische Magd gewesen war, Menschikow, der Pastetenbäcker gewesen sein soll, Lefort, ein Bürgerlicher aus Genf. Andreas Ostermann, einer von Peters besten Diplomaten, war ein Gastwirtssohn aus Westfalen und Peter Schafirow ein konvertierter Jude.[10]

Doch Peter konnte natürlich nicht den Adel ignorieren und er konnte ebenso wenig alle Schlüsselstellungen in Administration und Armee nur mit Emporkömmlingen und Ausländern besetzen. Peter wollte, dass der Adel die ihm gebührenden Stellen in Verwaltung und Armee besetzte und aktiv seinen Staat mitgestaltete, das allerdings natürlich in Peters Sinne der Modernisierung.[11] Die Bojaren sollten natürlich die nötigen Qualifikationen besitzen. Sie mussten Arithmetik, Sprachen, Geometrie und Ballistik erlernen, ihre Söhne ins Ausland schicken und vieles mehr. Wer sich bewährte und die Politik des Zaren mitmachte, konnte sehr hoch steigen. So war auch der konservative Adelige gezwungen mitzumachen, wollten er nicht gesellschaftlich und politisch ins Abseits geraten und von Ausländern überspielt werden. In Russland besaß der Adel noch einen großen Einfluss im ländlichen Raum.

Die Einschätzung des Reformwerks Peters I. ist nicht einheitlich, brachte er doch bei seinen Modernisierungsversuchen die Kräfte der Unterschichten an den Rand der Erschöpfung. Seine lange Zeit hervorgehobene Pionierrolle bei der Modernisierung Russlands wurde relativiert: Viele seiner Reformen wurzelten in den Vorstößen seiner Vorgänger des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Peters I. Nachfolger setzten die von ihm intensivierte Modernisierung Russlands grundsätzlich fort, wenn auch viele seiner Reformen zunächst rückgängig gemacht wurden.[12] Die Kraft der petrinischen Umgestaltungen war aber so groß, dass der Prozess der Modernisierung in Russland selbst unter den späteren, schwachen Kaisern unumkehrbar wurde. Vor allem Kaiserin Katharina II., gebürtige deutsche Prinzessin Sophie Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst, knüpfte an die petrinischen Reformen an und setzte zugleich die ambivalenten Tendenzen von Peters Reformwerk, als aufgeklärte Herrscherin unter Anwendung autokratischer Machtmethoden, fort.[13]

Wichtig für die Schaffung einer theoretischen Grundlage für diesen Prozess waren in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Wassili Tredjakowski und Michail Lomonossow. Tredjakowski übernahm aus der Poetik des französischen Klassizismus die Einteilung in Lyrik, Epik und Dramatik. Lomonossow, der als wichtigster Reformer der russischen Schriftsprache gilt, definierte die Sprachstile, die den einzelnen Gattungen entsprechen sollten.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts führte Nikolai Karamsin über die Arbeit an seiner Kunstprosa die Reform der Schriftsprache weiter. So entstand, vor allem beeinflusst von der französischen Sprache und vom französischen Denken, bald eine Sprache, die allen Ansprüchen einer Literatursprache genügen konnte. Die Eigenheiten dieser Sprache zur Geltung zu bringen, gelang Iwan Krylow in seinen Fabeln, die teils Übersetzungen La Fontaines, teils eigene Schöpfungen waren.

Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt als das Goldene Zeitalter der russischen Literatur. Die zentrale Gestalt dieser Epoche, die alle anderen Dichter (Schukowski, Batjuschkow) überragte, war Alexander Puschkin, der bis heute als der größte und wichtigste Dichter Russlands angesehen wird. In seinen Gedichten, Oden und Dramen brachte er eine umfassende Kenntnis der europäischen Literaturen in die Beschäftigung mit Stoffen aus seinem russischen Umfeld (russische Geschichte, russische Märchen) ein. Mit dem Versroman Eugen Onegin schrieb Puschkin den ersten großen russischen Roman. Nicht nur durch die hier erstmals eingeführte Figur des „überflüssigen Menschen“ sollte der Roman noch Generationen von Schriftstellern beeinflussen.Diese zentrale Gestalt der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts tritt auch im Roman Ein Held unserer Zeit von Michail Lermontow auf, der u. a. durch die Übernahme romantischer Ideen zu neuen Ausdrucksmitteln fand.

Auch Nikolai Gogol war von den europäischen Romantikern – vor allem von E.T.A. Hoffmann – beeinflusst, gab dessen grotesk-mystischem Stil aber eine stark russische Prägung. In Werken wie Der Revisor, oder Die toten Seelen zeichnete er ein satirisches Bild der russischen Gesellschaft in der Provinz. In seinen Petersburger Novellen karikiert Gogol die verschiedenen Mitglieder der damaligen Gesellschaft vor dem Hintergrund der Hauptstadt. Gogols Einfluss auf die russische Literatur lässt sich am besten mit dem Dostojewski-Zitat belegen, in dem sich dieser auf die Erzählung Der Mantel, die berühmteste der Petersburger Novellen, bezieht: Wir sind alle aus dem Mantel hervorgegangen.

Gawriil Romanowitsch Derschawin war der bekannteste russische Poet vor Puschkin. Obwohl seine Werke der klassischen Literatur zugeordnet werden, sind seine besten Verse voller Antithesen und Widersprüche, die an John Donne und andere metaphysiche erinnern.

Geboren und zur Schule gegangen in Kasan, stieg er vom einfachen Soldaten zum höchsten Offizier des Staates unter Katharina der Großen auf. Er war Gouverneur von Olonez (1784) und Tambow (1785), persönlicher Sekretär der Kaiserin (1791), Präsident der Wirtschaftsuniversität (1794) und Justizminister (1802). Er trat jedoch bereits 1803 von allen Ämtern zurück und verbrachte den Rest seines Lebens auf seinem Landsitz in Zwanka nahe Weliki Nowgorod. Hier schrieb er seine Gedichte und Verse. Er wurde im Kloster Chutynski Monastyr nahe Zwanka begraben. Während der Sowjetära wurde er in den Nowgoroder Kreml umgebettet, um dann nach der Auflösung der Sowjetunion wieder in seine alte Grabstätte verbracht zu werden.

Derschawin ist am bekanntesten für seine Oden, die er der Kaiserin und anderen Angehörigen des Hofes widmete. Er schenkte der vorherrschenden Einteilung in Genres keine Beachtung und integrierte des Öfteren elegische, humoristische und satirische Elemente. Als Beispiel ist seine größte Ode zu nennen, in der er beschreibt, wie er Flöhe in den Haaren seiner Frau sucht, und seine eigenen Gedichte mit Limonade vergleicht.

Anders als andere klassische Dichter, empfand Derschawin Freude über sorgsam ausgesuchte Details wie z.B. die Farbe seiner Tapete in seinem Schlafraum. Er glaubte, dass Französisch eine Sprache der Harmonie wäre, während er Russisch für eine Sprache voller Konflikte hielt. Auch wenn er harmonische Alliterationen bevorzugte, nutzte er manchmal bewusst Effekte der Kakophonie. Seine bekanntesten Werke sind:

Nikolai Michailowitsch Karamsin war ein russischer Schriftsteller und Historiker. Karamsin markiert in der russischen Literatur den Übergang vom Klassizismus zum Sentimentalismus. Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts konnte kein anderer Schriftsteller in Russland einen solchen Publikumserfolg und so viele Nachahmer verzeichnen wie Karamsin.

Am 12. Dezember 1766 wurde Karamsin als Sohn eines Gutsbesitzers in der Nähe von Simbirsk (Uljanowsk) geboren. Seinen ersten Unterricht erhielt er durch Hauslehrer.

1780–83 erlernte er im Moskauer Pensionat des Professors Schaden moderne Sprachen und Literaturen. Als erste Arbeit Karamsins erschien 1783 seine Übersetzung einer Idylle von Salomon Gessner (1730–1788) im Druck: Das hölzerne Bein.

Nach einem kurzen Zwischenspiel im Petersburger Garderegiment und der Rückkehr nach Simbirsk siedelte Karamsin nach Moskau über, wo er sich 1784–89 dem Kreis um den großen Aufklärer, Verleger und Schriftsteller Nikolai Iwanowitsch Nowikow anschloss. In der von Nowikow gegründeten Zeitschrift veröffentlichte er Übersetzungen, kleinere Gedichte und Erzählungen.

1789–90 reiste Karamsin durch Europa: Memel, Tilsit, Königsberg (Begegnung mit Immanuel Kant), Berlin (zehn Tage), Dresden, Leipzig, Weimar (Begegnung mit Wieland, aber nicht mit Goethe). Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in der Schweiz kam er im März 1790 nach Paris, wo er vier Monate blieb. Die Heimreise führte ihn von London, wo er sich von Juli bis September 1790 aufhielt, zu Schiff nach Kronstadt zurück.

1791–92 gab Karamsin die literarische Zeitschrift Moskovskii zhurnal heraus und veröffentlichte dort die auf der Europareise entstandenen Briefe und Tagebuchnotizen, bevor sie 1797–1801 in einer sechsbändigen Buchfassung als Briefe eines russischen Reisenden herauskamen. Der Reisebericht hatte so großen Erfolg, dass bereits 1801–1803 die 2. Auflage erschien. Im Moskauer Journal veröffentlichte Karamsin auch seine bekanntesten sentimentalistischen Erzählungen wie Die arme Lisa und Frol Silin. Das Journal wurde eingestellt, nachdem Karamsin in seinem Gedicht An die Barmherzigkeit für die Begnadigung Nowikows eingetreten war, der ohne Gerichtsurteil eingekerkert worden war.

1793–1801 publizierte er eine Reihe literarischer Sammelbände eigener und fremder Werke: Aglaja, Meine Bagatellen, Die Äoniden, ein Pantheon russischer Autoren und ein Pantheon der ausländischen Literatur.

1802–1803 leitete Karamsin die Redaktion des Westnik Jewropy (Bote Europas), der das erste Muster für die dicken russischen Literaturjournale wurde. Im Westnik Jewropy veröffentlichte Karamsin seine bekannteste historische Erzählung Marfa, die Statthalterin.

Als Alexander I. ihn 1803 zum Reichshistoriographen ernannte, beendete Karamsin seine literarische Tätigkeit und widmete sich ganz der wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte Russlands. 1818 veröffentlichte er die ersten acht Bände seiner Geschichte des russischen Staates, die er mit dem unvollendeten zwölften Band bis zur Zeit der Wirren führte (1605–1613). Das Werk wurde wegen seines reichen Quellenmaterials und seines glänzenden Stils ein außergewöhnlicher Erfolg.

Nachdem Karamsin eine Lungenentzündung überstanden hatte, war er zu schwach, um eine geplante Erholungsreise nach Südfrankreich und Italien anzutreten. Er starb am 3. Juni 1826 in Sankt Petersburg.

Karamsin ist für die russische Kultur in dreifacher Hinsicht bedeutsam: als Begründer des Sentimentalismus – er überwand das abstrakte Pathos des Klassizismus und stellte menschliche Gefühle in den Mittelpunkt seiner Werke –, als Historiker und als Sprachreformer. Er bildete neue russische Wörter nach französischem und manchmal deutschem Vorbild, die sofort Allgemeingut wurden. Beispiele dafür sind die russischen Wörter für Bewusstsein, Entwicklung, Industrie oder rührend. Den russischen Satzbau vereinfachte er nach französischem Vorbild.

Mit dem sogenannten Novij slog (Neuer Stil) setzte er den ersten wichtigen Baustein zur Begründung einer neuen Prosasprache, die später von Puschkin zur Vollendung gebracht wurde.

Noch als Schüler wurde Puschkin in Abwesenheit in die Petersburger literarische Gesellschaft Arsamas des W.A. Schukowski aufgenommen, die sich gegen tradierte, verkrustete Sprachvorstellungen der etablierten Literatur wandte und sich für eine Weiterentwicklung der russischen Hoch-/Schriftsprache einsetzte. Die frühe Poesie des Dichters strahlt seine unstillbare Lebenslust aus.

1816 erfuhr Puschkins Lyrik eine entscheidende Wendung, als die Elegie zu seiner Haupt-Dichtform wurde.

Als Puschkin 1817 das Lyzeum abschloss, nahm er mit dem Titel eines Kollegiensekretärs eine Stellung im Petersburger Kollegium für Auswärtige Angelegenheiten an. Er wurde zum ständigen Theaterbesucher, nahm an den Sitzungen der Arsamas-Gesellschaft teil und wurde Mitglied der Literatur- und Theatergemeinschaft Grüne Lampe, die von den Anfängen der Dekabristenaufstandes beeinflusst war. Obwohl Puschkin am frühen, geheimen Wirken der Dekabristen nicht teilnahm, war er doch mit vielen der aktiven Mitglieder in Freundschaft verbunden und schrieb politische Epigramme und Gedichte wie (Liebe, Hoffnung, stiller Ruhm...), (alle 1818). In diesen Jahren war er beschäftigt mit der Abfassung des märchenhaften Versepos Ruslan und Ljudmila, das er schon im Lyzeum begonnen hatte und mit dem er ganz auf der Linie von Arsamas bezüglich der Notwendigkeit der Schaffung nationaler Heldenepen lag. Das Gedicht wurde im Mai 1820 abgeschlossen und rief ein erbittertes Echo in der Kritik hervor, die sich über den Niedergang des Hohen Kanons empörte.

Im Frühjahr 1820 musste Puschkin sich für einige Spottgedichte verantworten, in denen er Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie den Kriegsminister und den Bildungsminister lächerlich gemacht hatte. Einer Verbannung nach Sibirien entging er durch die Protektion einflussreicher Freunde. Petersburg musste er jedoch im Zusammenhang mit einer Versetzung zu General Insow nach Jakaterinoslow im Frühsommer verlassen. Er erkrankte an seiner neuen Dienststelle und schloss sich seinem Petersburger Freund, dem General Rajewski, an, der auf dem Weg zu den kaukasischen Bädern war und ihn im Fieber vorfand. Puschkin reiste von August bis September über die Krim nach Odessa. Er lebte einige Zeit bei Rajewski und lernte dessen Tochter Maria kennen. Das romantische Gedicht Der Brunnen von Bachtschissaraj entstand. 1820 wurde Puschkin auch Mitglied der Filiki Eteria. Bis 1824 lebte er an verschiedenen Orten im Süden Russlands, u.a. in Odessa, Kischinjow und Kamjanka. 1823 begann er sein bedeutendstes Werk, das Versepos Eugen Onegin, das er erst 1830 abschloss.

1824 wurde Puschkin aus dem Staatsdienst entlassen, nachdem er sich in einem Brief wohlwollend über den Atheismus geäußert hatte. Er wurde auf das elterliche Gut Michailowskoje verbannt, wo er während der nächsten Jahre unter ständiger Aufsicht der Behörden lebte. Puschkin unterhielt einen intensiven literarischen Briefwechsel mit seinen Freunden, er arbeitete an einem Gedichtband, der Ende des Jahres erschien, und beendete die Tragödie Boris Godunow, mit der er die eingefahrenen Wege der russischen Dichtung weit verließ.

Nach einer Audienz bei Zar Nikolaus I. durfte Puschkin von 1826 bis 1831 zwar wieder in Moskau und Petersburg leben, seine Werke wurden aber vom Zaren persönlich zensiert und sein Werk und sein Lebenswandel stark kontrolliert (auch aufgrund seiner Verbindungen zu den Aktivisten des Dekabristenaufstand). Dies prägte auch die Weiterarbeit an Eugen Onegin. Puschkin war unzufrieden, da er weder seine dichterischen noch seine privaten Vorstellungen verwirklichen konnte.

Einen Wechsel in Puschkins Lebensumständen bewirkte seine Heirat mit Natalja Gonscharowa 1831. Sie hatten sich 1830 kennengelernt. Mit Blick auf die Hochzeit erhielt Puschkin von seinem Vater das Dorf Boldino, 250 km von Nischni Nowgorod entfernt. Puschkin wollte es nur kurz besuchen, doch verhinderte eine Choleraepidemie die Rückkehr nach Moskau. Puschkin war gezwungen, in der Provinz zu bleiben, und es wurde seine größte Schaffensperiode. Das Ehepaar bekam insgesamt vier Kinder, 1832 kam Tochter Maria (1832–1919) zur Welt, im Folgejahr der Sohn Alexander (1833–1914), zwei Jahre später der zweite Sohn Grigori (1835–1905) und als letztes Kind die Tochter Natalja (1836–1913). Letztere heiratete den russischen General Michail Leontiewitsch von Dubelt (1822–1900) und nach der Scheidung von Dubelt in zweiter Ehe 1868 Prinz Nikolaus zu Nassau.

Das Paar zog 1831 nach Petersburg, wo es mit Unterstützung von Gontscharowas wohlhabender Verwandtschaft am mondänen Leben des Zarenhofes teilnehmen konnte – was Puschkin, der sich nach Unabhängigkeit sehnte, frustrierte. Er stritt sich häufig und oft aus trivialen Gründen; seine Werke in dieser Zeit entstanden unter großem psychischen Druck. Er verkehrte in Sankt Petersburg im Cafe S. Wolf und T. Beranger.

Erst 1836 durfte er die Literaturzeitschrift Sowremennik (Der Zeitgenosse) herausgeben, ein Fortschritt in seiner stark von der Zensur beeinträchtigten Tätigkeit.

Puschkin und seine Frau Natalja machten in Sankt Petersburg die Bekanntschaft von George-Charles d’Anthes. Dieser heiratete Nataljas Schwester Katharina Gontscharowa, machte aber dennoch Natalja Puschkina in auffallender und provozierender Weise den Hof. Durch seine aufdringlich zur Schau gestellte Verehrung für Puschkins Frau entstanden Gerüchte, die deren eheliche Treue in Zweifel zogen. Puschkin schrieb einen beleidigenden Brief an den Adoptivvater Heeckeren, woraufhin d’Anthès seinen Schwager Puschkin zum Duell fordert. Puschkin wurde durch einen Bauchschuss schwer verletzt und erlag zwei Tage später seiner Schussverletzung. D’Anthès wurde nur leicht an Arm und Brust verletzt.

In privaten Zirkeln bei Tee und Zigaretten sammelte sich die russische Intelligenz im 18. und 19. Jahrhundert und redete über das Schicksal Russlands. Das war die „kritisch denkende Jugend, aus der die Dekabristen hervorgegangen sind“. In diesen Kreisen herrsche der Gedanke, dass „Russland eine eigene […] Kulturtradition nicht besitze“, daher ist es gezwungen „in die Fußtapfen des europäischen Westens zu treten“. Doch später gab es auch einige positiven Ansichten, die A. S. Puschkin z.B. in seinen Reisegedanken vertrat: „Lesen Sie die Klagen der englischen Fabrikarbeiter, und es werden Ihnen vor Entsetzen die Haare zu Berge stehen. Wie viel abscheuliche Folterqualen![…]“. Weiterhin schrieb er: „…Schauen Sie sich den russischen Bauer an: ist denn eine Spur knechtischer Demütigung in seinem Benehmen, seiner Rede zu bemerken? […] …In Russland gibt es keinen Menschen, der nicht sein eigenes Haus besäße. […]“ Hier werden also die Zustände in Russland in einem günstigen Licht gesehen. Doch Puschkin vergisst zu berücksichtigen, dass die meisten Häuser, die jeder besitzt, sich in einem erbärmlichen Zustand befanden. Er versucht Russland, trotz der Leibeigenschaft, zu idealisieren, wobei gerade das, was Puschkin als „glückliche Bauern“ bezeichnet, die Entwicklung des Bürgertums bremst, während in Westen dieses Phänomen schon längst existiert.

Bis an die Schwelle des industriellen Zeitalters waren Bürgertum und Stadt nicht die Stärke der Sozial-, Wirtschafts- und Herrschaftsverfassung des Zarenreiches. Es gab mehrere Ursachen, warum die Entwicklung des Bürgertums in Russland rückständig blieb. Der Spielraum dafür, wegen der bestehenden Aristokratie und der Leibeigenschaftsordnung, war nicht so groß. Wenige Städte konnten als bedeutende Zentren von Handel und Gewerbe gelten. Man kann sogar sagen, dass sehr viele Städte einen agrarischen Charakter hatten und auch äußerlich den ärmlichen Dörfern ähnlich waren. Die landwirtschaftliche Beschäftigung war da noch sehr verbreitet, die gewerblich- kommerzielle dagegen spielte keine gravierende Rolle. Was die Bewohner dieser dem Dorf ähnlichen Städten zu „Bürgern“ machte, war ihre rechtliche, aufs engste mit der Art der Steuerleistung verknüpfte Lage. Dieser Gedanke lässt sich mit folgendem Zitat aus einer Briefsammlung von Helmuth Karl Bernhard Graf von Moltke, der ein preußischer Generalfeldmarschall war, bestätigen: „ … Dieser Zins, Obrok, wurde sehr mäßig normiert und konnte nicht gesteigert werden, weil sonst die Zahler verarmten, das landwirtschaftliche Inventar zugrunde ging und die Zahlung ganz unterblieb…“. Bauern hatten also im ausgehenden 18. Jahrhundert viele Privilegien. Es gab während der Regierungszeit von Katharina II. Bestimmungen, die es den Staatsbauern zunächst weitgehend freistellten, der Bürgerschaft beizutreten, wie es man der folgenden Quelle entnehmen kann: „So entstand zuerst der Gedanke dass man einen Leibeigenen zu jeder beliebigen Leistung verwenden könne. - Ein Leibeigener erhält die Erlaubnis zu wandern, er wird ein gefeierter Künstler, ein Kaufmann und Millionär.“. Allerdings wurden dieser Freizügigkeit enge Grenzen gesetzt. Zum einen konnte die Erlaubnis zum Standeswechsel für Adelsbauern nicht gelten. Zum anderen stellte sich heraus, dass die dörflichen Zuwanderer oft eher eine Last denn eine Bereicherung für die Städte bedeuteten, was auch Graf Moltke betonte: „ Wollte man 24 Millionen Adelsbauern plötzlich die Freizügigkeit wiedergeben, so würde in den minder fruchtbaren Teilen des Reiches der Ackerbau ganz zugrunde gehen. Ohne solides ökonomisches Fundament konnte das Bürgertum im Zarenreich seine rechtliche Stellung nur in sehr begrenztem Maße sozial zu verteidigen. Der Staat folgte immer noch dem Prinzip der Ständetrennung. Es gab also sehr wenig Freiheit und Selbständigkeit, die für die Entfaltung des Bürgertums notwendig waren. Die politische Macht wurde ihm auch entzogen, deswegen konnte es seine Interessen gegen die Vorherrschaft des Adels nicht durchsetzen.

Das städtische Bürgertum blieb im vorindustriellen Russland als Gesamterscheinung weitgehend eine sozial äußerst heterogene, wirtschaftlich wenig gefestigte, von der Zentralgewalt geschaffene und abhängige Kategorie der Rechts-, verwaltungs- und Steuerordnung. An der Notwendigkeit der Veränderungen war also nicht zu zweifeln, weil der Staat auch das Elend der Städte und die mangelnde Leistungsfähigkeit des Handels spürte: Industrie und Handwerk entwickelten sich nur langsam. Vom bürgerlichen Wohlstand zeigte sich kaum eine Spur. Diese schwache Entwicklung des Bürgertums war schlecht für die Regierung, weil laut Bjelinskij „Staaten, die keinen Mittelstand haben, zu ewiger Nichtigkeit verurteilt sind, […]“. W. G. Bjelinskij war ein russischer Literaturkritiker, Publizist, Linguist und Philosoph. Er war überzeugt, dass die Industrie „eine Quelle großer Wohltaten für die Gesellschaft ist…“. Er kritisierte auch solche Persönlichkeiten, wie „Deutscher – M“ (vermutlich Marx) und auch Louis Blanc (ein französischer, utopischer Sozialist und Gründer der Sozialdemokratie), die laut Bjelinskij behaupten, dass „die Bourgeoisie ein Übel sei, dass sie vernichtet werden müsse und dass, wenn sie nicht mehr existiert, alles gut kommen werde“. An dieser Stelle kann man sagen, dass Bjelinskij mit seiner Kritik Recht hatte, weil die Entwicklung des Bürgertums und somit auch die Entwicklung der Industrie, die sich mit wenig städtischer Bevölkerung nur schwer durchsetzten kann, sehr wichtig für das allgemeine Wohl des Staates ist.

Die Zahl der Obrok- Bauern, denen es gestattet wurde, beliebiger Erwerbstätigkeit nachzugehen, war beträchtlich. Sie verließen oft das heimatliche Dorf und wanderten einzeln oder in Gruppen große Distanzen durch, um als Gelegenheitsarbeiter Beschäftigung zu finden. Manche ließen sich dauernd in Städten wie Saratow oder Astrachan nieder, blieben aber Mitglieder der Dorfgemeinde. Nicht selten waren Obrok- Leibeigene auch als Architekten oder Kunstmaler tätig. Einige von ihnen hatten oft Bargeld, das sie den Not leidenden Dorfbewohnern liehen und dann gegen hohe Zinsen oder Fronarbeit wieder zurückverlangten. Das waren die Kulaken („Kulak“ Û Bezeichnung für den russischen Mittel- und Großbauern), die später als „agrarische Kapitalisten”, als Volksfeinde und Ausbeuter diskreditiert wurden. In einer der hier schon erwähnten Schrift von Bjelinskij kann man nicht umsonst schon am Anfang des 19. Jahrhunderts ähnliche Gedanken wie „der Krämer ist seiner Natur nach ein gemeines, lumpiges, niedriges, verächtliches Geschöpf…, ein Wesen, dessen Lebenszweck nur im Profit besteht“ treffen, die Bjelinskij selber allerdings, wie schon oben erwähnt, kritisiert. Anfänge solchen Wuchers und Kulakentums unter Leibeigenen sind für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts nachweisbar.

Puschkin gilt für die meisten seiner Landsleute als der russische Nationaldichter (mit weitem Abstand vor im Ausland wohl bekannteren Schriftstellern wie Tolstoi oder Gogol.

Bis zum Einmarsch Napoleons in Moskau 1812 sprach die russische Oberschicht Französisch. Nach dem darauf folgenden Brand Moskaus fragte man sich, warum man eigentlich die Sprache des Feindes spreche. Puschkin bereitete in seinen Gedichten, Dramen und Erzählungen der Verwendung der Umgangssprache den Weg; er schuf einen erzählerischen Stil, der Drama, Romantik und Satire mischte – ein Stil, der seitdem untrennbar mit der russischen Literatur verbunden ist und zahlreiche russische Dichter massiv beeinflusste. Seine romantischen Zeitgenossen waren Byron und Goethe; er wurde beeinflusst von Voltaire und den Tragödien von Shakespeare.

Graf Nulin ist eine Parodie in Reimform von Alexander Sergejewitsch Puschkin.

Der Ehemann der Natalja Pawlowna (Natascha) reitet eines Morgens zur Jagd aus, während sie selbst auf dem Gutshof zurückbleibt. Lustlos und ermüdet geht sie ihren Tag an, als Graf Nulin (den sie vorher nicht kennt) auf dem Weg vorbei an ihrem Haus einen Kutschenunfall erleidet. Er kommt gerade aus Paris, das er wegen Geldschulden verlassen musste. Dennoch beabsichtigt er seinen aufwändigen Lebensstil in St. Petersburg fortzuführen. Er wird darauf eingeladen, die Nacht auf dem Gutshof zu verbringen. Beim Abendessen unterhalten sich beide über das Pariser Gesellschaftsleben. Nulin ist bewandert in allem Klatsch und Moden. Seine Ausdrucksweise ist dabei äußerst geziert. Natascha wiederum gibt sich trotz ihres nicht ganz jugendlichen Alters schwärmerisch, was ihn ganz verliebt macht. Nach dem Zubettgehen überdenkt Nulin den Abend nochmals und kommt zum Schluss, die (tatsächlich) allzu kokette Natascha sei für eine Affäre zu haben. So schleicht er sich wie ein Kater in ihr Zimmer. Die zunächst verschreckte Frau gibt ihm nach kurzer Besinnung eine Ohrfeige. Enttäuscht zieht Nulin wieder ab. Am nächsten morgen frühstücken Gast (peinlich berührt und in Sorge) und Gastgeberin (erneut kokett und guter Dinge) wieder zusammen, als sei nichts passiert. Auch als der Ehemann von der Jagd zurückkehrt (geschossen hat er nur einen Hasen, was er stolz erzählt), fällt kein Wort. Daraufhin reist Graf Nulin (zu deutsch: Graf Null) eiligst und erleichtert in der reparierten Kutsche wieder ab. Natascha berichtet ihrem gehörnten Ehemann umgehend von dem Vorfall und lässt ihn Nulin verfolgen.

Die Handlung schließt damit, dass der 23-jährige Nachbar Lidin (dem Leser unbekannt) - im Gegensatz zum Ehemann - gut lachen hat.

Zum Schluss wird die Treue der Frauen gelobt, die heutzutage immer noch zu finden sei. Dies ist der Clou der Geschichte. Natascha hält zwar nicht ihrem Ehemann, wohl aber ihrem jungen Liebhaber Lidin die Treue. Den möchte sie keinesfalls gegen den - zwar sehr modischen -, aber ältlich und lächerlich wirkenden Grafen tauschen.

Der Stoff der Lucretia-Tragödie schimmert nur entfernt durch. Der Text weicht erheblich von der Vorlage ab. Auch erfüllen die Figuren eben nicht die erwartete Funktion. Denn obwohl Graf Nulin vom Autor in die Nähe Tarquins gerückt wird (Nulin soll „Tarquins feurige[r] Genosse[..]“ sein) und Natascha in die der Lucretia („so zu Lucretia zieht ein neuer Tarquinius auf Abenteuer“), stellt sich früh heraus, dass beide dem Rollenschema nicht gerecht werden können. Die Dramatik mündet in der Ohrfeige, -statt in einer Vergewaltigung.

Nicht scheitert Nulin nur am Versuch der „Verführung“, er weckt zudem den ganzen Hof. Es ist fraglich, inwieweit man von einer expliziten Lucretia-Parodie sprechen kann, denn zur Zeit der Niederschrift war der Stoff in Russland weitgehend unbekannt.

Am Anfang seines Werkes Der Posthalter lernt man die Familie Wyrins kennen – ein Vater und seine Tochter, die zwar arm sind, aber glücklich und harmonisch zusammenleben. Trotzdem spürt man, dass das Mädchen, Dunja, von dem Erzähler als „kleine Kokette“ bezeichnet, die sich „ohne jeden Scheu“ mit Reisenden unterhält, nicht bestimmt ist, ihr ganzes Leben in einer entlegenen Poststation zu verbringen.

Der Anfang des Schneesturms stellt ebenfalls ein glückliches Familienleben dar. Im Vergleich mit den Wyrins ist diese Familie reich, doch zwischen den zwei Heldinnen, Dunja und Marja Gawrilowna, bestehen Parallelen. Beide sind jung und schön, haben eine gute Beziehung zu ihren Eltern, wollen aber dennoch von dem elterlichen Zuhause weg. Im Posthalter wird dies nur impliziert, während Marja Gawrilowna, heimlich mit einem „arme[n] Armeeleutnant” verlobt, schon am Anfang der Erzählung Fluchtpläne entwirft.

Danach folgt in beiden Erzählungen tatsächlich auf die eine oder andere Weise die Flucht der Heldinnen. Im Posthalter geschieht ein Zeitsprung von ein Paar Jahren zwischen dem ersten Besuch des Erzählers bei dieser Poststation, wo er Wyrin und Dunja kennen lernt, und dem zweiten. Bei dem späteren Besuch findet er von dem stark gealterten Posthalter heraus, was mit dem Mädchen passiert ist: Dunja wurde von einem reichen Husaren, Minskij, verführt. Man lernt, dass sie zwar bis zur nächsten Poststation „den ganzen Weg über geweint“ hat, aber gleichzeitig, dass es „keineswegs den Eindruck gemacht hätte, daß sie nicht aus eigenem Antriebe mitführe.“ Diese Bemerkung ist sehr wichtig, denn der Leser kann dadurch erkennen, dass das, was Wyrin und scheinbar auch der Erzähler als Verführung betrachten, eigentlich eher eine Flucht ist. Wenn es Minskij nicht gegeben hätte, scheint Puschkin sagen zu wollen, wäre Dunja trotzdem irgendwann aus dem Haus ihres Vaters geflohen. In Der Schneesturm begegnet man natürlich auch einer Flucht: Marja wird von dem Diener Wladimirs abgeholt und fährt, trotz des schlechten Wetters, zur Kirche, wo sie ihren Geliebten ohne elterliche Erlaubnis heiraten soll.

Danach kommt in den zwei Erzählungen eine Suche nach den jungen Frauen vor. Wyrin fährt nach Sankt Petersburg, mit der Absicht, Dunja zu finden und sie nach Hause zu bringen. Wladimir weiß zwar, wo Marja sich befindet, verirrt sich jedoch in dem Schneesturm des Titels und muss vergebens den Weg zur Kirche und zu Marja suchen. In diesem Teil wird die Spannung immer größer und führt zum Höhepunkt der zwei Erzählungen: Wladimir kommt endlich gegen Morgen zur Kirche an und entdeckt, dass sie verschlossen ist und seine Geliebte nicht mehr dort verweilt, während Wyrin Dunja endlich findet und sieht, dass sie mit Minskij glücklich ist. Dunja sitzt neben dem Husaren „nach der letzten Mode gekleidet“ und schaut ihn mit Blicken „voll Zärtlichkeit“ an. Anstatt sich in die Arme des Vaters zu werfen, entweder um ihn um Rettung anzuflehen, oder ihn um Verzeihung zu bitten, fällt sie „mit einem Schrei auf den Teppich nieder“. Sowohl Wladimir wie auch Wyrin sind machtlos gegen das Schicksal.

Nach seinem Scheitern kehrt Wyrin, von Minskij aus dem Haus geworfen, nach seiner Poststation zurück und der Leser erfährt nichts mehr über ihn, außer dass er einige Jahre später „[a]m Trunk“ stirbt. Ebenfalls lernt man im Schneesturm nichts mehr über Wladimir, aber hier ist die Situation komplizierter: Marja Gawrilowna wird nach dem nächtlichen Ausflug krank und redet während des Fiebers über Wladimir. Ihre Eltern schließen daraus, dass „aller Wahrscheinlichkeit nach die Ursache dieser Krankheit Liebe sei“. Sie schreiben an Wladimir, um ihm die Hand ihrer Tochter anzubieten, bekommen aber nur „einen halb tollen Brief von ihm als Antwort“. Danach findet man nur noch über Wladimir heraus, dass er in den Krieg zieht und stirbt.

Auch am Schluss der zwei Erzählungen begegnet man Parallelen. Bethea und Davydov deuten darauf hin, dass am Ende jeweils einer der Protagonisten tot, und zwei andere verheiratet sind. Indem die Autoren auch eine andere Erzählung Bjelkins, Der Schuß in Betracht ziehen, sagen sie Folgendes:

Thus, as Pushkin united first the count and his bride over the grave of Silvio and then Burmin and Marya Gavrilovna over the grave of Vladimir, so now he unites Dunya and Minsky over the grave of Vyrin: in all three tales he proves himself to be successful both as a matchmaker and as a coffin maker.”

Obwohl die Schlussteile der zwei Erzählungen inhaltlich ähnlich sind, bestehen wesentliche Unterschiede in der Atmosphäre und in den Implikationen für die Heldinnen. Im Posthalter erfährt man, dass Dunja einmal zum Ort ihrer Kindheit zurückkehrt und das Grab ihres Vaters besucht: sie ist scheinbar wohlhabend, denn sie fährt in einem „sechsspännigen Wagen“ und bringt „drei junge Herrchen und eine Amme und ein schwarzes Hündchen“ mit. Der Erzähler freut sich offenbar, dass es Dunja so gut geht, und dass sie ihren Vater nie vergessen hat.Jedoch in der Beschreibung des „traurigen Friedhof[es]“ und in der Art, wie Dunja sich auf das Grab ihres Vaters wirft, wird der Schluss von einer sehr trauervollen Atmosphäre durchdrungen, die die Geschichte zu einer Tragödie macht. Das Endergebnis ist eine melancholische Vermischung aus Trauer und Hoffnung.

Der Schneesturm hat andererseits, trotz des Todes von Wladimir, ein eindeutiges Happyend: Marja lernt den reichen, selbstbewussten Burmin kennen, die zwei verlieben sich in einander und entdecken, nachdem er ihr sein Geheimnis enthüllt, dass sie schon miteinander verheiratet sind.

Wie man sieht, haben die zwei Erzählungen von dem Plot her viele Ähnlichkeiten, aber auch manche Unterschiede. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Der Posthalter, wie vorhin erwähnt, einen Prolog hat. Dieser nimmt zwei Seiten in Anspruch und zeigt die Meinungen des Erzählers über Posthalter im Allgemeinen und über das damalige Rangsystem Russlands, wonach Generäle und andere höhere Beamter viel mehr Rechte hatten als diejenigen mit niedrigeren Rängen. Wir erfahren, dass der Erzähler als junger Mann (zur Zeit seines ersten Besuchs bei Wyrin) das Rangsystem höchst ungerecht findet, aber im Nachhinein, als er viel älter und reifer ist, sieht er ein, dass es „in der Natur der Dinge“ liegt (Prolog 54). Diese Verteidigung eines so komplizierten Systems ist aber, laut Reyfman, eine ironische Kritik Puschkins an die Sinnlosigkeit desselben Systems, das Puschkin (weil er selbst von niedrigem Rang war) oft benachteiligt hat.

Nachdem der Erzähler von den allgemeinen negativen Vorurteilen spricht, fängt er an, Posthalter zu verteidigen. Er erzählt dem Leser beispielsweise, dass sie in der Wirklichkeit „durchweg friedliche Menschen“ sind. Diese Gedanken führen dann zu der Geschichte über einen bestimmten Posthalter (Wyrin), dessn Andenken dem Erzähler „auf immer teuer“ ist. Der Prolog hat aber kaum Bezug auf die Handlung der Erzählung und man fragt sich, ob er überhaupt nötig ist. Diese Frage kann nicht endgültig beantwortet werden. Einerseits könnte man meinen, der Prolog sei wichtig, denn dadurch gelangt der Leser zu einem besseren Verständnis über Posthalter und ihre Charaktere, was für das Lesen der Erzählung nötig sei. Wenn der Erzähler nicht zunächst die positiven Charakterzüge des Posthalters schildern würde, würde man sich vielleicht weniger mit Wyrin identifizieren können. Andererseits ist es während der Geschichte auch ohne den Prolog schon klar, dass Wyrin, zumindest in den Augen des Erzählers sympathisch wirken soll, und dass man für ihn Mitleid empfinden soll. Der Prolog hat für Pushkin außerdem die Funktion, wie schon erwähnt, seine Kritik an dem Rangsystem Russlands auszudrücken.

Der Plot der dritten Erzählung, Pique Dame, ist komplizierter als der, der anderen zwei. Bemerkenswert ist, dass sie mit einem Kartenspiel anfängt – ein Motiv, das für die Erzählung als Ganzes wichtig ist. Dieses erste Kapitel hat zwei Hauptfunktionen: erstens erfährt man aus der Geschichte Tomskijs, dass seine Großmutter, die Gräfin, ein Geheimnis hütet, wie man beim Kartenspiel sicheren Erfolg erreichen kann. Zweitens lernt man den Hauptprotagonisten, Hermann, kennen, einen jungen Deutschen, der sich leidenschaftlich für das Spiel interessiert, aber „nicht dazu imstande [ist], Unentbehrliches zu opfern, um Überflüssiges zu gewinnen“. Hier findet man eine gewisse Ironie, denn am Ende der Erzählung ist Hermann schon bereit, sein ganzes Vermögen auf eine Karte zu setzen.

Nach dem Beginn der Erzählung kommt der Konflikt. Wir begegnen der alten Gräfin und ihrer armen Pflegetochter, Lisaweta Iwanowna, „ein[em] tief unglückliche[n] Geschöpf“, und im gleichen Kapitel erfährt man von den geheimen „lose[n] Beziehungen“ zwischen Lisaweta und Hermann. Durch einen Zeitsprung zurück lernt man auch, wie diese Beziehungen angefangen haben.

Am Höhepunkt der Erzählung kommt Hermann, eingeladen von Lisaweta Iwanowna, in das Haus der Gräfin, wo er zum Zimmer der jungen Frau hinaufsteigen soll. Stattdessen konfrontiert er die alte Gräfin und verlangt ihr Geheimnis. Obwohl Hermann ihr nichts antut, stirbt sie unerwartet vor seinen Augen. Es wird nicht spezifiziert, woran sie stirbt, aber die wahrscheinlichste Ursache wäre ein Herzanschlag von dem Schrecken, den Hermann ihr bereitet. Bayley sieht jedoch ihren Tod als etwas, wofür sie sich selber entscheidet, weil sie keine andere Wahl hat:„[..] faced with this brutal intrusion of her future her only resource is to die.“

Nach dem Höhepunkt kommt im Kapitel V von Pique Dame die Spannung: in der Nacht erscheint bei Hermann ein Geist, der sich als der Geist der Gräfin entpuppt. Sie deckt ihm das Geheimnis der drei Karten auf: er muss auf Drei, Sieben und As setzen, die ihm sicheren Erfolg im Kartenspiel gewährleisten sollen.

Der Dénouement der Erzählung zeigt, wie Hermann, seit dem Erscheinen der Gräfin an nichts anderes als die drei Karten denken kann. Endlich entscheidet er sich dafür, alles zu riskieren, und auf die von der Gräfin genannten Karten zu pointieren.

Die Auflösung der Geschichte ist für den Leser fast so unerwartet wie für den Deutschen: nachdem Hermann schon zweimal, mit der Drei und der Sieben, eine sehr hohe Summe gewinnt, taucht plötzlich anstatt des As die Pique Dame auf: Hermann verliert sein kostbares Vermögen.

Man könnte meinen, die Erzählung wäre an dieser Stelle zu Ende, aber es folgt dann noch ein Epilog. Dieser zeigt dem Leser, was mit drei der Protagonisten später passiert: Hermann verliert den Verstand, Lisaweta Iwanowna heiratet den Sohn des ehemaligen Verwalters der Gräfin und Tomskij heiratet Prinzessin Paulina, die bis dahin nur einmal kurz auf dem Ball erwähnt wurde. Der Epilog, der, unter anderem, für seine Kürze bemerkenswert ist, verdient nähere Betrachtung.

Shaw behauptet in seinem Artikel „The „Conclusion” of Pushkin’s „Queen of Spades””, Puschkin würde keine überflüssige Information in einem Epilog schreiben, und der Epilog von Pique Dame sei also wichtig für das Verständnis der Erzählung als Ganzes. Der Wahnsinn Hermanns hat zum Beispiel eine große Wirkung auf den Leser und hilft ihm auch sehr, die Charaktereigenschaften dieser Figur in früheren Kapiteln besser zu verstehen. Wenn die Erzählung mit Hermanns Verlust beim Kartenspiel aufhören würde, wären die psychischen Implikationen des Verlustes weniger deutlich für den Leser und hätten auch weniger Wirkung. Shaw weist darauf hin, dass Andeutungen auf Hermanns imminente Verrücktheit durch den ganzen Text verteilt sind:

His madness has clearly been foreshadowed in the story proper: by his dreams, by his monomania which made him insensitive to the storm on the night of his assignation, and in the thought of Narumov, when German stakes his entire paternal inheritance on one card: “He has taken leave of his senses.””

Wegen des Epilogs werden also diese Andeutungen bestätigt, oder von dem Leser beim zweiten Lesen entdeckt.

In Jasnaja Poljana wurde Leo Nikolajewitsch Tolstoi am 9. September 1828 geboren: er machte dieses verlorene, im Gouvernement Tula gelegene Landgut weltberühmt. Das Adeslgeschlecht, dem er entstammte, soll vor vielen Jahrhunderten aus Deutschland eingewandert sein und in seinen ersten Mitgliedern den Namen Dick oder Dickmann geführt haben, der dann in wörtlicher Übersetzung zu Tolstoi geworden sei.

Früh verlor der Knabe seine Eltern, die Mutter, als er zwei, den Vater, als er neun Jahr alt war.

Weibliche Verwandte erzogen ihn; schon mit 15 Jahren besuchte er die Universität Kasan, studierte erst orientalische Sprachen, dann die Rechte und ging 1848 auf sein Gut zurück - wie er selbst sagt, ein junger Mann mit grobem, hässlichem, bäurischem Gesicht und ebensolchen Händen und Füßen, der sich deshalb von den Frauen fern hielt.

Die nächsten Jahre verschwärmte und vertrödelte er als vornehmer Müßiggänger, machte Spielschulden, reiste und trat 1851 als Artilleriefähnrich in ein kaukasisches Regiment. Beim Ausbruch des Krimkrieges ließ er sich zur Donau-Armee versetzen, nahm an Schlachten und Belagerungen teil und war vom November 1854 bis zum August 1855 im belagerten Sebastopol, vielfach in der gefährlichen "vierten Bastion". Er weigerte sich auch hartnäckig, Stabsoffizier zu werden und seinen von allen Schrecknissen des Krieges umtobten Posten zu verlassen. Nach dem Friedensschluss nahm er seinen Abschied, schrieb während der nächsten 15 Jahre seine großen Romane und beschäftigte sich dazwischen mit Volkspädagogik.

Um 1877 trat die große religiöse Krisis in seinem Leben ein, und seitdem wirkte er, als einfacher Bauer lebend und arbeitend, durch Mahnrufe, Bekenntnisse und Tendenzliteratur aller Art im Sinne seiner schon geschilderten neuen Anschauungen.

Den ihm zugedachten Nobelpreis lehnte er folgerichtig ab. Die Exkommunizierung seitens der griechisch-orthodoxen Kirche (März 1901) beirrte ihn nicht. Im November 1910 verließ der Zweiundachtzigjährige in heimlicher Flucht Haus und Familie. Er starb kurz darauf, unversöhnt mit der Kirche, am 20. November 1910.

Seit Jean Jacques Rousseau, der ein priesterlich wilder Vorbote und Feldprediger der großen Revolution des 18. Jahrhunderts gewesen ist, hat kein dichterischer und denkerischer Schreiber eine so in das lebendige Tun gehende Wirkung auf die Völker geübt wie Lew Nikolajewitsch Tolstoi, der jetzt im Alter von zweiundachtzig Jahren mächtig gestorben ist. Wir denken an die Gesamtheit der Wirkung, die Goethe getan hat: in ruhiger Haltung des Körpers sitzen wir da, über das Gesicht legt es sich wie Schönheit und verklärte Heiterkeit, die Muskeln entspannen sich und groß schauen unsere erweiterten Augen gerade hin über das Land.Wir denken an Ibsen: die Stirne kraust sich, die Augen blicken schärfer und wie in bösem Zweifel, um den Mund zuckt es, der Kopf wiegt sich in Unsicherheit und der Finger legt sich an die Nase. Wer aber diesen wilden Mann Tolstoi erlebt hat, der ist mit dem ganzen Leibe sein geworden: die Arme haben sich in starkem Schwung nach oben und rückwärts geworfen, Kopf und Nacken haben sich bohrend, stoßend nach vorne geschoben, die Bewegtheit unserer Seele ist zum Aufruhr, zum Nicht mehr stillhalten können, zur Erschütterung, zum Bäumen und wahrhaft zum Schreiten geworden. Tolstoi war wie Rousseau eine Einheit von Rationalismus und inbrünstiger Mystik. Dieser Russe war der verkörperte gesunde Menschenverstand; er war so auf den Sinn und die Nützlichkeit aus wie nur je ein Bauer, und er hat sich in keinem Augenblick seines Denkens mit einer Lehre zufrieden gegeben, die nicht seiner Vernunft volles Genüge tat. Nur daß er, als er auf seiner Höhe angelangt war, die Vernunft eines Propheten und eines Heiligen hatte; daß ihn das nicht mehr nützlich dünkte, was der Rost und die Motten fressen, sondern nur das, was der Seele ein Heil und dem Geiste die ewige Wahrheit ist.Er hat auch auf seiner Höhe, in den letzten fünfundzwanzig Jahren, nicht gerastet. Er ist da durchaus nicht der gleiche geblieben; er ist gewachsen bis zuletzt. Er nahm wohl da seinen Ausgang, wo ihm selber am meisten Anfechtung geworden war: von dem, was er damals, in den Zeiten der »Kreutzersonate«, etwa die Sündhaftigkeit der Wollust genannt hat. Er ist spottschlecht verstanden worden; schon in diesem Beginn kam es ihm auf die im Leben zu verwirklichende Erkenntnis im Sinne Piatons, des Christen, Spinozas und Buddhas an. Die Menschheit stirbt dabei aus? Nun, was weiter? Die Welt bleibt, was sie ist; sie kann sich nicht ändern. Aber sie stirbt ja schon nicht aus, sagt er uns gleich damals deutlich genug; habt doch ja keine Sorge, daß die Vielen auf mich hören; um derentwillen braucht ihr, zu denen ich eigentlich rede, euch nicht vom Heil abbringen zu lassen. Ihr, merket doch ihr, daß es in der Welt nicht auf den Genuß ankommt, sondern auf die Verwirklichung Gottes, der nicht draußen, sondern der in euch drinnen ist. Warum gebt ihr euch mit diesen unaufhörlichen, unendlichen Wandlungen ab, mit der Gier, die Welt in euch hineinzufressen? Glaubt ihr denn, die Welt würde davon besser, daß sie recht massenhaft in euch komme? gerade in euch? Oder ihr würdet besser, wenn ihr das und jenes gewännet? Die Welt ist in euch, das Ganze seid ihr; ihr findet es, wenn ihr euch von allem leiblich abkehrt und mit allem geistig und liebend vereint. Ihr findet den göttlichen Schatz eurer Seele, Wenn ihr euch leiblich arm machet. Das war schon damals seine Lehre und sie wurde unverkennbar und deutlich gesprochen. Die Liebe im Sinne Piatons, im Sinne Jesu, im Sinne Spinozas, die himmlische Liebe des in sich einigen Geistes zu sich, die ihr irdisches Bild und ihre Lebendigkeit im Gefühl und Tun erhält durch deine Liebe zu allem Lebendigen, setzte er der Körperlust entgegen, die sich auch Liebe nennt, für ihn aber auch in ihrer höchsten Gestalt eine Ausschließlichkeit, eine Bevorzugung und darum nicht Liebe, sondern eitler Wahn hieß. Mehr und mehr kam von dieser Liebe her das große Verlangen über ihn, aus der Philosophie, die ihm Religion war, eine Erfüllung nicht blos für das in seine Isoliertheit zurückgezogene geistige Individuum; sondern für die Gesellschaft der Menschen zu machen. Er machte keine Konzessionen; er war immer der Mann, der bis zur äußersten Konsequenz ging; aber sein Ziel war jetzt nicht mehr bloß die Heiligkeit der Person, sondern die Heiligkeit der Gesellschaft durch die Vereinigung schwacher und in die Welt verstrickter, aber stark und ehrlich nach Reinheit strebender Menschen, die dem Beispiel ihrer Besten nachgehen wollen.Was Tolstoi wie die Pest gehaßt hat, war durchaus nicht die Schwäche, des Widerstands gegen die Lebenstriebe. Er hatte eine bis zur Zärtlichkeit gehende Liebe zu den starken Naturen, die ihrer Triebe und Lüste nicht Meister werden, zu den Sündern und Verbrechern. Was er haßte, war die Schwäche der Vernunft und die geschwächte Aufrichtigkeit. Mit allen Waffen der Demaskierung, mit den Keulenschlägen seiner geraden Volkssprache und seiner bauernharten Logik und mit den Witzen seiner feinen Zivilisation bekämpfte er Lüge, Heuchelei, Aberglauben in den Kirchen der Konfessionen und der Wissenschaften. Für ihn war Glaube und Vernunft so ein und dasselbe, wie Religion ihm zusammenfiel mit der Liebespraxis der Milde und der Anerkennung alles Lebendigen.Wer ihn verstehen will, muß wissen, daß seine Genialität Nüchternheit war. Er war so nüchtern und klug, wie es nur je ein Kaufmann oder Politiker gewesen ist. Nur war er nüchtern und ein Handelsgenie nicht in den Dingen des Marktens, sondern in den Dingen des wahren Lebens. Das war seine Macht, die er über uns alle hatte: daß er seine Besonnenheit, seine Geradheit und Ehrlichkeit, seine Klarheit und seinen Wirklichkeitssinn in die Tiefen des Gemüts geworfen hatte und daß er nur auf jenem Markte stand, auf dem um unser ewiges Teil gehandelt wird.Da war endlich einmal ein jugendlich feuriges Herz, ein Geist mit der Tapferkeit und Rücksichtslosigkeit des Knaben, der ein Greis war und nichts anderes mehr vom Leben wollte als seine tiefste Schönheit und Göttlichkeit. An dem Anblick dieser mannhaften Gestalt, die unbeugsam, starr, heftig, wild, leidenschaftlich das Rapier schwang für die Dinge, die sonst in unseren Zeiten nur ein papierenes oder öliges Dasein führen, ihm aber glühendes Leben waren, haben wir uns Jahre und Jahre gelabt; und ein Labsal war uns auch seine letzte Wanderung; seine kriegerische Pilgerschaft in den Tod. Wir haben ihm alle den Tod in diesem hohen Moment von Herzen gegönnt; und doch wissen wir, es wäre nichts Kleines gewesen, was er uns weiter gelebt hätte, wenn die Kraft des Körpers gereicht hätte.Man muß bis auf die Propheten des alten Bundes zurückgehen, um Männer zu treffen, die so wie er zornige, wutentbrannte Streiter für Güte, Sanftmut, Verzicht und Brüderlichkeit gewesen sind; aber ganz ohnegleichen war er in seiner Vereinigung von grober Wahrheit und dolchscharfer Logik. Wie er das Elend auf die Regierung, wie er die Regierung auf die kriegsmäßige Gewalt, wie er dieses Soldatentum auf die durch Schule und Kirche gezüchtete Dummheit, wie er die Seelenverfassung der Mächtigen auf ihre Herzensödigkeit zurückgeführt hat, wie er schließlich demonstriert hat, daß das Ziel, die Gewaltlosigkeit, zugleich schon das Mittel ist, um dieses Ziel zu erreichen, daß alle Gewaltherrschaft zusammenbricht und alle Unrechtsqual erlischt, wenn die Knechte aufhören, Gewalt zu üben, Gewalt gegen sich selbst: das hat keiner wie er mit solcher Kraft und solcher unwiderlegbaren Einfachheit einmalig und selbstverständlich in die Köpfe gehämmert; auch sein großer Vorgänger Etienne de la Boëtie, den er, als er schon in seinem gleichartigen Wirken stand, freudig kennen gelernt hat, besaß keine solche Ungebrochenheit und heilige Macht der Rede. Tolstoi war nie vorher ein solcher Sprachkünstler gewesen wie jetzt, da er in der Sprache des Volkes zu allem Volke vom rechten Leben sprach.Von geradezu hygienischer und gymnastischer Bedeutung für ihn, für die Erhaltung seiner geschmeidigen Kraft und seiner stählernen Jugend, und ein inständig schönes Bild für uns war die immer, von Jahr zu Jahr steigende Übereinstimmung seines Lebens mit der Lehre. Er ist, soviel er auch von sich abtat, und so bewunderungswürdig er Gewohnheiten ablegte, die er verächtlich oder überflüssig fand, nie mit sich zufrieden gewesen und konnte sich nie genug tun. Viele haben es gewußt, daß er von einem Teil seiner Familie wie mit einem Wall umgeben war und daß er Jahre lang nach außen und innen gekämpft hat, um sich von dieser Umgebung und Vormundschaft der Gewöhnlichkeit, die er in menschlich-natürlicher Art lieb hatte und doch durchschaute, freizumachen. In den »Gesprächen mit Tolstoi«, die sein Freund Teneromo gerade jetzt in deutscher Sprache herausgegeben hat, wird erzählt, und keiner erfährt es ohne innige Erschütterung, wie Tolstoi sich vor Jahren schon darüber geäußert hat. »Lew Nikolajewitsch«, heißt es da, »kehrte eines Tags sehr traurig von einem Spaziergang zurück«. Er war auf der Landstraße zwei alten Bauern begegnet, die von weither gewandert waren, um den Märchenerzähler, ihn selbst nämlich, zu besuchen. Sie gehen plaudernd mit ihm dahin und wie er sich ihnen offenbart, daß er selbst der Geschichtenerzähler sei, sagen sie: »Wahrhaftig? Es könnte schon sein. Du hast ein verhärmtes Gesicht, grämst dich wohl viel. Komm her, Lew, laß dich küssen.«Wie sie sich nun aber dem Schloß Jasnaja Poljana nähern, wie die Straße in den Park einbiegt, wie eine feine Gesellschaft in einer Equipage an der Rampe vorfährt und es gar zu Tisch läutet, da bleiben sie stehen und lehnen es ab, mit ihm ins Haus zu kommen. Und der eine, eben der, der, ihn geküßt hatte, erzählt ihm die Geschichte von der Wahrheit und dem Unrecht; von der Wahrheit, die schweigen muß, weil sie mit dem Unrecht Tee getrunken hat. »So geht es auch dir«, fügt er hart hinzu: die beiden Greise aus dem Volk gehen und lassen ihn den feinen Leutchen, die er selber verachtet. »Glauben Sie mir«, sagte Tolstoi zu dem Freunde, dem er von dieser furchtbaren Begegnung berichtete, »dieses Wort traf mich wie ein zischender Stachel ins Herz ... Und jetzt, wenn ich dieses Schieben der Stühle oben höre, wenn ich dieses Hin- und Herlaufen der Lakaien, die die Herrschaften bei Tisch bedienen, sehe, quält und drückt es mich so schwer ... Ich trinke ja wirklich mit ihnen Tee. Und dieser Greis hat recht, tausendmal recht, daß ich die Wahrheit nicht sagen kann ... Ich reiße mich aber mit ganzer Seele von dem da los und bin überzeugt, daß ich es noch durchführen werde ...«Wir wissen alle, wie der Zweiundachtzigjährige es durchgeführt hat, wie er aus Gewissensnot die alte Frau und die Kinder geflohen ist, deren Tisch und Lebensführung er längst nicht mehr teilte, die er nur noch als seine Umgebung bei sich duldete, während sie, die armen Reichen, wohl wähnten, daß sie ihn, den in ihrem Reichtum freiwillig Armen, bei sich geduldet und beinahe gefangen gehalten hätten; wie er, ein umgekehrter Faust, mit der Kraft des Sterbenden in die Welt rannte, um die Welt zu fliehen; wie er, ein umgekehrter Prometheus, in die Wüste floh, weil er das Leben, sein wahres Leben liebte; wie er, ein anderer König Lear, in die Nacht stürmte und auf der Haide das Haar lieber den Winden und die Brust dem Unwetter preisgab, ehe er in das Haus der Seinen, die von ihm abgefallen waren, weil sie nie die Seinen gewesen, zurückkehrte; wie er unterwegs in einem kleinen Dorfbahnhof zusammenbrach und noch auf dem Totenbett einen Jähzornsanfall bekam, weil er sein gewohntes weiches Kissen unter dem Kopfe fand, das ihm die Tochter Cordelia untergeschoben hatte.Wer ihn verstehen will, muß wissen, daß seine Genialität Nüchternheit war. Er war so nüchtern und klug, wie es nur je ein Kaufmann oder Politiker gewesen ist. Nur war er nüchtern und ein Handelsgenie nicht in den Dingen des Marktens, sondern in den Dingen des wahren Lebens. Das war seine Macht, die er über uns alle hatte: daß er seine Besonnenheit, seine Geradheit und Ehrlichkeit, seine Klarheit und seinen Wirklichkeitssinn in die Tiefen des Gemüts geworfen hatte und daß er nur auf jenem Markte stand, auf dem um unser ewiges Teil gehandelt wird.Da war endlich einmal ein jugendlich feuriges Herz, ein Geist mit der Tapferkeit und Rücksichtslosigkeit des Knaben, der ein Greis war und nichts anderes mehr vom Leben wollte als seine tiefste Schönheit und Göttlichkeit. An dem Anblick dieser mannhaften Gestalt, die unbeugsam, starr, heftig, wild, leidenschaftlich das Rapier schwang für die Dinge, die sonst in unseren Zeiten nur ein papierenes oder öliges Dasein führen, ihm aber glühendes Leben waren, haben wir uns Jahre und Jahre gelabt; und ein Labsal war uns auch seine letzte Wanderung; seine kriegerische Pilgerschaft in den Tod. Wir haben ihm alle den Tod in diesem hohen Moment von Herzen gegönnt; und doch wissen wir, es wäre nichts Kleines gewesen, was er uns weiter gelebt hätte, wenn die Kraft des Körpers gereicht hätte.Man muß bis auf die Propheten des alten Bundes zurückgehen, um Männer zu treffen, die so wie er zornige, wutentbrannte Streiter für Güte, Sanftmut, Verzicht und Brüderlichkeit gewesen sind; aber ganz ohnegleichen war er in seiner Vereinigung von grober Wahrheit und dolchscharfer Logik. Wie er das Elend auf die Regierung, wie er die Regierung auf die kriegsmäßige Gewalt, wie er dieses Soldatentum auf die durch Schule und Kirche gezüchtete Dummheit, wie er die Seelenverfassung der Mächtigen auf ihre Herzensödigkeit zurückgeführt hat, wie er schließlich demonstriert hat, daß das Ziel, die Gewaltlosigkeit, zugleich schon das Mittel ist, um dieses Ziel zu erreichen, daß alle Gewaltherrschaft zusammenbricht und alle Unrechtsqual erlischt, wenn die Knechte aufhören, Gewalt zu üben, Gewalt gegen sich selbst: das hat keiner wie er mit solcher Kraft und solcher unwiderlegbaren Einfachheit einmalig und selbstverständlich in die Köpfe gehämmert; auch sein großer Vorgänger Etienne de la Boëtie, den er, als er schon in seinem gleichartigen Wirken stand, freudig kennen gelernt hat, besaß keine solche Ungebrochenheit und heilige Macht der Rede. Tolstoi war nie vorher ein solcher Sprachkünstler gewesen wie jetzt, da er in der Sprache des Volkes zu allem Volke vom rechten Leben sprach.Von geradezu hygienischer und gymnastischer Bedeutung für ihn, für die Erhaltung seiner geschmeidigen Kraft und seiner stählernen Jugend, und ein inständig schönes Bild für uns war die immer, von Jahr zu Jahr steigende Übereinstimmung seines Lebens mit der Lehre. Er ist, soviel er auch von sich abtat, und so bewunderungswürdig er Gewohnheiten ablegte, die er verächtlich oder überflüssig fand, nie mit sich zufrieden gewesen und konnte sich nie genug tun. Viele haben es gewußt, daß er von einem Teil seiner Familie wie mit einem Wall umgeben war und daß er Jahre lang nach außen und innen gekämpft hat, um sich von dieser Umgebung und Vormundschaft der Gewöhnlichkeit, die er in menschlich-natürlicher Art lieb hatte und doch durchschaute, freizumachen. In den »Gesprächen mit Tolstoi«, die sein Freund Teneromo gerade jetzt in deutscher Sprache herausgegeben hat, wird erzählt, und keiner erfährt es ohne innige Erschütterung, wie Tolstoi sich vor Jahren schon darüber geäußert hat. »Lew Nikolajewitsch«, heißt es da, »kehrte eines Tags sehr traurig von einem Spaziergang zurück«. Er war auf der Landstraße zwei alten Bauern begegnet, die von weither gewandert waren, um den Märchenerzähler, ihn selbst nämlich, zu besuchen. Sie gehen plaudernd mit ihm dahin und wie er sich ihnen offenbart, daß er selbst der Geschichtenerzähler sei, sagen sie: »Wahrhaftig? Es könnte schon sein. Du hast ein verhärmtes Gesicht, grämst dich wohl viel. Komm her, Lew, laß dich küssen.«Wie sie sich nun aber dem Schloß Jasnaja Poljana nähern, wie die Straße in den Park einbiegt, wie eine feine Gesellschaft in einer Equipage an der Rampe vorfährt und es gar zu Tisch läutet, da bleiben sie stehen und lehnen es ab, mit ihm ins Haus zu kommen. Und der eine, eben der, der, ihn geküßt hatte, erzählt ihm die Geschichte von der Wahrheit und dem Unrecht; von der Wahrheit, die schweigen muß, weil sie mit dem Unrecht Tee getrunken hat. »So geht es auch dir«, fügt er hart hinzu: die beiden Greise aus dem Volk gehen und lassen ihn den feinen Leutchen, die er selber verachtet. »Glauben Sie mir«, sagte Tolstoi zu dem Freunde, dem er von dieser furchtbaren Begegnung berichtete, »dieses Wort traf mich wie ein zischender Stachel ins Herz ... Und jetzt, wenn ich dieses Schieben der Stühle oben höre, wenn ich dieses Hin- und Herlaufen der Lakaien, die die Herrschaften bei Tisch bedienen, sehe, quält und drückt es mich so schwer ... Ich trinke ja wirklich mit ihnen Tee. Und dieser Greis hat recht, tausendmal recht, daß ich die Wahrheit nicht sagen kann ... Ich reiße mich aber mit ganzer Seele von dem da los und bin überzeugt, daß ich es noch durchführen werde ...«Wir wissen alle, wie der Zweiundachtzigjährige es durchgeführt hat, wie er aus Gewissensnot die alte Frau und die Kinder geflohen ist, deren Tisch und Lebensführung er längst nicht mehr teilte, die er nur noch als seine Umgebung bei sich duldete, während sie, die armen Reichen, wohl wähnten, daß sie ihn, den in ihrem Reichtum freiwillig Armen, bei sich geduldet und beinahe gefangen gehalten hätten; wie er, ein umgekehrter Faust, mit der Kraft des Sterbenden in die Welt rannte, um die Welt zu fliehen; wie er, ein umgekehrter Prometheus, in die Wüste floh, weil er das Leben, sein wahres Leben liebte; wie er, ein anderer König Lear, in die Nacht stürmte und auf der Haide das Haar lieber den Winden und die Brust dem Unwetter preisgab, ehe er in das Haus der Seinen, die von ihm abgefallen waren, weil sie nie die Seinen gewesen, zurückkehrte; wie er unterwegs in einem kleinen Dorfbahnhof zusammenbrach und noch auf dem Totenbett einen Jähzornsanfall bekam, weil er sein gewohntes weiches Kissen unter dem Kopfe fand, das ihm die Tochter Cordelia untergeschoben hatte.Heiliges Rußland! Dein Lew Nikolajewitsch ist kein Selbstgerechter gewesen! Er war ein Mann und ein Kämpfer, der mit größerer Kraft und innigerer Sehnsucht, als wir alle sie vermögen, nach der Reinheit und der Einheit des Lebens begehrt hat und der ein Erbe der alten Weisheit der großen Einsamen aller Zeiten gewesen ist; mild und schrecklich ist er gewesen und gegen keinen so streng wie gegen sich selbst. Als ein Milder und Schrecklicher ist er nun in die Geschichte eingegangen und ist für uns nicht mehr der Verfasser seiner Werke, sondern die Gestalt Lew Nikolajewitsch Tolstoi. Großes, weites, unergründliches, wildes und inniges Rußland! Wenn je Propheten und heilige Männer waren, dann ist der aus ihrer Zahl, der jetzt von uns gegangen ist. Wir, die Heiden und die Völker, wir danken dir, daß du uns seinen köstlichen Anblick geschenkt hast! Wir danken dir, daß Tolstoi in uns lebt, in uns und unsern Kindern, in den Großen und in den Kleinen, wenn wir das unsere tun, um ein Leben der Ganzheit zu schaffen.

Eine Betrachtung Leo Tolstois und seiner anarchistischen Lehre wie Weltanschauung im gegenwärtigen Zeitpunkt einer von bedeutenden, politischen und sozialen Revolutionsetappen erschütterten Welt anzustellen, kommt einer grundsätzlichen und entscheidenden Prüfung seiner Auffassungen, aber auch einer Überprüfung der eigenen Zielerkenntnis und praktischen Betätigung gleich. Der Weltkrieg und die ihm nachfolgende Periode hat sehr viel gestürzt und beseitigt, was früher noch unerprobt war, dessen Anerkennung oder Ablehnung beiderseitig Theorie gewesen. Soziale und ökonomische Entwicklungsgesetze, Weltanschauungspostulate, die Arbeiterbewegung in ihren mannigfachen Formen, Bestrebungen und Erwartungen, sie haben die Möglichkeit einer Offenbarung gehabt, und es ist nicht mehr schwierig, ihre Zweckdienlichkeit auf ihre Richtigkeit zu ermessen. Aber auch die Haltung der einzelnen Individuen, die sie aufrichtenden oder niederdrückenden Prinzipien und Gedanken wie Willenselemente, kurz alle jene eigenartigen Bewußtseinsvorgänge, die sich im Individuum in den Momenten größter Tragweite kundgeben, auch sie hatten und haben heute die Gelegenheit einer Manifestation.Wie sie sich nun aber dem Schloß Jasnaja Poljana nähern, wie die Straße in den Park einbiegt, wie eine feine Gesellschaft in einer Equipage an der Rampe vorfährt und es gar zu Tisch läutet, da bleiben sie stehen und lehnen es ab, mit ihm ins Haus zu kommen. Und der eine, eben der, der, ihn geküßt hatte, erzählt ihm die Geschichte von der Wahrheit und dem Unrecht; von der Wahrheit, die schweigen muß, weil sie mit dem Unrecht Tee getrunken hat. »So geht es auch dir«, fügt er hart hinzu: die beiden Greise aus dem Volk gehen und lassen ihn den feinen Leutchen, die er selber verachtet. »Glauben Sie mir«, sagte Tolstoi zu dem Freunde, dem er von dieser furchtbaren Begegnung berichtete, »dieses Wort traf mich wie ein zischender Stachel ins Herz ... Und jetzt, wenn ich dieses Schieben der Stühle oben höre, wenn ich dieses Hin- und Herlaufen der Lakaien, die die Herrschaften bei Tisch bedienen, sehe, quält und drückt es mich so schwer ... Ich trinke ja wirklich mit ihnen Tee. Und dieser Greis hat recht, tausendmal recht, daß ich die Wahrheit nicht sagen kann ... Ich reiße mich aber mit ganzer Seele von dem da los und bin überzeugt, daß ich es noch durchführen werde ...«Wir wissen alle, wie der Zweiundachtzigjährige es durchgeführt hat, wie er aus Gewissensnot die alte Frau und die Kinder geflohen ist, deren Tisch und Lebensführung er längst nicht mehr teilte, die er nur noch als seine Umgebung bei sich duldete, während sie, die armen Reichen, wohl wähnten, daß sie ihn, den in ihrem Reichtum freiwillig Armen, bei sich geduldet und beinahe gefangen gehalten hätten; wie er, ein umgekehrter Faust, mit der Kraft des Sterbenden in die Welt rannte, um die Welt zu fliehen; wie er, ein umgekehrter Prometheus, in die Wüste floh, weil er das Leben, sein wahres Leben liebte; wie er, ein anderer König Lear, in die Nacht stürmte und auf der Haide das Haar lieber den Winden und die Brust dem Unwetter preisgab, ehe er in das Haus der Seinen, die von ihm abgefallen waren, weil sie nie die Seinen gewesen, zurückkehrte; wie er unterwegs in einem kleinen Dorfbahnhof zusammenbrach und noch auf dem Totenbett einen Jähzornsanfall bekam, weil er sein gewohntes weiches Kissen unter dem Kopfe fand, das ihm die Tochter Cordelia untergeschoben hatte.Heiliges Rußland! Dein Lew Nikolajewitsch ist kein Selbstgerechter gewesen! Er war ein Mann und ein Kämpfer, der mit größerer Kraft und innigerer Sehnsucht, als wir alle sie vermögen, nach der Reinheit und der Einheit des Lebens begehrt hat und der ein Erbe der alten Weisheit der großen Einsamen aller Zeiten gewesen ist; mild und schrecklich ist er gewesen und gegen keinen so streng wie gegen sich selbst. Als ein Milder und Schrecklicher ist er nun in die Geschichte eingegangen und ist für uns nicht mehr der Verfasser seiner Werke, sondern die Gestalt Lew Nikolajewitsch Tolstoi. Großes, weites, unergründliches, wildes und inniges Rußland! Wenn je Propheten und heilige Männer waren, dann ist der aus ihrer Zahl, der jetzt von uns gegangen ist. Wir, die Heiden und die Völker, wir danken dir, daß du uns seinen köstlichen Anblick geschenkt hast! Wir danken dir, daß Tolstoi in uns lebt, in uns und unsern Kindern, in den Großen und in den Kleinen, wenn wir das unsere tun, um ein Leben der Ganzheit zu schaffen.

Eine Betrachtung Leo Tolstois und seiner anarchistischen Lehre wie Weltanschauung im gegenwärtigen Zeitpunkt einer von bedeutenden, politischen und sozialen Revolutionsetappen erschütterten Welt anzustellen, kommt einer grundsätzlichen und entscheidenden Prüfung seiner Auffassungen, aber auch einer Überprüfung der eigenen Zielerkenntnis und praktischen Betätigung gleich. Der Weltkrieg und die ihm nachfolgende Periode hat sehr viel gestürzt und beseitigt, was früher noch unerprobt war, dessen Anerkennung oder Ablehnung beiderseitig Theorie gewesen. Soziale und ökonomische Entwicklungsgesetze, Weltanschauungspostulate, die Arbeiterbewegung in ihren mannigfachen Formen, Bestrebungen und Erwartungen, sie haben die Möglichkeit einer Offenbarung gehabt, und es ist nicht mehr schwierig, ihre Zweckdienlichkeit auf ihre Richtigkeit zu ermessen. Aber auch die Haltung der einzelnen Individuen, die sie aufrichtenden oder niederdrückenden Prinzipien und Gedanken wie Willenselemente, kurz alle jene eigenartigen Bewußtseinsvorgänge, die sich im Individuum in den Momenten größter Tragweite kundgeben, auch sie hatten und haben heute die Gelegenheit einer Manifestation.Inwieweit haben Sie dem ungeheuren Ereignis des Weltkrieges, diesem Prüfstein für Völker und Weltteile in ihrer soziologischen, politischen wie ökonomischen Beschaffenheit standgehalten: inwieweit haben sich die den (...) Lehren anschließenden Aktionsmittel- und Methoden als wirksam erwiesen; und inwieweit bekundet sich Wirksamkeit und Betätigung der sozialen Idee und ihrer Verkörperungen in der Gesellschaft, Neues schaffend, das Alte verdrängend und Mensch wie Gesellschaft befreiend, beglückend?Wenn wir heute, zehn Jahre nach Tolstois Todestag, seit welchem sich so viel ereignet und nie wieder gutzumachendes vollzogen hat, seine Lehre im Lichte der Geschehnisse betrachten, eine Bilanz seines Wollens und Strebens zugleich mit den stattgehabten Ereignissen Ziehen, dann erhebt sich die Gestalt des großen Geistesführers von Jasnaja Poljana in solch gigantischen Dimensionen, daß wir, wenn wir Leo Tolstois Bedeutung für die Menschheitskultur zu würdigen vermögen, uns fast überwältigt findein angesichts' der immensen Konturen am Geisteshinmel, die Tolstoi auf ihm inne hat.Es soll nicht als banale Übertreibung gewertet werden, wenn ich sage: Tolstoi allein haben wir es zu verdanken, daß der Anarchismus als leuchtender Turm der Menschheitskultur noch emporragt, allen Geknechteten, allen Ausgebeuteten und allen von politischer, klerikal-theologischer und ökonomischer Ausbeutung Getretenen ein Rettungsziel, ein befreiendes Ideal und eine beglückende Gegenwartserfüllung darbietend. Nur den Lehren Tolstois haben wir die Unüberwindlichkeit und nach wie vor flammende Sieghaftigkeit der Idee der Anarchie über Staat, Militarismus, Krieg und Revolutionsphrase zu verdanken.Aus dem Schoße der modernen Arbeiterbewegung sind zwei Flügel hervorgegangen, die sich die Beseitigung des bestehenden Systems zum Ziele setzten. Sozialdemokratie und Anarchismus können, in prägnanten Ausdrücken, diese beiden Richtungen des sozialistischen Gedankens — dessen frühere Evolutionsstadien wir ganz unberücksichtigt lassen — genannt werden.An ihrer Wiege steht Leo Tolstoi, der am 9. September 1828 geboren wurde. Er hat somit die moderne Arbeiterbewegung, die Gedankenentwicklung des Sozialismus und Anarchismus, fast noch mehr miterlebt, als ein anderer herrlicher Leuchtgeist der Menschheit: Peter Kropotkin. In der Blüte der Jahre stehend, hat Tolstoi Proudhon kennen gelernt und als ein Ringender, innerlich von der Glut unablässigen Suchens Gejagter, sind die verschiedenen Metamorphosen der proletarischen Bewegung an ihm vorübergegangen.Heute ist diese Phase der sozialistischen Bewegung, die in den Dreißigerjahren begann, sich zum Vorspann der bürgerlichen Demokratie machen ließ und von ihr naturgemäß schmählich verraten ward, die damals die Macht des Staates vorübergehend in die Hände des Pariser Proletariats und seiner sozialistischen Demokratie legte, 1864 einen neuen Anlauf nahm, sich kristallisierte, aber nur in die alten Fehler neuerdings verfiel. Heute ist diese Phase, die bis 1914 währte, tot und versunken und ihre Nachwirkungen wie Epigonen hinterlassen nur dieselbe Enttäuschung, wie jene sie hinterließ, müssen ebenso unfruchtbar bleiben für die menschliche Befreiung, wie diese ganze Epoche, die im Blutmeer des Weltkrieges und der internationalen Völkerzerfleischung versunken ist.In diesem Meer von Blut, Wahn und nationalistisch-militaristischer Idiotie sind vornehmlich drei Gedanken untergegangen, die in ihrer Gesamtheit am besten ausgedrückt werden können durch die Titulatur: Bankerott, völlige Selbstzersetzung des Marxismus. Aber ganz abgesehen von seinem dogmatischen Lehrgebäude ergibt sich als Besonderheiten des Zusammenbruches der sozialen Bewegung als solcher der Untergang des Glaubens, daß das Proletariat durch die Arbeiterbewegung zu einer internationalen Einheit verbunden werde, der Untergang des Glaubens, daß eine neue Kultur- und Geistesauffassung, die des Sozialismus und der Menschlichkeit, so überwiegend Besitz ergriffen habe von der Psyche des Proletariers, um ihn zum Kriege unfähig zu machen und schließlich der Untergang des Glaubens, daß das Proletariat durch Kapitalismus und Staat, also seine ökonomischen und politischen Wesensbedingungen, dazu gebracht werde, zur Revolution überzugehen, bevor es sich als internationales Schlachtopfer für Kriegszwecke verwenden ließe, lieber die politische oder soziale Revolution zu proklamieren.Im Untergang dieser drei Glaubenspostutale brechen nicht nur diese drei in ihrer besonderen Wesensart zusammen, sondern, wer Idee, Problem und Aufgabe des sozialen Ringens und dessen Bewegung begreift, weiß nur zu gut, daß damit sämtliche Voraussetzungen und Grundlagen der Arbeiterbewegung, ihres zukünftigen Sieges auf den bisherigen Bahnen zusammengebrochen sind. Gestehen das, was ist, ist heutzutage das wichtigste: die bisherige Arbeiterbewegung, mehr als das: die soziale Bewegung aller Richtungen, soweit sie auf den üblichen Pfaden von politischen Parteien, gewerkschaftlichen Lohnkämpfen — auch in der Form des Syndikalismus, denn leider ist dieser in Frankreich nicht weniger zur Enttäuschung geworden, wie die Sozialdemokratie als Partei für den Friedensgeist der Menschheit — und marxistisch-revolutionären Kothurnen einherstelzt, ist ein Kadaver. Und sie wird in der diesem eigenartig gewesenen Lebensform niemals zu einer Umgestaltung, Beseitigung der bestehenden autoritären und monopolistischen Weltordnung führen. Das steht heute unerschütterlich fest.Leo Tolstois gewaltige kulturbefreiende Mission ist darin gelegen, die hauptsächlichsten Materialien zu einer Befreiung des Menschengeistes zusammengetragen zu haben, wie sie im Anarchismus ihre klarste Erfüllung findet, die ihm selbst aber erst dann zuteil wird, wenn er sie in sich aufgenommen, verarbeitet und weiterentwickelt hat. Tolstoi ist der größte Revolutionär des Sozialismus, und in der Läuterung, die er ihm angedeihen läßt, schafft Tolstoi jene ethischen, intellektuellen, aber auch sozial Sprengenden und neuvereinenden Glieder, die den Sozialismus zur Verwirklichung bringen und im Anarchismus ihm seine Grundlage, wie seinen Ausbau darbringen.Sein, Tolstois, größtes Verdienst ist es, Sozialismus, Anarchismus und Revolution aus den Regionen vager Schwärmerei und Zukunftsvertagung gerissen und auf den realen Boden des Kampfels gestellt zu haben. Für ihn gibt es keine Zwischenstufen, keine ökonomischen Vorbedingungen und menschlichen Massenquantitäten in der Herbeiführung des sozialen Menschlichkeitsideals. Er weiß mit Recht, daß sie dann und dort überall vorhanden sind, wo der Geist des Begreifens und Erkennens weilt und lebt — und er weiß noch mehr: nämlich, daß dieser Geist geschaffen wird durch die rücksichtslose Tat der Verwirklichung und ein kompromißloses Leben. Um es kurz zu sagen, was ich fühle und durch Tolstoi erkennen gelernt habe: Es ist die größte Täuschung, zu vermeinen, die soziale Revolution werde zum Kapitalismus und Anarchismus führen; im Gegenteil: die Verwirklichung von Sozialismus und Anarchismus durch den Einzelnen, die kleine und immer größer werdende Minoritätsgrupppe — diese Verwirklichung führt zur sozialen Revolution, die notwendigerweise ein kurzes Endstadium der Beendigung eines allmählich immer größer werdenden und gewordenen Verwirklichungsprozesses der Befreiung ist.In einer Zeit, da die kreischende Agonie des Marxismus die Allversklavung und Selbstverknechtung des Volkes durch die gewaltigste Staatsautokratie erzwingt, durch geistestötende, kapitalistische Disiziplin und Arbeitsfrohn, durch macchiavellistische Hinschlachtung des Volkes in nationalistisch-staatlichen Kriegsinteressen, all dies unter dem infamsten Jesuitismus der Lüge: solches wäre nötig, um zur Befreiung zu gelangen; wo also der Bolschewismus die Jahrtausende alte Schurkerei aller Priester und Staatskanaillen zu seinem Schiboleth gemacht hat: das Dasein auf Erden, das Leben der Menschen, ihr Ich und ihre Persönlichkeit und ihr eigenstes Lebensinteresse müsse zum Heil eines mystischen Zukünftigen, eines erst nach ihrem irdischen Wandel Entstehenden zurücktreten, diesem geopfert werden, während eben diese Priester, Pfaffen und Staatsmänner, die so sprechen, selbst so wenig daran denken, sich in der Gegenwart für die Zukunft aufzuopfern, wie etwa der Papst von Rom daran denkt sein irdisches Leben um der Herrlichkeiten willen im himmlischen Jenseits zu verkürzen in dieser Zeit, da das Wort "Kommunismus" gleichbedeutend geworden ist mit ehrlosestem marxistischem Staatsbetrug, verübt an dem irregeführten Volke, da ist Leo Tolstoi unser einziger Führer und Wegweiser, der hellste Stern geworden, dem die Menschheit folgen muß, wenn sie in Wahrheit ihre Erlösung finden will!Worin bestehen die Grundgedanken Leo Tolstois, wie sie das unvergleichlich lebensschöpferische Prinzip und Ideal des Anarchismus bereichern und es zu einer aktuellen Wirklichkeitsform im Menschen- und Gesellschaftsleben gestalten?Erst in Tolstoi wird der Anarchismus wohl weniger ein soziologisches System, dafür aber desto mehr ein Kulturbegriff des geistigen Lebens für die Gegenwart und der sie mit jenen real erfüllenden, selbstbefreienden Tat, Aktion. Dies geschieht vor allem dadurch, daß Tolstoi die Sache der Neugestaltung des gesellschaftlichen Zustandes aus den Umgrenzungen der nur soziologischen Auffassung hebt und zu der höchsten Geistessphäre des Lebenssinnes und all dessen, was dem Menschen wertvoll und wesentlich dünkt, emporträgt: Tolstoi hat diejenige Anschauung der Menschen revolutioniert, innerhalb welcher der größte Teil der europäisch-amerikanischen Kulturmenschheit aufwächst und erzogen wird.Das, was man Weltanschauung, Philosophie, Wissenschaft nennt, wird nur von einem kleinen, größtenteils privilegierten Häuflein Menschen besessen, von deren, auf Grund ihrer wissenschaftlichen oder philosophischen Ausbildung, nur eine winzig kleine Absplitterung zu einer individuell wie sozial befreienden Lebensführung und Auffassung gelangt. Sogar sehr bedetutende, liberale Gelehrte wie z.B. Häckel — gelangen auf Grund ihrer wissenschaftlichen Überzeugung keineswegs zu freiheitlichen Gesichtspunkten. Doch ganz abgesehen davon — alle diese Geisteselemente der schulmäßigen Philosophie und wissenschaftlichen Bildung leben außerhalb des wirklichen Volkes. Nicht nur, daß sie in ihren Fundamenten wie im Wesensgehalt keineswegs positive Axiome sind, sie bieten nicht einmal die moralische und ethische Gewähr für eine wirkliche ideale Erhebung des Menschengeistes und seines sozialen Milieus. Das eigentliche Volk kennt sie überhaupt nicht, und es gehört zu den unglücklichsten Begleiterscheinungen des Sozialismus, als "wissenschaftlich" gelten zu wollen, wodurch er sich von vornherein dem eigentlichen Volksverständnis entrückt, ja sogar vor diesem verschließt, eine Kaste von "Wissenden", sogenannten "Theoretikern" und eine Kaste der unendlichen Mehrheit von "Unwissenden" schafft.Durch Leo Tolstoi erst gelangen wir — und zwar in ganz unvergleichlich anderer und unendlich tieferer Form als durch St. Simon, Lamennais oder Weitling — dazu, den Anarchismus und seine kommunistische Wirtschaftsform dem Bewußtsein des Volkes näher zu bringen, in der Tat diesem entfließen zu lassen. Tolstoi hat dies dadurch erreicht, daß er, statt sich in Abstraktionen pseudowissenschaftlicher Dispute zu verlieren, die Volksphilosophie — die Religion, also insbesondere das Christentum von alledem reinigte, was für Kirche und Staat unerläßlich ist, um die Menschen in Knechtschaft erhalten zu können. Unendlich mehr als Luther ist Tolstoi ein Zertrümmerer aller kirchlichen Dogmatik und Theologie, und in gewisser Beziehung ist sein Auftreten in dessen Reinheit und Unerbittlichkeit nur mit dem der alten jüdischen Propheten, die sich gegen den Wortsinn des Judentums und seiner Gebote auflehnten, noch mehr aber nur mit der Lichtgestalt Christus zu vergleichen, von der es herzlich gleichgültig ist, ob dieser je gelebt hat oder nicht, solange wir nur seine antistaatlichen, antimammonistischen, antipfäffischen Lehren der Liebe besitzen, die das Göttliche in das Gute der menschlichen Verstandeskräfte verlegen und somit die menschliche Vernunft als das souveränste und einzige Gotteselement erklären.Hier hat Tolstoi eine Anknüpfung an das Volksbewußtsein, den Volksgeist, wie er ist, geschaffen, die grandioser nicht vollbracht werden kann; und wer die Kraft religiös-intuitiv geschauter Lehensideale aus der Geschichte des Volkes kennt, wird auch begreifen, welche todessicheren Waffen hier gegen jegliche Macht, Autorität, Gewalt und Unterdrückung des Staates und der Kirche für uns geschmiedet worden sind!Zugleich bieten sie dasjenige dar, was sonst nirgends zu finden ist: die positive Gewähr, daß neue Menschen und damit neue Zustände, neue Verhältnisse geschaffen werden. Das Christentum der Bergpredigt, wie es Tolstoi lehrt, verwandelt das einfachste, wie das geistig höchstkultivierte Individuum in einen gleichwertigen neuen Menschen. In ihm finden Bauer und Geistiger sich, beide haben ihr inneres Menschtum, ihre Göttlichkeit, zu entdecken und — zu leben! Und beide werden durch dieses wahre Christentum auf eine gemeinschaftliche Aktionsgrundlage des Kampfes und der Befreiung hingeführt: beide müssen sich gegen die Institution von, Staat und Kirche als solche wenden und ihre völlige Beseitigung nicht erst für die Zukunft, sondern schon im täglichen Lebenswandel durchzusetzen trachten, was unvermeidlich zum Zusammenbruch dieser vor allen Dingen nur durch innere Unterwerfung aufrechterhaltenen Institutionen der Allversklavung und Allvertierung geleiten muß. Wie aber ist dieser Zusammenbruch durchzuführen? Wahrscheinlich nur auf den bisher üblichen und uns leider allein bekannt gewordenen Wegen der politischen Revolution? Also durch Gewalt in kriegerisch-militärischem Sinn?Wieder begegnen wir hier der geradezu erhaben einheitlich geschlossenen Weltanschauung Tolstois, die aus Lebensführung im Sinne wahrer Lebensreligion eine Lebensumwälzung bereitet und bewirkt. Wir gelangen nun zum archimedischen Punkt des gesamten Sozialen Problems, und es ist ein Unglück für das internationale Proletariat, daß dieses geistig so verstrickt ist — durch Erziehung, wie äußere Einflüsse — in das Gewebe der Gewalt, daß das Proletariat die Wesensart der Gewalt weder erkennt noch durchschaut.Die alte Theorie des Sozialismus hat irriger Weise den Bestand des bestehenden Systems entweder in ökonomische Gesetze oder in den Staat und seine Institutionen verlegt. In Wahrheit sind sie nur Folge, Wirkung; das bestehende System der Gewalt beruht in der Gewaltbetätigung der Massen auf allen individuellen und sozialen Gebieten, und diese Betätigung entstammt der irrigen, geistlosen Gewaltverehrung des Proletariats, die künstlich gezüchtet wird durch Staat, Schule, Militarismus, Kirche, Partei und demagogenhafte Machtgier. Im Augenblick, wo das Proletariat die Betätigung der von ihm geforderten Gewalt auf allen Gebieten der bestehenden Gewaltordnung verweigert — und darin besteht der Wesenskern des Christentums, wie Tolstoi es lehrt — bricht diese ganze Gewaltordnung ohnmächtig zusammen und, was vielleicht das allerwichtigste: es entsteht keine neue — Mensch wie Gesellschaft sind endlich befreit, frei.Zu diesem Kampf einer heroischen Lebensführung, welche die soziale Revolution für jeden Einzelnen, der sich zu ihr bekennt, als eröffnet, als durch ihn begonnen erklärt — zu diesem Kampf der Selbst- und Allbefreiung hat Leo Tolstoi bis zu seinem letzten Atemzuge aufgefordert. Es ist die groteskeste Unkenntnis seines Wollens, wenn man sein Wort vom Nichtwiderstreben so ausdeutet, als hätte er Unterwerfung unter das Übel gepredigt, während er in Wirklichkeit darunter die Abkehr von jeglicher gesetzlicher und politischer Quacksalberei, wie Militärgewalt, verstand — er schrieb im zaristischen Rußland! — und zugleich das Nichtwiderstreben mittels der Waffengewalt, weil diese nie Revolution, immer nur Krieg und neue Macht herbeiführt. Und weil er verstand, daß es Narretei ist, die Arbeiter zur Waffengewalt aufzufordern, während die Arbeiter dieselben Waffen erzeugen, die sich gegen sie kehren; dieweil sie viel leichter, menschlicher und gewisser siegen können durch die Zerstörung aller Waffen und Nichterzeugung - das begriff Tolstoi unter seinetm Nichtwiderstreben; denkt nur ein bischen darüber nach, Maulhelden der Pseudorevolution! — derselben, wodurch mit einem Schlage die Gesellschaft befreit ist vom Staat, Klerikalismus, Kapitalismus und Monopoleigentum und der kommunistische Anarchismus sich als die einzige mögliche Lebensform eines natürlichen Menschenwandels in Freiheit ergibt.Das hat Leo Tolstoi uns gelehrt, und mehr als je ist er heute und für den Kampf in Gegenwart und Zukunft der bahnbrechendste Revolutionär, der einzige, der strenge fordert: Setze das, woran du glaubst, sofort in Wirklichkeit um! Lebe es! In der Aufstellung dieser strengen Forderung ist er aber auch der genialste Bahnbrecher für eine freie Menschtheitsgemeinde. Darum leuchtet uns sein Name als Inspiration voran, darum danken wir ihm, indem wir in seinem Sinne zu wirken trachten.

So wollen und müssen wir seiner gedenken an diesem, seinem Jubeltage des achtzigsten Geburtstagsfestes. Obwohl, wir müssen es rasch hinzufügen, es einem ziemlich schwer gemacht wird, wenn man bedenkt, wie viel armseliges Klein- und Zwerg-volk, wie viele gemein-journalistische Federreißerei, wie viele gierige, parteischmutzige Hände sich an dieser hellodernden Flamme einer erhabenen Geistesanschauung wärmten. In diesen Tagen wird es einem wahrlich verleidet, an Tolstoi anders als im Gefühl des Bedauerns zu denken, darüber, daß dieser große Mensch gewissermaßen zum Opfertier für alle die Wanzeriche der Tagespresse und der interessierten Meinungsverfälschungen der Parteien gemacht wird; es wird einem verleidet, überhaupt an ihn zu denken, wenn man es fühlt, daß man gezwungen ist, in einen Chor von Ehrungen zu stimmen, mit dem wir nichts gemein haben wollen, weil wir seine Urheber verabscheuen und verachten. Denn wir, die wir heute unserem Tolstoi unsere Ehrungen darbringen, haben mit jenem Chor gar nichts zu tun, unsere Ehrgefühle entstammen ganz anderem Herzen und Geiste — und wie ein Trost mutet es uns an, wenn wir bedenken, daß unsere Feier dieses Tolstoischen Geburtstages ganz außerhalb des Rahmens der übrigen Feiern gelegen ist, ja selbst verboten wurde; wir aber wollen ihn nur so feiern, wie es dem ganzen Klüngel- und Kliquentum nicht genehm, wie es aber dem Manne selbst mit dem großen Menschheitsherzen wohlig berühren mag durch diese unsere Ausnahme: — wir feiern Leo Tolstoi heute nur als Anarchist. Allerdings ist er auch ein herrlicher, ein genialer Künstler, und wir wissen das Unrecht, das er sich zufügt, wenn er seine großartige Künstlerarbeit als Produkt der Eitelkeit ausgiebt, wohl zu würdigen, können ihm darin niemals zustimmen. Aber in dieser Verhöhnung seines Genius liegt ebenfalls schon sein Wunsch, wie aufgefaßt zu werden. Große Dichter gab es zu allen Zeiten; große Denker und Menschen nicht immer. Und Tolstoi, der ein Russe ist in jenem schönsten Sinn, den uns ein Fr. Meyer (von Waldeck) in seinen Schilderungen so überaus gewinnend und wahrheitsgetreu zugeführt hat, Tolstoi weiß als Russe, daß es nicht sein Volk ist, das in Rußland seine Kunstwerke liest und ästhetisch genießt. Rußlands Analphabetentum, der Muschik, der den Namen Tolstoi kennt, der Angehörige einer städtischen Artel (Arbeiter-Genossenschaft), der nicht lesen kann, liebt Tolstoi, verehrt den Menschen nicht wegen des herrlichen Romans »Anna Karenina«, nicht wegen der »Kreutzersonate«, »Auferstehung« und »Krieg und Frieden« oder gar wegen seiner frühesten, kristallklaren, ruhige Ideale darbietenden Novellen. Dies alles ist für uns geschrieben, die wir gewöhnt sind, die Menschen aus Büchern auferstehen zu lassen; ist für die Bourgeoisie und jenen Teil der Gesellschaft geschrieben, dem es in vielem geglückt ist, seine Lebenshaltung mit jener der Bourgeoisie annähernd konform zu gestalten. Tolstoi weiß dies ganz genau und ist viel zu streng gegen sich selbst, um dies nicht zu bekennen.Der Tolstoi, der wirklich dem Volke bekannt, von diesem geehrt und geliebt wird, also vom Volk der Arbeit, der Erde und Maschine, das ist der Tolstoi, dessen Propaganda- und Aufklärungsworte in lausenden von kaum leserlichen hektographischen Abzügen von edelmütigen Vorkämpfern aus oftmals den höchsten Gesellschaftsschichten ins russische Volk hineingetragen, dort ihm vorgelesen und unter dem Volke wieder weiter kolportiert werden. Und so wie diese Vorkämpfer, um ihrer großen, heiligen Lebensmission willen, die sie über kurz oder lang ins Gefängnis oder in den Tod führt, sich aller Freude des Lebens entledigen, ihren eleganten, weltmännischen Anzug gegen die Volkstracht, das feine Damenkleid gegen den Bäuerinnenkittel umtauschen müssen, somit das, was dem Leben des Volkes eine zukünftige Auferstehung bereiten soll, über ihr eigenes Leben stellen, so liebt Tolstoi diese seine unkünstlerische, aber sozial und geistig aufrüttelnde Propagandawirksamkeit mehr als alle seine Kunstwerke zusammen. Seine gesellschaftskritischen, seine staats- und kirchenfeindlichen, einfachen Wahrheitsgedanken, die er im Volke verbreitet sieht und die ihn bis heute wirklich und einzig mit dem Volke intim zu verbinden ver- mögen, sie gehen ihm mit einem gewissen Recht über alles andere und weitere. Be- greift man nun, woher Tolstois herbes Urteil über seine eigene und die künstlerische Produktivität anderer weltbewegender Genialnaturen stammt?Aus seinem Herzensverständnis, aus seiner Geistestiefe, die sich über das eine große Faktum nicht hinwegtäuschen können, daß alle heutige Kunst eine Afterkunst ist, die nicht nach dem künstlerischen Gefühl des Volkes fragen kann, da sie nach Angebot und Nachfrage arbeitet und die dort, wo sie sich nicht beugt vor den unverrückbaren ökonomischen Gesetzen des heutigen Gesellschaftsunwesens die tiefste Tragik alles künstlerischen Seins erfährt: vom Volke nicht verstanden werden zu können , da diesem Volke von den Herrschaftselementen des Bestehenden der Geistesausblick in das Lichtreich hoher Gedanken und der Schönheit brutal verwehrt ist durch seine soziale Versklavung.Wenden wir uns zu Tolstois Anarchismus. Es ist ein gewaltiger Schritt nach vorwärts, den wir ihn machen sehen, diesen ehemaligen Kaukasusoffizier, der anläßlich der pfäffischen Einsegnung der Waffen zur Zeit des russisch-türkischen Krieges, der gleichzeitigen Einsegnung auf beiden Seiten und der Herabflehung des himmlischen Gottessegens zum Heile der Mordzwecke des einen wider den anderen Potentaten — der anläßlich dieser erbärmlichen Lügenkomödie unserer offiziellen Zeit sehend ward. Von da an kannte Tolstoi kein Bleiben mehr beim Militär. Er nahm seinen Abschied und der bisher flott verschwendende Lebemann und Graf hielt Einkehr mit sich selbst, warf sich mit rätselhafter Energie auf das Studium der altgriechischen und hebräischen Sprachen, nur um in den wahren Geist der Bibelevangelien eindringen und die schwindelhaften Kirchenübersetzungen, mit ihren unzähligen theologischen Variationen entwirren zu können. Was Tolstoi auf diesem, für einen Russen vollständig begreiflichen Drangeswege fand, war etwas Großes: er fand, ähnlich wie Buddha, in der Entsagung sich selbst und entdeckte auch ein Vorbild, das ihm bisher als Gottessohn vorgestellt geworden: er entdeckte den herrlichen Menschen Rabbi Jeschua, den die Römer Jesus nannten und erst Paulus zu einem Jesus Christus stempelte. Er sah das Geistesbild eines Menschen vor sich, der im edlen Streben nach Abschüttelung des römischen Joches unendlich viel gelitten haben soll, der uns heute eine vorbildliche Idealgestalt sein könnte, wenn nicht über fünfzehn Jahrhunderte pfäffischer Verdummungstheologie und pfäffischen Betruges uns aus dieser Menschengestalt eine göttliche Figur gemacht hätten, damit dieselbe jeder menschlich höheren Bedeutung beraubend.Denn was ist das Leid, das Jesus ertragen haben soll, für einen Gott, wenn derselbe existiert? Kein Leid. Nur als Mensch kann uns Jesus groß, verehrungswürdig erscheinen, niemals als Gott, und es gehört zur Ironie der Weltgeschichte, daß die fanatischesten Anhänger dieses Mannes ihn, im verblendeten Ringen um seine Göttlichkeit, gerade sein Größtes, sein Allmenschliches entreißen wollten und wohl auch entrissen haben. Diese Persönlichkeit lehrte Tolstoi ein einziges Gesetz: Die Liebe zum Nebenmenschen.Und vor der grandiosen Wucht dieses Gesetzes tritt für uns, wie auch für Tolstoi, wieder die ganze große Lichtgestalt des Rabbi Jeschua in den Hintergrund. Um so mehr, als wir mit dem großen Russen es wissen, daß dieses »goldene Gesetz des Lebens« nicht von Jeschua zuerst erdacht ward, daß wir es in allen und weit älteren Religionen als das Christentum vorfinden, daß die Stoiker, besonders Seneca, es uns weit umfassender lehrten. Doch dies ist schließlich Nebensache, und Prophet bleibt dennoch nurderjenige, dem es gelang, die Heilslehre bleibend und dauernd zu machen. Darin ist die Gestalt des Rabbi allerdings ehern und unerschütterlich durch fast zwei Jahrtausende, ist seine Bergpredigt der Inhalt der Bibel, neben dem all die anderen, so auffallend widerspruchsvollen Evangelien ebenso hinfällig werden, wie alle die Bücher Mosis. Aber diese Bergpredigt genügt, denn sie kann eben nur in einem Sinne ihre Auslegung finden, im Sinne des humanistischen Idealismus, und selbst die Gewaltsstützen aller Vergangenheit und Gegenwart haben es nicht anders getan.Es war somit nichts als eine geistige Konsequenz, wenn Tolstoi, der tiefinnerlich nur an die Regenerationsfähigkeit des Volkes glaubt, seinen Anarchismus an den religiösen Vorstellungen des russischen Volkes weiterbaute. Und mit großem Recht; denn die Entwicklung Rußlands hat es mit sich gebracht, daß der Geist des naturwissenschaftlichen Materialismus, der zur reinen Auffassung des Universums geleitet, nur in den höheren Schichten der Gesellschaft Einzug halten konnte. Das Volk selbst ist religiös, aber glücklicherweise nicht kirchlich-religiös. Das beweisen die hunderte von religiösen Sekten, die in Rußland bestehen und sich wie ein riesiges Netz miteinander vereinigen, wenn es den Widerstand gegen die griechisch-katholische Kirche gilt. Und alle diese Sekten wenden sich gegen die Kirche, weil sie die wesentlichsten Bestandteile des Urchristentums in sich aufgenommen haben und hochschätzen, sind gegen die Kirche, weil sie in ihr den Geist der Herrschaft, Autorität und Unterdrückung, den Geist des Eigennutzes und des gleisnerischen Reichtums erblicken, ihrerseits den Brudersinn der religiösen Gemeinsamkeit, des Kommunismus und das Gefühl des intimen, persönlichen In-Beziehungtretens mit »Gott«, also für sie des Guten, ein Gefühl, das alle Priester und Kirchen ausschaltet, hegen und pflegen.Mit dieser Grundlage des Geisteslebens seines Volkes hatte Tolstoi zu rechnen, und darauf mußte er bauen, wollte er jemals Eingang finden in dessen Seele und Sehnsucht. Mögen diese notgedrungenen knappen Erklärungen uns einen klareren Begriff von der durch- aus notwendigen Art des Tolstoischen Anarchismus bringen. Im Kerne seines Wesens unterscheidet sich dieser Anarchismus als einziges Strebensideal der Menschheit gar nicht von jenem anderer Vorkämpfer dieses größten Menschengedankens der Freiheit. Tolstoi ist für die Abschaffung des Staates, er ist Gegner jeder Gesetzgebung durch Menschen über Menschen, ist Gegner des Monopoleigentums an Grund und Boden, wie überhaupt jedes Monopols im produktiven Gesellschaftsleben. Er vertritt den durchaus richtigen Standpunkt, daß unsere heutige Fabrikstechnik, unsere städtische Hyperkultur, unsere ganzen nationalökonomischen Berechnungen zu Gunsten des Profitfaktors und zu gräßlichstem Ungunsten des Menschen nichts sind als Eigennutzinteressen, die zu weichen haben gegenüber dem einfachen, natürlichen Leben des Bauern, der physischen Arbeit, die uns in intime Berührung treten läßt mit Mutter Erde, der wirklich produktiven Arbeit für die eigenen Bedürfnisse, statt der unproduktiven heutigen, für die Gelüste und Luxusbedürfnisse des Reichtums. Tolstoi haßt und verachtet die Vertreter des modernen Gesellschaftslebens, aber sein Haß ist freilich nicht der wildlodernde des alten Revolutionärs vom Typus etwa eines Karl Heinzen, sondern der Unwille über den Schaden, den unentwickelte Kinder an anderen, wehrlosen Kindern anrichten, das Leid, das sie ihnen zufügen.Denn Tolstois Anarchismus geht immer an Hand des Zauber wortes Liebe , ist immer eine neue Bergpredigt. Sein Anarchismus besitzt aber auch etwas ungemein Konstruktives, wie wir sofort sehen werden. Leo Tolstoi ist Religion nicht ein bildlich wahrnehmbarer Gottesbegriff, auch nicht die Verehrung irgend einer Jesugestalt, eines Bibelwortes, einer Reliquie. Alles dies sind ihre Äußerlichkeiten, die die Kirche geschäftlich ausbreitet. Für Tolstoi ist Religion: ein wahres Leben im Dienste des Wohles deines Nebenmenschen, im Dienste der Erfüllung einer höheren Pflicht, sich und sein ganzes einzusetzen für die Verwirklichung des Guten. Was ihm dieses ist, weiß man, wenn man das Ideal des Anarchismus kennt; es ist auch das seine, und nur in einem Sinne wird er von vielen nicht anerkannt und verkannt; im Sinne einer rein taktischen Auffassung des Werdeprozesses der neuen Gesellschaft und des neuen Lebens und des neuen Menschen.Ich habe aus Raummangel keine Gelegenheit, mich hier über Tolstois ethisch-sexuelle Anschauungen zu äußern; es ist im Bereiche dieser Skizze überflüssig, in bezug auf seine diesbezüglich anders gearteten Ansichten von den unseren, die geformt wurden und sich mehr oder minder im Einklang finden mit jenen eines Ibsen oder Meredith oder Morris und Carpenter, Worte zu verlieren. Was aber nicht überflüssig sein kann, ist die Frage, ob wir, die wir, mit Tolstoi, kommunistische Anarchisten in der heute theoretisch geläuterten Auffassung dieses Namens sind, ob wir, die wir aber auch Anhänger der sozialen Revolution, als der befreienden Humanitätsaktion der nach Freiheit ringenden und für sie geistig gereiften Massen sind — ob wir auch unter letzterem Gesichtswinkel berechtigt sind, ihn zu feiern, ihn anzuerkennen? Ist doch Tolstoi bekannt als einer, der angeblich das Nichtwiderstreben, das Böse zu ertragen lehrt und der mit seinem Hohn »auch die Freiheitsbestrebungen trifft«, wie ein gewisser Wortmacher in der »Arbeiter-Zeitung« recht unsauber-unwahr orakelt.Ob wir ihn ehren sollen? Kameraden, leset Krapotkins Buch über »Ideale und Wirklichkeiten der russischen Literatur«, und ihr werdet nicht mehr fragen. Ebenso wie Tolstois Christentum, das doch nichts mit dem bestehenden zu tun hat, ist Tolstois Taktik falsch aufgefaßt und beurteilt worden. Es klingt wie ein Hohn, wenn Leute, die ihn ganz wie die Repräsentanten des Bestehenden fürchten, wenn z. B. die Sozialdemokraten, diese notorischen Nichtstuer für das Volk, die von dessen instinktivem Klargefühl, daß ihm ein Unrecht durch das bestehende System geschieht und daß ein neues organisiert werden muß, recht flott und angenehm leben, wenn solche Leute es einem Tolstoi vorzuwerfen wagen, er predige das Nichtstun gegenüber dem Feind des Staates und der Unterdrückung!Seien wir aufrichtig: es gibt keine konservativere Kraft in der Gegenwart, die mehr das Volk zur vollständigen Lethargie «entwickelt» hat, mehr zur Passivität niedergezwungen hat, als die Sozialdemokratie. Tolstoi aber lehrt nie und nirgends Tatenlosigkeit, wie diese Herren es den Anschein geben möchten. Der Mann, der Soldaten und Bauern, an ihr Menschtum appellierend, zum aktiven Widerstand aufruft; der wohl das Komödienspiel der Duma und den mordenden Schwindel geißelte, den die russische Bourgeoisie mit dem Volke aus politischem Eigennutz während der Jahre 1905 bis 1907 getrieben; den Bauern in Georgia aber, die ihre Herren nach der Stadt gefahren und dann gemeinschaftlich sich Grund und Boden in freier Bestellung aneigneten, eine Glückwunschdepesche sandte — dieser Mann ein Prediger der Tatenlosigkeit? Welcher Unsinn!Was Tolstoi wirklich lehrt, das ist: die Vermeidung des gewaltsamen Widerstandes durch die unmittelbare Verwirklichung des Ideals. Tolstoi ist gegen die blutige Gewalt und erklärt als seine Waffe den passiven Widerstand. Das ist der Widerstand, der darin besteht, daß, nach seiner Lehre, Hunderte und Tausende von Soldaten den Dienst, die Millionen von Muschiks alle Steuern an den Staat, ihre Arbeitskraft an die Gutsbesitzer verweigern, ihre Arbeit für sich verwerten sollen. Tolstoi vertritt den Grundsatz: Lebe das neue Leben der Gemeinschaft, gehorche nicht mehr den Staatsmännern, füge dich nicht mehr der Herrschaft der Kirche, achte nicht mehr das Unrecht des Bodenwuchers und seines Monopols durch den Grundbesitzer - kurz, lasse dich nicht mehr von Herrschern und Ausbeutern gebrauchen, weil dies stets nur Mißbrauch mit dir ist.Man wird ehrlicherweise zugeben, daß dies ein machtvoller Kampfesruf ist, der das Ziel immer als erstes und einziges vor Augen hat und jeden Kompromiß verschmäht. Und wer vermöchte es zu leugnen, daß Tolstoi vollkommen Recht hat, wenn er sich gegen die bisherige Form der russischen Revolution kehrte? Für einen jeden Anarchisten ist das Problem so: das russische Proletariat opferte sich bisher für die Interessen der nach politischer Karriere gierenden Bourgeoisie und wurde von dieser ihren Streber- und Machtinteressen geopfert, dann fallen gelassen. Wie anders wäre der Kampf ausgefallen, wenn statt den einigen hunderttausend Stadtproletariern nur ein bis zwei Millionen Bauern aus den übrigen neunzig Millionen Dienst und Gehorsam und Abgabe gegenüber dem Staate und, dem Gutsherrn einfach verweigert hätten, indem sie sich des Landes durch den Anbau für sich selbst bemächtigt hätten?! Zwei Millionen Menschen kann man nicht in die Gefängnisse werfen, unmöglich töten. An dem passiven Widerstande in dieser Form wäre das russische Zarentum und ökonomische Aussaugertum bankerott geworden, unweigerlich zu Grunde gegangen und säße heute nicht im Sattel oder mit parlamentarisch-ministeriellen Mitschmausern an reich bedeckter Tafel.Weshalb wir dennoch nicht allein an den passiven Widerstand im Sinne der endgültigen Befreiung glauben? Aus zwei Gründen: Erstens, weil Tolstoi selbst nicht an ihn als ein endgültiges Befreiungsmittel glaubt, zweitens, und dies ist das wichtigste Moment, weil wir daran verzweifeln, daß es in unserer heutigen Welt je möglich sein wird, viele Millionen zu einheitlichem, idealen Kampfe — und Millionen Menschen sind zum passiven Widerstand im Tolstoi-Sinn nötig! — empor zu läutern. Die kapitalistische Welt ist mit ihren drückenden Verelendungstendenzen übermächtig. Der befreiende Endkampf des Volkes wird wohl nur hunderttausende Idealisten, wirklich durchdrungener Freiheitskämpfer im Todeskampfe mit den bestehenden Verhältnissen finden — niemals aber so viele, daß durch ihre bloße Passivität die Herrscher und Ausbeuteran und für sich ohnmächtig und überwunden wären.Doch dies sind taktische Probleme und Fragen, die am entschiedensten die Zukunft lösen wird. Vielleicht trifft jener den richtigen Durchschnitt, der es mit einer Synthese des passiven Widerstandes eines Tolstois und der sozialen Revolution eines Krapotkin — zwei Idealgestalten der Menschheit — gedanklich versucht. Und die Zeitereignisse, wie sie machtvoll nach Auslösung und Erlösung drängen, scheinen die Annahme zu bestätigen, daß die soziale Revolution der Zukunft wohl eine glückliche Vereinigung von passivem und gewaltsamen Widerstand sein wird; hauptsächlich aber doch der erstere, der letztere meistens nur dorten, wo das sich etwa abermals reckende Alte der Reaktion das kaum errichtete Neue der sozialen Freiheit der Anarchie und ihres ökonomischen Grundgebietes, die Gleichheit, wird zu erschüttern versuchen.Immerhin erzeugen beide taktischen Propagandaformen, jene des passiven und aktiven Widerstandes, zwei Kämpfertypen, von denen man keinen vermissen möchte, wenn man sie beide gekannt und beobachtet hat. Wir fühlen uns vollkommen frei von allen Übertreibungen des Tolstoischen Gedankenganges, doch dies wissen wir, daß ohne die tiefinnerst und mächtig die Menschen erfassende Überzeugungsreligion eines Tolstoi diejenige Regeneration und geistige Wiedergeburt der Menschen nicht stattfinden kann, deren gerade die Kämpen der sozialen Revolution im Krapotkinschen Sinne bedürfen, um stählerne Ausdauer und unerschütterlichen Kampfesmut- und Glauben zu haben. Innenrevolutionen im Menschen sind unerläßlich für den Anarchismus, um Wirklichkeit und Vollendung zu werden.Leo Tolstoi selbst ist uns einer der größten und edelsten Vorkämpfer des zukünftigen Menschheitsglückes. Er, der Anarchist und Bauernkommunist, der für das Reich des Ideals in ihm die Zukunft seines Lebensganges als Adelssprosse und Machthaber dahin gegeben, freudig dahingab für das edel Menschliche, dessen endlichen Sieg er fühlt und vorbereitet, er gehört unserer Idee, unserem großartigen Weltanschauungsbilde der Herrschaftslosigkeit an — diese Idee, die den Achtzigjährigen noch stählt im Kampf gegen die heutige Welt der Tücke, dieser erhabene Gedanke, der alles echt Lebende durchdringt und dadurch immerwährend neues und reicheres Leben zeugt.

Die Revolutionäre von heute hätten sich um Leo Tolstois hundertsten Geburtstag nicht bekümmert, wenn er in dem Augenblick gestorben wäre, als er sein dichterisches Werk abgeschlossen sah und die Zeit und die Mühe, die es ihn gekostet hatte, verfluchte, da er sie der Arbeit für die Wahrheit und für die Freiheit der Menschen gestohlen meinte. Die Literaten, Kunstschwätzer und Schöngeister von heute hätten die Gelegenheit des hundertsten Geburtstages Leo Tolstois zum Ausschwitzen von Gedenkartikeln erst recht verpaßt, wenn er sein niedergeschriebenes Lebenswerk nicht mit der Kreutzersonate und Anna Karenina, sondern gleich mit dem Aufruf an die Menschheit begonnen hätte; denn sie hätten von solchem Lebenswerk eines prophetenhaften Riesengeistes nie erfahren, wäre ihnen dieser Geist nicht zuvor in ihren Fachbezirken begegnet. Die Philosophen von heute halten sich ohnehin nicht für bemüßigt, vom hundertsten Geburtstag Leo Tolstois anders als mit dem Hinweis Akt zu nehmen, daß sein Vermächtnis in ein anderes Ressort gehöre, nämlich in das der schönen Literatur, der religiösen Sektiererei und der Politik. Die historischen Materialisten haben es, wie bei allen Gelegenheiten so auch beim hundertsten Geburtstag Leo Tolstois am leichtesten, die richtige Einordnung seiner Persönlichkeit, seiner geistigen Kraft und der Wirkung seines Schaffens auf das Geschehen seiner Zeit und das Verhalten seiner Zeitgenossen und Nachfahren zu treffen, da sie über den Vorteil der marxistischen Patentlösung verfügen: man betrachte den Stand der kapitalistischen Produktionsweise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vergleiche damit das Lebenswerk Leo Tolstois und erkenne, daß seine Romane und Dramen, seine Lehren und Mahnungen, seine Entwicklung vom genießerischen Offizier zum asketischen Weltverneiner, seine Familienkonflikte und seine Verbrüderung mit seinen bäuerlichen Schloßnachbarn, seine künstlerische Meisterschaft und seine Verdammung der Künste, der Weltsitten, des Staates, der Ausbeutung, der Autorität und der Sinnenlust und endlich seine Flucht in die Einsamkeit die natürlichsten Begleiterscheinungen der ökonomischen Zustände seiner Zeit waren. Zwar waren Dostojewski und Turgenjeff, Zola und Ibsen, Hebbel und Keller, selbst noch Strindberg und Wedekind seine Zeitgenossen, um nur solche zu nennen, die über das dichterische Vermächtnis hinaus Gesellschaftskritik und soziale Ermahnungen ihrem Werke nachklingen ließen, und sie alle haben von Tolstoi gänzlich verschieden gelebt, gewirkt, gesehen, gedichtet, gesprochen, geurteilt und prophezeit, - macht nichts: wenn ihr die Dinge nur richtig historisch-materialistisch anschaut und dabei nicht versäumt, handfest dialektisch zu denken, werdet ihr begreifen, daß sie alle nur Kinder ihrer zeitgebundenen Wirtschaftsform waren und somit in ihrer aller Erscheinen und Aeußern nichts war, was den Marxisten vor Rätsel steilen könnte.Es sei gestattet, den Eindruck beim Namen zu nennen, den die Festartikel der bürgerlichen und proletarischen, der literarischen und ethischen, der religiösen und atheistischen Gedenkschreiber zum hundertsten Geburtstage Leo Tolstois auf mich gemacht haben: ich erinnere mich nicht, jemals, wenn ein Kalenderzufall die Hirntätigkeit aller Meinungsmacher zur Behandlung eines bestimmten Gegenstandes beanspruchte, in sämtlichen Dialekten der Geistesverrenkung ein so hilfloses Geschwafel, ein so jammerwürdiges Vorbeireden an der wirklichen Erscheinung des Gefeierten vernommen zu haben. Man zerbröckelt das Lebenswerk der weitaus mächtigsten Persönlichkeit einer ganzen Geschichtsepoche in seine einzelnen Bestandteile, hält sorgfältig die Erzeugnisse einer dichterischen Kraft, die Denken, Leben, Verhalten, Urteilen, Aussehen, wechselseitige Beziehungen der Menschen mit unerhörter sachlicher Schärfe und mit der Unerbittlichkeit leidenschaftlicher Wahrheit zu lebendiger Wirklichkeit zu gestalten weiß, getrennt von den erschütternden Aufschreien einer seherischen Natur, die den klarsten Verstand eines Jahrtausends mit dem Reichtum seiner glutvollsten Seele nährte. Man beeifert sich, aus der gigantischen Wildheit schöpferischer Urgewalt eines unfaßbar großen menschlichen Geistes allgemeine Lebensregeln herauszudestillieren und bemißt an der Lebensführung der Privatperson Tolstoi die Richtigkeit oder Verkehrtheit seiner Weltanschauung und seiner Lehren. Ja, es gibt sogar „Tolstoianer“. Das sind Leute, die glauben, wenn sie statt Schweinekoteletten Radieschen essen, statt Doppelkorn Orangeade trinken, Gott und Heiland aus den Klerikerkirchen zu den ernsten Bibelforschern verfrachten, die Revolutionäre händeringend beschwören, sie möchten doch, wenn sie die Welt umkrempeln wollen, dabei vor allen Dingen keine gefährlichen Werkzeuge verwenden, damit niemand zu Schaden komme, und, da Tolstoi ja leider auch die fleischliche Lust des Geschlechtsbetriebs verpönt, sich manchmal durch kalte Wasserumschläge gegen den Überschwang unkeuscher Begierden schützen, - dann werden sie ihres Meisters würdig leben und alle Zeitgenossen beschulmeistern dürfen, die ohne Angst, Darm und Gemüt zu vergiften, ihre Zigarre qualmen und selbst um des Kusses eines frischen Mädels willen mal eine Stunde weisen Geschwätzes über die wahre Tugend verabsäumen.Tolstoi selber war alles andere als ein Tolstoianer. Diese Gestalt überhaupt auf eine Formel bringen wollen, heißt von ihrer Größe und Weltbedeutung unberührt geblieben sein. So vorsichtig man im allgemeinen mit der Bezeichnung eines Menschen als Genie sein sollte, hier ist gar kein anderer Begriff anwendbar. Hier wirkt ein Riese, dessen Maße in kein noch so schlau ausgedachtes System passen: ein Riese im Schauen, Horchen, Denken und Fühlen, ein Riese im sprachlichen Ausdruck und im seelischen Erfassen der Weit, ein Riese in der Klarheit seines Wollens und in der Wahrheit vor sich selbst, ein Riese in den Anforderungen an die eigene sittliche Kraft und an den Erkenntniswillen der anderen, ein Riese in der Folgerichtigkeit der Logik und ein Riese sogar in den Widersprüchen seiner Daseinsäußerungen. Wer aber von diesen Widersprüchen aus das Wesen Tolstois erklären will, wie das Lenin in seinem erstaunlich oberflächlichen Aufsatz zum 80. Geburtstag versucht hat, der jetzt von der kommunistischen Presse als aller Weisheit letzter Schluß ausgegraben worden ist, der beweist nur, daß ihn die Gewöhnung an schematisches Urteilen der Gabe beraubt hat, das Wirkliche als Synthese der Mannigfaltigkeit zu erleben. Für einen Mann wie Lenin, der nie müde wurde, für alle Kritik die Methode des dialektischen Urteilens zu empfehlen und der übrigens selbst aus hunderterlei Widersprüchen zusammengesetzt war, war die versimpelnde Charakteristik der überragenden Figur unseres ganzen Zeitalters mit der Aussortierung von lauter Einerseits-Andererseits schon eine bedenklich armselige Leistung. Nur langweilige Naturen sind frei von Widersprüchen; nur Spießbürger pochen mit Stolz darauf, daß sie sich in 30 Jahren oder länger niemals von einer Ansicht zu einer anderen haben überzeugen lassen, niemals vor entscheidenden Entschlüssen gezögert haben, das Schubfach aufzuziehen, in dem für alle Fälle und für alle Dinge des Lebens das unfehlbare Rezept jederzeit zur Hand liegt; nur kümmerliche Wachtmeisterseelen durchschnüffeln unentwegt die Vergangenheit des Nachbarn, um ihm im Handeln oder Denken triumphierend einen Fehltritt oder eine Inkonsequenz nachzuweisen. Mit solchen Albernheiten einem Genie wie Tolstoi beikommen wollen, bedeutet trostloses Unvermögen, über den Horizont einer beschränkten Lehrmeinung hinwegzusehen.Leo Tolstoi muß, will man seiner ungeheuren Erscheinung nahe kommen, als einheitliche elementare Persönlichkeit, dabei zugleich als lebendiger und von Leidenschaften bewegter Mensch wie als revolutionäre, an den Grundfesten der Gesellschaft rüttelnde Naturgewalt erkannt werden. Seine Herkunft aus dem russischen Hochadel, seine Frühzeit als leichtlebiger Offizier, seine Zeitgebundenheit - nennt sie meinetwegen Verwurzelung in den ökonomischen Entwicklungszuständen -, seine Behinderungen durch enge Familienverhältnisse, die besonderen geistigen Bewegungskräfte seiner Umwelt, dies alles hat selbstverständlich auf sein Schaffen und Verhalten eingewirkt, insofern als alles Denken und Handeln mit zahlreichen Fäden an das unmittelbar Nahe in Zeit und Raum geknüpft ist und nicht in der leeren Atmosphäre hängen kann. Aber dies bezieht sich doch nur auf das Thema des Erlebens und Wirkens, nicht auf den seelisch-geistigen Inhalt und die Art eines weltbewegenden Genies. Wer sich von Tolstois reißender Urkraft umbranden läßt, der wird nie die Frage stellen, ob er denn eigentlich mit seiner Auffassung über Sinn und Gestaltung des Lebens recht hatte oder nicht, ob sein Urteil über die Kunst, über sein eigenes Kunstschaffen dauernde Geltung habe oder nicht, ob der religiöse Mystizismus, aus dem seine Verwerfung des Lebensgenusses in jeder Form kam, unsere Haltung zu beeinflussen habe oder nicht, sondern der wird die Gesamtheit des Menschen Tolstoi zu erfassen suchen und die Wirkung seines Werkes und seines Wesens auf Gegenwart und Zukunft zum Wertmesser machen.Wirkung! Alles andere in der Welt ist eitel. Tolstoi war ein Wirkender, wollte nichts anderes sein und sein Leben und Schaffen war ein unausgesetztes Ringen um Wirkung, das heißt um Verstandenwerden. Seht seine Romane, Novellen, Theaterdichtungen durch. (Bei dieser Gelegenheit sei eindringlich aufmerksam gemacht auf die 14 bändige schöne und preiswerte Ausgabe des dichterischen Werks Leo Tolstois, das der Malik-Verlag zum 100. Geburtstage veranstaltet.) Die unvergleichliche Darstellungskraft auch schon in den Schöpfungen, in denen der Dichter mit dem Willen zu wirken noch nicht unmittelbar den Willen zu werben verband, wie in der Kreutzersonate und in Auferstehung, sagen wir in Anna Karenina und Krieg und Frieden, beruht auf der Fähigkeit, immer und überall nur Wahrheit deutlich zu machen. Will man Tolstois Charakter im ganzen auf eine Formel bringen, so kann sie nur die sein, daß alles, was er tat, sagte, dachte, schrieb, wollte und predigte, von dem unwiderstehlichen Drang nach Wahrheit und Bekennertum bestimmt war. So wahr wie seine überwältigenden Kriegsschilderungen in Krieg und Frieden, ist seine spätere Verdammung der eigenen Werke wie der Kunst insgesamt. Denn die Wahrheit, die Tolstoi zur Umkehr vom früheren Wege bewog, war die Einsicht, daß die Wirkung durch die Kunst nicht einfach, nicht unmittelbar genug sei, daß sie gehemmt sei durch den Ehrgeiz des Künstlers, verzierte Wahrheit zu geben statt wirkender Klarheit. Das Wahrheitsbedürfnis des Mannes ließ ihn seine philosophischen Betrachtungen über die Pflicht des Menschen bis zu völlig lebensverneinenden Folgerungen treiben, bis zur Forderung der widerstandslosen Hinnahme körperlicher Gewalt und bis zur Verdammung des geschlechtlichen Verkehrs. Zugleich aber konnte diese leidenschaftliche Natur wutpolternd mit den Fäusten zuschlagen, wenn der Augenblick es so von der Wahrhaftigkeit verlangte, und der Keuschheitsprediger konnte noch mit über 70 Jahren von der Arbeit aufspringen, weil er der Lockung der drallen Wade einer Stallmagd nicht widerstehen konnte, ohne vor sich selbst eine Unwahrhaftigkeit zu begehen. Dann wieder verlangte sein Bekennerdrang die Anklage gegen die Schwachheit des Fleisches im Tagebuch. Wahrheitseifer läßt Tolstoi die christlichen Sittenlehren in sich aufnehmen, die den Bauern geläufig sind, mit denen er sich verständigen will, die er zur Anwendung ihrer sozialen Verpflichtungen bewegen will. Aber Wahrheitseifer läßt ihn auch gegen den Aberglauben der religiösen Dogmen donnern, die eine Gottheit außerhalb der menschlichen Seele behaupten, und derselbe Mann, der sich mit seinem Innern auseinandersetzt, indem er darin den Gott und Vater zum Zeugen seiner seelischen Kämpfe anruft, schreibt das Geständnis nieder: „Wenn ich mit eigenen Augen die Auferstehung und Himmelfahrt Christi gesehen hätte, würde ich nicht nur nicht daran glauben, ich würde einen Gott, der imstande wäre, solche Gemeinheiten zu begehen, verfluchen.“Alle Bekenntnisse solcher Art, mögen sie einander vollständig entgegengesetzt sein, entspringen dem unbedingten Wahrheitswillen Tolstois, und es ist kein Widerspruch seiner Natur, sondern die notwendige Ergänzung der verschiedenartigen Kundgebungen einer genialen Mannigfaltigkeit, wenn, wie Maxim-Gorki erzählt, Tolstoi im Gespräch über sexuelle Dinge die krassesten Soldatenausdrücke benutzte und bei dem Bericht über eine Begegnung mit einer Frau grob die Frage zwischenwarf, warum der andere sie denn nicht gleich genommen habe.Dieser gewitternde Geist, dem sich die ewigen Fragen der Moral und Religion in immer verschiedener Form zur Beantwortung vor den Wahrheitswillen stellten, erkannte die von Menschen getroffenen Veranstaltungen und Einrichtungen mit der nie getrübten kritischen Helligkeit eines Sehers in ihrer Faulheit, Abgeschmacktheit und verbrecherischen Unnatur. Hier gab es keine Gegensätze zwischen Erkenntnis und Temperament, hier folgte auf die erkannte Wahrheit unmittelbar die eindeutige Anklage und ihre Nutzanwendung. Mit einer sachlichen Logik, mit einer Deutlichkeit und Gründlichkeit im Ausdruck, die nur dem größten Sprachkünstler und dem uneigennützigsten Wahrheitssucher möglich ist, enthüllte Tolstoi das Wesen der staatlichen Gesellschaft, die Ungerechtigkeit aller menschlichen Beziehungen in der kapitalistischen Wirtschaftsgestaltung, die Tollheit des Kriegsdrills, der gegenseitigen Ausbeutung, des Nationalismus, der Machtausübung von Menschen über Menschen in jeder Form. Hier aber genügte Tolstoi zum Wirken unter den Menschen nicht die Darstellung ihres Elends; hier verlangte er Abwehr, Maßnahmen der menschlichen Würde gegen ihre Entwürdigung. Hier ist Tolstois Vermächtnis an unsere Gegenwart, sein Wirken durch uns Gegenwärtige in die Zukunft; hier erhebt sich der Tolstoi, dessen hundersten Geburtstag gelöbnishaft zu begehen unsere Verpflichtung ist, der Revolutionär Tolstoi.Es ist völlig gleichgültig, ob Tolstoi seine revolutionären Ratschläge auf Worte der Bergpredigt und sonstige Evangeliensätze stützt oder sich ohne Umweg an das Gewissen der Menschen wendet. Von ungeheurer Bedeutung sind die Ratschläge selbst, die sich zusammenfassen lassen in den einen, der die Formel des revolutionären Widerstandes selbst ist: Wollt ihr ein Übel los werden, so beteiligt euch nicht daran. Wollt ihr keinen Krieg, so führt ihn nicht, wollt ihr keine Panzerkreuzer, so baut keine; wollt ihr keine Ausbeutung, so verweigert den Ausbeutern eure Arbeitskraft; wollt ihr keine Autorität, so verlernt den Respekt vor den Autoritäten; wollt ihr keinen Staat, so habt keine Angst vor ihm, vor seinen Gesetzen und Strafen; wollt ihr keine Sklaven sein, so duldet keine Herren, und wollt ihr nicht unwürdig leben, so lebt würdig oder sterbt würdig.Die autoritären Kritiker versichern uns, Tolstoi sei kein Revolutionär gewesen, denn er habe jede Gewalt verneint. Auch gibt es vermeintliche Tolstoianer, die versichern uns, Tolstoi sei der allein richtige Revolutionär gewesen, daher sei niemand Revolutionär, der die Gewalt unter gewissen Bedingungen bejahe. Herrschaften. Tolstoi hat in allem, was er verkündet hat, um der Deutlichkeit willen absolut gesprochen. Da er den Krieg gehaßt hat, hat er die Kriegsgewalt verworfen, geächtet. Tolstoi wußte so gut wie einer, daß niemals das Absolute über die Lebendigkeit des Augenblicks herrschen kann. Tolstoi verwarf die Gewalt, um das Einfache, was er gegen den Krieg zu sagen hatte, nicht zu verwirren mit der Einschränkung durch Ausnahmen, wie sie das Leben schon selber schaffen wird. Tolstoi sagt in seinem Tagebuch: „Alles ist bedeutungslos außer dem, was wir in diesem Augenblick tun.“ Aus dieser Einsicht erklären sich alle scheinbaren Widersprüche in seinen eigenen Daseinsäußerungen; in ihr aber liegt die richtige Lehre enthalten, daß wir in strenger Wahrung unserer grundsätzlichen Erkenntnis dem Augenblick die Entscheidung über die Notwendigkeiten des revolutionären Kampfes überlassen sollen. Es hat Menschen gegeben, Schüler Tolstois, die dem Staate ihr Leben als Soldat verweigert haben, die es aber der Revolution mit der Waffe in der Hand zur Verfügung stellten. Leo Tolstoi hätte sie leuchtenden Auges als die wahren Versteher seiner Lehre gegrüßt. Unsere Pflicht ist es, diejenigen zu grüßen, die dem Staate die Gewalt für den Staat versagt haben, und die ihr Leben der Rache des Staates für diese revolutionäre Weigerung preisgaben. Der Zarismus hat diejenigen hingeschlachtet, die Tolstois anarchistische Lehren befolgt haben; da die russische Revolution anstatt der Freiheit einem neuen Staat den Weg freigab, sind die Befolger der Tolstoischen Ratschläge noch heute dort die Opfer autoritärer Machtansprüche einer Obrigkeit. Mögen die Bolschewisten den hundertsten Geburtstag Tolstois mit all dem lärmenden Jubel feiern, der bei ihnen seit langem das Fortbestehen abgedrosselter revolutionärer Freiheiten vortäuschen und den Jammer enttäuschter revolutionärer Begeisterung übertönen muß: die Tatsache, daß Tolstois nächster Mitarbeiter Tschetkoff zu dieser Feier nicht ins Land gelassen wird, daß die Jünger Tolstois, die auch dem bolschewistischen Staat das Recht zum Militärzwang absprachen, die Feier in Gefängniszellen oder in Sibirien begehen müssen und daß grundsätzliche Staatsgegner, wie Leo Tolstoi einer war, dort verfolgt und finster brutalisiert werden, zeigt, mit wie wenig Recht die herrschenden Kreise des heutigen Rußlands den großen Denker, Dichter und Mahner als einen der ihrigen in Anspruch nehmen. Tolstoi litt namenlos unter dem Luxus und den falschen Freuden in seinem eigenen Hause. Mit 82 Jahren brach er auf, um in der Armut zu sterben, in der er die Arbeitenden des Landes leben wußte. Fern von verlogenen Konventionen, aber befreit vom Zwange jeglicher peinigenden Bevormundung schloß er die Augen. Er war einer der gewaltigsten Geister der Menschengeschichte, ein Fackelträger der Revolution und der Freiheit, eine treibende Kraft der russischen Revolution, deren strahlenden Glanz er nicht mehr sah, deren Verlöschen in Staatlichkeit und Klüngeldiktatur er nicht mehr zu erleben brauchte. Doch sie ist noch nicht tot, die russische Revolution. Die Arbeiter und Bauern des Landes wissen noch um die Freiheit, für die sie ihren herrlichen Kampf geführt haben; die großen Verkünder der russischen Befreiung, deren Leo Tolstoi einer der größten war, werden wieder auferstehen in den Herzen des Volks -  und das Licht leuchtet in der Finsternis.

Am 7.11. bzw. 20. 11. jährte sich - je nach Benützung des julianischen oder des gregorianischen Kalenders - zum hundertsten Mal Tolstois Todestag. Klar, dass Buchverlage und Buchhandlungen mit Tolstois literarischem Werk, vor allem seinen Bestsellern "Anna Karenina" und "Krieg und Frieden", ihr großes vorgezogenes Weihnachtsgeschäft wittern. Auch in den bürgerlichen Medien ist Leo Tolstoi seit Wochen unterschiedlich präsent.Das Geburtshaus im russischen Jasnaja Poljana, dem ehemaligen Landsitz der Adelsfamilie Tolstoi, das schon vor etlichen Jahrzehnten zum Museum gemacht wurde, erfährt - Nachrichten zufolge - ungewöhnlich hohe Besucherzahlen. Und ein Familientreffen der weltweit verstreut lebenden Tolstois soll es auf Jasnaja Poljana auch geben. Zuviel Rummel, dem sich Tolstoi zu Lebzeiten entzogen hätte.Tolstoi-Biographien nennen unterschiedliche Lebensdaten, was der Tatsache geschuldet ist, dass zu Tolstois Lebzeiten und noch lange Jahre danach in Russland der julianische Kalender in Gebrauch war, im westlichen Europa jedoch durchgängig schon der gregorianische, nach dem heute das Kalenderjahr eingeteilt ist (so hat beispielsweise die russische Februarrevolution nach gregorianischem Kalender am 8. März stattgefunden, jener "Oktoberrevolution" genannte und von den Bolschewiki zwecks Machterlangung inszenierte Putsch fand nach gregorianischem Kalender am 7. Novemer 1917 statt). Verschiedene Schriften über Tolstoi nennen seine Lebensdaten sowohl nach julianischem als auch nach gregorianischem Kalender nebeneinander. Andere Biographen wiederum entschieden sich ausschließlich entweder für den einen oder den anderen Kalender, was natürlich zu Irritationen führen kann.Geboren wurde Lew ("Leo") Nikolàjewitsch Graf Tolstoi nach julianischem Kalender am 28. August, nach gregorianischem am 9. September 1828 als zweitjüngstes von fünf Kindern einer Familie des russischen Hochadels auf Gut Jasnaja Poljana im Bezirk Tula. Nachdem er früh zum Vollwaisen geworden war (die Mutter starb 1830, der Vater 1837), wuchs er mit seinen vier Geschwistern bei einer vermögenden Tante in Kasan auf. Tolstoi verlebte eine sehr glückliche Kindheit, wie wir aus seinem Erstlingsroman - "Kindheit" betitelt - entnehmen können, jenem erfolgreichen Buch, mit dem er nach mehreren literarischen Gehversuchen den Durchbruch in die Welt der Literatur schaffte.Im Jahr 1844 begann er an der vierzig Jahre zuvor gegründeten Universität in Kasan orientalische Sprachen zu studieren, wechselte aber bald über zur Jurisprudenz, brach 1847 sein Studium ab und ging ein Jahr später zurück auf sein ererbtes Landgut Jasnaja Poljana, um dieses zu verwalten und die soziale Lage seiner mitgeerbten 350 Leibeigenen zu bessern, für die er schon als Kind Sympathien empfand. Hier sei ein kurzer Rückblick auf Tolstois Kindheit gestattet: Zwei Ereignisse, die später ausschlaggebend für sein soziales Engagement gewesen sein sollen, prägten sich schon dem siebenjährigen Knaben besonders ein. Diese waren zum einen eine an einem bei ihm und seinen Geschwistern besonders beliebten Kutscher vollzogene Prügelstrafe und zum anderen der Verkauf eines bei den Tolstoi-Kindern beliebten Hausdieners an einen anderen Gutsherren. Auch ähnliche Ereignisse, wie sie auf Nachbargüter geschahen, deren Gutsherren eigentlich als gütig und sozial galten, brannten sich in seiner kindlichen Seele unauslöschlich ein. Der Knabe Lew Nikolàjewitsch erlebte so aus eigener Anschauung, dass Menschen, die er liebte und hochachtete, anderen Menschen schweres Unrecht und Leid zufügen konnten, ohne dass sie überhaupt je begriffen, was sie da taten. Er selber lernte, als er kaum 20-jährig das väterliche Erbe angetreten und zu verwalten begonnen hatte, zu begreifen, dass das, was sich ihm in seiner Kindheit so negativ eingeprägt hatte, gerade in der seit Jahrhunderten bestehenden Einrichtung der Leibeigenschaft begründet lag, und in die er selber als künftiger Gutsbesitzer hineingeboren und hineinerzogen worden war. Und er musste noch ein anderes Phänomen erkennen, nämlich dass es sogar schwierig war, seinen Hörigen die Freiheit zu geben, weil sie unverbrüchlich an das System der bedingungslosen Abhängigkeit gekettet zu sein schienen, auch wenn der Gedanke ihm schon als Jugendlichem innewohnte, einst seinen Bauern die Freiheit zu schenken (erst 1861 - nach mehr als 250 Jahren - wurde die Leibeigenschaft durch Zar Alexander II. offiziell aufgehoben. Die Bauern wurden zwar rechtlich Freie, blieben aber besitzlos, mussten sich verschulden und verarmten noch mehr). Dem jungen Gutsbesitzer Tolstoi gelang es trotz allen guten Willens nicht, seine Bauern vor 1861 aus der Leibeigenschaft zu entlassen. Deshalb suchte er nach Wegen, den sozialen Status seiner Leibeigenen etwas zu heben; und dies suchte er über das Mittel der Bildung zu erreichen. Es darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass das damals im Zarenreich weitverbreitete Analphabetentum nicht zuletzt mit dem System der Leibeigenschaft zusammenhing. Wenn es nun schier unmöglich war, den erwachsenen Leibeigenen das Lesen und Schreiben beizubringen, so war es naheliegend, dieses und anderes Allgemeinwissen deren Nachkommenschaft zu vermitteln. Und aus dieser Erkenntnis heraus gründete er bereits 1849 seine erste Schule für die Kinder der Bauern auf seinem Landgut. Sein reformpädagogischer Ansatz lag darin, die Kinder nicht als Erziehungsobjekte zu betrachten, sondern als gleichwertige Menschen - ein geradezu revolutionärer Standpunkt in der Pädagogik der damaligen Zeit. So ließ er sich von den Kindern nicht mit "Graf", sondern mit seinem zweiten Vornamen, Nikolàjewitsch, anreden und vertrat in seinem pädagogischen Konzept, das alle spätere Reformpädagogik (über Francisco Ferrer, Montesori bis hin zum Schulprojekt Summerhill) stark beeinflusst hat, das Freiheitsprinzip: "Die Erziehung verdirbt die Menschen und bessert sie nicht. Je verderbter ein Kind ist, desto weniger darf es erzogen werden, desto mehr bedarf es der Freiheit." Tolstoi war der Überzeugung, dass das Kind sich geistig und vielseitig zu entwickeln imstande ist, wenn ihm der Erwachsene, der Lehrer also, das entsprechende geistige Material an die Hand gibt. Seiner ersten "Alternativschule" war allerdings kein Erfolg beschieden. Nach dem Scheitern seiner ersten Reformversuche zog es ihn resigniert nach Moskau und Sankt Petersburg, um in standesgemäßen Kreisen Zerstreuung zu suchen, wobei Spielschulden nicht ausblieben, weshalb er sich 1851 entschloss, dem Miitär beizutreten, um seinen Gläubigern zu entfliehen. Er tat zunächst Dienst im Kaukasus, wo bereits sein Bruder Nicolai stationiert war, dann bis 1856 auf der Halbinsel Krim, wo er als Fähnrich der Artillerie zunächst begeistert von 1854 bis 1855 am sogenannten Krimkrieg teilnahm, der bereits 1853 als russisch-türkischer Krieg entbrannt war. Hindergrund dieses Krieges war, dass Russland sein Herrschaftsgebiet auf Kosten des allmählich auseinanderfallenen Osmanischen Reiches zu erweitern suchte, was durch den Eintritt Frankreichs und Großbritanniens (ab 1855 auch Sardiniens) vereitelt wurde. Dieser Krieg war für alle beteiligten Parteien sehr verlustreich. Über seine Erlebnisse in den Schlachten um Sevastopol im Krimkrieg veröffentlichte er 1855 und 1856 in der von Alexander Puschkin mitgegründeten Zeitschrift "Der Zeitgenosse" drei Erzählungen. In der letzten dieser Erzählungen ließ Tolstoi bereits seine Wandlung zum Militär- und Kriegsgegner erkennen. Während seiner Militärdienstzeit, die er 1856 beendete, schrieb er seine bereits erwähnte autobiographische Skizze "Kindheit", der sehr bald als Fortsetzung das Werk "Knabenjahre" und 1857 zur Abrundung die "Jünglingsjahre" folgten. In jenem Jahr 1857 unternahm er auch eine Reise in die Schweiz, nach Frankreich, Italien und Deutschland. In Baden-Baden verjubelte er im Spielkasino beim Roulette eine nicht unerhebliche Summe Geldes (in sein Tagebuch trug er ein, bis sechs Uhr in der Frühe gespielt und alles verloren zu haben). Nach seiner Rückkehr gründete er 1859 auf seinem Gut erneut nach Kriterien antiautoritärer Pädagogik eine Schule für Bauernkinder. Zugleich gab er eine eigene pädagogische Zeitschrift heraus, die er nach seinem Landgut Jasnaja Poljana benannte. Die Schule wurde 1862 durch das zaristische Unterrichtsministerium geschlossen. Zwar unterlag Tolstoi offiziell noch keiner polizeilichen Überwachung, aber die Furcht des Zaren vor einer Revolution, die seine Geheimpolzei in Tolstois Reformpädagogik aufkeimen sah, führte zur Indizierung der erwähnten Zeitung: sie verbreite Ideen, die schädlich seien. Zudem wurde Tolstoi der Verschwörung gegen den Zaren beschuldigt, was 1863 dazu führte, dass sein Haus und seine Schule durchsucht und verwüstet wurden. In der Zeit von 1860 bis 1861 bereiste er für die Dauer von neun Monaten erneut das Ausland. Bei dieser Gelegenheit lernte er in Dresden den Schriftsteller Berthold Auerbach, der als Student 1837 auf der Festung Hohenasperg wegen "staatsgefährdender Umtriebe" eingesessen hatte, in London den russischen Schriftsteller, Revolutionär und Freund Bakunins, Alexander Herzen, in Brüssel den französischen Anarchisten Pierre Joseph Proudhon, in Berlin den Pädagogen Adolf Diesterweg kennen. Anders als bei seiner ersten Auslandsreise besuchte er etwas weniger die Spielkasinos, stattdessen besichtigte er mehrere französische und deutsche Schulen, um deren pädagogische Arbeit kennenzulernen. Von der schulischen Erziehungsmethode in Deutschland war er ziemlich geschockt, während ihm das Rousseau'sche Modell in Frankreich, über das er jedoch bald hinausging, positivere Impulse mit nach Hause gab. Nach den Rückschlägen von 1862 und 1863 zog er sich zunächst aus der Pädagogik zurück, und widmete sich auch auf Drängen seiner Frau Sophia Behr, einer Arzttochter, die er 1862 ehelichte, verstärkt seinem literarischen Schaffen, vor allem seinem großen Romanwerk "Krieg und Frieden", an dem er einschließlich der Recherchen etwa sieben Jahre lang arbeitete und 1869 abschloss. Dieser Roman wird allgemein als ein Geschichtsroman bezeichnet, obwohl ihm ein Wesensmerkmal für historische Romane eigentlich fehlt: Er macht sich nicht ausschließlich an einem bestimmten historischen Ereignis fest, auch wenn die Napoleonischen Kriege von 1805 bis 1812 den Rahmen abgeben. Im Mittelpunkt stehen nämlich drei fiktive russische Adelsfamilien unterschiedlicher Charaktere mit ihren gesellschaftlichen Verstrickungen und ihren Liebschaften. "Krieg und Frieden" war der Titel eines umfangreichen philosophischen Werkes, das Proudhon schon fast beendet hatte, als er von Tolstoi in Brüssel aufgesucht wurde. Tolstoi war von diesem Buch so stark beeindruckt, dass er nicht nur den Titel für seinen Roman, sondern auch wesentliche - vor allem psychologische - Aussagen dieser Schrift übernahm. Neben der Anleihen bei Proudhon machte er für seinen voluminösen Roman auch solche bei Puschkin, zog aber auch historische Dokumente verschiedener Art hinzu (Tagebücher, Briefe, Kriegsberichte, mündliche Überlieferungen und diverses Archivmaterial), flocht Autobiographisches (aus seiner Kindheit und Jugendzeit sowie aus seinen eigenen Kriegserlebnissen als Artillerieoffizier), Eigenfamiliäres und vieles hinein, was nicht in die Epoche von 1805/1812 gehört, beispielsweise den Besuch einer Oper, die erst frühestens vierzig Jahre nach den napoleonischen Kriegen zur Aufführung gekommen sein kann. So ist "Krieg und Frieden" zum einen wohl historisch zu nennen, aber auch als (realistischer) Gesellschaftsroman und sozialkristischer Roman zu lesen, in dem Tolstoi keineswegs seine Kriegskritik außen vor läßt. Er verlangt von seiner Leserschaft schon ein gehöriges Quantum an Konzentration ab. Mit Fug und Recht aber darf "Krieg und Frieden" als ein Jahrthundertwerk bezeichnet werden, das erstmals 1956 auch verfilmt wurde.Nach Beendigung der Arbeiten an dem besagten Roman sowie an seinem zweiten großen Roman, "Anna Karenina", wandte er sich wieder Fragen pädagogischer Art zu und verfasste eine Fibel für die Grundschule, die 1872 unter dem Titel "Das Alphabet" erschien und drei Jahre später in einer erweiterten und überarbeiteten Fassung als "Das Neue Alphabet" herauskam und im damaligen Russland große Verbreitung fand. Ebenfalls 1872 richtete Tolstoi zum dritten Mal auf seinem Gut eine Schule ein (ein weiterer Schulversuch erfolgte wenige Jahre vor seinem Tod).Neben seiner pädagogischen und literarischen Tätigkeit engagierte sich Tolstoi auch umfassend im sozialen Bereich und zuweilen politisch. So half er bei der Durchführung der sogenannten Bauernreform der Jahre 1873 und 1891-1893, organisierte Hilfen für von Missernten betroffenen Bauern und wandte sich - wie bereits erwähnt - sehr früh gegen die Leibeigenschaft. Er kritisierte Staat, Kirche und Gesellschaft, forderte offensiv die Gewaltfreiheit in der Politik (vornehmlich die Vermeidung von Kriegen) und war erklärter Gegner der Todesstrafe, nachdem er bei seiner ersten Europareise 1857 in Paris Zeuge einer öffentlichen Hinrichtung durch die Guillotine geworden war und die in ihm eine noch größere Abscheu hervorgerufen habe als alle im Krieg erlebten Greueltaten, wie er einem Freund brieflich mitteilte. Die Guillotine wurde für ihn zugleich zum Symbol der Brutalität des Staates; der Anarchismus keimte in ihm auf: "Fortan werde ich nie mehr irgendwo irgendeiner Regierung dienen." Menschen zu töten empfand er als unmoralisch und unnatürlich. Wenn jemand für die Hinrichtung eintrete, dann solle er - so Tolstois verblüffende Argumentation - , anstatt dies andere tun zu lassen, selbst hingehen und die Hinrichtung vornehmen. Das gemahnt an die biblische Story über die Ehebrecherin im Johannesevangelium: Kap. 8, Vers 7b soll Jesus zu jenen gesagt haben, die gemäß dem mosaischen Gesetz (Lev 20, 10) eine von ihnen des Ehebruchs beschuldigte Frau zu steinigen gedachten: "Wer ohne Fehl Fehl ist, der werfe den ersten Stein!" Verse 9ff. heißt es weiter: "Als sie aber das hörten, gingen sie, einer nach dem andern, (...) hinaus. Jesus aber ward gelassen allein und das Weib in der Mitte stehend. Jesus (...) sprach zu ihr: Weib, wo sind sie, deine Verkläger? Hat dich niemand verdammt? Sie aber sprach: Herr, niemand. (...)." Im Alter begann Tolstoi sogar für ein Verbot der Jagd und für vegetarische Ernährung einzutreten, obgleich er selber in jüngeren Jahren begeisterter Jäger war.Wohl als Folge seines enormen Engagements im pädagogischen, literarischen und sozialen Bereich sowie infolge staatlicher Repression und Willkür (so etwa durch eine Hausdurchsuchung 1908, bei der alle auffindbaren Texte beschlagnahmt wurden) gestaltete sich seine Ehe immer schwieriger, trotz des Kinderreichtums (er hatte mit seiner Frau 13 Kinder), und führte ihn mehr und mehr in eine tiefe innere Krise, die schließlich 1879 voll zum Ausbruch kam und er in einer "Beichte", wie er diese Schrift betitelte, Rechenschaft über sein bisheriges Leben ablegte (diese "Beichte", die auch Ansätze seiner [späteren] anarchistischen Gedanken aufweist, wurde in Rußland zunächst in einigen handschriflichen Exemplaren verbreitet und 1882 gedruckt). Gleichzeitig mit dieser Krise kam es zur Hinwendung oder vielmehr zur Rückkehr zur Religion. Sein intensives Studium des biblischen Neuen Testaments, vor allem der Bergpredigt aus dem Matthäusevangelium (Matth 5-7), führte ihn dauerhaft in einen Konflikt mit der orthodoxen Staatskirche und - was nicht ausbleiben konnte - auch mit dem Staat selbst und der Gesellschaft, die ihm zunehmend zuwider wurde. Seit 1881 entwickelte er daher eine regelrechte Abneigung gegenüber der von den Kirchen praktizierten rituellen Form der Religiosität. Er erkannte darin eine Verlogenheit in einer solchen den Kriegsdienst bejahenden Religionsausübung, der er das schlichte Leben Jesu entgegenstellte und die Nächstenliebe betonte. In diesem Sinne erschienen 1881 seine "Kritik an der dogmatischen Religion", 1883 "Was ich glaube", 1887 "Über das Leben", 1889 die "Kreutzersonate", 1893 "Das Himmelreich ist in euch" und schließlich 1899 sein Roman "Auferstehung". Diese Schriften, die sofort kirchlichen und staatlichen Widerspruch hervorriefen und prompt verboten wurden, zeugen von einem Vernunftchristentum, zu dem sich Tolstoi durchgerungen hat. Er propagierte ein nichtkirchengebundenes, also freies, Christentum, was kirchlicherseits mit Tolstois Exkommunikation im Jahr 1901 beantwortet wurde, was ihn aber nicht im geringsten scherte. Den ihm 1901 zugedachten Nobelpreis lehnte er aus Überzeugung ab. Wegen seiner propagandistischen Schriften wurde er 1882 unter geheime Polizeibeobachtung gestellt. 1901 publizierte er seinen "Aufruf an die Menschheit", 1904 folgte die Schrift "Kommt zur Besinnung" und 1908 "Ich kann nicht schweigen" - allesamt gegen die Staatlichkeit gerichtete Streitschriften.Wer ihn verstehen will, muß wissen, daß seine Genialität Nüchternheit war. Er war so nüchtern und klug, wie es nur je ein Kaufmann oder Politiker gewesen ist. Nur war er nüchtern und ein Handelsgenie nicht in den Dingen des Marktens, sondern in den Dingen des wahren Lebens. Das war seine Macht, die er über uns alle hatte: daß er seine Besonnenheit, seine Geradheit und Ehrlichkeit, seine Klarheit und seinen Wirklichkeitssinn in die Tiefen des Gemüts geworfen hatte und daß er nur auf jenem Markte stand, auf dem um unser ewiges Teil gehandelt wird.Da war endlich einmal ein jugendlich feuriges Herz, ein Geist mit der Tapferkeit und Rücksichtslosigkeit des Knaben, der ein Greis war und nichts anderes mehr vom Leben wollte als seine tiefste Schönheit und Göttlichkeit. An dem Anblick dieser mannhaften Gestalt, die unbeugsam, starr, heftig, wild, leidenschaftlich das Rapier schwang für die Dinge, die sonst in unseren Zeiten nur ein papierenes oder öliges Dasein führen, ihm aber glühendes Leben waren, haben wir uns Jahre und Jahre gelabt; und ein Labsal war uns auch seine letzte Wanderung; seine kriegerische Pilgerschaft in den Tod. Wir haben ihm alle den Tod in diesem hohen Moment von Herzen gegönnt; und doch wissen wir, es wäre nichts Kleines gewesen, was er uns weiter gelebt hätte, wenn die Kraft des Körpers gereicht hätte.Man muß bis auf die Propheten des alten Bundes zurückgehen, um Männer zu treffen, die so wie er zornige, wutentbrannte Streiter für Güte, Sanftmut, Verzicht und Brüderlichkeit gewesen sind; aber ganz ohnegleichen war er in seiner Vereinigung von grober Wahrheit und dolchscharfer Logik. Wie er das Elend auf die Regierung, wie er die Regierung auf die kriegsmäßige Gewalt, wie er dieses Soldatentum auf die durch Schule und Kirche gezüchtete Dummheit, wie er die Seelenverfassung der Mächtigen auf ihre Herzensödigkeit zurückgeführt hat, wie er schließlich demonstriert hat, daß das Ziel, die Gewaltlosigkeit, zugleich schon das Mittel ist, um dieses Ziel zu erreichen, daß alle Gewaltherrschaft zusammenbricht und alle Unrechtsqual erlischt, wenn die Knechte aufhören, Gewalt zu üben, Gewalt gegen sich selbst: das hat keiner wie er mit solcher Kraft und solcher unwiderlegbaren Einfachheit einmalig und selbstverständlich in die Köpfe gehämmert; auch sein großer Vorgänger Etienne de la Boëtie, den er, als er schon in seinem gleichartigen Wirken stand, freudig kennen gelernt hat, besaß keine solche Ungebrochenheit und heilige Macht der Rede. Tolstoi war nie vorher ein solcher Sprachkünstler gewesen wie jetzt, da er in der Sprache des Volkes zu allem Volke vom rechten Leben sprach.Von geradezu hygienischer und gymnastischer Bedeutung für ihn, für die Erhaltung seiner geschmeidigen Kraft und seiner stählernen Jugend, und ein inständig schönes Bild für uns war die immer, von Jahr zu Jahr steigende Übereinstimmung seines Lebens mit der Lehre. Er ist, soviel er auch von sich abtat, und so bewunderungswürdig er Gewohnheiten ablegte, die er verächtlich oder überflüssig fand, nie mit sich zufrieden gewesen und konnte sich nie genug tun. Viele haben es gewußt, daß er von einem Teil seiner Familie wie mit einem Wall umgeben war und daß er Jahre lang nach außen und innen gekämpft hat, um sich von dieser Umgebung und Vormundschaft der Gewöhnlichkeit, die er in menschlich-natürlicher Art lieb hatte und doch durchschaute, freizumachen. In den »Gesprächen mit Tolstoi«, die sein Freund Teneromo gerade jetzt in deutscher Sprache herausgegeben hat, wird erzählt, und keiner erfährt es ohne innige Erschütterung, wie Tolstoi sich vor Jahren schon darüber geäußert hat. »Lew Nikolajewitsch«, heißt es da, »kehrte eines Tags sehr traurig von einem Spaziergang zurück«. Er war auf der Landstraße zwei alten Bauern begegnet, die von weither gewandert waren, um den Märchenerzähler, ihn selbst nämlich, zu besuchen. Sie gehen plaudernd mit ihm dahin und wie er sich ihnen offenbart, daß er selbst der Geschichtenerzähler sei, sagen sie: »Wahrhaftig? Es könnte schon sein. Du hast ein verhärmtes Gesicht, grämst dich wohl viel. Komm her, Lew, laß dich küssen.«Wie sie sich nun aber dem Schloß Jasnaja Poljana nähern, wie die Straße in den Park einbiegt, wie eine feine Gesellschaft in einer Equipage an der Rampe vorfährt und es gar zu Tisch läutet, da bleiben sie stehen und lehnen es ab, mit ihm ins Haus zu kommen. Und der eine, eben der, der, ihn geküßt hatte, erzählt ihm die Geschichte von der Wahrheit und dem Unrecht; von der Wahrheit, die schweigen muß, weil sie mit dem Unrecht Tee getrunken hat. »So geht es auch dir«, fügt er hart hinzu: die beiden Greise aus dem Volk gehen und lassen ihn den feinen Leutchen, die er selber verachtet. »Glauben Sie mir«, sagte Tolstoi zu dem Freunde, dem er von dieser furchtbaren Begegnung berichtete, »dieses Wort traf mich wie ein zischender Stachel ins Herz ... Und jetzt, wenn ich dieses Schieben der Stühle oben höre, wenn ich dieses Hin- und Herlaufen der Lakaien, die die Herrschaften bei Tisch bedienen, sehe, quält und drückt es mich so schwer ... Ich trinke ja wirklich mit ihnen Tee. Und dieser Greis hat recht, tausendmal recht, daß ich die Wahrheit nicht sagen kann ... Ich reiße mich aber mit ganzer Seele von dem da los und bin überzeugt, daß ich es noch durchführen werde ...«Wir wissen alle, wie der Zweiundachtzigjährige es durchgeführt hat, wie er aus Gewissensnot die alte Frau und die Kinder geflohen ist, deren Tisch und Lebensführung er längst nicht mehr teilte, die er nur noch als seine Umgebung bei sich duldete, während sie, die armen Reichen, wohl wähnten, daß sie ihn, den in ihrem Reichtum freiwillig Armen, bei sich geduldet und beinahe gefangen gehalten hätten; wie er, ein umgekehrter Faust, mit der Kraft des Sterbenden in die Welt rannte, um die Welt zu fliehen; wie er, ein umgekehrter Prometheus, in die Wüste floh, weil er das Leben, sein wahres Leben liebte; wie er, ein anderer König Lear, in die Nacht stürmte und auf der Haide das Haar lieber den Winden und die Brust dem Unwetter preisgab, ehe er in das Haus der Seinen, die von ihm abgefallen waren, weil sie nie die Seinen gewesen, zurückkehrte; wie er unterwegs in einem kleinen Dorfbahnhof zusammenbrach und noch auf dem Totenbett einen Jähzornsanfall bekam, weil er sein gewohntes weiches Kissen unter dem Kopfe fand, das ihm die Tochter Cordelia untergeschoben hatte.Was den Anarchismus Tolstois betrifft, so ist er eng verbunden mit seiner Beschäftigung mit religiösen Themen. Er selber bezeichnete sich nie als einen Anarchisten, was mit seiner Haltung der anarchistischen Bewegung gegenüber beziehungsweise umgekehrt zusammenhing. Trotzdem ließ er es gewähren, wenn seine auf Nächstenliebe, Freiheit und Gewaltlosigkeit beruhenden Ideen als eigenständige anarchistische Gedanken gewertet wurden. Es ist ein urchristlich inspirierter Anarchismus, den Tolstoi vertrat, und dessen Kern die intensive Beschäftigung mit der Bergpredigt ab Ende der 1870er Jahre bildete. Seine Bergpredigt-Exegese wirkte - da war Tolstoi schon lange tot - in die religiös-sozialistische Bewegung nach dem Ende des 1. Weltkrieges hinein. Bei seiner Beschäftigung mit dem neutestamentlichen Schriftgut löste Tolstoi den Christus von seinem Messianismus und seiner Erlöserfunktion, weil Erlösung nicht mittels des Glaubens, sondern nur durch Erkenntnis geschehen könne. Er bestritt auch eine Gottessohnschaft Jesu und stellte sich dadurch bewusst in Gegensatz zu den Dogmen der christlichen Kirchen, verlangte nach individueller Vervollkommnung und hatte die Vision eines Gottesreiches (eines Paradieses) nicht im Jenseitigen, sondern im Diesseits, das nicht durch Anwendung von Gewalt, sondern durch Verweigerung von Gewalt und Negierung des Bestehenden zu erreichen sei. Revolution soll nach Tolstoi nicht durch Waffengewalt geschehen, sondern durch Aufklärung und gewaltfreien Widerstand. So stand Tolstoi Ende des 19. Jahrhunderts terroristischen Akten einer von verschiedenen Anarchisten befürworteten "Propaganda der Tat" ablehnend gegenüber. Auch die bei vielen Anarchisten vorherrschende Weigerung, sich von revolutionärer Gewalt zu distanzieren, machten es Tolstoi nicht leicht, sich mit seiner absoluten Gewaltfreiheit in die anarchistische Bewegung hineinzufinden, obwohl er durchaus Kontakte zu Anarchisten pflegte (so korrespondierte er u. a. sehr rege mit Kropotkin). Ihm war an der Schaffung einer lebendigen Menschengemeinschaft gelegen. In der Frage der Gewaltfreiheit sah sich übrigens Erich Mühsam 1912, also zwei Jahre nach Tolstois Tod, in seiner Zeitschrift "Kain" zu folgender Erklärung veranlasst: "Daß ich - aus ähnlichen Gründen wie der Anarchist Tolstoi - die aggressive Gewalt im Prinzip verwerfe, berechtigt niemanden, meinen Charakter als Anarchisten in irgendeiner Form anzuzweifeln, umsoweniger als meine Ablehnung der Gewalt engstens in meiner anarchistischen Gesinnung begründet ist." Trotz unterschiedlicher Auffassung in der Gewaltfrage wusste sich Tolstoi mit allen Anarchisten darin einig, dass es einen Sozialismus im Sinne der marx'schen Diktatur des Proletariats nicht geben kann: "Bislang haben die Kapitalisten geherrscht, dann würden Arbeiterfunktionäre herrschen." In seinem Kampf gegen Kirche und Staat forderte er, unter Berufung auf das Urchristentum, zum Verzicht auf jedwedes Eigentum auf, in dessen Existenz er den Urgrund allen gesellschaftlichen Übels sah. Hier ging er völlig konform mit Proudhon, dessen Schrift über das Eigentum er bereits kannte, bevor er ihn auf seiner zweiten Europareise persönlich kennenlernen sollte. In seiner schon 1863 verfassten, aber erst 1885 veröffentlichten Parabel "Der Leinwandmesser - Die Geschichte eines Pferdes" verspottete er aus der Sicht eines alten gescheckten Wallachhengstes menschliches Besitzstreben: "Es gibt Menschen, die ein Stück Land "Mein" nennen, und dieses Land nie gesehen und betreten haben. Die Menschen trachten im Leben nicht danach zu tun, was sie für gut halten, sondern danach, möglichst viele Dinge "Mein" zu nennen." Auch in seiner gleichfalls 1885 erschienenen Novelle "Wieviel Erde braucht der Mensch?" ging es ihm um eine Kritik am Besitzstreben und Besitzdenken: Wieviel Erde braucht der Mensch? Gerade soviel, wie der Aushub eines Grabes ergibt!Tolstois Plan, allem Besitz zu entsagen, um künftig mit seiner Familie als einfache Leute unter einfachen Leuten zu leben, wurde von seiner Frau mißbilligt. Es gab auf seiner Seite wiederholte Versuche, den aristokratischen Lebenswandel seiner Familie aufzugeben, der - dessen war er sich völlig bewusst - einzig und allein auf der Ausbeutung der Arbeitskraft der Bauern beruhte. Daher strebte er danach, sich seinen Lebensunterhalt selber als Handwerker oder Bauer zu verdienen. Seine Familie hielt ihn deswegen für verrückt und war entsetzt, als er 1895 ein Testament niederschrieb, in welchem er seine Werke und seinen gesamten Besitz dem russischen Volk zu vermachen gedachte. Das Testament zog er zwar wieder zurück, erneuerte es aber 1901 wieder. Doch der Notar erklärte es für ungültig, weil es nach geltendem Gesetz nicht möglich war, Eigentum der Allgemeinheit zu verschreiben. So setzte er schließlich seine jüngste Tochter Alexandra ("Sascha"), die im September 1979 hochbetagt im Alter von 95 Jahren in Valley Cottage bei New York, wo sie eine Farm bewirtschaftete, starb, als Alleinerbin ein, was wiederum seine Frau erzürnte. In den Jahren 1896 bis 1899 quälten ihn verschiedene Krankheiten und "Anfälle äußerer Verzweiflung", wie er in sein Tagebuch notierte. Nach julianischem Kalender verließ er am 28.10.1910 beziehungsweise nach gregorianischem Kalender am 10.11.1910 zweiundachtzigjährig, gemeinsam mit seinem Arzt und seiner jüngsten Tochter, die Familie in Richtung Süden, angeblich um sich in ein Kloster zu begeben. Der Hintergrund aber ist eher der, dass er es überdrüssig war, bis zu seinem Lebensende ein Schräubchen in einem Gesellschaftssystem sein zu sollen, das er zutiefst verachtete. Insofern ist seine Flucht aus der Familie eine Flucht in die Freiheit. Doch während der Bahnfahrt bekam er eine Lungenentzündung, der er am 7.11.1910 (nach julianischem Kalender) beziehungsweise am 20.11.1910 (nach gregorianischem Kalender) auf der Bahnstation Astapowo (heute Lew Tolstoi) erlag. Zwei Tage später wurde er auf seinem Gut bestattet, weil er wegen seiner Exkommunikation auf keinem Friedhof beerdigt werden durfte (Friedhöfe waren nicht nur in Russland, sondern auch im westlichen Europa [mit Ausnahme Frankreichs] Eigentum der Kirchen). Seine Frau unternahm, weil es nicht mehr zu einer Versöhnung zwischen ihr und ihm kommen konnte, nach Tolstois Tod aus Verzweiflung einen Suizidversuch, wurde aber gerettet und überlebte Tolstoi um zehn Jahre.

Leo Tolstoi - Gedanken über Volksbildung

Die Erziehung des Volkes war und ist mir überall und immer eine unbegreifliche Erscheinung. Das Volk verlangt nach Bildung, und jeder einzelne strebt unbewußt nach ihr. Die gebildeteren Klassen, die Gesellschaft, die Regierung usw., haben den Willen, den weniger gebildeten Volksklassen ihr Wissen und ihre Kenntnisse mitzuteilen und sie auf eine höhere Bildungsstufe zu erheben. Man sollte meinen, ein solches Zusammentreffen der Bedürfnisse müßte beide Klassen - die nach Bildung strebende, wie die die Bildung vermittelnde - in gleicher Weise zufriedenstellen. Statt dessen aber trifft gerade das Gegenteil zu. Das Volk setzt den Anstrengungen der Gesellschaft, der Regierung und den Vertretern der höheren Bildung, es zu erziehen, immer Widerstand entgegen, und diese Anstrengungen bleiben zum größten Teil erfolglos. Dabei denke ich nicht an die Schulen im alten Indien, Ägypten, Griechenland oder selbst in Rom, deren Einrichtungen uns ebenso unbekannt sind, wie die Meinung, die das Volk von ihnen hatte, - diese Erscheinung fordert unsere Verwunderung heraus hinsichtlich der europäischen Schulen seit den Zeiten Luthers bis auf unsere Tage.Deutschland, das Mutterland der Schule, hat in einem beinahe 200jährigen Kampf diesen Widerstand des Volkes gegen die Schule noch nicht ganz überwinden können. Trotz der Besetzung der Lehrerstellen mit ausgedienten Soldaten und Invaliden durch die preußischen Friedriche, trotz der Strenge des Schulgesetzes, das bereits 200 Jahre besteht, trotz der Ausbildung von Lehrern in den Seminaren nach der neuesten Methode und trotz des Respekts, den der Deutsche vor dem Gesetze hat, lastet der Schulzwang noch mit seinem ganzen Gewichte auf dem Volke; die deutschen Regierungen können sich nicht dazu entschließen, das Gesetz, das den Schulbesuch zur Pflicht macht, aufzuheben. Nur nach den statistischen Ergebnissen darf Deutschland auf die Bildung seines Volkes stolz sein, während das Volk selbst nach den eigenen Erfahrungen Widerwillen gegen die Schule nach Hause bringt. Frankreich hat trotz des Übergangs der Bildungsfürsorge aus den Händen des Direktoriums in die der Geistlichkeit in der Sache der Volkserziehung ebensowenig, ja noch weniger als Deutschland erreicht, wie die Historiker der Pädagogik erklären, die nach offiziellen Berichten urteilen. In Frankreich wird noch heute von ernsten Staatsmännern die Anregung gegeben, den gesetzlichen Schulzwang einzuführen, als das einzige Mittel, um den Widerstand des Volkes zu besiegen. Im freien England, wo an die Einführung eines solches Gesetzes gar nicht zu denken ist - was jedoch viele bedauern -, kämpft zwar nicht die Regierung, aber die ganze Gesellschaft seit langer Zeit und bis auf den heutigen Tag mit allen nur möglichen Mitteln gegen den Widerstand des Volkes wider die Schule, der sich hier noch heftiger äußert, als in den anderen Ländern. Die Schulen werden dort zum Teil von der Regierung, zum Teil von privaten Gesellschaften gegründet. Die gewaltige Verbreitung und Tätigkeit dieser religiös-philanthropischen Bildungsvereine in England beweist besser als alles andere, auf wie starken Widerstand dort der Teil des Volkes stößt, der die Verbreitung der Bildung übernommen hat. Selbst ein so junges Reich, wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika, ist dieser Schwierigkeit nicht entgangen und hat die Volksbildung nahezu zwangsmäßig eingeführt. Was soll man erst von unserem Vaterland sagen, wo das Volk noch größtenteils bei dem bloßen Gedanken an die Schule in Erbitterung gerät, wo die gebildetsten Leute auf die Einführung des Schulzwanges nach dem Muster der deutschen Gesetzgebung hoffen, und wo alle Schulen, selbst die für die höheren Stände, nur dadurch bestehen können, daß sie die Berechtigung zur Rangerhöhung und die damit verbundenen Vorteile gewähren. Bisher werden die Kinder noch beinahe allenthalben zum Schulbesuch gezwungen; die Eltern aber werden durch strenge Gesetze oder durch List - durch Gewährung von Vorrechten - dazu gebracht, ihre Kinder in die Schule zu schicken, während das Volk überall von selbst nach Bildung strebt und sie für ein hohes Gut hält.Was kann das bedeuten? Das Bedürfnis nach Bildung liegt in jedem Menschen; das Volk liebt und sucht die Bildung, wie jeder Mensch die Luft liebt und nach ihr verlangt, um atmen zu können. Die Regierung und die Gesellschaft brennen vor Verlangen, das Volk zu bilden, und dennoch gibt das Volk trotz aller Gewalt, List und Hartnäckigkeit, die Regierung und Gesellschaft aufwenden, immer nur seine Unzufriedenheit mit den ihm gebotenen Bildungsmitteln zu erkennen und weicht nur schrittweise der stärkeren Gewalt.Wie bei jedem Zusammenstoß, hätte man auch bei diesem zuerst die Frage lösen müssen: was ist berechtigter, die Gegenwirkung oder die ursprüngliche Wirkung, soll man den Widerstand brechen, oder ist es vielleicht richtiger, die Einwirkung selbst zu ändern?Bisher ist diese Frage, soviel man aus der Geschichte ersehen kann, immer zugunsten der Regierung und der bildungsfreundlichen Gesellschaft entschieden worden. Der Widerstand wurde als unberechtigt angesehen, er wurde als der eigentliche Grund des Übels, das in jedem Menschen steckt, betrachtet, die Gesellschaft ließ sich von der Richtung ihrer Wirksamkeit, d.h. in bezug auf Form und Inhalt der Bildungstätigkeit, über die sie verfügte, nicht abdrängen und fuhr fort, Gewalt und List anzuwenden, um den Widerstand des Volkes zu brechen. Das Volk hat sich bis zum heutigen Tage nur langsam und ungern dieser Einwirkung gefügt. Offenbar hatte die bildungsfreundliche Gesellschaft ihre Gründe, die sie überzeugten, daß die bestimmte Form der Bildung, über die sie verfügte, für ein bestimmtes, in einer bestimmten historischen Epoche lebendes Volk etwas Gutes sei.Wo sind nun diese Gründe? Welche Gründe hat die Schule von heute, gerade dies und nicht ein anderes, gerade so und nicht anders zu lehren?Immer und zu jeder Zeit hat sich die Menschheit bemüht, eine Antwort auf diese Frage zu finden, und sie hat auch jederzeit mehr oder weniger befriedigende Antworten darauf gegeben, heute aber ist eine solche Antwort noch notwendiger geworden, als jemals. Man kann wohl einen chinesischen Mandarin, der Peking nie verlassen hat, dazu zwingen, Aussprüche aus dem Confucius auswendig zu lernen, und Kindern diese Aussprüche mit dem Stocke einbläuen. So etwas konnte man auch noch im Mittelalter tun; woher aber will unsere Zeit den Glauben an die Unfehlbarkeit des Wissens nehmen, die uns das Recht zu einer zwangsmäßigen Einführung der Bildung gäbe! Nehmen wir eine beliebige Schule des Mittelalters, vor oder nach Luther, nehmen wir die ganze mittelalterliche gelehrte Literatur - welch eine Kraft des Glaubens und der festen und unerschütterlichen Überzeugung an Wahres und Falsches tritt uns bei diesen Menschen entgegen! Sie hatten es leicht, zu wissen - daß die griechische Sprache die einzige notwendige Vorbedingung der Bildung sei, weil Aristoteles in dieser Sprache geschrieben hatte, und es zweifelte doch selbst einige Jahrhunderte später noch niemand an der Wahrheit seiner Sätze. Und konnten etwa die Mönche das Studium der Heiligen Schrift nicht fordern, deren Gültigkeit auf so unerschütterlichen Grundlagen ruhte? Auch Luther durfte mit Recht das Studium der hebräischen Sprache zur unbedingten Forderung erheben, weil er ganz sicher war, daß Gott selbst in dieser Sprache den Menschen die Wahrheit offenbart hätte. Es ist begreiflich, daß die Schule dogmatisch sein mußte, solange der kritische Geist in der Menschheit noch nicht erwacht war; unter solchen Umständen war es natürlich, daß Schüler Wahrheiten, die Gott und Aristoteles verkündigt hatten, sowie die schönen Stellen aus Vergil und Cicero auswendig lernten. Noch nach Jahrhunderten konnte niemand eine höhere Wahrheit oder eine erhabenere Schönheit vorstellen. Wie aber ist die Lage der Schule in unserer Zeit, die bei denselben dogmatischen Prinzipien stehen geblieben ist, wo dem Schüler in der einen Stunde die Unsterblichkeit der Seele gelehrt wird, während er in der nächsten Stunde erfährt, daß die Nerven, die der Mensch mit dem Frosche gemein hat, das sind, was man früher die Seele nannte; wo ihm zuerst die Geschichte des Josua ohne alle Erklärungen erzählt wird, und er gleich darauf zu hören bekommt, daß die Sonne sich nie um die Erde gedreht habe; wo er nach der Erklärung der Schönheiten des Vergil im Alexander Dumas, den er sich für 5 Centimes kauft, viel größere Schönheiten entdeckt; wo der einzige Glaube des Lehrers darin besteht, daß es überhaupt nichts Wahres gibt, daß alles Wirkliche vernünftig, daß der Fortschritt das Gute und die Rückständigkeit das Böse sei, und wo niemand weiß, worin dieser allgemeine Glaube an den Fortschritt eigentlich besteht?Vergleichen wir darnach diese dogmatische Schule des Mittelalters, für die jede Wahrheit keinem Zweifel unterlag, mit unserer Schule, wo keiner weiß, worin die Wahrheit eigentlich besteht, und in die man die Schüler dennoch zu gehen, die Eltern ihre Kinder zu schicken zwingt. Aber mehr noch: für die mittelalterliche Schule war es ein leichtes, zu wissen, was sie lehren, was sie zuerst lehren mußte, was weiter und nach welcher Methode, weil es damals eben nur eine Methode gab, und die ganze Wissenschaft sich in der Bibel den Werken des Augustin und des Aristoteles konzentrierte. Was aber sollen wir tun, bei der unendlichen Mannigfaltigkeit der uns von allen Seiten vorgeschlagenen Methoden bei der ungeheuren Anzahl möglicher Wissenschaften und ihrer Unterabteilungen; wie sie sich in unseren Tagen herausgebildet haben, wie sollen wir unter allen Methoden, die uns geboten werden, eine auswählen, einen bestimmten Wissenszweig, und was das schwerste ist, jene Konsequenz im Unterricht in diesen Wissenschaften herauszufinden, die allein vernünftig und richtig ist? Nicht genug: die Entdeckung dieser Grundlagen erscheint heute schon deshalb viel schwerer als für die Schule des Mittelalters, weil damals die Bildung auf eine bestimmte Klasse beschränkt war, die sich darauf vorbereitete, unter einzigartigen, bestimmten Bedingungen zu leben, während es in unserer Zeit, wo das ganze Volk seine Rechte auf Bildung geltend gemacht hat, noch viel schwerer und notwendiger geworden ist, zu wissen, was jeder dieser verschiedenartigen Bevölkerungsklassen vonnöten sei.Was sind das für Gründe? Fragen wir einen beliebigen Pädagogen, warum er das eine lehrt und das andere nicht, und warum er eines früher lehrt als das andere. Und wenn er uns verstehen wird, wird er uns antworten: weil er, die von Gott geoffenbarte Wahrheit kennt und es für seine Pflicht hält, sie dem jungen Geschlechte mitzuteilen, es in den Prinzipien zu erziehen, die ohne allen Zweifel die wahren sind; was aber die übrigen Gegenstände der Bildung außer den religiösen anbetrifft, so wird er uns keine Auskunft geben können ... Ein anderer Pädagoge wird uns die Grundlagen seiner Schule durch die ewigen Vernunftgesetze erklären, die von Kant, Fichte und Hegel aufgezeigt sind; ein dritter wird sein Recht, den Schüler zu zwingen, darauf stützen, daß es immer so gewesen, daß alle Schulen bisher Zwangsschulen gewesen seien, und daß trotzdem der Erfolg dieser Schulerziehung die wahrhafte Bildung sei; ein vierter endlich wird alle diese Gründe zusammen anführen, und wird uns sagen, die Schule müsse gerade so bleiben, wie sie ist, denn in ihrer jetzigen Gestalt sei sie von der Religion, der Philosophie und der Erfahrung herausgearbeitet und alles, was historisch ist, sei vernünftig. Alle diese Gründe, welche auch alle anderen nur möglichen Gründe in sich enthalten, können meiner Ansicht nach in vier Kategorien eingeteilt werden, in religiöse, philosophische, empirische und historische.Die Bildung, die zu ihrer Grundlage die Religion, d.h. die göttliche Offenbarung hat, an deren Wahrheit und Rechtmäßigkeit niemand zweifeln kann, muß dem Volke ohne Zweifel mitgeteilt werden, und in diesem Falle - aber auch nur in diesem Falle - ist es gerechtfertigt, Zwangsmaßregeln anzuwenden. So verfahren denn auch heute noch die Missionare in Afrika und China. So verfährt man heute in den Schulen der ganzen Welt beim Religionsunterricht, ob er nun katholisch, protestantisch, jüdisch, mohammedanisch usw. sei. Aber in unserer Zeit, wo die religiöse Bildung nur einen kleinen Teil der allgemeinen Bildung ausmacht, bleibt die Frage, welches Recht die Schule hat, dem jungen Geschlecht eine bestimmte Methode des Lernens aufzuzwingen, auch vom religiösen Standpunkt aus ungelöst.Vielleicht hat die Philosophie eine Antwort darauf. Hat die Philosophie ebenso feste Grundlagen, wie die Religion? Welches sind die Grundlagen? Wann und durch wen sind sie denn formuliert worden? Wir wissen es nicht. Alle Philosophen suchen nach den Gesetzen des Guten und Bösen; wenn sie diese Gesetze gefunden haben und zur Pädagogik übergehen (und keiner von ihnen hat vermocht, die Pädagogik unberücksichtigt zu lassen), weisen sie uns an, die Menschheit nach diesen Gesetzen zu bilden. Aber eine jede dieser Theorien, die nur eine unter vielen ist, ist unvollständig und bildet nur ein neues Glied in dem Bewußtsein des Guten und Bösen, das in der Menschheit lebt. Jeder Denker bringt nur das zum Ausdruck, was seinem Zeitalter bewußt wird, und daher ist eine Bildung des jungen Geschlechtes im Geiste dieses Bewußtseins etwas sehr Überflüssiges; dieses Bewußtsein existiert schon in dem lebenden Geschlechte.Alle philosophisch-pädagogischen Theorien haben zum Ziel und zur Aufgabe: die Erziehung tugendhafter Menschen. Der Begriff der Tugend aber bleibt entweder immer der gleiche oder aber er entwickelt sich bis ins Unendliche weiter, und trotz aller Theorien hängen die Blüte und der Verfall der Sittlichkeit nicht von der Bildung ab. Ein tugendhafter Chinese, Grieche, Römer oder ein Franzose aus unserer Zeit sind entweder alle gleich tugendhaft oder gleich weit von der Tugend entfernt. Die philosophischen Theorien der Pädagogik beschäftigen sich mit der Lösung der Frage, wie man die besten Menschen nach einer bestimmten ethischen Theorie erziehen könne, die in einem bestimmten Zeitalter ausgearbeitet worden ist und als über allen Zweifel erhaben anerkannt wird. Plato zweifelt nicht an der Wahrheit seiner Ethik und gründet auf sie seine Erziehungslehre, und auf seine Erziehungslehre - seinen Staat. Schleiermacher sagt, die Ethik sei eine noch unvollendete Wissenschaft, und daher müssen Bildung und Erziehung die Erzeugung solcher Menschen zum Ziel haben, die imstande sind, in die Bedingungen einzutreten, die sie im Leben vorfinden, und die zugleich fähig sind, kraftvoll an der ihnen vorschwebenden Vollkommenheit zu arbeiten. Die Bildung, sagt Schleiermacher, hat im allgemeinen die Aufgabe, dem Staate, der Kirche, dem gesellschaftlichen Leben und der Wissenschaft einen fertigen Menschen zu überliefern. Allein die Ethik, obwohl eine unvollendete Wissenschaft, gäbe eine Antwort  darauf, welch ein Glied dieser vier Elemente des Lebens ein gebildeter Mensch sein müsse. Wie Plato, so suchen auch alte Philosophen unter den Pädagogen das Ziel und die Aufgabe der Bildung in der Ethik: die einen nehmen sie dabei als schon bekannt an, die anderen als das ewige fortschreitende und werdende Bewußtsein der Menschheit; aber auf die Frage: was und wie man das Volk lehren soll, gibt keine einzige Theorie eine positive Antwort. Der eine sagt das eine, der andere etwas anderes, und je weiter wir kommen, um so widersprechender werden ihre Behauptungen. Es tauchen gleichzeitig ganz verschiedene Theorien auf, die einander völlig entgegengesetzt sind. Die theologische Richtung bekämpft die scholastische, die scholastische die klassische - die realistische; in der Gegenwart existieren alle diese Richtungen nebeneinander, ohne daß die eine die andere überwinden kann, und keiner weiß, was Lüge und was Wahrheit ist. Es tauchen tausend verschiedene höchst seltsame, ganz unbegründete Theorien, wie die von Rousseau, Pestalozzi, Fröbel u.a. auf, und alle möglichen Schulen - realistische, klassische und theologische - existieren nebeneinander. Alle sind mit dem Bestehenden unzufrieden und wissen nicht, welch ein Neues not tut und möglich ist.Wenn wir den Gang der Geschichte der Pädagogik betrachten, so finden wir in ihr kein Kriterium der Bildung, sondern im Gegenteil, nur einen allgemeinen Gedanken, der unbewußt in einem jeden Pädagogen schlummert, trotz der häufigen Meinungsverschiedenheiten unter ihnen - ein Gedanke, der uns von dem Mangel eines solchen Kriteriums überzeugt. Alle, von Plato bis auf Kant, streben nur nach einem Ziel - der Befreiung der Schule von den historischen Banden, die auf ihr lasten; sie suchen zu erraten, was dem Menschen vonnöten ist, und bemühen sich über diesen mehr oder weniger gut erratenen Bedürfnissen ihre neue Schule zu errichten. Luther hält dazu an, daß wir die Heilige Schrift im Original kennenlerrnen und nicht bloß nach den Kommentaren der heiligen Väter. Bacon will, daß wir die Natur aus der Natur selbst studieren und nicht nach den Büchern des Aristoteles. Rousseau will uns durch das Leben selber, wie er es nämlich versteht, leben lehren, und nicht durch frühere Erfahrungen. Jeder Schritt, den die Erziehungsphilosophie vorwärts tut, besteht darin, daß sie die Schule von der Idee befreien will, die jungen Geschlechter müßten in dem unterrichtet werden, was die älteren Generationen für Wissenschaft hielten, um sie für den Gedanken zu gewinnen, die Jugend sei zu den Fertigkeiten zu erziehen, die sie zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nötig hat. Dieser allgemeine und in sich selbst widerspruchsvolle Gedanke ist es allein, der durch die ganze Geschichte der Pädagogik hindurchgeht: er ist allgemein, weil damit die Freiheit eingeschränkt wird.Vielleicht hilft uns die Erfahrung, die mit der Schule in der Vergangenheit und Gegenwart gemacht worden ist, weiter? ... Aber wie kann uns diese Erfahrung die Richtigkeit der bestehenden Methode einer zwangsmäßigen Erziehung beweisen? Wir können ja nicht wissen, ob es nicht eine noch richtigere Methode gibt, da die Schulen bisher noch nie frei gewesen sind. Es ist wahr, wir können es bei den höheren Bildungsanstalten (den Universitäten, den öffentlichen Vorlesungen usw.) beobachten, daß die Bildung die Tendenz hat, immer freier und freier zu werden. Das ist aber nur eine Vermutung. Vielleicht muß die Bildung auf ihren untersten Stufen immer zwangsmäßig sein, und die Erfahrung lehrt uns, daß die Zwangsschule gute Früchte bringt? Sehen wir uns also diese Schulen einmal an, und zwar nicht nach den statistischen Tabellen Deutschlands, sondern betrachten wir diese Schulen und ihren Einfluß auf das Volk, wie sie in Wirklichkeit sind. Ich habe in Wahrheit folgendes Bild gewonnen: Der Vater schickt seine Tochter oder seinen Sohn gegen ihren Wunsch in die Schule, die er verwünscht, weil sie ihn der Arbeit seines Sohnes beraubt, und er zählt die Tage bis zu der Zeit, wo der Sohn »schulfrei« sein wird (dieser Ausdruck allein beweist, wie das Volk von der Schule denkt). Das Kind geht mit der Überzeugung in die Schule, daß die einzige Gewalt, die ihm bekannt ist, die väterliche, die Staatsgewalt, der es sich unterwirft, wenn es in die Schule eintritt, nicht anerkennt. Die Berichte, die es von seinen älteren Kameraden, die schon in diesem Institut waren, erhält, können in ihm den Wunsch, in die Schule zu kommen, nicht lebhafter machen. Die Schule erscheint ihm als eine Einrichtung, die dazu da ist, die Kinder zu quälen - eine Einrichtung, in der das Hauptvergnügen und das stärkste Bedürfnis des kindlichen Alters - das Bedürfnis nach der Bewegungsfreiheit unbefriedigt bleibt, ihm erscheint sie als eine Einrichtung, bei der Gehorsam und Ruhe die ersten Erfordernisse sind, wo es erst um Erlaubnis bitten muß, »hinausgehen« zu dürfen, wo jedes Vergehen, sei es - obwohl die körperliche Züchtigung mit dem Lineal offiziell aufgehoben ist - mit dem Stocke oder durch Fortsetzung der für das Kind so harten Lernzeit über die vorgeschriebene Stundenzahl hinaus bestraft wird. Die Schule erscheint dem Kinde mit Recht als ein Institut, wo ihm Dinge beigebracht werden, die niemand verstehen kann, wo man es gewöhnlich zwingt, nicht seine eigene heimatliche Mundart, sondern eine ihm fremde Sprache zu sprechen, wo der Lehrer in den Schülern meist seine geborenen Feinde sieht, die aus eigener Bosheit oder durch die der Eltern nicht auswendig lernen wollen, was er selbst auswendig weiß, und wo die Schüler ihrerseits auf den Lehrer wie auf einen Feind blicken, der sie nur aus persönlicher Bosheit so schwere Dinge lernen läßt. In solch einem Institut müssen sie sechs Jahre lang und etwa sechs Stunden täglich verbringen. Wie die Resultate sein müssen, sehen wir daraus, wie sie in Wahrheit sind, wiederum nicht nach offiziellen Berichten, sondern nach den wirklichen Tatsachen. In Deutschland bringen 9 /10 der schulpflichtigen Kinder die mechanische Fertigkeit zu lesen und zu schreiben und eine so starke Abneigung gegen die wissenschaftlichen Methoden, die sie kennengelernt haben, aus der Schule mit, daß sie später nie mehr ein Buch in die Hand nehmen. Die nicht mit mir einverstanden sind, mögen mir die Bücher nennen, die das Volk liest; selbst der badische Hebel, sowie die Volkskalender und Volkszeitungen werden nur ausnahmsweise einmal gelesen. Als ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß es im Volke gar keine Bildung gibt, kann die Tatsache dienen, daß keine Volksliteratur existiert und, was die Hauptsache ist, daß man die zehnte Generation ebenso zum Schulbesuch zwingen muß, wie die erste. Eine solche Schule erzeugt aber nicht nur Widerwillen gegen jegliche Bildung, sie gewöhnt den Kindern in diesen sechs Jahren noch das Heucheln und Betrügen an, was nur die Folge des widernatürlichen Zustandes ist, in dem sich die Schüler befinden, und erzeugt jene Verwirrung und Unklarheit der Begriffe, die man Bildung nennt. Während meiner Reise durch Frankreich, Deutschland und die Schweiz wollte ich die Kenntnisse der Schuljugend, ihre Ansicht von der Schule und ihre moralische Entwicklung prüfen und legte daher den Schülern der Volksschulen und solchen Leuten, die die Schule beendigt hatten, folgende Fragen vor: wie heißt die Hauptstadt von Preußen oder Bayern? Wieviel Söhne hatte Jakob? Wie ist die Geschichte Josephs? - in der Schule bekam ich noch hin und wieder aus Büchern auswendig gelernte Tiraden zu hören, jedoch nie begegnete mir das bei Leuten, die die Schule hinter sich hatten. Nie konnte ich eine Antwort bekommen, die nicht auswendig gelernt war. Hinsichtlich der mathematischen Kenntnisse konnte ich keine bestimmte Regel entdecken. Bald waren die Antworten gut, bald waren sie sehr schlecht. Sodann ließ ich Aufsätze über das Thema schreiben: Wie die Schüler den vorigen Sonntag verbracht haben? Und immer schrieben Mädchen und Knaben ohne Ausnahme ein und dasselbe: daß sie am vergangenen Sonntag jede Gelegenheit benutzt, um zu Gott zu beten, und daß sie nicht gespielt hätten. Das als ein Beispiel des moralischen Einflusses der Schule. Als ich erwachsene Männer und Frauen fragte, warum sie nicht fortsetzten, nicht dies oder jenes lesen, antworteten mir alle, sie seien schon konfirmiert, hätten ein Diplom über einen bestimmten Bildungsgrad erhalten - ein Zeugnis, daß sie lesen und schreiben können.Außer der abstumpfenden Wirkung der Schule, für die der Deutsche das schöne Wort »verdummen« hat, und die in einer dauernden Verkrüppelung der geistigen Fähigkeiten besteht, gibt es noch eine andere viel schädlichere Wirkung, die darin besteht, daß das Kind im Laufe von mehreren Stunden, durch das Schulleben stumpf gemacht, täglich während dieser Zeit, die für das Lebensalter so kostbar ist, aus jenen Lebensbedingungen gerissen wird, die die Natur selbst für seine Entwicklung vorherbestimmt hat.Man kann häufig die weitverbreitete Meinung hören und lesen, daß die Verhältnisse in der Familie, die Roheit der Eltern, die vielen Feldarbeiten, die Spiele der Dorfkinder usw. das Haupthindernis für eine gründliche Schulbildung seien. Es ist wohl möglich, daß sie ein Hindernis für jene Art der Schulbildung sind, welche die Pädagogen meinen, aber es ist die höchste Zeit, sich davon zu überzeugen, daß gerade diese Verhältnisse die besten Grundlagen jeder Bildung, daß sie nicht nur keine Feinde und kein Hindernis, sondern die wirksamsten Faktoren der Schule sind. Ein Kind würde nie einen Begriff von der Verschiedenheit der Linien, die den Unterschied der Buchstaben ausmachen, noch von den Zahlen, noch die Fähigkeit gewinnen, seine Gedanken auszudrücken, wenn diese häuslichen Verhältnisse nicht existierten. Wie sollte aber das rohe häusliche Leben einem Kinde so schwere Dinge beibringen können, wenn dies selbe häusliche Leben unfähig wäre, es nicht bloß etwas so Leichtes, wie Lesen und Schreiben zu lehren, sondern wenn es noch zu alledem eine schädliche Wirkung auf den Unterricht ausübte. Der beste Beweis dafür ist die Vergleichung eines Bauernjungen, der nie etwas gelernt hat, mit einem Knaben aus guter Familie, der seit fünf Jahren einen Hauslehrer hat, der ihn unterrichtet. Die Überlegenheit des Geistes und des Wissens ist immer auf der Seite des ersteren. Mehr noch, das Interesse, etwas zu wissen, und die Fragen, die zu beantworten die Aufgabe der Schule ist, werden nur durch diese häuslichen Verhältnisse geweckt. Jede Lehre aber soll nicht mehr als eine Antwort auf die Frage sein, die das Leben selbst in uns entstehen läßt. Dagegen regt die Schule nicht nur keine Fragen an, sie gibt auch keine Antwort auf die, welche das Leben stellt. Sie antwortet nur immer auf ein und dieselben Fragen, die die Menschheit seit vielen Jahrhunderten aufgeworfen hat, und die das Kind noch wenig angehen, nicht aber auf solche, die man im Kindesalter zu stellen gewohnt ist. Das sind Fragen wie etwa die folgenden: Wie wurde die Welt erschaffen? Wer war der erste Mensch? Was war vor 2.000 Jahren? Was für ein Land ist Asien? Was für eine Gestalt hat die Erde? Wie multipliziert man drei- und vierstellige Zahlen? Was geschieht mit uns nach dem Tode? usw. Auf die Fragen jedoch, die das Leben selber stellt, erhält das Kind keine Antwort, und das um so weniger, als es nach dem Polizeireglement der Schule nicht einmal den Mund auftun und um Erlaubnis bitten darf, hinausgehen zu dürfen, sondern sich durch Zeichen verständlich machen muß, um die Ruhe nicht zu stören und die Lehrer nicht zu unterbrechen. Die Schule aber ist so eingerichtet, weil es das Ziel der staatlichen Schulen ist, die von der Regierung gegründet werden, nicht etwa für eine gute Volksbildung zu sorgen, sondern für eine Bildung auf Grund einer bestimmten Methode. Die Hauptsache ist hierbei, daß es überhaupt Schulen und möglichst viele Schulen gibt. Man sagt, es gäbe nicht genug Lehrer, nun dann muß man eben welche schaffen. Und dennoch ist immer Mangel an Lehrern. Dann macht man es eben so, daß ein Lehrer 500 Schüler unterrichten kann, das nennt man mecaniser l'instruction, die Lancaster-Methode, pupil teachers. Auf diese Weise ist die vom Staate gegründete Schule nicht eine Hirtin, die bestellt ist, um die Herde zu hüten, sondern eine Herde, die um der Hirtin willen da ist. Die Schule wird nicht organisiert, damit die Kinder einen guten Unterricht in ihr genießen, sondern damit es der Lehrer beim Unterrichten recht bequem habe. Dem Lehrer paßt es nicht, daß die Kinder miteinander reden, sich bewegen und fröhlich sind, was wiederum für diese die notwendige Vorbedingung eines erfolgreichen Lernens ist, und daher ist es in den Schulen, die wie Gefängnisse gebaut sind, verboten, Fragen zu stellen, sich zu unterhalten und zu bewegen. Statt sich davon zu überzeugen, daß es notwendig ist, ein Objekt gründlich zu studieren, wenn man mit Erfolg darauf einwirken will (in der Erziehung aber ist dieses Objekt das Kind, und zwar so wie es sich in der Freiheit gibt), will man so lehren, wie man es gerade versteht, wie es einem einfällt, und bei einem Mißerfolg glaubt man nicht die Lehrmethode, sondern das Kind ändern zu müssen. Aus dieser Ansicht entstanden und entstehen solche Erziehungssysteme (Pestalozzi), mit deren Hilfe es gelingen soll, - »mecaniser l'instruction« - jene ewigen Bemühungen der Pädagogik, eine Methode zu finden, die auf jeden Lehrer und auf jedes Kind paßt, so verschieden auch beide sein mögen. Man braucht sich jedoch nur dasselbe Kind einmal zu Hause, auf der Straße oder in der Schule anzusehen: hier findet man ein fröhliches, lernbegieriges Wesen, mit einem Lächeln auf Mund und Augen, das überall Belehrung sucht, die eine Lust für es ist, und seine Gedanken klar und häufig kraftvoll in seiner eigenen Sprache ausspricht; dort sehen wir ein gequältes, bedrücktes Geschöpf, mit dem Ausdruck der Ermüdung, der Furcht und der Langeweile im Gesicht, das nur mit den Lippen fremd klingende Worte in einer ihm fremden Sprache wiederholt - ein Wesen, dessen Seele sich gleich einer Schnecke in ihr Gehäuse zurückgezogen hat. Man braucht sich diese beiden Zustände nur näher anzusehen, um zu entscheiden, welcher von beiden für die Entwicklung des Kindes der günstigere ist. Jene seltsame psychologische Verfassung, die ich den »Schulzustand« der Seele nennen möchte, und die wir alle leider nur zu gut kennen, besteht darin, daß alle höheren Fähigkeiten: die Phantasie, das schöpferische Vermögen, die Kombinationsgabe - gewissen anderen, halt tierischen Fertigkeiten, wie die, bestimmte Laute ohne jeden Anteil der Einbildungskraft auszusprechen, die Zahlen 1, 2, 3, 4, 5 der Reihe nach herzusagen, ein Wort sich aufzunehmen, ohne daß die Phantasie ihnen entsprechende Anschauungen unterlegt; mit einem Wort die Fähigkeit, alle höheren Geistesvermögen in sich zu unterdrücken, um nur die zur Ausbildung gelangen zu lassen, die den »Schulzustand« der Seele ausmachen, der in einer Mischung aus Furcht, Anspannung der Gedächtniskraft und der Aufmerksamkeit besteht. Jeder Schüler ist ein Fremder in der Schule solange er sich noch nicht in diesem Zustand befindet. Sowie jedoch ein Kind in diesen Zustand gelangt ist, sein ganzes Unabhängigkeitsgefühl und seine Selbständigkeit verloren hat, sobald sich die verschiedenen Symptome der Schulkrankheit: Heuchelei, zielloses Lügen, Stumpfsinn usw. einzustellen beginnen, dann ist es im rechten Geleise, und der Lehrer beginnt mit ihm zufrieden zu sein. Jetzt zeigt sich auch die sich immer wiederholende und durchaus nicht zufällige Erscheinung, daß die dümmsten Kinder die besten Schüler werden, während die klügsten die schlechtesten sind. Diese Tatsache ist doch wohl bezeichnend genug, um zum Nachdenken zu reizen und eine Erklärung für sie suchen zu lassen.Mir scheint allein diese Tatsache der beste Beweis dafür zu sein, wie falsch das Prinzip der Zwangsschule ist. Aber mehr noch, außer diesem negativen Schaden, der darin besteht, daß die Kinder durch die Schule jener unbewußten Erziehung, die sie zu Hause, bei der Arbeit, auf der Straße erhalten, entzogen werden, ist mit diesen Schulen noch ein rein physischer Nachteil verbunden; sie schaden dem Körper, der in dem jugendlichen Alter eine so innige Beziehung zur Seele hat. Diese schädliche Wirkung äußert sich besonders in der Einförmigkeit der Schulerziehung, selbst wenn diese an sich etwas Gutes wäre. Für den Landmann lassen sich die eigentümlichen Lebensbedingungen, wie die Arbeit auf dem Felde, die Unterhaltung der älteren Leute, unter denen er lebt usw. durch nichts ersetzen; dasselbe gilt für den Handwerker, wie überhaupt für den Stadtbewohner. Es ist kein Zufall, daß die Natur den Landmann in die ländlichen Arbeitsverhältnisse, den Bürger in die Bedingungen des Stadtlebens hineingestellt hat, sondern hier waltet eine höhere Zweckmäßigkeit. Diese Verhältnisse wirken in hohem Grade erzieherisch, und nur in ihnen kann sich der Mensch bilden, während die Schule die Menschen ihren natürlichen Lebensbedingungen entfremdet. Aber das ist noch nicht alles; es genügt der Schule nicht, daß sie die Kinder täglich sechs Stunden lang während der schönsten Zeit des Lebens dem Leben entzieht, sie will auch schon die dreijährigen Kinder dem Einfluß der Mutter entfremden. Zu diesem Zwecke hat man Anstalten erfunden, (Kleinkinderbewahranstalten, Infantschools, Salles d'asile), von denen wir noch ausführlicher sprechen werden. Es fehlt nur noch die Dampfmaschine, welche die Nährmutter ersetzt. Alle sind sich darüber einig, daß die Schulen unvollkommen sind (ich bin sogar überzeugt, daß sie schädlich sind). Alle sind sich einig, daß sie noch sehr der Verbesserung bedürfen, und daß diese Verbesserungen darin bestehen müssen, den Schülern das Lernen zu erleichtern. Jeder gibt zu, daß man zu diesem Zwecke die Bedürfnisse der Kinder im Alter der Schulpflicht studieren muß, sowie überhaupt die Bedürfnisse eines jeglichen Standes im besonderen. Was geschieht aber, um dieses schwere und komplizierte Studium zu ermöglichen? Schon seit vielen Jahrhunderten wird eine jede neue Schule nach dem Muster aller bisherigen Schulen eingerichtet, die ihrerseits wiederum nach dem Muster noch früherer Schulen eingerichtet waren, und in jeder dieser Schulen ist das höchste Gesetz: die Disziplin; es ist den Schülern verboten zu reden, zu fragen, sich den einen oder den andern Lehrgegenstand selbständig zu wählen - mit einem Wort, es sind alle Maßregeln getroffen, damit der Lehrer sich keinen Begriff von den besonderen Bedürfnissen der einzelnen Schüler bilden kann. Die auf dem Prinzip des Zwanges beruhende Einrichtung der Schule schließt jede Möglichkeit eines Fortschritts aus; und wenn man denkt, wieviel Jahrhunderte schon hingegangen sind, seit man sich bemüht, den Kindern Fragen zu beantworten, die sie niemals stellen, und wie weit unser heutiges Geschlecht von der alten Form der Bildung entfernt ist, die man heute noch der Jugend eintrichtert, so kann man kaum begreifen, wie sich unsere Schulen überhaupt noch halten können. Die Schule sollte doch ein Mittel zur Bildung und zugleich eine Stätte sein, die uns neue Erfahrungen über unsere Jugend vermittelt, und zu neuen Erkenntnissen über sie hinleitet. Erst wenn die Erfahrung zur Grundlage der Schule gemacht werden wird, erst wenn die Schule sozusagen ein pädagogisches Laboratorium geworden ist, dann erst wird die Schule nicht hinter dem allgemeinen Fortschritt zurückbleiben und dann wird auch die Beobachtung imstande sein, feste Grundlagen für die Wissenschaft der Erziehung zu schaffen.Aber vielleicht kann uns die Geschichte auf unsere vergebliche Frage eine Antwort geben. Worauf beruht das Recht, Eltern und Kinder zur Bildung zu zwingen? Sie wird uns antworten: die bestehenden Schulen sind geschichtlich entstanden und müssen sich ebenso historisch und je nach den Forderungen der Gesellschaft und der Zeit weiter entwickeln; je weiter wir kommen, desto besser werden unsere Schulen. - Darauf antworte ich erstens: daß die rein philosophischen Gründe ebenso einseitig und falsch sind wie die rein geschichtlichen Erwägungen. Das Bewußtsein der Menschheit bildet das Hauptelement der Geschichte; wenn daher die Menschheit die Unzulänglichkeit ihrer Schulen erkennt, so ist die Tatsache dieser Erkenntnis schon ein genügendes geschichtliches Faktum, das man bei der Gründung neuer Schulen berücksichtigen muß. Und zweitens: der zeitliche Fortschritt bedeutet noch keineswegs einen Fortschritt im Schulwesen, unsere Schulen werden nicht besser sondern - schlechter, schlechter im Verhältnis zu dem Bildungsniveau, das die Gesellschaft erreicht hat. Die Schule ist einer von den organischen Teilen des Staates, der nicht isoliert betrachtet und beurteilt werden kann, denn sie hat insofern einen Wert, als sie mit den anderen Teilen zusammenstimmt. Die Schule ist nur dann gut, wenn sie aus dem Bewußtsein der Grundgesetze hervorgegangen ist, nach denen das Volk lebt. Eine Schule, die den Bedürfnissen eines Dorfes der russischen Steppe angepaßt ist und bei der Dorfjugend die schönsten Erfolge erzielt, ist vielleicht eine ganz schlechte Schule für einen Pariser; und die beste Schule des 17. Jahrhunderts ist vielleicht sehr schlecht für unsere Zeit, während umgekehrt eine sehr schlechte Schule des Mittelalters ganz Vorzügliches in unserer Zeit leisten könnte, wenn sie der Zeit mehr entspräche und auf der Höhe der allgemeinen Bildung stände, oder gar ihr voranschritte, während unsere Schule hinter ihr zurückbleibt. Wenn es nach der allgemeinen Definition die Aufgabe der Schule ist, alles was das Volk sich erarbeitet und in sein Bewußtsein aufgenommen hat, weiter zu geben, und die Fragen zu beantworten, die das Leben dem Menschen aufgibt, so dürfen wir ohne Zweifel behaupten, daß die Schule des Mittelalters auf eine begrenztere Überlieferung zurückblickte und vor Lebensfragen gestellt war, die leichter aufzulösen waren, und daß sie daher ihre Aufgabe besser erfüllte, als die moderne Schule. Es ist leichter, die Überlieferungen Griechenlands und Roms nach ungenügenden und unvollkommen bearbeiteten Quellen weiterzugeben, religiöse Dogmen, die Geometrie und den Teil der Mathematik der damals bekannt war, zu lehren, als all die Traditionen, die seit jener Zeit hinter uns liegen, und die die Erlebnisse der alten Völker soweit zurückgedrängt haben, sowie die Kenntnisse in der Naturwissenschaft, deren wir in unserer Zeit bedürfen, um auf die alltäglichsten Forderungen des Lebens eine Antwort zu haben. Statt dessen ist die Methode des Unterrichts dieselbe geblieben, und daher ist die Schule rückständig und nicht besser, sondern schlechter geworden. Um die Schule auf der alten Höhe zu erhalten, auf der sie stand, und um nicht hinter dem Fortschritt der Bildung zurückzubleiben, hätte man konsequenter sein müssen: man hätte nicht nur Zwangsgesetze in den Schulen einführen, sondern auch das Verbot erlassen sollen, daß die Bildung auf anderen Wegen weiter schreite, d.h. man hätte die Maschinen, die Eisenbahnen und Dampfschiffe und die Buchdruckerkunst verbieten müssen.Soweit es aus der Geschichte bekannt ist, sind bisher nur die Chinesen in dieser Beziehung ganz logisch gewesen. Die Versuche der anderen Völker, den Buchdruck zu verbieten, und überhaupt den Fortschritt der Bildung aufzuhalten, waren nur auf bestimmte Zeiten beschränkt und nicht konsequent genug. Und daher können sich auch allein die Chinesen einer guten Schule rühmen, die dem allgemeinen Bildungsniveau vollkommen entspricht.Wenn man uns sagt, daß sich die Schulen im Verlauf der Geschichte vervollkommnen, so haben wir darauf zu antworten, daß die Vervollkommnung nur einen relativen Sinn hat, und daß umgekehrt in dem Schulwesen die Zwangsmittel nicht nur täglich, sondern geradezu stündlich einen größeren Raum einnehmen, d.h., daß die Schule immer mehr von dem allgemeinen Niveau der Bildung abweicht, denn die Fortentwicklung der Schule hält nicht Schritt mit der der Bildung seit der Erfindung der Buchdruckerkunst.Drittens antworte ich auf den historischen Einwand, nach dem nämlich die Schulen immer so waren und daher gut sein müssen, auch mit einem historischen Grund. Vor einem Jahr war ich in Marseille und besuchte dort alle Arbeiterlehranstalten dieser Stadt. Das Verhältnis der Schulpflichtigen zur Gesamtzahl der Bevölkerung ist so groß, daß, mit geringen Ausnahmen, alle Kinder die Schule besuchen und zwar drei, vier und sechs Jahre. Das Schulprogramm besteht im Auswendiglernen des Katechismus, der biblischen und profanen Geschichte, der vier Spezies der Arithmetik, der französischen Orthographie und der Buchführung. Aus welchem Grunde die Buchführung ein Gegenstand des Unterrichts ist, das blieb mir ganz unverständlich, und keiner der Lehrer vermochte es mir zu erklären. Eine Art Erklärung dafür fand ich, als ich sah, wie die Schüler die den Kursus beendigt hatten, ihre Bücher führten; sie beherrschten nämlich die drei Grundregeln der Arthmetik nicht, sondern konnten nur die Operationen mit den Ziffern auswendig und mußten daher die Buchführung ebenso auswendig lernen. (Ich brauche wohl kaum zu beweisen, daß das sogenannte tenue de livres, die Buchhaltung, wie sie in Deutschland und England gelehrt wird, ein Wissenszweig ist, der einem Schüler in einer Viertelstunde beigebracht werden kann, wenn er die vier Spezies kennt.) Kein Schüler dieser Schulen konnte die einfachste Additions- oder Subtraktionsaufgabe lösen, d.h. ansetzen, wohl aber konnten sie mit abstrakten Zahlen gut operieren, indem sie vierstellige Zahlen leicht und schnell multiplizierten. Auf Fragen aus der Geschichte Frankreichs erhielt ich gut auswendig gelernte Antworten, als ich aber außer der Reihenfolge fragte, bekam ich unter anderem zu hören, daß Heinrich IV. von Julius Caesar ermordet worden sei. Dasselbe gilt für die Geographie und die biblische Geschichte, für die Orthographie und Lesen und Schreiben. Mehr als die Hälfte der Mädchen konnte nur nach Büchern lesen, die sie schon in der Schule durchgenommen hatten. Sechs Jahre Schulzeit reichen nicht aus, um den Kindern eine richtige Orthographie beizubringen. Ich weiß, daß die Tatsachen, die ich hier anführe, so unwahrscheinlich sind, daß viele an ihnen zweifeln werden, aber ich könnte ganze Bände über die Unwissenheit schreiben, die ich in den Schulen Frankreichs, Deutschlands und der Schweiz angetroffen habe. Wem übrigens diese Sache am Herzen liegt, der mag sich die Schulen selber ansehen, nicht nach den Jahresberichten über die abgehaltenen Examina, sondern so wie ich es tat, indem er die Schulen selbst besucht und sich mit den Lehrern und Schülern in und außerhalb der Schule unterhält. Ich habe in Marseille noch eine weltliche und eine Klosterschule für Erwachsene gesehen. Von den 250.000 Einwohnern dieser Stadt besuchen weniger als 1.000 und darunter nur 200 Knaben diese Schulen. Die Methode ist hier dieselbe, die Resultate sind folgende: die Schüler erwerben die Fähigkeit, mechanisch zu lesen, die in einem Jahre oder auch in längerer Zeit von ihnen erlangt wird, eine gewisse Beherrschung der Buchführung, ohne Kenntnis der Arithmetik, sie erhalten geistliche Unterweisungen usw. Ich habe mir dann noch außerdem die täglichen Unterweisungen in der Kirche angehört und mir die Salles d'asile angesehen, in denen vierjährige Kinder, wie Soldaten auf einen Pfiff seltsame Evolutionen um die Bänke herum vollführen, auf Kommando die Hände erheben und zusammenlegen und mit zitternder sonderbarer Stimme Hymnen zum Lobe Gottes und ihrer Wohltäter singen, und ich habe mich davon überzeugt, daß die Lehranstalten der Stadt Marseille außerordentlich schlecht sind. Wenn jemand durch irgend ein Wunder in eine solche Lehranstalt geriete, der das Volk nie auf den Straßen, in den Werkstätten, im Cafe oder im häuslichen Leben gesehen hätte, was für einen Begriff müßte er wohl von einem Volke gewinnen, das in dieser Weise erzogen wird? Er würde wahrscheinlich glauben, daß das ein unwissendes, grobes, heuchlerisches und beinahe wildes Volk, voll merkwürdiger Vorurteile ist. Man braucht indes nur mit einem einfachen Manne aus dem Volke bekannt zu sein, und mit ihm zu reden, um sich von dem geraden Gegenteil zu überzeugen, daß nämlich das französische Volk nahezu alle Eigenschaften hat, die es selber zu besitzen glaubt: es ist aufgeweckt, klug, gesellig, freiheitliebend und wirklich kultiviert. Sehen wir uns einen städtischen Arbeiter von etwa dreißig Jahren an: wenn er einen Brief schreibt, macht er schon nicht mehr so viele Fehler, wie in der Schule, er hat einen Begriff von der Politik und also auch von der neuesten Geschichte und Geographie; er kennt die Geschichte schon aus den Romanen, die er gelesen hat. Er hat einen gewissen Begriff von der Naturgeschichte, oftmals kann er auch ein wenig zeichnen und mathematische Formeln bei seinem Handwerk verwenden. Wo hat er das alles gelernt?Ich fand ohne mein Zutun eine Antwort auf diese Frage, als ich nach meiner Besichtigung der Schulen durch die Straßen, Guingetten, Cafes chantants, durch die Museen, Hafenanlagen und Buchhandlungen schlenderte. Derselbe Junge, der mir die Antwort gab, daß Heinrich IV. von Julius Cäsar ermordet worden sei, kannte die Geschichte von den drei Musketieren und dem Grafen Monte Christo sehr gut. In Marseille fand ich 28 billige illustrierte Buchausgaben, im Preise von 5 bis 10 Centimes. Unter den 250.000 Einwohnern der Stadt sind 30.000 Exemplare dieser Bücher verbreitet; wenn also ein Exemplar von zehn Menschen gelesen wird, so lesen sie alle. Dazu kommen noch die Museen, die öffentlichen Bibliotheken, die Theater, die Cafes, zwei große Cafes chantants, in die jedem der Eintritt frei steht, der dort nur für 50 Centimes verzehrt, und die täglich von 25.000 Personen besucht werden; wobei noch die kleinen Cafes nicht mitgerechnet sind, die zusammen für ebensoviel Menschen Raum haben, - in jedem dieser Cafes werden kleine Stücke, Possen und Szenen aufgeführt und Gedichte vorgetragen. Es ist also schon, niedrig gerechnet, der fünfte Teil der Bevölkerung, der hier in diesen Instituten einen mündlichen Unterricht erhält, so wie die Griechen und Römer sich in ihren Amphitheatern bildeten. Ob diese Art Bildung gut oder schlecht ist, das ist eine andere Frage; hier aber liegt der Ursprung jener unbewußten Bildung, die so viel stärker ist, als die erzwungene, das ist die unbewußte Schule, welche die Zwangsschule untergräbt und ihre Wirkung völlig aufhebt. Es ist nichts mehr von ihr übrig geblieben, als eine despotische Form, beinahe ohne jeden Inhalt. Ich sage »beinahe« - und schließe damit allein die mechanische Fertigkeit des Buchstabierens von Wörtern aus, die durch einen fünf-bis sechsjährigen Lehrgang erworben wird. Außerdem muß man in Erwägung ziehen, daß diese mechanische Fertigkeit zu lesen und zu schreiben oft in viel kürzerer Zeit außerhalb der Schule gewonnen wird, daß man oft die Schule ohne diese Fähigkeit verläßt, und sie sehr bald wieder verliert, weil man keine Gelegenheit hat, sie anzuwenden, und daß dort, wo der Schulbesuch durch das Gesetz vorgeschrieben ist, gar keinen Sinn hat, das junge Geschlecht lesen, schreiben und rechnen zu lehren, weil man doch annehmen muß, daß Vater und Mutter das zu Hause viel besser besorgen könnten, als in der Schule. Das, was ich in Marseille gesehen habe, wiederholt sich in allen anderen Ländern: überall erwirbt sich das Volk den größten Teil seiner Bildung nicht in der Schule, sondern im Leben. Da wo das Leben selbst lehrreich ist, wie in London, Paris und überhaupt in den großen Städten, da ist das Volk gebildet; da wo das Leben wenig Bildungsstoff enthält, wie auf dem Dorfe, da ist auch das Volk nicht gebildet, trotzdem die Schulen hier wie dort ganz dieselben sind. Das Wissen, das man sich in der Stadt erwirbt, bleibt uns im allgemeinen erhalten, die Kenntnisse, die man sich auf dem Dorfe aneignet, gehen leicht verloren. Die Richtung und der Geist der Bildung sind in der Stadt wie auf dem Dorfe völlig unabhängig von dem Geiste, den man in die Volksschule hineintragen möchte, ja sie sind ihm entgegengesetzt. Die Bildung geht ihren eigenen Weg unabhängig von der Schule.Der historische Einwand, den ich gegen die historische Begründung erheben möchte, besteht in folgendem: wenn wir die Geschichte der Bildung betrachten, so sehen wir, daß die Schulen nicht parallel mit der Entwicklung der Völker fortschreiten, sondern daß sie immer tiefer sinken und im Vergleich mit der Entwicklung der Völker zu einer leeren Formalität werden. Je weiter ein Volk in seiner allgemeinen Bildung vorgeschritten ist, desto mehr geht der Bildungsprozeß von der Schule aufs Leben über, und desto geringer wird der Gehalt der Schulbildung. Ich denke hierbei noch nicht einmal an die anderen Bildungsmittel, wie die Entwicklung der Handelsbeziehungen, der Verkehrswege, die größere Freiheit der Persönlichkeit und ihre Teilnahme an der Regierungstätigkeit, ich rede nicht von den Volksversammlungen, Museen, den öffentlichen Vorlesungen usw., man braucht nur einen Blick auf die Ausdehnung des Buchdrucks zu werfen, um zu begreifen, wie verschieden die Lage unserer heutigen Schule von der früheren ist. Die unbewußte Lebensbildung und die bewußte Schulbildung laufen immer nebeneinander her; wie gering war jedoch der Anteil, den das Leben an der Bildung hatte, so lange es noch keine Buchdruckerkunst gab. Die Wissenschaft war der Besitz einer auserlesenen Klasse, die über alle Bildungsmittel verfügte. Wie groß ist dagegen der Beitrag, den heute das Leben zum Geschäfte der Bildung liefert, wo es keinen Menschen mehr gibt, der nicht im Besitz eines Buches ist, wo die Bücher zu ganz geringen Preisen verkauft werden, wo die öffentlichen Bibliotheken jedem zugänglich sind, wo der Knabe, der zur Schule geht, zwischen seinen Büchern und Heften einen billigen illustrierten Roman versteckt hält, wo man für drei Kopeken schon zwei Abc-bücher haben kann, und es gar nicht selten geschieht, daß ein Bauer in der Steppe sich ein Abc-buch kauft und einen vorübergehenden Soldaten bittet, ihm all das beizubringen, was dieser in vielen Jahren beim Diakon gelernt hat; heute, wo die Gymnasiasten das Gymnasium verlassen, um sich zu Hause selbst nach Büchern zum Examen vorzubereiten und die Aufnahmeprüfung für die Universität zu bestehen, wo die jungen Leute die Universität verlassen und statt nach den Vorlesungen des Professors die Quellen selbst studieren, wo, wenn wir aufrichtig sein wollen, jede ernsthafte Bildung nur durch das Leben und nicht in der Schule erworben wird.Der letzte und meines Erachtens nach wichtigste Einwand ist endlich der folgende: Die Deutschen haben es leicht, ihre Schule auf Grund ihres zweihundertjährigen Bestehens aus historischen Voraussetzungen zu rechtfertigen, womit aber sollen wir die Notwendigkeit der Volksschule beweisen, die bislang bei uns noch gar nicht existiert? Wir haben noch keine Geschichte der Volksbildung. Wenn wir dagegen die allgemeine Geschichte der Bildung betrachten, so ist leicht einzusehen, daß es für uns unmöglich ist, Lehrerseminare nach deutschem Muster einzurichten, die deutsche phonetische Methode, die englischen infant schools, die französischen Lyzeen und Fachschulen zu übernehmen und damit Europa einzuholen, wir können vielmehr überzeugt sein, daß wir Russen hinsichtlich der Volksbildung uns in einer außergewöhnlich glücklichen Lage befinden, daß unsere Schule nicht wie die des mittelalterlichen Europa aus den Bedingungen der damaligen Zivilisation hervorzugehen, keinen bestimmten, staatlichen und religiösen Zwecken zu dienen, nicht aus der Finsternis und abseits von der Kontrolle der öffentlichen Meinung zu entstehen braucht und es nicht nötig hat, fern von einem wahrhaft lebendigen Bildungsklima durch neue Anstrengungen und neue Schmerzen, durch den circulus vitiosus hindurchzugehen, um ihm zu entfliehen, einen circulus vitiosus, in dem die europäischen Schulen seit vielen Jahren gefangen sind - und der darin besteht, daß die Schule dazu da sein soll, die unbewußte Bildung vorwärts zu bringen, während andererseits die unbewußte Bildung die Schule voran bringen soll. Die Völker Europas haben diese Schwierigkeit bewältigt, aber sie mußten im Kampfe mit ihr viele Opfer bringen. Seien wir also dankbar für die Bemühungen, die wir zu nutzen berufen sind, und vergessen wir nicht, daß es unsere Aufgabe ist, neues auf diesem Gebiete zu vollbringen. Wir können auf dem, was die Menschheit erlebt hat, weiterbauen, und weil unsere Arbeit noch nicht begonnen hat, so können wir mit einem klareren Bewußtsein an unsere Tätigkeit gehen als sie, und wir sind verpflichtet, das zu tun. Um uns die Methoden der europäischen Schulen zu eigen zu machen, müssen wir unterscheiden, was in ihnen in den ewigen Gesetzen der Vernunft seinen Grund hat, und was nur aus gegebenen historischen Bedingungen geboren ist. Ein allgemeines Vernunftgesetz, ein sicheres Kriterium, durch das der Zwang, der in den Schulen dem Volk gegenüber zur Anwendung kommt, gerechtfertigt wäre gibt es nicht, und daher ist jede Nachahmung der europäischen Schulen in Bezug auf den Zwang kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt für unser Volk und Verrat an seiner Mission. Es ist leicht begreiflich, warum sich in Frankreich eine auf der Grundlage der Disziplin errichtete Schule, in der die exakten Wissenschaften, Mathematik, Geometrie und Zeichnen die vorherrschenden Lehrgegenstände sind, herausgebildet hat, warum in Deutschland ein strenges Schulerziehungssystem mit der Vorherrschaft von Singen und Analyse in Geltung ist, es ist verständlich, weshalb sich in England jene unendliche Zahl von Vereinen herausgebildet hat, die die Gründung philanthropischer Schulen für das Proletariat mit ihrer ernsten, sittlichen und zugleich praktischen Grundrichtung betreiben; was aber Rußland für eine Schule braucht, das ist bisher unbekannt und wird es immer bleiben, wenn wir der Schule nicht die Möglichkeit geben, sich frei und im zeitgemäßen Sinne zu entwickeln, d.h. nach den Bedürfnissen der Epoche, in der sie wirkt, in Übereinstimmung mit ihrer eigenen und mehr noch mit der allgemeinen Geschichte. Wenn wir überzeugt sind, daß sich die Sache der Volksbildung in Europa auf falschem Wege befindet, so werden wir mehr für unsere Volksbildung tun, wenn wir gar nichts für sie tun, als wenn wir ihr das alles mit Gewalt aufdrängen, was einem jeden von uns als gut erscheint.Das wenig gebildete Volk strebt also nach höherer Bildung, die gebildete Klasse will das Volk erziehen, aber das Volk unterwirft sich dieser Erziehung nur, wenn es dazu gezwungen wird. Indem wir in der Philosophie, der Erfahrung und in der Geschichte nach einem Grunde suchten, welcher der mit der Erziehung beschäftigten Menschenklasse das Recht zur Anwendung eines solchen Zwanges gibt, haben wir nichts derartiges finden können, wir haben uns vielmehr davon überzeugt, daß der menschliche Geist immer danach strebt, den Zwang in der Volkserziehung zu beseitigen. Wir suchten ein Kriterium für die Pädagogik, d.h. einen Maßstab dafür, was und wie wir lehren sollen, und wir konnten nichts entdecken, außer allerhand schönen Meinungen und Einrichtungen, wir erkannten vielmehr, daß es um so unmöglicher wurde ein solches Kriterium aufzustellen, je weiter die Menschheit fortschritt; indem wir dieses Kriterium in der Geschichte der Pädagogik suchten, fanden wir nicht nur, daß die historisch entstandenen Schulen uns Russen nicht zum Vorbild dienen können, sondern daß diese Schulen mit jedem Schritt, den sie vorwärts tun, immer mehr hinter dem allgemeinen Bildungsniveau zurückbleiben, daß ihr Zwangscharakter daher immer unberechtigter wird, und daß endlich die Bildung in Europa sich, wie fließendes Wasser, einen anderen Weg gebahnt, die Schule umgangen und sich in andere Richtungen einer Bildung durch das Leben ergossen hat.Was sollen wir Russen also im gegebenen Zeitpunkt beginnen? Sollen wir uns alle verabreden, und unserem Erziehungssystem die Ansicht der Engländer, der Franzosen, Deutschen oder Nordamerikaner und eine ihrer Methoden zugrunde legen! Oder sollen wir uns in die Philosophie und Psychologie vertiefen, um von hier aus zu ergründen, welche Bedingungen überhaupt notwendig sind zur Entwicklung der Menschenseele und zur Heranbildung tüchtiger Menschen aus dem jungen Geschlechte, so wie wir nämlich die Tüchtigkeit verstehen? Oder sollen wir endlich uns die Erfahrungen der Geschichte zu nutze machen - nicht in dem Sinne, daß wir die Formen, die sich im Verlauf des geschichtlichen Werdens herausgebildet haben, bloß nachahmen, sondern daß wir die Gesetze begreifen lernen, zu deren Erkenntnis sich die Menschheit durch viele Leiden durchgerungen hat, - sollen wir uns ehrlich und geradezu eingestehen, daß wir nicht wissen und auch nicht wissen können, was den kommenden Geschlechtern frommt, daß wir uns aber dazu verpflichtet fühlen, und den Willen haben, ihre Bedürfnisse zu studieren, daß wir daher das Volk nicht ungebildet schelten dürfen, weil es unsere Bildung nicht annehmen will, sondern daß wir uns selber der Unbildung und des Stolzes beschuldigen müssen, wenn wir das Volk nur in unserem eigenen Sinne erziehen wollen. Wir sollten doch endlich aufhören, den Widerstand des Volkes gegen unsere Bildung als ein Element zu beurteilen, das der Pädagogik feindlich ist, sondern in ihm vielmehr einen Ausdruck des Volkswillens achten, der allein unsere Tätigkeit bestimmen müßte. Erkennen wir doch bloß das Gesetz an, das so deutlich aus der Geschichte der Pädagogik, wie aus der Geschichte der allgemeinen Bildung zu uns spricht: damit der Erzieher genau weiß, was gut und was schlecht ist, muß der Zögling die volle Freiheit haben, seine Unzufriedenheit auszudrücken, oder wenigstens sich der Erziehung zu entziehen, von der er instinktiv fühlt, daß sie ihn nicht befriedigt; das einzige Kriterium der Pädagogik ist und bleibt allein - die Freiheit.Wir haben den letzten Weg bei unseren pädagogischen Bestrebungen gewählt.Die Grundlage unserer Tätigkeit ist die Überzeugung, daß wir nicht nur nicht wissen und auch nicht wissen können, worin die Bildung des Volkes bestehen muß, daß es nicht bloß keine Wissenschaft der Bildung und Erziehungslehre - der Pädagogik gibt, sondern daß noch nicht einmal der Grund zu ihr gelegt ist, daß eine Definition der Pädagogik und ihres Zieles im philosophischen Sinne unmöglich, überflüssig und schädlich ist.Wir wissen nicht, worin die Bildung und Erziehung zu bestehen hat, wir erkennen die ganze Philosophie der Pädagogik nicht an, weil wir nicht zugeben können, daß ein Mensch wissen kann, was ein Mensch wissen muß. Die Bildung und Erziehung stellen sich mir dar als historische Tatsache, wie nämlich die einen Menschen auf die andern eingewirkt haben; daher besteht die Aufgabe der Erziehungswissenschaft nur in der Ergründung der Gesetze dieser Einwirkung der einen Menschen auf die andern. Wir leugnen nicht bloß, daß unser heutiges Geschlecht die Kenntnis davon hat, was zur Vollkommenheit des Menschengeschlechts notwendig ist, wir leugnen nicht nur das Recht auf ein solches Wissen, wir sind auch überzeugt, daß wenn die Menschheit im Besitze dieser Wissenschaft wäre, sie nicht in der Lage wäre, sie mitzuteilen, oder wenigstens dem jüngeren Geschlechte mitzuteilen, wir sind überzeugt, daß das Bewußtsein von Gut und Böse unabhängig von dem Willen des einzelnen in der ganzen Menschheit liegt und sich im Laufe der Geschichte unbewußt entwickelt, daß es ebenso unmöglich ist, der jungen Generation unser Bewußtsein durch Erziehung einzuimpfen, wie es unmöglich ist, ihm dieses unser Bewußtsein und jene höhere Stufe des Bewußtseins zu rauben, bis zu der es der nächste Schritt, den die Geschichte tut, erheben wird. Unser scheinbares Wissen von Gut und Böse und die Einwirkung auf die junge Generation auf Grund dieses Wissens ist meist nur der Widerstand, den wir der Geburt eines neues Bewußtseins entgegensetzen, das unserem Geschlechte noch fehlt und sich in der jungen Generation herausbildet - ist ein Hemmschuh und keine Förderung der Bildung.Wir sind überzeugt, daß die Bildung ein historischer Prozeß ist und darum kein Endziel hat. Die Bildung, die in ihrem allgemeinsten Sinn auch die Erziehung mit umfaßt, ist unserer Überzeugung nach jene Tätigkeit des Menschen, die zu ihrem Grunde das Bedürfnis nach Gleichheit und das unwandelbare Gesetz ihres Fortschritts hat.Die Mutter lehrt ihr Kind nur darum sprechen, damit das Kind sie verstehen kann, die Mutter sucht instinktiv bis zu der Anschauung des Kindes über die Dinge bis zu seiner Sprache hinabzusteigen, aber das Gesetz des Bildungsfortschritts erlaubt ihr nicht, zu ihm hinabzusteigen, sondern zwingt das Kind, sich bis zum Verständnis der Mutter zu erheben. Dasselbe Verhältnis besteht zwischen dem Schriftsteller und dem Leser, zwischen der Schule und dem Schüler, der Regierung und der Gesellschaft - und dem Volk. Die Tätigkeit des Erziehers hat immer dasselbe Ziel.Die Aufgabe der Erziehungslehre besteht nur in der Untersuchung, wann diese beiden Bestrebungen sich auf dasselbe Ziel richten, und welche Bedingungen sich dem Zusammentreffen dieser Bestrebungen widersetzen. Die Wissenschaft der Erziehungslehre erleichtert sich mithin einerseits für uns, da sie auf die Beantwortung der Fragen verzichtet, was das Endziel der Bildung ist, worauf wir die junge Generation vorzubereiten haben usw., andererseits wird sie wiederum viel schwieriger. Wir haben alle Ursachen zu untersuchen, die ein Zusammentreffen der Bestrebungen der Erzieher und der Zöglinge ermöglicht haben, wir müssen ergründen, was jene Freiheit bedeutet, deren Mangel ein solches Zusammentreffen verhindert, und die allein ein brauchbares Kriterium für Pädagogik abgibt; wir müssen Schritt für Schritt, durch eine unübersehbare Anzahl von Tatsachen hindurch, bis zu der Lösung der pädagogischen Probleme vordringen.Wir wissen, daß unsere Gründe nur wenige überzeugen werden. Wir wissen, daß unsere Grundüberzeugung darin besteht, daß die einzige Grundlage der Erziehung die Erfahrung und ihr einziges Kriterium die Freiheit ist. Den einen wird das wie eine Trivialität, anderen wie eine unklare Abstraktion, den dritten wie ein unmöglicher Traum erscheinen. Wir hätten es nicht gewagt, die Ruhe der Theoretiker der Pädagogik zu stören, und solche aller Welt entgegengesetzte Meinungen zu äußern, wenn wir genötigt wären, uns auf die Betrachtungen dieses Aufsatzes zu beschränken, aber wir fühlen die Kraft in uns, Schritt für Schritt und Tatsache für Tatsache die Anwendbarkeit und Rechtmäßigkeit unserer so seltsam klingenden Anschauung zu beweisen, und es ist dies Ziel allein, in dessen Dienst wir unsere neu begründete Zeitschrift »Jasnaja Poljana« stellen.

Welimir Chlebnikow (1885-1922) war ein Dichter des russischen Futurismus, dessen Werk und Einfluss aber weit über diese Bewegung hinausreicht.[14]

Die Bereiche Chlebnikows Studiums – Mathematik, Naturwissenschaften, Sanskrit und Slawistik – deuten nur auf die wesentlichen Gebiete hin, die sich in seinem Schaffen niederschlugen. Seine ungewöhnliche Persönlichkeit rief höchste Achtung, Unverständnis, aber auch Spott hervor. Er legte keinen Wert auf materiellen Besitz und lebte meist ohne ständigen Wohnsitz. Chlebnikow beeinflusste die russische Dichtung wie kein anderer. Er gehörte der bedeutsamsten Futuristengruppe Gileas an. Zusammen mit Wladimir Majakowski, Dawid Burljuk und Alexei Krutschonych veröffentlichte er 1912 das Manifest Eine Ohrfeige dem allgemeinen Geschmack, das auch als Manifest des russischen Futurismus gilt.[15]

Zu seinen bekanntesten Werken zählen Bobeobi (1908/09), Grashüpfer (1908/09), Kolokol Uma (1913) und die so genannte Über-Erzählung Sangesi. Zusammen mit Aleksei Krutschonych (Text) und Michail Matjuschin (Musik), zu Dekorations- und Kostümentwürfen von Kasimir Malewitsch, gehörte er zu den Autoren der ersten futuristischen Oper Sieg über die Sonne (Pobeda nad solnzem); einem Schlüsselwerk der russischen und europäischen Avantgarde, uraufgeführt in Petersburg im Dezember 1913.[16]

Die Oper ist das Ergebnis einer interdisziplinären Kollektivarbeit der russischen Künstler Alexej Krutschonych (Libretto), Welimir Chlebnikow (Prolog), Michail Matjuschin (Musik) und Kasimir Malewitsch (Lichtregie, Kostüme und Bühnenbild), die nach dem ersten panrussischen Kongress der Futuristen (der „Sänger der Zukunft“) in Uusikirkko, dem heutigen russischen Poljany, im Juli 1913 begann. Ziel der Zusammenkunft war es, ein futuristisches Theater als Angriff auf „das Bollwerk des künstlerischen Elends“, das russische Theater zu schreiben. Die Aufführungen wurden von der Künstlergruppe Sojus Molodeschi (Union der Jugend) organisiert. Die Miete für das Theater soll einen Großteil der Mittel für die Produktion in Anspruch genommen haben.

Sieg über die Sonne gliedert sich in einen Prolog, zwei Aufzüge und sechs Bilder. Vier Bilder sind für den ersten Aufzug vorgesehen, zwei Bilder für den zweiten. Es wurden hauptsächlich Laiendarsteller als kontrapersonale, stark stereotype Charaktere vorgestellt.[17]

Der Prolog des Stückes steht in keiner Beziehung zum weiteren Inhalt der Oper, sondern soll die Aufmerksamkeit des Publikums erregen.[18] Die eigentliche Handlung fokussiert dann hauptsächlich auf den Erlebnissen eines Zeitreisenden, der von einer veränderten Gesellschaft im 35. Jahrhundert erzählt, „dort ist Kraft ohne Gewalt, und die Rebellen kämpfen mit der Sonne und obwohl dort kein Glück ist, sehen alle glücklich und unsterblich aus. (…) Kein Wunder, dass ich ganz staubig bin.“ Der Kampf der „futuristischen Kraftmenschen“ gegen die Sonne wird gewonnen und die Sonne in ein „Haus aus Beton“ eingeschlossen. Der zweite Aufzug schildert die Perspektiven der Gesellschaft ohne Sonne „in zehnten Ländern“, ohne Vergangenes und ohne Erinnerung: „Wir haben auf das Vergangene geschossen. Ist denn etwas geblieben? Keine Spur.“[19]

Es zeigt sich, dass die Befreiten mit ihrer gewonnenen Freiheit wenig anfangen können: „Allen wurde leicht zu atmen und viele wissen nicht, was sie mit sich tun sollen vor unwahrscheinlicher Leichtigkeit. Einige versuchen sich zu ertränken, die Schwachen haben den Verstand verloren, sie sagten: wir können doch schrecklich und stark werden. Das hat sie beschwert. Am Ende steht die Schlussfolgerung: „Anfang gut, alles gut, wir sind ohne Ende. Geht auch die ganze Welt zugrund, wir sind ohne Ende.“[20] Der Handlungsverlauf wird von teils unverständlichen und alogischen Episoden überblendet, die das lineare Verstehen der Geschichte erheblich erschweren. „Wir praktizieren in einer Opernaufführung die totale Zerschlagung der Begriffe und Worte, der alten Dekoration und der musikalischen Harmonie. Wir schufen ein neues, von konventionellem Erleben befreites Werk, – voll in sich selbst in scheinbarer Sinnlosigkeit der Worte, der Malerei und der Laute, – wir schufen die neuen Zeichen der Zukunft“.[21]

Die Distanz zur eigentlichen Handlung, die durch Stilmittel, wie absichtliches Falschsingen oder Onomatopöie sowie ein umgestimmtes Klavier anstelle des üblichen Orchesters erreicht wird, lässt letztlich keine Schlussfolgerungen hinsichtlich etwaiger politischer Absichten der Autoren zu, obwohl die Zeit, in der die Oper entstand und aufgeführt wurde, deutlich reflektiert und kommentiert wird. Die Absichten hinsichtlich einer Erneuerung der Theaterkultur und der russischen Kunst und Kultur im Allgemeinen waren dabei offensichtlich: „Die Schauspieler waren inmitten der Zuschauer positioniert, schrieen diese im Laufe des Stückes an, griffen nach ihnen und bespuckten sie. Das eigentliche Ziel (…) war (…) die Einbeziehung des Zuschauers in die Darstellung, um geistige und körperliche Ausbrüche zu provozieren und so Kunst spürbar zu machen.“[22]

Die Oper „vergegenwärtigt den Kampf der Erdbewohner gegen die Sonne –Symbol der Lebenskraft, aber auch der Vernunft, der Aufklärung– sowie die endgültige Bezwingung des Gestirns durch die moderne Technik, vor allem durch den Einsatz von Flugmaschinen“.[23] Krutschonych bedient sich an mehreren Stellen der von ihm entwickelten transrationalen Zaum-Sprache, eines lauthaften Vorläufers von Dada und konkreter Poesie. Matjuschin komponierte die Musik unter Verwendung von Vierteltonintervallen (erste Vierteltonexperimente) und Geräuschen, so Propeller- und Maschinengeräuschen, Kanonendonner. Der Bühnenvorhang zeigte das Schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch, das substanzgewordene Nichts, eines der Schlüsselwerke der Kunstgeschichte, des Futurismus und Initialwerk des Suprematismus.[24]

Durch die kubofuturistischen Kostüme waren die Möglichkeiten hinsichtlich der Bewegungsabläufe reduziert. Bühnenbild und Kostüme wurden durch den Einsatz von Scheinwerfern und Lichteffekten in ihrer Wirkung auf die Zuschauer verstärkt, die Körper der Schauspieler oft nur teilweise beleuchtet. Die Kostüme aus Draht und Pappe orientierten sich an den geometrischen Grundformen und den Farben Schwarz, Gelb, Rot und Blau.

Eines der erklärten Ziele der Oper war es, den Übergang vom Kubismus zur Gegenstandslosigkeit in Szene zu setzen. Mehr als bei vielen anderen Ereignissen muss der historisch-politische, insbesondere aber auch der künstlerisch-kulturelle Zusammenhang für eine Interpretation hinzugezogen werden. Der politische Hintergrund ist –wenn auch die Absichten der Autoren schwer zu bewerten sind– weit offenbarer als der künstlerische. So kann das Stück nahtlos in die prärevolutionären Entwicklungen in Russland seit 1905 gestellt werden.

Der Kampf gegen die Sonne symbolisiert den Kampf gegen das Althergekommene und spiegelt die industrielle Revolution des blühenden spätzaristischen Russland wider.[25] Die ironische Brechung durch die aufgeführten künstlerischen Stilmittel lässt dabei unterschiedliche Schlussfolgerungen zu und stellt den revolutionären Gehalt zum Teil auf den Kopf. Denkbar offen ist der Spielraum für mögliche Interpretationen. Der Skandal kam indes wohl vor allem durch die konsequente Verwendung der zu seiner Zeit noch befremdenden Stilmittel zustande.

Aber auch inhaltlich zeigt sich Distanz. Nach der Gefangennahme der Sonne heißt es: „Wir sind frei. Zerschlagen ist die Sonne. Es lebe die Dunkelheit, die schwarzen Götter, ihr Liebling – das Schwein.“ Das Licht der Sonne ist ins Innere verlegt: „Von Angesicht sind wir dunkel. Unser Licht ist in uns.“[26] Die Aufführungen der Oper sollen zu handfesten Auseinandersetzungen mit dem Publikum geführt haben, die meisten Kritiker lehnten das Werk rundherum ab.

Von der Oper selbst sind nur Bruchstücke erhalten. Bisher gibt es wenige nennenswerte Rekonstruktionen des Stücks.[27] Eine stammt vom Los Angeles County Museum of Art in Zusammenarbeit mit dem California Institute of the Arts unter der Regie von Robert Benedetti (Victory over the Sun) und wurde bei den Berliner Festspielen 1983 aufgeführt. In dieser Fassung wird der Aspekt des Sprechtheaters stärker berücksichtigt. 1984 erarbeitete die Theaterunie Amsterdam (Regie: Chaim Levano, Musikalische Leitung: Huub Kerstens) die Produktion "Overwinning op de Zon", die die Konzeption des biomechanischen Maschinentheaters betonte.

Durch die kubofuturistischen Kostüme waren die Möglichkeiten hinsichtlich der Bewegungsabläufe reduziert. Bühnenbild und Kostüme wurden durch den Einsatz von Scheinwerfern und Lichteffekten in ihrer Wirkung auf die Zuschauer verstärkt, die Körper der Schauspieler oft nur teilweise beleuchtet. Die Kostüme aus Draht und Pappe orientierten sich an den geometrischen Grundformen und den Farben Schwarz, Gelb, Rot und Blau.

Eines der erklärten Ziele der Oper war es, den Übergang vom Kubismus zur Gegenstandslosigkeit in Szene zu setzen. Mehr als bei vielen anderen Ereignissen muss der historisch-politische, insbesondere aber auch der künstlerisch-kulturelle Zusammenhang für eine Interpretation hinzugezogen werden. Der politische Hintergrund ist –wenn auch die Absichten der Autoren schwer zu bewerten sind– weit offenbarer als der künstlerische. So kann das Stück nahtlos in die prärevolutionären Entwicklungen in Russland seit 1905 gestellt werden.

Der Kampf gegen die Sonne symbolisiert den Kampf gegen das Althergekommene und spiegelt die industrielle Revolution des blühenden spätzaristischen Russland wider.[28] Die ironische Brechung durch die aufgeführten künstlerischen Stilmittel lässt dabei unterschiedliche Schlussfolgerungen zu und stellt den revolutionären Gehalt zum Teil auf den Kopf. Denkbar offen ist der Spielraum für mögliche Interpretationen. Der Skandal kam indes wohl vor allem durch die konsequente Verwendung der zu seiner Zeit noch befremdenden Stilmittel zustande.

Aber auch inhaltlich zeigt sich Distanz. Nach der Gefangennahme der Sonne heißt es: „Wir sind frei. Zerschlagen ist die Sonne. Es lebe die Dunkelheit, die schwarzen Götter, ihr Liebling – das Schwein.“ Das Licht der Sonne ist ins Innere verlegt: „Von Angesicht sind wir dunkel. Unser Licht ist in uns.“[29] Die Aufführungen der Oper sollen zu handfesten Auseinandersetzungen mit dem Publikum geführt haben, die meisten Kritiker lehnten das Werk rundherum ab.

Von der Oper selbst sind nur Bruchstücke erhalten. Bisher gibt es wenige nennenswerte Rekonstruktionen des Stücks.[30] Eine stammt vom Los Angeles County Museum of Art in Zusammenarbeit mit dem California Institute of the Arts unter der Regie von Robert Benedetti (Victory over the Sun) und wurde bei den Berliner Festspielen 1983 aufgeführt. In dieser Fassung wird der Aspekt des Sprechtheaters stärker berücksichtigt. 1984 erarbeitete die Theaterunie Amsterdam (Regie: Chaim Levano, Musikalische Leitung: Huub Kerstens) die Produktion "Overwinning op de Zon", die die Konzeption des biomechanischen Maschinentheaters betonte.

Eine dritte Version aus dem Jahr 1993 versteht sich eher als Entwicklung des Materials und stammt vom österreichischen K&K Musiktheater unter der Leitung von Dieter Kaufmann, Musik: Sergei Dreznin, Bühnenbild und Film: Klaus Karlbauer. Der Komponist und Pianist Sergei Dreznin ist in Wsewolod Meyerholds Biomechanik geschult, die bereits für die Treppenszene von Panzerkreuzer Potemkin angewendet wurde. Diese Fassung berücksichtigt stärker den opernhaften Charakter des Originals. Eine weitere Fassung unter der Leitung von Julia Hollander, Musik: Jeremy Arden, wurde 1999 in London aufgeführt. Darüber hinaus hat die Oper zahlreiche Künstler in ihrem Schaffen beeinflusst, so El Lissitzky, der Sieg über die Sonne 1923 mit einem Mappenwerk thematisierte.

In seinem Werk experimentierte Chlebnikow mit der russischen Sprache.[31] Er ging zu ihren Wurzeln zurück und erfand unzählige Neologismen. Zusammen mit Krutschonych entwickelte er die Kunstsprache Zaum, die eine Universalsprache, eine Sternen- oder auch Vogelsprache werden sollte. Er war außerdem fasziniert von slawischer Mythologie und konzipierte eine Synthetisierung der euroasiatischen Geisteswelt. Er sah sich selbst als Vorsitzenden der Erdkugel, praktizierte eine „Schicksalswissenschaft“, die er im Grenzbereich zwischen Poesie und Mathematik angesiedelt hatte und die es ihm ermöglichte, den Untergang des Zarenreiches, den Zweiten Weltkrieg und die Befreiung Afrikas von der Kolonisierung vorauszusagen.[32] Auf der documenta 8 im Jahr 1987 in Kassel wurden Aufnahmen von ihm im Rahmen der „Archäologie der akustischen Kunst 1 und 2: Radiofonia Futurista und Dada-Musik“ als offizieller Ausstellungsbeitrag aufgeführt.

Olga Wladimirowna Rosanowa (1886-1918) war eine russische Malerin, Lyrikerin und Kunsttheoretikerin, deren Werke den Stilen Suprematismus, Neoprimitivismus und Kubofuturismus zugerechnet werden.[33] Ab 1905 besuchte Rosanowa gemeinsam mit Nadeschda Udalzowa in Moskau eine von den Künstlern Konstantin Juon und Iwan Dudin geleitete Schule. Parallel dazu absolvierte sie zwischen 1904 und 1912 ein Studium der angewandten Kunst an der Bolschakow-Schule und an der Stroganow-Schule für angewandte Kunst in Moskau. Im Jahre 1910 zog sie von Moskau nach Petersburg (damals Petrograd) um, wo sie ein Gründungsmitglied des Künstlerverbandes „Union der Jugend“ wurde.

Zwischen 1912 und 1913 folgte ein Studium an der Swanzewa-Kunstschule in St. Petersburg. In dieser Zeit freundete sie sich mit Velimir Chlebnikow und Kasimir Malewitsch an. Zwischen 1911 und 1917 nahm Rosanowa an den Ausstellungen des Verbandes der Jugend teil, sowie an mehreren Avantgarde-Ausstellungen wie Tramway V, 0.10, Karo-Bube.

Im Jahre 1913 wurden Zeichnungen Rosanowas für den Lyrikband Ein Entennest von schlechten Wörtern von Alexej Krutschenych für den italienischen Künstler und Begründer des Futurismus Marinetti in die Buchseiten als Bild montiert. Dieses Buchprojekt bedeutete wesentliche Neuerungen für die Typographie und die Buchkunst. Es fasst „sozusagen alle Strömungen der Russischen Avantgarde-Malerei des Jahres 1913 zusammen: neben dem Rayonismus findet man den Neoprimitivismus und Kubofuturismus mit seiner Formenfülle: „Manchmal gibt es eine reine Illustration ohne Text, in der man einen Einfluß des Rayonismus feststellen kann, manchmal - und das ist eine wesentliche Neuheit - besteht das Blatt aus einem handgemalten Text, der von Farbe durchzogen wird.“[34]

Anfang 1914 wurden fünf ihrer Werke auf der von Marinetti in Rom veranstalteten „Internationalen Futuristenausstellung“ gezeigt, so auch die Illustrationen zum Buch „Entennest“ ihres Mannes Aleksei Kruchenykh, Dichter des Futurismus, den sie 1916 heiratete.

Anton S. Makarenko gilt als der bedeutendste Pädagoge in der frühen Sowjetunion. Im Jahr 1920 beteiligte sich Makarenko an der Neuorganisation der Schulen als Arbeitsschulen im Gouvernement Poltawa. Im November des Jahres begann er – in einem vom eben beendeten Russischen Bürgerkrieg zerstörten und von Hungersnot und marodierenden Banden geplagten Gebiet – mit dem Aufbau eines Arbeitsheims für straffällig gewordene Jugendliche, der späteren Gorki-Kolonie, benannt nach dem russischen Schriftsteller Maxim Gorki. Anstelle einer früheren militärisch geführten Jugendstrafkolonie entstand unter seiner Führung die erste koedukative pädagogische Einrichtung dieser Art in der Sowjetunion. Die ersten Zöglinge waren im Krieg verwaiste, verwahrlost aufgegriffene Kinder – junge Diebe, Bandenmitglieder, Kindersoldaten, Kinderprostituierte. Ab 1935 war Makarenko stellvertretender Verwaltungsleiter der Arbeitskolonien des NKWD in Kiew und von 1937 bis zu seinem Tod lebte er als freier Schriftsteller in Moskau. Im Jahr 1939 erhielt er den Orden des Roten Banners der Arbeit der Sowjetunion. Im selben Jahr trat er in die KPdSU ein und starb kurz darauf am 1. April 1939 während einer Zugreise.[35]

Makarenko wurde vor allem für seine pädagogische Arbeit als Heimpädagoge und Leiter der Gorki-Kolonie von 1920 bis 1928, der Dserschinski-Kommune von 1927 bis 1935 sowie als Autor von Büchern und Artikeln über diese Arbeit bekannt.[36] Der Roman Ein Pädagogisches Poem über die beiden Heime gilt als das Hauptwerk Makarenkos. Der erste Teil wurde 1925 begonnen und 1933 beendet, der zweite 1934 und der dritte 1935 beendet. Später bekam der Roman den Zweittitel Der Weg ins Leben, ursprünglich der Name des ersten abendfüllenden sowjetischen Tonfilms, der 1931 unter Regie von Nikolai Ekk nach einem Drehbuch von Makarenko und mit ehemaligen Zöglingen als Schauspielern in der Dserschinski-Kommune gedreht wurde.

Makarenko entwickelte eine Form der Kollektiverziehung mit dem Ziel der Erziehung einer allseitig entwickelten Persönlichkeit zunächst auf der Grundlage der Theorien von Jean-Jacques Rousseau, Johann Heinrich Pestalozzi und anderer humanistischer Denker.[37] Er beabsichtigte eine Erziehung ohne die Gewalt der Prügelstrafe und ohne hierarchische Autorität seitens der Lehrer. Die Erziehung basierte auf einer Einheit von verinnerlichter Disziplin, Selbstverwaltung und nützlicher Arbeit. Die Autorität des Erziehers beruhte auf seiner Achtung vor dem Kind, seiner absoluten Aufrichtigkeit gegenüber den Zöglingen und auf festem Vertrauen in den Menschen. Makarenko war weniger Theoretiker denn Pragmatiker und Realist. Sein Handeln richtete sich vor allem nach der situativen Gegebenheit, der von ihm erfassten Intention seines Gegenübers und dem gesunden Menschenverstand.

Ein wesentlicher Aspekt der Arbeit Makarenkos bestand in der Resozialisierung der verwahrlosten Jugendlichen.[38] In den 1930er Jahren wurde seine Erziehung stark von sozialistischer Pädagogik stalinscher Vorgaben geprägt. Dem Jugendverband Komsomol kam mit der Zeit eine zentrale Rolle zu. In den 1920er Jahren spielte der Komsomol eine wichtige Rolle beim Aufbau der Schwerindustrie in der UdSSR. Rekrutierung war die Losung auf dem VII. Kongress des Komsomol 1926. In der Folge fuhren 200.000 Komsomolzen auf die sogenannten großen Baustellen des Sozialismus, sowie 66.000 an den Ural. Größtes Werk ist die 1937 errichtete Stadt Komsomolsk am Amur. Der Komsomol baute auch an anderen Projekten wie der Turkestan-Sibirischen Eisenbahn oder Magnitogorsk. Zu Zeiten der Kollektivierung wurden auf den Dörfern 140.000 Komsomolzen rekrutiert. Dies trug zur Verringerung des Analphabetismus bei. In den Jahren 1971–1975 waren am Bau von 670 Objekten etwa 500.000 Komsomolzen beteiligt. Hierzu zählten das LKW-Werk KAMAS, die Baikal-Amur-Eisenbahnlinie, die Anlagen der Erdgas- und Erdölgewinnung in Sibirien, ein Elektrometallurgie-Kombinat in Oskol sowie Projekte zur Urbarmachung unfruchtbaren Landes. In den 1970er Jahren wurden 10.000 Dorfschulen errichtet, in denen 98.000 Menschen lehrten und arbeiteten. Durch diese Bildungseinrichtungen wurden im Laufe der Zeit 19 Millionen Menschen erreicht. Ein wichtiger Teil der Erziehungsarbeit war die Schulung von Funktionären für die Pionierorganisation Wladimir Iljitsch Lenin, die dem Komsomol für jüngere Kinder und Jugendliche angegliedert war und deren Organisation 25 Millionen Kinder durchliefen.[39]

Die Disziplin wurde zusätzlich durch ein hierarchisches System gesichert, in dem der Neuling zunächst keine persönlichen Freiheiten hatte, aber durch ein persönlich für ihn verantwortliches Vollmitglied der Kommune betreut wurde.[40] Jedes Vollmitglied konnte bei Fehlverhalten durch Kollektivbeschluss jederzeit wieder auf den rechtlosen Status des Neuankömmlings zurückgestuft werden. Das eigentliche Sagen in der Kolonie hatte die Komsomol-Gruppe, deren Mitgliedschaft man sich durch Wohlverhalten und besondere Leistungen verdienen musste. Makarenko hielt sich bei den kollektiv gefällten Urteilen zurück und griff nur mäßigend und immer zu Gunsten des Delinquenten ein, wenn es ihm notwendig erschien. Die Jugendlichen bekamen regelmäßigen Schulunterricht, arbeiteten in den Werkstätten und auf dem Feld und bewirtschafteten so selbstständig die Kolonie. Die Erzieher lebten alle in der Kolonie, jedoch in von den Schlafräumen für die Jugendlichen getrennten Zimmern. Sie aßen mit den Jugendlichen dieselbe Kost im gemeinsamen Speisesaal, arbeiteten am Bau der Häuser und in der Wirtschaft mit und gestalteten mit den Jugendlichen gemeinsam die Abende durch Spiele, Lesungen, Theateraufführungen und Gespräche.

Der sozialistische Realismus war eine ideologisch begründete Richtung der Kunst und der Literatur des 20. Jahrhunderts mit dem Versuch einer starken Wirklichkeitsnähe und dem Fehlen von Abstraktion und Ästhetisierung. Der sozialistische Realismus stellte Themen aus dem Arbeitsleben und der Technik des sozialistischen Alltags in den Vordergrund.[41] Der Moderne zugewandte Künstler empfanden den Sozialistischen Realismus als „billige Massenkunst“ und gingen aus Angst vor politischer Verfolgung in die innere Emigration.[42] Der sozialistische Realismus wurde 1932 vom Zentralkomitee der KPdSU als Richtlinie für die Produktion von Literatur, bildender Kunst und Musik in der UdSSR beschlossen, später für das gesamte sozialistische System maßgebend, auch in den mit der Sowjetunion verbündeten Staaten. In der DDR spielte der sozialistische Realismus seit Staatsgründung 1949 eine wichtige Rolle.[43] Der Begriff wurde durch Beschluss des Zentralkomitees der KPdSU (23. April 1932) für die offizielle sowjetische Literatur, bildende Kunst, Musik und Filmkunst zur verbindlichen Theorie und Methode erklärt und auf dem 1. Kongress der sowjetischen Schriftsteller (1934) definiert. Laut dieser Erklärung war er dem Realismus verpflichtet und stand in der Tradition französischer und deutscher Kunst aus der Zeit bürgerlicher Revolutionen (2. Hälfte des 19. Jahrhunderts) sowie belgischer und englischer Kunst des 19. Jahrhunderts und sozialistischer Kunst seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Sujets, die Bedingungen der Kunstproduktion und die angestrebte Wirkung des sozialistischen Realismus waren der Überwindung der dargestellten Realität im Sinne einer sozialistischen Konzeption verpflichtet.[44] Vom Künstler wurde Parteilichkeit verlangt, die sich auch auf Politik und Programmatik der kommunistischen Partei erstreckte. Vor diesem Hintergrund wurde der sozialistische Realismus insbesondere unter Stalin und Schdanow (1934-38 verantwortlich für Bildungsreform und ab 1944 für die politisch-ideologische Ausrichtung der sowjetischen Kunst) zu einem dogmatischen, doktrinären Instrument, dessen Produkte den Personenkult förderten und auf einen kritischen Standpunkt zum realen Sozialismus völlig verzichteten.

Der sozialistische Realismus, nach 1945 als Kunstdoktrin von den anderen sozialistischen Staaten übernommen, konnte sich jedoch nicht von staatlichem Druck zur Dogmatisierung und von (unterschiedlich rigider) staatlicher Bevormundung emanzipieren, obwohl viele Künstler ihn als angemessenen Ausdruck ihres sozialistischen Engagements sahen, das von ihrer künstlerischen Arbeit nicht getrennt werden konnte. Nach Stalins Tod (1953) durften die politisch-ideologischen und methodischen Kriterien des sozialistischen Realismus mehr und mehr kritisiert werden.

Durch zunehmend kritische Aufarbeitung des Dogmatismus des sozialistischen Realismus wurde die starre Bindung an die realistische Form überwunden, so dass neben bildhaft-figürlicher Allegorie auch abstrakte Bildzeichen Eingang fanden. Erst zu Beginn der Honecker-Ära wurde die Doktrin des sozialistischen Realismus gelockert. Die Ästhetik der Moderne war für die Schriftsteller jetzt nicht mehr tabu. Wie in Lyrik und Prosa weitete sich auch im Drama die Thematik ins Allgemeine und Individuelle. Die Behauptung des einzelnen gegenüber der Gesellschaft erschien als neues Motiv. Mit Auflösung des sozialistischen Staaten- und Gesellschaftssystems in Europa endete die staatliche und doktrinäre Bevormundung der Kunst.

Als offizielle Doktrin dominierte er die sowjetische Kunst und Literatur bis zur Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991. Die stärksten Auswirkungen hatte er in der Zeit direkt nach dem 2. Weltkrieg; erst nach Stalins Tod 1953 und dem allmählichen Ende des despotischen Systems des Stalinismus wurden die Vorgaben etwas gelockert.

Die Tauwetter-Periode“ ab dem Frühling 1953 ist eine nach dem Tod Josef Stalins von der Sowjetunion ausgehende Periode der Auflockerung und größeren Freiheit der inneren Kultur in den Staaten des Warschauer-Paktes. Der Begriff geht auf Ilja Ehrenburgs Roman „Tauwetter“ „zurück.[45]

Auslöser für das Ende der stalinistischen Dogmen und den Beginn des Tauwetters war der Tod des Diktators und Selbstdarstellers am 5. März 1953. Nikita Chrutschschow wurde nach zögerlichem Beginn zum Reformer des stalinschen Systems als er im Februar 1956 im Anschluss an den XX. Parteitag der KPdSU die Geheimrede „Über den Personenkult und seine Folgen“ hielt. Darin äußerte er massive Kritik am Personenkult um Stalin und an den stalinistischen Verbrechen der 1930er Jahre. Die Tauwetter-Periode führte auch zum Kurs der „friedlichen Koexistenz“ „in der sowjetischen Außenpolitik. So ging Chruschtschow auf Annäherungskurs zu Tito in Jugoslawien.

Hintergrund für den sowjetischen Kurswechsel war, dass bis zum Tode Stalins selbst höchste Parteifunktionäre, wenn sie in Ungnade fielen, um ihr Leben fürchten mussten. Daher lag die Tauwetterpolitik zunächst einmal im eigensten Interesse der Parteifunktionäre. Ein zweites Motiv für die Entspannungspolitik waren die hohen Verwaltungs- und militärischen Kosten, die die totalitäre Kontrolle über die Satellitenstaaten verursachte. Chruschtschow nutzte außerdem zusehends sein Image als Reformer im Machtkampf mit konservativen innerparteilichen Gegnern, die er als rückständig und gefährlich brandmarkte. Seine eigene Verstrickung in die Verbrechen der Stalin-Ära konnte er umso besser verschweigen.

Während dieser Phase der Entstalinisierung schwächte sich die staatliche Zensur merklich ab, vor allem in Literatur, Kunst und Film wurde offener diskutiert. Wichtigste Plattform der Vertreter des Tauwetters war die Literaturzeitschrift Nowy Mir.[46] Einige Werke dieser Periode gelangten auch im Westen zu größerer Bekanntheit, darunter Wladimir Dudinzewa „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ und Alexander Scholschenizyn Roman Roman „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, den Chruschtschow im Zuge der Entstalinisierung persönlich zur Veröffentlichung freigab. Weitere bedeutende Vertreter der Tauwetter-Periode waren die Schriftsteller Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko, Wiktor Petrowitsch Astafjew, Wladimer Fjodorowitsch Tendrjakow, Bella Achatowna Achmadiluna, Robert Iwanowitsch Roschdstwenski, Andrey Andrejewitsch Wosnessenski und Anna Andrejewna Achmatowa.[47]

Im September 1955 reiste der damalige deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer nach Moskau, um die Rückkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus sowjetischen Lagern zu erwirken. Zu dieser Zeit waren noch knapp 10.000 frühere Soldaten der Wehrmacht bzw. der Waffen-SS und etwa 20.000 politisch inhaftierte Zivilisten in sowjetischer Gefangenschaft sie durften ab dem 7. Oktober 1955 heimkehren.

Viele politische Gefangene in der Sowjetunion und anderen Ostblock-Staaten wurden nach 1956 freigelassen und zum Teil rehabilitiert. Ganze unter Stalin verfemte Bevölkerungsgruppen wurden nun rehabilitiert. In manchen Ländern kamen vergleichsweise liberale Ministerpräsidenten an die Macht, in Ungarn zum Beispiel Imre Nagy. Am 15. Mai 1955 wurde der Österreichische Staatsvertrag zwischen den vier Besatzungsmächten (UdSSR, USA, Großbritannien, Frankreich) und Österreich unterzeichnet und die Besatzung beendet. Nach diesen ersten Signalen einer neuen Haltung kam es 1955 zur Genfer Gipfelkonferenz zwischen US-Präsident Eisenhower, Chruschtschow sowie den Regierungschefs Großbritanniens, Frankreichs und Bulgariens.

Die Tauwetter-Periode hielt jedoch nicht lange an.[48] Mit der Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn im November 1956 begruben viele Menschen Hoffnungen auf eine weiter gehende Öffnung. Chruschtschows Hetzkampagne gegen Boris Pasternak, dem 1958 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, zeigte den russischen Künstlern deutlich die Grenzen der Liberalisierung.[49] Pasternak wagte es nicht, diesen persönlich in Empfang zu nehmen. Die sowjetische Führung schwankte zusehends zwischen liberalen Ansätzen und der Angst, genau dadurch die Kontrolle zu verlieren. In den frühen 60er Jahren, spätestens mit der Entmachtung Chruschtschows durch Leonid Breschnew (Oktober 1964) endete die Tauwetter-Periode.[50] Dass Chruschtschow einfach abgesetzt und nicht etwa verhaftet oder sogar ermordet wurde, wäre ohne die Tauwetter-Periode und das Ende des Terrors zuvor wohl nicht denkbar gewesen.

Nach Ende des Tauwetters konnten sowjetkritische Schriftstücke nur über nichtoffizielle Kanäle (Samisdat) verbreitet werden. Die Tauwetter-Periode wurde letztlich zum Vorläufer der Reformen Gorbatschows ab 1985, der auch unter anderem die Entstalinisierung wieder aufnahm.[51]

Das Werk „Tauwetter“ ist eine Powest, also eine Zwischenform zwischen Roman und Erzählung, des russischen Schriftstellers Ilja Ehrenburg. Sie erschien zuerst im Jahr nach Stalins Tod, 1954, in der Literaturzeitschrift Snamja. Im folgenden Jahr schob Ehrenburg eine Fortsetzung nach. Das Buch signalisierte den Beginn eine Phase der Liberalisierung der sowjetischen Kulturpolitik und der Rehabilitation von Opfern der stalinistischen Verfolgungen.[52]

In der Sowjetunion hatten bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs neue Repressionswellen begonnen, eingeleitet 1946 durch Schdanows Kampagne gegen die „Speichellecker des Westens“, die sich zunächst vor allem gegen Schriftsteller richtete. 1949 folgte die Kampagne gegen die „wurzellosen Kosmopoliten“, in deren Zuge fast alle führenden Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees verhaftet und ermordet wurden, und 1952 schließlich der Prozess gegen die „Ärzteverschwörung“.

Stalin starb am 5. März 1953, im April wurden die Beschuldigten der „Ärzteverschwörung“ freigesprochen, im Juni wurde Lawrenti Beria verhaftet. Es folgte eine Zeit der Unsicherheit, wohin sich die sowjetische Gesellschaft entwickeln würde. Im Winter dieses Jahres schrieb Ehrenburg seinen letzten Roman „Tauwetter.“

Das Werk „Tauwetter“ spielt im Winter 1953/1954 in einer russischen Provinzstadt „an der Wolga“, die von einer großen Maschinenfabrik dominiert wird. Der Plot erinnert an Tolstois Werk „Anna Karenina“.[53] Im Zentrum steht die Ehe des Werkleiters Iwan Schurawljow, eines gefühlskalten Bürokraten, mit der Lehrerin Jelena Borissowna. Sie verliebt sich in den Ingenieur Dmitri Korotenko und trennt sich von Schurawljow; der Liebesgeschichte ist ein gutes Ende beschieden. Schurawljow hat jahrelang den bereits genehmigten Bau von Arbeiterwohnungen aufgeschoben und stattdessen Investitionen in die Produktion vorgenommen, um den Plan übererfüllen zu können. Nachdem ein Frühlingssturm die alten Wohnbaracken zerstört hat, wird er als Werkleiter abgesetzt. Wie bei Anna Karenina wird diese Haupthandlung mit Liebesgeschichten anderer Personen kontrastiert: der Elektrotechnikstudentin Sonja Puchowa und des Ingenieurs Sawtschenko sowie der Ärztin Wera Scherer und des Chefkonstrukteurs Sokolowski.[54]

Dazu kommt eine Künstlerdebatte, deren Protagonisten Wladimir Puchow und Saburow sind. Puchow, der Bruder von Sonja Puchowa, frustriert, orientierungslos und oft mit zynischen Sprüchen hervortretend, fertigt ohne Überzeugung, aber erfolgreich Auftragsarbeiten im Stil des Sozialistischen Realismus; der verarmte Saburow malt Landschaften und Porträts aus innerer Überzeugung, bekommt aber keine Aufträge. Der Höhepunkt der Handlung ist gerade dem Zyniker Puchow zugedacht, dem keine hoffnungsvolle Liebesgeschichte vergönnt ist: An einem Frühlingstag im Stadtpark erlebt er sinnlich das Auftauen der Gefühle und findet Schneeglöckchen unter dem Eis für die Schauspielerin Tanetschka, die sich eben von ihm getrennt hat.

Was den Roman antreibt, sind die großen Ereignisse im fernen Moskau, die sich jenseits des Romangeschehens abspielen und nur in ihren Fernwirkungen in die Handlung einbezogen werden. Der Sturz Schurawljows ist parallelisiert mit dem Ende des Stalinismus; Wera Scherer hat unter den Verdächtigungen im Zusammenhang der „Ärzteverschwörung“ zu leiden; Korotenkos Stiefvater wurde in den Jahren des Terrors verhaftet und ins Arbeitslager deportiert; Sokolowskis Tochter lebt in Belgien und dies verwendet Schurawljow bei seinen Intrigen gegen ihn.[55]

Die Figuren des Buches sind -von wenigen Ausnahmen abgesehen- „realistische Mixturen“.[56] Sie werden durchweg sowohl aus der Außenperspektive (Erzählerbericht) als auch aus der Innenperspektive gezeigt, und so sehr das Buch gegen den stalinistischen Bürokraten Schurawljow Partei ergreift, so wenig ist er als Bösewicht gezeichnet. Er erscheint als ausgezeichneter Ingenieur, der bei einem Brand im Werk engagiert eingreift, als Werkleiter aber fehl am Platz ist und charakterliche Defizite aufweist.

In die recht schlichte Geschichte sind jedoch drei „symbolische Kontrapunkte“ eingebaut, die ein dichtes Netz von Verweisen ergeben: Der strenge Frost lockert sich parallel mit dem Auftauen der erstarrten politischen und persönlichen Beziehungen; in der Zeitungslektüre und den Diskussionen der Figuren sind die politischen Wandlungen der Enstalinisierung und die Ereignisse des Kalten Krieges permanent anwesend; und schließlich durchzieht den Roman eine aktuelle Kunst- und Literaturdiskussion. Sie beschränkt sich nicht auf die ‚Künstlerhandlung‘: Anspielungen auf zahlreiche aktuelle Romane kommen permanent vor, das Buch wird gleich mit einer „Leserdebatte“ im Werk eröffnet. Es ist dieses Verweisnetz zwischen Jahreszeit, Liebe, Politik und Kunst, das dem Roman seine außerordentliche Wirkung ermöglicht hat.[57]

Der Text erschien im April 1954 zunächst in Snamja und stieß sofort auf starke Reaktionen. Schon der Titel galt als bedenklich, da er die Stalinzeit als Frostperiode zu negativ erscheinen ließ; die Redaktion des Blattes hätte lieber „Erneuerung“ oder „Eine neue Phase“ gesehen. In den Literaturzeitschriften erschienen vernichtende Kritiken, u.a. von Konstantin Simonow, die Ehrenburg vorhielten, ein düsteres Bild der sozialistischen Gesellschaft gezeichnet zu haben. Beim Zweiten Schriftstellerkongress der Sowjetunion im Dezember attackierten Michail Scholochow und Alexander Surkow den Roman in den schärfsten Tönen (und mit antisemitischen Untertönen). Die Publikation als Buch wurde um zwei Jahre verzögert. Noch 1963 verwarf Nikita Chruschtschow persönlich „Tauwetter“ als eines der Werke, die „die mit dem Personenkultes zusammenhängenden Ereignisse (…) falsch oder einseitig beleuchten“.[58] Doch trotz der erbitterten Kritik wurde das Buch ein großer Erfolg sowohl in der Sowjetunion als auch im Ausland, es erschienen zahlreiche Übersetzungen. Das sprachliche Bild des Romantitels setzte sich durch.[59]

Wladimir Dmitrijewitsch Dudinzew war bis zum Kriegsende Militärstaatsanwalt in Sibirien. Nach dem Krieg war er Korrespondent bei der Komsomolskaja Prawda. 1956 erschien sein Roman Der Mensch lebt nicht vom Brot allein der literarisch Aufsehen erregte. Sowjetische Leser lobten den Roman enthusiastisch, die Literaturkritiker bejahten die kritische Offenheit, die Parteibürokratie äußerte sich empört. Der Autor selbst geriet literarisch in Verruf. 1988 wurde Dudinzew nach Veröffentlichung seines zweiten Romans Weiße Gewänder in Würdigung seines Schaffens mit dem Staatspreis der UdSSR ausgezeichnet. Gorbatschow hatte sich von der kommunistischen Staatsideologie abgewandt und verwirklichte die Ideen der Reformer.[60]

Der Roman schildert sowjetisches Alltagsleben in einer sibirischen Stadt.[61] Held des Romans ist der junge Ingenieur Lopatkin, der eine Maschine zur Produktion von Rohren im Kreiselgussverfahren erfindet. Er will seine Erfindung für die Produktion brauchbar machen und übergibt die Konstruktionspläne Drosdow, dem Generaldirektor seines Kombinats, einem skrupellosen Karrieristen.[62] Drosdow lässt die Konstruktionspläne in seinem Direktoratsbüro verschwinden, da er Neuerungen in seinem Betrieb verhindern will. Lopatkin, frustriert über das Verhalten Drosdows, gibt die Konstruktionspläne einer Armeebehörde. Er wird dann wegen illegaler Weitergabe von staatlichen Dokumenten verhaftet und zu achtjähriger Zwangsarbeit in einem Arbeitslager verurteilt. Nach seiner Haft erfährt Lopatkin, dass seine Erfindung von Drosdow realisiert und staatlich ausgezeichnet wurde. Die Autoritäten decken den Schwindel, indem sie Lopatkin eine leitende Stellung in einem anderen Staatsbetrieb anbieten. Aber Lopatkin ist nicht gewillt, einem System zu dienen, das gestattet, geistiges Eigentum zu verschachern und Täter zu Opfern werden zu lassen. Er kämpft gegen die Bürokratie und Selbstbedienung des sowjetischen Wirtschaftssystems. Er gewinnt den persönlichen Kampf, ist aber ohnmächtig gegen die unsichtbare Macht der Staatsbürokratie. Lopatkin weiß, dass ihm bei der Bekämpfung derselben ein langer Kampf bevorsteht.[63]

Drosdow heiratet anfangs die um etliche Jahre jüngere attraktive Nadja, obwohl er bereits verheiratet ist und seine Ehefrau es ablehnt, sich scheiden zu lassen. Er genießt die Privilegien der Parteibürokratie. Die Partei legalisiert die Eheschließung innerhalb weniger Monate. Als Nadja in die Geburtsklinik kommt, werden die anderen Frauen in ihren Betten auf den Korridor gebracht, weil eine hochrangige Genossin besonderer Pflege bedarf. Gleichmacherei wird auch im Sozialismus nicht geduldet, erklärt ihr Droskow. Nadja liebt ihren Ehemann wirklich nur wenig, sie hat sich heimlich in den jungen Ingenieur Lopatkin verliebt, der es selbst gar nicht merkt. Er ist mit seiner Erfindung beschäftigt, die ihn voll und ganz in Anspruch nimmt.[64]

Ein wohlmeinender Armeebeamter verfügt die Vergabe von potentiellen militärischen Mitteln für Lopatkins Erfindung und setzt ihn auf die Gehaltsliste für Armeeangehörige, ebenso das Projekt der Abwasseranlage auf die geheime Liste für militärische Investitionen. Lopatkins Anklage vor Gericht wird im Urteil gemildert durch den erbrachten Anspruch für die Erfindung. Es ist Nadja, die Lopatkin hilft, den Weg zu finden. Als er vor seinem Transport in ein Arbeitslager todkrank darnieder liegt, stellt sie Kartoffeln vor die Tür, und als er Geld für seine Erfindung benötigt, verkauft sie ihren Pelzmantel. Hinter Lopatkins Rücken wird sie seine Partnerin und die heimliche Geliebte.[65]

Die Tatsache, dass der Autor wegen seiner instruktiven Kritik des sowjetischen Wirtschaftsbürokratie aus politischen Interessen in der Sowjetunion während des so genannten Tauwetters viel gelesen wurde und sogar den Unwillen des höchsten Kremlherrn Chruschtschow erweckte, ließ den Roman berühmt werden.[66]

Das Werk „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ erschien im November 1962 in der Moskauer Zeitschrift Nowy Mir als das Erstlingswerk Alexander Solschenizyns, der 1970 den Nobelpreis für Literatur erhielt.[67]

Der Roman schildert einen Tag aus dem Leben eines Häftlings in einem sowjetischen Gulag. Die Veröffentlichung in Solschenyzins Heimat war nur möglich, weil sich die Sowjetunion 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU vom Personenkult um Josef Stalin gelöst hatte. Doch Unerfreuliches – die stalinschen Säuberungen, massenhafte Zwangsarbeit und Straflager – wurde dabei gerne bagatellisiert und dem Übereifer von Personen am Rande des Verantwortungsbereiches zugeschrieben, so dass auch diejenigen Mitglieder der neuen Führung der Sowjetunion, die schon in der Zeit des Stalinismus Verantwortung getragen hatten, von jeglicher Schuld freigesprochen werden konnten. Solschenizyns Roman fiel so in eine Zeit, die vom Klima der vorsichtigen Aufarbeitung der Verbrechen der Stalin-Ära gekennzeichnet war.[68]

Der Roman wurde schon bald im westlichen Ausland bekannt. Bereits ein Jahr nach seiner Veröffentlichung erschien seine amerikanische Übersetzung, der rasch auch eine deutsche Fassung folgte. Caspar Wrede verfilmte das Buch 1970 mit Tom Courtenay in der Titelrolle.[69]

Aus der persönlichen Erfahrung des Verfassers schöpfend, steht der Roman in der Tradition des russischen Realismus.[70] Der Rahmen der Handlung scheint willkürlich gewählt – ein beliebiger Tag, vom Wecksignal bis zum Löschen der Lichter, im Leben eines beliebigen Gulag-Häftlings, stellvertretend für die namenlosen Scharen politischer Gefangener. Das Hauptaugenmerk liegt auf der realistischen Schilderung der Härten und Ungerechtigkeiten des Gefangenenlebens im frostigen Sibirien, im Mittelpunkt dabei das persönliche Befinden des Iwan Denissowitsch, dessen Wohl und Wehe von scheinbaren Kleinigkeiten abhängt – einem Kanten Brot, den er verstecken kann, einem kleinen Stückchen Metall, das sich zu einem Messer zurechtschleifen lässt, einem Paar warm gefütterter Stiefel, denen er nachtrauert. Das tägliche Zentrum seiner Existenz bildet das hungrige Warten auf die nächste kärgliche Mahlzeit, meist nicht mehr als eine dünne wässrige Suppe und doch die einzige Brücke zum Überleben. Ein weiterer Schwerpunkt der Erzählung liegt auf der Interaktion zwischen den einzelnen Häftlingen – redseligen und schweigsamen, ehrlichen und verlogenen, arbeitsscheuen und fleißigen – sowie auf dem Verhältnis zwischen den Häftlingen und den Wachen, beide zusammengezwängt in ein unmenschliches System.[71]

Was den Roman aus der Masse der Gefangenenliteratur heraushebt, ist die Menschlichkeit, die er ausstrahlt. Die innere Welt des Protagonisten wird mit packender Lebendigkeit geschildert. Die Art und Weise, wie er sich mit seinen Umständen zu arrangieren versucht, sein inneres Glück, das geschildert wird, wenn er eine zusätzliche Schüssel Suppe ergattert, berühren den Leser mehr, als es die bloße Beschreibung von Demütigungen und Grausamkeiten vermocht hätte. Solschenizyn stellt die Härte des Lebens in den Lagern ohne jegliche Vorwürfe dar.[72] Trotz aller Unmenschlichkeit dieses Lebens bleibt, diskret und doch eindrucksvoll angedeutet, immer noch Raum für einen Rest Nächstenliebe unter den Gefangenen.

Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko verbrachte seine frühe Kindheit bei seiner Großmutter im nahegelegenen Sima. Sein Vater, der deutschstämmige Alexander Rudolfowitsch Gangnus, dichtete selbst und vermittelte dem Jungen bereits früh seine Liebe zur Poesie.

Um Repressalien aufgrund des deutsch klingenden Namens zu vermeiden, sorgte die Großmutter dafür, dass Jewgeni den Geburtsnamen seiner Mutter erhielt; außerdem wurde das Geburtsdatum offiziell auf 1933 verlegt, um 1944 einen Umzug nach Moskau zu ermöglichen.[73]

Jewtuschenkos Schulzeit verlief nicht sehr erfolgreich, er musste wegen Schwänzens und diverser Aufsässigkeiten die Mittelschule wechseln und wurde schließlich aufgrund einer falschen Beschuldigung vor Erreichen eines Abschlusses als Fünfzehnjähriger von der Schule gewiesen. Er arbeitete von seinem vierzehnten Lebensjahr an, erst in einem Kolchos, dann in einem Sägewerk. 1948 und 1950 nahm er an geologischen Expeditionen seines Vaters in Kasachstan und dem Altai teil und kehrte nach Moskau zurück, um Dichter zu werden. 1949 druckte die Zeitschrift Sowjetsport sein erstes Gedicht.[74] Von da an wurde er zum „Zeitungsdichter“; auch die obligatorischen Zeilen über Stalin waren regelmäßig in seinen Werken enthalten. Sein 1952 erschienener erster Gedichtband Kundschafter der Zukunft wurde von der Kritik zwar gelobt, war beim Publikum aber wenig erfolgreich. Jewtuschenko wurde aufgrund seiner Veröffentlichungen auch ohne Schulabschluss in den Schriftstellerverband und an das Moskauer Gorki-Literaturinstitut aufgenommen, wo er die Studienzeit nutzte, seinen Stil und seine Themen zu überdenken.[75]

Nach diversen Veröffentlichungen in den 50er Jahren kam der Durchbruch beim Publikum 1961 mit den beiden Gedichten „Babi Jar“, und „Meinst Du, die Russen wollen Krieg“, das auch vertont wurde. Babi Jar war eine Schlucht bei Kiew, in der am 29. und 30. 9. 41 durch das Sonderkommando (SK) 4a der Einsatzgruppe C mit Hilfe von zwei Kommandos des Polizeiregiments Russland-Süd 33 771 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet wurden. Kurz nach der Eroberung Kiews wurden die Juden der Stadt durch Maueranschläge aufgefordert, sich am 29. 9. 41 an einem bestimmten Ort zwecks Umsiedlung zu melden. In einer unübersehbaren Kolonne leitete man sie zur Babi-Yar-Schlucht, in der sie gruppenweise erschossen wurden. Nach Abschluss der Exekution sprengten Pioniere die Ränder der Schlucht ab, so dass das herabfallende Erdreich die Leichen unter sich begrub. In einem Bericht stellte das Kommando abschließend fest: "Obwohl man zunächst nur mit einer Beteiligung von etwa 5 000 bis 6 000 Juden gerechnet hatte, fanden sich über 30 000 Juden ein, die infolge einer überaus geschickten Organisation bis unmittelbar vor der Exekution noch an ihre Umsiedlung glaubten.[76]

Der Kommandeur des SK 4a, Blobel, wurde im Ohlendorf-Prozess zum Tod verurteilt und hingerichtet. Das Landgericht Darmstadt verurteilte 1968 zahlreiche Angehörige des Kommandos zu langjährigen Freiheitsstrafen. Das Massaker von Babi-Yar ist Thema eines Gedichts des russischen Schriftstellers Jewtuschenko gegen den Antisemitismus.[77]

Gleichzeitig sah sich Jewtuschenko kritischen Stimmen des etablierten sowjetischen Kulturbetriebs ausgesetzt. Trotz einiger Repressionen - zeitweise lebte er in Petschora im Norden Russlands - war er jedoch äußerst produktiv und wurde auch international beachtet; seine Werke erschienen in 72 Sprachen. Etiketten wie „Dichterrebell“, „Kultfigur der 60er Jahre“ und „Polit-Idol“ oder auch „politisch unzuverlässig“ versuchen ihn zu charakterisieren.[78]

Bereits in frühen Jahren widmete sich Jewtuschenko auch der Prosa. Seine erste Erzählung Die Vierte Meschtschanskaja-Straße wurde 1959 in der Zeitschrift Junost veröffentlicht. Sein erster Roman Beerenreiche Gegenden in der Bundesrepublik unter dem Titel Wo die Beeren reifen erschien Anfang der 80er Jahre.[79]

Im September 1986 äußerte sich Jewtuschenko in der Fernsehsendung Kennzeichen D des ZDF zur Frage einer Wiedervereinigung Deutschlands: „Ich denke, daß dieses große deutsche Volk, aus dem heraus so große Philosophie, Musik und Literatur entstanden ist, daß dieses in Zukunft wiedervereinigt werden muß. Aber es braucht Zeit. Es hängt von der Atmosphäre ab, von der globalen Atmosphäre“.[80] Seine Äußerung war wenige Wochen später ein Thema bei einem Treffen zwischen Erich Honecker und Michail Gorbatschow in Moskau. Seinen Blick auf den Wandel in der Sowjetunion zeigte der 1993 erschienene Schlüsselroman Stirb nicht vor deiner Zeit; ein autobiographisches Werk erschien 1989 unter dem Titel Wolfspaß.[81]

In beiden Büchern gibt es ein (identisches) Kapitel, das den Ereignissen um den Augustputsch in Moskau gegen Gorbatschow gewidmet ist. Nachdem Jewtuschenko 1988 bis 1991 Parlamentsabgeordneter gewesen war, war er unmittelbarer Augenzeuge der Verteidigung des Weißen Hauses - er trug von dessen Balkon ein Gedicht vor, das den demonstrierenden Menschen draußen auf der Straße gewidmet war.[82]

Neben zahlreichen Auszeichnungen in seinem eigenen Land erhielt er 1999 als erster ausländischer Dichter den renommierten amerikanischen Walt-Whitman-Preis. An amerikanischen Universitäten hielt er Vorlesungen aus seinem Lehrbuch Anthologie der russischen Poesie. In Italien wurde er 2008 mit dem Premio d'Annunzio ausgezeichnet. Den Staatspreis der Russischen Föderation erhielt er im Jahre 2009.

Tendrjakow war Soldat im Zweiten Weltkrieg und überlebte eine schwere Verwundung. Danach studierte er von 1946 bis 1951 Literaturwissenschaft am Gorki-Institut in Moskau. Viele seiner Novellen und Erzählungen erschienen erstmals in literarischen Zeitschriften wie Novyj mir. Sie waren beim Publikum sehr beliebt, da er auch gesellschaftliche Probleme und Konflikte thematisierte. Obwohl er seit 1948 Mitglied der KPdSU war, erhielt er keine hohen Auszeichnungen. Einige seiner Werke konnten erst nach seinem Tod erscheinen.[83]

Stets wiederkehrende Motive in seinen Werken sind der Umgang mit individueller Schuld und das Spannungsfeld zwischen persönlicher Gewissensentscheidung und gesellschaftlicher Verantwortung. Oft geht es auch um die Selbstfindungsprozesse Jugendlicher, dabei werden die Protagonisten durch unerwartete Ereignisse aus ihrem gewohnten Alltag herausgerissen: In Die Nacht nach der Abschlußfeier kritisiert die Klassenbeste in ihrer Abschlussrede entgegen der Erwartungshaltung der Zuhörer in scharfen Worten das Schulsystem, in Die Abrechnung (Расплата) erschießt der junge Kolja seinen Vater, der zuvor die Familie tyrannisiert hatte. Die unter der Oberfläche liegenden Konflikte, die zu diesen Vorfällen führen, werden von Tendrjakow herausgearbeitet. Dabei wird klar, dass zwischenmenschliche Beziehungen sehr komplex sind und es oft keine einfachen Lösungen gibt. So heißt es auch in dem Roman Mondfinsternis, der das Scheitern einer Liebesbeziehung zum Thema hat: Gegenseitiges Verstehen bezahlen die Menschen mit Blut und mit Stücken ihres Lebens.[84]

Auch gesellschaftliche Probleme werden oft exemplarisch anhand von Personen aufgezeigt, die unterschiedliche Wertvorstellungen vertreten. Durch Bürokratie und Intrigen werden Konflikte noch verschärft. Viele Erzählungen Tendrjakows haben ein offenes oder, insbesondere in seinem Spätwerk, pessimistisches Ende.[85]

Bella Achatowna Achmadulina war eine russische Dichterin, Übersetzerin und Essayistin. Sie war eine der jüngsten Vertreterinnen der Dichtergeneration der sowjetischen Tauwetter-Periode, die nach dem Tod Stalins wieder eine etwas persönlichere, „intimere“ Lyrik hervorbrachte.[86] Achmadulina war Jewgeni Jewtuschenkos erste Ehefrau.

Noch zu Schulzeiten – 1954 – veröffentlichte Bella Achmadulina ihre ersten Gedichte in der Zeitschrift Oktober.[87] Seit 1955 studierte sie sehr erfolgreich am Moskauer Maxim-Gorki-Literaturinstitut, das sie 1960 abschloss. Es verhalfen ihr Lyriker wie Jewtuschenko und Roschdestwenski gemeinsam mit älteren Dichtern zu einer außerordentlichen Popularität. 1962 erschien eine erste Gedichtsammlung unter dem Titel Die Saite, die in Kollegenkreisen Aufmerksamkeit hervorrief.

In den Folgejahren erschienen die Bände Schüttelfrost (1968), Musikstunden (1969), Gedichte (1975) und Schneegestöber (1977). Reisen in den 1970er Jahren nach Georgien weckten eine Leidenschaft für die georgische Kultur und Literatur. Sie übertrug erfolgreich Arbeiten georgischer Dichter ins Russische, u.a. Tizian Tabidse und Irakli Abaschidse. Ihre Gedichtsammlungen Die Kerze (1977) und Grusinischer Traum 1979) zeigen den Einfluss dieser Kultur auf ihre Arbeiten. Ihre in den 80er Jahren erschienenen Gedichtbände Geheimnisse, Der Garten und Auswahl wurden ergänzt von vielbeachteten Essays über Alexander Puschkin und Michail Lermontow.

Achmadulinas Lyrik ist geprägt von einem schwermütigen Grundton und dem Herausarbeiten allgemeiner Bedeutung aus konkreten, häufig alltäglichen Momenten. Beispiele hierfür sind die Gedichte Motorroller (1959), Tonbandgerät oder Sodawasser. Ihre Lyrik war häufig auf die Intonation, den mündlichen Vortrag angelegt.[88]

Obwohl sie auf politische Themen in ihren Arbeiten verzichtete, war sie kein unpolitischer Mensch. In den 1970er Jahren unter Breschnew setzte sie sich als eine von wenigen für verfolgte und unterdrückte Kollegen ein.[89] 1989 erhielt sie den Staatspreis der UdSSR für den Gedichtband Der Garten; außerdem war sie Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Letters.

Robert Iwanowitsch Roschdestwenski brach mit den starren Regeln des sozialistischen Realismus und entwickelte eine eigene Literatur mit demokratischen Elementen.[90]

Einen Großteil seiner Jugend verbrachte der 1932 geborene Roschdestwenski in der Stadt Omsk. Sein Vater war Offizier und fiel 1945 während des Zweiten Weltkrieges. Seine Mutter war als Ärztin an der Front tätig und gab den Sohn zur Großmutter. Nach deren Tod kam der junge Robert Iwanowitsch mit 9 Jahren in ein Waisenhaus. Bereits während der Schulzeit begann er, sich für Gedichte und Literatur zu interessieren. Sein erster Gedichtband wurde 1950 veröffentlicht. Nach Abschluss der Schule begann er ein Studium an der Universität von Petrosawodsk. Von 1951 bis 1956 setzte er sein Studium am literaturwissenschaftlichen Institut in Gorki fort, wo er 1956 auch seinen Abschluss erlangte.

In den 1950er und 1960er Jahren während der Tauwetter-Periode schloss er sich einer Gruppe von Schriftstellern an, die mit den strikten Vorstellungen des sozialistischen Realismus brachen. Anfang der 1960er Jahre stieg seine Bekanntheit durch zahlreiche Lesungen seiner Gedichte, vor allem an Universitäten und Hochschulen. Im Jahre 1979 wurde er mit dem Staatspreis der UdSSR ausgezeichnet. Ab 1986 setzte sich Roschdestwenski für eine stärkere Demokratisierung der russischen Politik ein und unterstützte die Forderungen nach Glasnost und Perestroika.[91]

Im Jahr 2004 veröffentlichte Roschdestwenskis Tochter Xenia Roschdestwenskaja ein Buch über Roschdestwenskis Schaffen.[92] Das Buch wurde zunächst nur in einer Auflage von 1.000 Stück gedruckt. Im Buch finden sich zuvor unveröffentlichte Gedichte, seltene Privatfotografien, von Roschdestwenski gesammelte Zeitungsausschnitte und Notizen seiner Kollegen und Freunde. Nach überragenden Kritiken in vielen russischen Tageszeitungen wurde es in einer größeren Auflage gedruckt.

Andrei Andrejewitsch Wosnessenski war ein russischer Dichter und Schriftsteller. Robert Lowell nannte ihn einen „der größten lebenden Dichter aller Sprachen“.[93]

In seiner Jugend war Wosnessenski von Malerei und Architektur fasziniert. 1957 graduierte er am Moskauer Architekturinstitut. Dennoch war seine poetische Leidenschaft stärker, und er sandte seine Gedichte an Boris Pasternak; die gegenseitige Freundschaft war von prägendem Einfluss auf den jungen Dichter.

Seine ersten Gedichte veröffentlichte er 1958. Sie brachten sogleich seinen unverwechselbaren Stil zum Vorschein. Seine Dichtungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie „den Menschen der Gegenwart mit modernen Kategorien und Bildern, exzentrischen Metaphern, sowie durch ein komplexes rhythmisches und phonetisches System zur Sprache bringen“.[94] Wladimir Majakowski und Pablo Neruda zählen zu den Dichtern, die ihn am meisten beeinflussten.

In den 1960er Jahren während der sogenannten Tauwetter-Periode unternahm Wosnessenski häufig Auslandsreisen in die USA, nach Frankreich, Deutschland, Italien und in andere Länder. Die Popularität von Wosnessenski wie auch die von Jewgeni Jewtuschenko oder Bella Achmadulina zeigte sich in zahlreichen Lesungen vor Tausenden Zuhörern in Stadien, Konzerthallen und Universitäten. Seine Gedichtsammlung Antimiry („Anti-Welten“) diente 1965 als die Grundlage für eine berühmt gewordene Aufführung am Taganka-Theater.

Wosnessenskis Freundschaft mit vielen Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen seiner Zeit reflektiert er in seinen Romanen und Artikeln. Er schrieb Songs für Alla Pugatschowa sowie die Texte für die erfolgreiche Rockoper Junona und Avos (1979), die Leben und Sterben Nikolai Resanows schildert.

1978 wurde Wosnessenski mit dem Staatspreis der UdSSR ausgezeichnet, 1983 mit dem Orden des Roten Banners der Arbeit. Nach der Wende erhielt er in der Russischen Föderation 2004 und 2008 den Verdienstorden für das Vaterland 3. und 2. Stufe. Er war Ehrenmitglied von zehn Akademien, darunter der russischen Pädagogischen Akademie (1993), der American Academy of Arts and Letters und der Pariser Académie Goncourt. Auf der documenta 8 im Jahr 1987 in Kassel wurden Aufnahmen von ihm im Rahmen der "Welt als Sprache: Akustische Poesie" als offizieller Ausstellungsbeitrag aufgeführt.[95]

Anna Andrejewna Achmatowa war eine russische Dichterin und Schriftstellerin. Sie gilt als die Seele des Silbernen Zeitalters in der russischen Literatur und als die bedeutendste russische Dichterin. Ihr späteres Schaffen ist vor allem von den Schrecken der stalinistischen Herrschaft geprägt, während der sie selbst Schreibverbot hatte, ihr Sohn und ihr Mann inhaftiert waren und viele ihrer Freunde ums Leben kamen.

Wie Puschkin 90 Jahre vor ihr erhielt Achmatowa ihre Schulausbildung im exklusiven Lyzeum von Zarskoje Selo. Ihr Verhältnis zu dem wichtigsten russischen Dichter zieht sich von Beginn an wie ein roter Faden durch ihre Arbeiten: Im September 1911, zum 100-jährigen Jubiläum des Lyzeums, verfasste sie ein kurzes Gedicht mit dem Titel Der dunkelhäutige Knabe schlenderte durch die Alleen, in dem es Anspielungen auf den jungen Puschkin gibt.[96] Bereits in diesem Gedicht wird die typische Metonymietechnik der Achmatowa deutlich: Ohne Lyzeum und Puschkin beim Namen zu nennen, wird durch typische Eigenschaften und Gegenstände (hier: dunkelhäutig, der Lyzeums-Dreispitz usw.) klar, wer und was gemeint ist.

Nachdem ihre Eltern sich 1905 getrennt hatten, lebte sie mit ihrer Mutter und den Geschwistern ein Jahr lang in Jewpatorija auf der Krim. Das letzte Schuljahr verbrachte sie schließlich am Kiewer Funduklejew-Gymnasium. Von 1907 bis 1910 studierte Achmatowa in Kiew in „Höheren Frauenkursen“ Jura, wobei sie sich vor allem für die Grundkurse in Rechtsgeschichte und Latein interessierte und den rein juristischen Fachthemen gleichgültig gegenüberstand.

Im Jahr 1910 heiratete sie den Dichter Nikolai Gumiljow, den sie schon seit ihrer Schulzeit kannte und der ihr lange und verzweifelt den Hof gemacht hatte. Es folgten gemeinsame Reisen nach Paris und Italien, wo sie u. a. den Künstler Modigliani traf – seine Zeichnungen der Achmatowa sind später berühmt geworden – und Zeugin der ersten triumphalen Erfolge der russischen Balletttänzer in Westeuropa wurde. Malerei und Architektur Italiens beeindruckten sie tief.

Achmatowa, Gumiljow und Ossip Mandelstam wurden zu den zentralen Vertretern der Literaturbewegung des Akmeismus (von griech. akme, Gipfel, Höhepunkt, Blütezeit).[97] Die Gruppe der Akmeisten bildete sich ab 1911 und wollte mit der Schöpfung einer neuen Ästhetik in Russland die Mystik, die komplizierte Mehrdeutigkeit und den Okkultismus des Symbolismus ablösen. Im Gegensatz zum Symbolismus bemühte sich der Akmeismus um Gegenständlichkeit und Klarheit der Darstellung.

Der Name der Gruppe, der beim 3. Treffen in der Wohnung von Anna Achmatowa beschlossen wurde, sollte auf die angestrebte Höchstleistung hindeuten. Die Grundtendenz war die Betonung des Ursprünglich-Irdischen und des Handwerklichen sowie eine Lösung vom Mystischen des Symbolismus. Aus der Sicht der Symbolisten drohte die Konzentration auf das Dingliche den Blick auf den geistigen Urgrund der sichtbaren Welt zu verstellen. Andere Bezeichnungen für die Lyrik des Akmeismus wie „Neoklassizismus,“ „Adamismus“ und „Klarismus“ zeigen das Umfeld des Akmeismus.

Im Gegensatz zum Futurismus, der ebenfalls als Gegenbewegung zum Symbolismus entstand, war dem Akmeismus nicht an einer revolutionären Änderung der Verstechnik gelegen, eher an einer möglichst ausgewogenen, bewussten und eindeutigen Verwendung der Alltagssprache im dichterischen Bereich.[98]

Nikolai Gumiljow, der theoretische Kopf der Gruppe der Akmeisten, versammelte einige andere Künstler, wie Sergei Gorodezki, Anna Achmatowa, Ossip Mandelstam u. a. um sich. Zu den wichtigsten Vorläufern gehörten Michail Kusmin und Innokenti Annenski. 1911 gründeten sie die Vereinigung „Dichterzunft“ (Zjech poetow) in St. Petersburg/Petrograd, dem organisatorischen Zentrum der Gruppe. Ab 1913 gaben sie die Zeitschrift „Apollon“ heraus, in der Gedichte und theoretische Artikel erschienen.

Über den starken Einfluss, den die wichtigsten Vertreter des Akmeismus auf die russische Lyrik des 20. Jahrhunderts in der Sowjetunion und in der russischen Exilliteratur hatten, blieb auch der Begriff zur Definition von viel später entstandener Lyrik im Unterschied zum Symbolismus oder Futurismus erhalten.

Achmatowas Gedichte zeichnen sich daher durch eine einfache und prägnante Sprache aus. Anders als bei den „esoterisch“ angehauchten Treffen der Symbolisten waren die Zusammenkünfte der Akmeisten eher „Workshops“, in denen u.a. neue Schreibtechniken erarbeitet wurden.[99]

Neben Puschkin fand Achmatowa ihre dichterischen Wurzeln bei Innokenti Annenski (1856–1909), einem Vorläufer der Akmeisten, außerdem bei dem französischen Symbolisten Verlaine und dem jungen Majakowski.[100] Nach ihrer Rückkehr nach Sankt Petersburg studierte Achmatowa Literaturgeschichte und schrieb die Gedichte, die in ihren ersten Gedichtband Abend (1912) eingingen. Es waren vor allem Liebesgedichte, in denen sie Trennung, Kummer und Liebesleid beschrieb.[101]

Sie verwendete in ihren lakonischen, knappen Gedichten Alltagssprache, in denen Gefühle gestisch angedeutet werden. Ein linker Handschuh, der aus Versehen auf die rechte Hand gestreift wird, wird zum Ausdruck der Verzweiflung und Verwirrtheit der Beschriebenen, die äußerlich ruhig bleibt:

Schon 1914 erschien ihr zweites Buch, Rosenkranz, das trotz der Ereignisse des beginnenden Weltkrieges, wie schon der erste Band, ein großer Erfolg wurde. Diese Sammlung enthielt auch das im Januar 1914 entstandene Gedicht Für Alexander Blok ein Indiz für ihre enge Beziehung zu dem Dichter des Symbolismus, die sie immer wieder als platonisch, „ausschließlich poetisch“ bezeichnete. Auch von Alexander Blok gibt es eine Reihe von Gedichten, die der Achmatowa gewidmet sind (z.B. An Anna Achmatowa). Ihre erste Begegnung hatte 1913 stattgefunden. Allerdings schildert das unmittelbar vor diesem im Rosenkranz gedruckte Gedicht (Der Gast Januar 1914) eine zärtliche Begegnung mit einem Mann, dessen Schilderung auf Blok zutraf. Diese Übereinstimmungen führten gelegentlich zu der Vermutung, dass die Beziehung der beiden Dichter intimer war als offiziell bekannt.

Auch der nächste Gedichtband, Die weiße Schar fiel bei seinem Erscheinen 1917 in eine historisch unruhige Zeit. Die chaotischen Zustände zu Beginn der Revolution schmälerten den Verkaufserfolg des Buches.[102]

Nach der Oktoberrevolution arbeitete Achmatowa als Bibliothekarin im Landwirtschaftlichen Institut. Von 1922 an bis 1940 wurden ihre Gedichte nicht mehr gedruckt, da sie den kommunistischen Machthabern zu wenig gesellschaftlich relevant, zu privat waren.[103] In der Sowjetenzyklopädie hieß es, ihre Gedichte seien mit religiös-mystischen und erotischen Motiven überladen, mit denen sie die Jugend vergifte. Ihre älteren Werke fanden nur unter der Hand im Samisdat Verbreitung. Lew Kopelew schrieb über sie: „Ihre Verse blieben im Gedächtnis haften, wurden je nach Stimmung wieder hervorgeholt … Damals war man noch bereit zuzugestehen, daß auch Klassenfeinde und unversöhnliche weltanschauliche Gegner selbstlos, edelmütig und tapfer sein konnten. Ein derartiger „liberaler Objektivismus“ war noch keine Todsünde, noch keine Straftat.“[104]

Nach einer zweiten, aber kurzen und unglücklichen Ehe mit dem Assyriologen und Übersetzer Wladimir Schileiko, der ihre Gedichte zum Teil verbrannt haben soll, lebte sie ab 1926 bis 1938 mit dem Kunsthistoriker Nikolai Nikolajewitsch Punin (1888–1953) zusammen, wobei das Paar zum Teil in einer angespannten Situation in einer Wohnung mit Punins Noch-Ehefrau und deren Tochter wohnte. Oftmals lebte Achmatowa in dieser Zeit buchstäblich von Brot und Tee, wobei sie ihr Selbstbewusstsein und ihren eigenen Stil nie aufgab.

Sowohl ihr Sohn Lew als auch ihr Ehemann Nikolai Punin wurden in den 1930er Jahren mehrfach verhaftet. Ihr Sohn wurde nach dem anfänglichen Todesurteil in die Verbannung geschickt und erst im April 1956, drei Jahre nach Stalins Tod, endgültig nach Hause entlassen. Insgesamt verbrachte er anderthalb Jahrzehnte in Lagerhaft. Ihr Ehemann Nikolai Punin starb 1953 im Arbeitslager Workuta.

In der Zeit der Inhaftierung ihres Sohnes verbrachte Achmatowa viel Zeit in den Warteschlangen der Angehörigen vor dem Gefängnis. In Requiem, das sie in dieser Zeit zu schreiben begann und das ein einziges Klagelied gegen den Stalin-Terror ist, schrieb sie anstelle eines Vorworts folgenden kurzen Prosatext:„In den schrecklichen Jahren des Justizterrors unter Jeshow habe ich siebzehn Monate mit Schlangestehen in den Gefängnissen von Leningrad verbracht. Auf irgendeine Weise »erkannte« mich einmal jemand. Da erwachte die hinter mir stehende Frau mit blauen Lippen, die meinen Namen natürlich nie gehört hatte, aus jener Erstarrung, die uns allen eigen war, und flüsterte mir ins Ohr die Frage (dort sprachen alle im Flüsterton): »Und Sie können dies beschreiben? Und ich sagte:»Ja,« Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war.“[105]

Für Achmatowa waren diese Jahre ein nicht endender Albtraum. Sie rechnete stets damit, dass an ihrem Sohn das Todesurteil vollstreckt wurde. Die neben Achmatowa andere bedeutende russische Lyrikerin des 20. Jahrhunderts, Marina Zwetajewa, die Achmatowa mit dem Zitat „Anna von ganz Russland“ ehrte, erhängte sich 1941 völlig verarmt. Freunde verschwanden, darunter ihr jahrelanger Wegbegleiter Ossip Mandelstam, der während seiner Verhöre in der Lubjanka im Jahre 1934 seine Gedichte über Stalin sogar für seine Folterknechte niederschrieb. Trotzdem wurde er nicht wie damals üblich in den Gulag nach Sibirien geschickt, sondern von Stalin, dem der Dichter zur damaligen Zeit tot gefährlicher gewesen wäre als lebendig, versucht ihn zu isolieren, aber am Leben zu erhalten[106].

Die Mandelstams wurden daraufhin ins Exil nach Woronesch, 400 km südlich von Moskau, verbannt und durften 1937 wieder ins Moskauer Gebiet – wenn auch nicht in die Hauptstadt selbst – zurückkehren. Im Herbst desselben Jahres besuchten die Mandelstams Achmatowa im Fontänenhaus in Leningrad, wo sie auf dem Sofa ihres Zimmers schlafen mussten, da sie keine eigene Unterkunft hatten. Achmatowa schrieb während dieses letzten Besuches der beiden ein Gedicht für Ossip Mandelstam, den sie wie einen Zwillingsbruder ansah.

Mandelstam wurde jedoch sechs Monate später erneut verhaftet und zu fünf Jahren Zwangsarbeit im ostsibirischen Kolyma verurteilt. Auf der Fahrt nach Kolyma kam er, wie im Gedicht beschrieben, am Jenissei sowie an den Städten Tschita und Swobodny vorbei und wurde schließlich in einem Lager bei Wladiwostok am Polarmeer inhaftiert, wo er am 26. Dezember 1938 einem Herzinfarkt erlag.

Und wenige Gedichtstrophen später bittet sie darum, wenn man ihr einstmals ein Denkmal baue, dann solle dies nicht in einem Park geschehen, sondern in jenem Gefängnishof, in dem sie hunderte von Stunden gewartet habe, um Nachrichten über das Schicksal ihres Sohnes zu erfahren. Auch ihr Denkmal solle den schwarzen Gefängnis-LKW sehen, der die Häftlinge abtransportiert und Zeuge des Leids der Angehörigen sein.

Obwohl ihre Bücher seit Jahren nicht mehr erschienen, war Achmatowa in der russischen Bevölkerung noch so populär, dass es um den Gedichtband „Aus sechs Büchern“, der im Jahr 1940 erscheinen durfte, in den Läden zu Prügeleien kommen konnte. Die unerwartete Drucklegung ihrer Werke geschah auf persönlichen Befehl von Stalin, nachdem sich offenbar namhafte Künstlerkollegen – angeblich hatte auch Swetlana Allilujewa bei ihrem Vater interveniert – für sie eingesetzt hatten. Der Band enthielt Arbeiten aus den Jahren 1924 bis 1940 sowie den neuen Zyklus Die Weide.[107]

Bei Ausbruch des Großen Vaterländischen Krieges lebte die Dichterin noch in Leningrad (wie Sankt Petersburg inzwischen hieß), wurde jedoch nach Beginn der deutschen Blockade 1941 mit anderen Schriftstellern noch über Moskau nach Taschkent ausgeflogen, wo sie Kriegsverletzten in den Krankenhäusern Gedichte vortrug.[108] Vereinzelte Gedichte wurden als „patriotische Beiträge zum vaterländischen Krieg“ offiziell noch akzeptiert; 1942 erschien ihr patriotisches Gedicht Tapferkeit (im Februar 1942 von der Sowjetpresse veröffentlicht) sogar in der Prawda: „Wir wissen, was heute am schwersten wiegt, Was heute geschieht. Die Stunde Der Tapferkeit hat uns geschlagen – wer biegt, Wer bricht uns mit ihr im Bunde? Trotz toter Kugeln leben wir fort Mit dem Tod unter dem Dache.' Du bleibst uns erhalten, du russisches Wort, Du große russische Sprache. Vor Untergang und Gefangenschaft Bewahren wir deine Reinheit und Kraft Für immer.“[109]

Im Juni 1944 konnte sie in ihr geliebtes, jedoch in der Zwischenzeit völlig verändertes Leningrad zurückkehren. Der Krieg und die Repressionspolitik des kommunistischen Gouverneurs Andrei Schdanow hatten der Stadt ihren Stempel aufgedrückt. Achmatowas Bedrückung und Niedergeschlagenheit fanden Einzug in ihre Prosaskizzen aus dieser Zeit, Drei Fliederbäume und Zu Gast beim Tod, die in dieser Zeit entstanden.[110]

Schon bald jedoch spürte auch sie die Auswirkungen der kulturpolitischen Hetzkampagnen der Schdanowschtschina – 1946 schloss man sie als Vertreterin des „ideenlosen reaktionären Sumpfes“ aus dem sowjetischen Schriftstellerverband aus und vernichtete zwei ihrer neuen Gedichtbände. Für dieses Verdikt war aus Anna Achmatowas Sicht ihre kurze Beziehung zu Isaiah Berlin verantwortlich, den sie 1945/46 in Moskau kennenlernte, als der englische Philosoph und Historiker Mitarbeiter der britischen Botschaft in Moskau war. Für sie wurde der jüngere Mann zum „Gast aus der Zukunft“ und sie widmete ihm die Liebesgedichte, die sie in den letzten zwanzig Jahren geschrieben hatte. Sie selbst traf ihn nach der kurzen Begegnung 1946 erst im Jahre 1965 wieder, als ihr in Oxford die Ehrendoktorwürde verliehen wurde.

Anna Achmatowa arbeitete seitdem überwiegend an literarischen Übersetzungen und Übertragungen; zu den von ihr übersetzten Dichtern gehörten Victor Hugo, Rabindranath Tagore und Giacomo Leopardi.[111] Das Schreibverbot bestand bis 1950, als zunächst in der Zeitschrift Ogonjok eine Gedichtreihe unter dem Thema Ruhm dem Frieden erschienen; diese Gedichte – darunter zwei Lobgedichte auf Stalin – gelten allerdings als erpresste und eher peinliche Arbeiten. Erst mit Beginn der Tauwetter-Periode erschienen wieder bedeutsamere Gedichte.[112]

Nach Stalins Tod erfolgte die schrittweise Rehabilitation der Dichterin; sie durfte wieder arbeiten und wurde 1958 wieder in den Schriftstellerverband aufgenommen. Ihr Versepos „Poem ohne Held“, an dem sie 22 Jahre gearbeitet hatte und das als ihr wichtigstes Werk gilt, erschien bereits 1960/61 in einem New Yorker Literaturalmanach, 1963 in Russland.[113] Es kann in der literarischen Tradition der russischen Versepen gesehen werden, die Puschkin mit Eugen Onegin 1833 begründete und die auch Alexander Blok aufgriff.

Mehr noch als sonst arbeitete sie hier mit komplexen strukturellen und zeitlichen Verschlüsselungen, die einerseits ihren persönlichen Stil ausmachten, andererseits in einer Zeit der Zensur und Unterdrückung schlicht dem Selbstschutz dienten. Und so wurde der Gedichtband zwar veröffentlicht, jedoch gab der zuständige Redakteur Schwierigkeiten beim Verstehen des Textes offen zu.

1964 durfte Anna Achmatowa in Taormina auf Sizilien den „Ätna-Taorrmina-Preis“ annehmen. Auf dieser Reise traf sie in Rom mit Ingeborg Bachmann zusammen, die ihr anschließend das Gedicht Wahrlich widmete.

1965 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford und im selben Jahr war sie für den Literaturnobelpreis nominiert.[114] Zwei Jahre vor ihrem Tod wurde sie Vorsitzende des Schriftstellerverbandes, aus dem man sie 1946 ausgeschlossen hatte. Ihr Gedichtzyklus Requiem, der den Terror unter Stalins Herrschaft anklagt, konnte in der Sowjetunion jedoch erst im Jahre 1987 erscheinen. Die Veröffentlichung wurde als Ergebnis der Perestroika gefeiert. Personen, denen sie vertraute, hatte sie seit den 1930er Jahren immer wieder daraus Gedichte zitiert.[115]

Am 5. März 1966, dem 13. Jahrestag von Stalins Tod, starb Anna Achmatowa in einem Erholungsheim in Domodedowo bei Moskau. Die Moskauer Zeitungen nannten sie in ihren Nachrufen eine überragende Schriftstellerin und Lyrikerin. Ihr dichterischer Einfluss auf jüngere Kollegen zeigte sich insbesondere bei Joseph Brodsky.[116]

Boris Leonidowitsch Pasternak wurde 1958 der Nobelpreis für Literatur verliehen, den er jedoch aus politischen Gründen nicht annehmen konnte. International bekannt ist er vor allem durch seinen Roman Doktor Schiwago.[117]

In Moskau als Sohn jüdischer Eltern geboren, wuchs Boris Pasternak in einem intellektuellen und künstlerischen Milieu auf. Sein Vater Leonid war Künstler und Professor an der Moskauer Schule für Malerei, seine Mutter die bekannte Pianistin Rosalija Kaufmann. Unter den Freunden und Bekannten, die Pasternak bereits in jungen Jahren zu Hause antraf, waren Musiker, Künstler, Schriftsteller– einer davon Lew Tolstoi, dessen Bücher sein Vater Leonid illustrierte. Seitdem er als Dreizehnjähriger den russischen Komponisten Alexander Skrjabin kennenlernte, träumte er davon, Pianist und Komponist zu werden und beschäftigte sich ausdauernd mit Klavierspiel, Musiktheorie und Komposition. Aus dem Jahr 1909 stammt eine von ihm komponierte Klaviersonate in h-Moll.[118]

Nach Abschluss des Moskauer deutschen Gymnasiums 1908 studierte er jedoch an der Moskauer Universität Philosophie. Ein Auslandssemester im Sommer 1912 an der damals in Russland bekanntesten deutschen Universität, der Universität Marburg, wo er höchst erfolgreiche Studien bei den Neukantianern Hermann Cohen und Nicolai Hartmann betrieb, sowie Reisen in die Schweiz und nach Italien ließen in ihm jedoch den Entschluss reifen, sich der Poesie zuzuwenden: „Meiner Meinung nach sollte Philosophie dem Leben und der Kunst als Gewürz beigegeben werden. Wer sich ausschließlich mit Philosophie beschäftigt, kommt mir vor wie ein Mensch, der nur Meerrettich isst.“[119]

Pasternak wandte sich, inspiriert vor allem von Alexander Blok, anfänglich besonders dem Futurismus und dem Symbolismus zu. Kurzzeitig war er auch Mitglied der Dichtergruppe LEF ( „Linke Front der Künste“), die ganz im Zeichen des Futurismus stand.[120] Das Manifest dieser literarischen Bewegung umschrieb den Dichter als Arbeiter mit sozialem Auftrag, nicht als Künstler. In dieser Zeit schrieb er seine ersten Gedichte, die 1913 im Almanach Lirika erschienen.[121] 1914 veröffentlichte er seine erste Gedichtsammlung in dem Buch Zwilling in Wolken, gefolgt vom 1917 erscheinenden Über die Barrieren, was ihm Aufmerksamkeit und Anerkennung in der literarischen Welt verschaffte. Seit 1914 war er auch Mitglied der futuristischen Dichtergruppe Zentrifuge.[122]

Obwohl Pasternak von der Brutalität der neuen Regierung schockiert war, unterstützte er die Oktoberrevolution.[123] Seine Eltern und Geschwister wanderten 1921, als Auslandsreisen erlaubt wurden, nach Deutschland aus. Nach dem Krieg arbeitete Pasternak als Bibliothekar und schrieb u.a. Leutnant Schmidt, Meine Schwester, das Leben (1922) und Das Jahr 1905. 1922 heiratete Pasternak Jewgenija Wladimirowna Lourié und hatte mit ihr den Sohn Jewgeni Pasternak (1923–2012), der zunächst Militäringenieur und später als Literaturwissenschaftler und -historiker ein Spezialist für das Schaffen seines Vaters wurde. Die Ehe wurde 1931 geschieden.

Die Poesie blieb Pasternaks Leidenschaft und machte ihn zu einem der wichtigsten Dichter der russischen Moderne.[124] Seine Gedichte entwickelten sich weg von den symbolistischen Einflüssen hin zu philosophischen Ansätzen und zur Verarbeitung der Revolution. In den dreißiger Jahren passten seine Werke allerdings nicht in die Rahmenbedingungen des Sozialistischen Realismus, und er arbeitete als Übersetzer aus dem Französischen, Englischen und Deutschen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Berühmt sind seine Übertragungen von Goethes Faust und Shakespearescher Tragödien, außerdem übersetzte er Werke von Rilke, Kleist und einigen englischen Schriftstellern.[125] 1934 ging er eine zweite Ehe mit Sinaida Nikolajewna Neuhaus ein; die Familie zog 1936 in die Künstlerkolonie Peredelkino bei Moskau. Peredelkino war seit dem 17. Jahrhundert als Adelssitz bekannt.[126]

1934 schlug Maxim Gorki vor, das Gebiet dem Schriftstellerverband der UdSSR zu überschreiben. Daraufhin wurden innerhalb weniger Jahre ungefähr 50 hölzerne Datschen für sowjetische Schriftsteller errichtet.

Unter den in Peredelkino wohnenden Künstlern waren Boris Pasternak, Kornei Tschukowski, Arseni Tarkowski (alle drei starben hier und wurden auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt), Ilja Ehrenburg, Weniamin Kawerin, Orest Malzew, Leonid Leonow, Ilja Ilf, Isaak Babel, Wsewolod Iwanow, Nikolai Sabolozki, Boris Pilnjak, Lilja Brik, Konstantin Simonow, Alexander Fadejew, der hier 1956 Selbstmord beging und Michail Bachtin. In jüngerer Zeit wohnten auch Jewgeni Jewtuschenko, Andrei Wosnessenski, Bella Achmadulina, Robert Roschdestwenski und Surab Zereteli hier.[127]

Bei Kriegsausbruch 1941 meldete sich Pasternak freiwillig an die Front, wurde jedoch zunächst nach Tschistopol evakuiert und erst 1943 mit einer „Schriftstellerbrigade“ in den Krieg geschickt. Die lyrische Verarbeitung seiner Kriegserlebnisse ist in den Gedichten des Sammelbands In den Frühzügen (1943) und in Irdische Weite (1945) zu finden.[128]

Nach dem Krieg arbeitete Pasternak lange an seinem ersten und einzigen Roman Doktor Schiwago der in der Sowjetunion aufgrund seines Inhalts nicht erscheinen durfte. Der Roman, der während der russischen Revolutionszeit vor und nach 1917 spielt, beschreibt die Konflikte, in die ein Intellektueller (Schiwago) und seine geistigen und religiösen Überzeugungen mit der revolutionären Bewegung und der sozialistischen Realität gerät. Als Vorbild für Lara, die weibliche Hauptfigur des Romans, soll dabei Pasternaks langjährige Geliebte Olga Iwinskaja fungiert haben. Der Roman erschien 1957 nur im Ausland, zunächst in Italien und danach in 18 anderen Sprachen – ein internationaler Erfolg. In der Sowjetunion konnte er erst 1987 unter Gorbatschow publiziert werden, nachdem man Pasternak offiziell rehabilitiert hatte. Der gleichnamige Film mit Omar Sharif und Julie Christie gewann 1966 fünf Oscars und war ein internationaler Erfolg in den Kinos.[129]

Pasternak, soll sich schon 1934 nach einem „ganz gewöhnlichen Roman“ gesehnt haben, der „einige unansehnliche und armselige Worte des Alltags enthalten sollte“.[130] Pasternak ist unerschöpflich. „Jede Sache in seiner Hand geht zusammen mit seiner Hand aus seiner Hand in die Unendlichkeit fort – und wir mit ihr, ihr nach. Pasternak ist nur invitation au voyage – der Selbstentdeckung und Weltentdeckung, nur Startpunkt: das Woher. Unsere Ablegestelle. Gerade soviel Platz, um – abzulegen. Auf Pasternak verweilen wir nicht, wir retardieren über Pasternak. Über der Pasternakzeile ist eine dichte und dreifache Aura von Möglichkeiten: der Pasternakschen, des Lesers und der Sache selbst. Pasternak wird über der Zeile existent. Das Lesen von Pasternak ist ein Lesen über der Zeile – paralleles und perpendikulares. Weniger, daß du liest, als daß du schaust (denkst, gehst) von – weg. Ein auf etwas Bringendes. In etwas Fortführendes. Man kann sagen, Pasternak schreibt der Leser selbst.“[131]

Von 1946 bis 1955 arbeitete er an seinem ersten und einzigen Roman. Der Roman erschien erstmals 1957 bei Giangiacomo Feltrinelli Editore in Mailand in einer italienischen Übersetzung, erstellt nach einem Manuskript, das Pasternak dem Agenten von Feltrinelli in Russland übergab. Eine russische Version erschien erstmals 1958 im Mouton Verlag in Den Haag und wurde bei der Brüsseler Weltausstellung im Pavillon des Vatikans gratis an die Besucher verteilt. Die Vorlage des Romans in der Originalsprache beim Komitee war Voraussetzung für die Verleihung des Nobelpreises.[132] Eine zweite kleinformatige Dünndruckausgabe auf Bibeldruckpapier wurde speziell für die unauffällige Verbreitung im Ostblock gedruckt. Innerhalb der Sowjetunion durfte der Roman offiziell erst 1988 erscheinen. Pasternak bot sein Werk der russischen Zeitschrift Nowy Mir an, die erwartungsgemäß ablehnte.[133]

Der Journalist Iwan Tolstoi veröffentlichte 2009 ein Buch mit dem Titel Pasternaks gewaschener Roman (Verlag Wremja, Moskau 2009). Darin vertritt er die These, dass die CIA die russische Erstausgabe von Pasternaks Revolutionsepos im Westen finanzierte und so die Verleihung des Nobelpreises an den Russen im Jahr 1958 ermöglichte. Nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist veröffentlichte die US-Regierung im April 2014 Dokumente aus jener Zeit, die eine Unterstützung der Veröffentlichung durch die CIA bestätigen.

Im Ausland erschien Doktor Schiwago außer in der Originalversion noch in 18 anderen Sprachen. 1965 wurde der Roman von David Lean mit Omar Sharif und Julie Christie in den Hauptrollen verfilmt; der Film wurde mit fünf Oscars ausgezeichnet. Es ist bis heute die populärste Verfilmung. 2006 wurde die wohl umfangreichste Verfilmung durch den Regisseur Alexander Proschkin realisiert. In der 12-teiligen TV-Produktion spielt Oleg Menschikow die Titelpartie und Tschulpan Chamatowa ist als Lara zu sehen.[134]

Hauptpersonen des Romans sind der Arzt und Dichter Juri Andrejewitsch Schiwago und seine Geliebte Lara Guichard.[135] Die Handlung beginnt 1903 und endet 1929; ein Epilog führt ins Kriegsjahr 1943. Der Roman schildert Schiwagos Entwicklung, vor allem die von einem sozialistisch Gesinnten zum Dissidenten.[136]

Als Waise wächst der junge Juri bei einer Pflegefamilie auf. Seine Leidenschaft gehört der Dichtkunst, doch er studiert Medizin und wird Arzt. Er heiratet Tonja, die Tochter seiner Pflegeeltern. Gleichzeitig wird die Geschichte von Lara (Larissa) Antipowa erzählt, die mit ihrem Bruder bei ihrer Mutter aufwächst. Wiktor Komarowski ist der Liebhaber ihrer Mutter, er verführt auch Lara und macht sie von sich abhängig. Sie heiratet Pawel Antipow, den sie aus der Schulzeit kennt, und zieht mit ihm in den Ural, auch um sich vom Einfluss Komarowskis zu befreien.[137]

Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird Juri an der Front als Arzt gebraucht, wo er Lara kennenlernt. Sie hat sich freiwillig als Krankenschwester gemeldet, um nach ihrem Mann zu suchen. Sie verlieben sich ineinander, doch ihre Wege trennen sich nach der Zeit im Lazarett. Juri kehrt zu seiner Familie zurück.

Nach einem Umzug mit seiner Familie auf ein ländliches Anwesen namens Warykino trifft er Lara in der nahegelegenen Stadt Jurjatin. Sie bleiben stets in Kontakt und ihre Beziehung wird immer enger. Eines Tages wird Juri im von Rot- und Weißgardisten geführten Russischen Bürgerkrieg von einigen Rotgardisten entführt, die ihn als Feldarzt in ihrer in den Wäldern versprengten Einheit brauchen. Nach langer Zeit kann er schließlich fliehen und kehrt nach Warykino zurück. Seine Familie ist von dort weggezogen und ins Ausland emigriert. Schiwago holt Lara zu sich, sie lieben sich und wollen für immer zusammenbleiben.

Die beiden schweben jedoch in höchster Gefahr, da Laras Mann, mittlerweile ein Revolutionsheld, bei den Kommunisten in Ungnade gefallen ist. Komarowski taucht auf und bietet seine Hilfe an. Er überredet Lara, mit ihm ins Ausland zu fliehen, Juri unterstützt dies um Laras Sicherheit willen. Er leidet sehr unter der Abwesenheit Laras. Nach einiger Zeit kehrt er zurück nach Moskau, wo er mit Marina zusammenlebt. Er vermisst Lara jedoch immer noch sehr und wird geistig und körperlich immer schwächer.

Er stirbt auf offener Straße an einer Herzkrankheit. Nach seinem Tod unterstützt Lara Juris Halbbruder Jewgraf bei der Sichtung und Veröffentlichung von Juris Unterlagen und Gedichten.[138]

Das Buch schildert eingehend die Zustände der in der Anomie des Bürgerkriegs versinkenden Sowjetunion, was besonders die Ablehnung durch die Staatsmacht zur Folge hatte.

Als Pasternak 1958 der Nobelpreis für Literatur „für seine bedeutende Leistung sowohl in der zeitgenössischen Lyrik als auch auf dem Gebiet der großen russischen Erzähltradition“ – also wohl vorwiegend für „Doktor Schiwago“[139] – verliehen werden sollte, nahm er diesen zwar zunächst an, lehnte aber später auf Druck der sowjetischen Obrigkeit ab. Pasternak wollte, wie aus einem persönlichen Brief an Chruschtschow hervorgeht, trotz aller Angriffe auf ihn und seine Arbeit auf keinen Fall Russland verlassen. Außerdem wurde er in der Folge aus dem Schriftstellerverband der UdSSR ausgeschlossen. Aus einem persönlichen Brief Pasternaks an Chruschtschow geht hervor, dass Pasternak trotz aller Angriffe auf ihn und seine Arbeit auf keinen Fall die Sowjetunion verlassen wollte.[140]

Im Zuge der kulturpolitischen Liberalisierung in der UdSSR wurde Pasternak am 23. Februar 1987 rehabilitiert und posthum wieder in den Schriftstellerverband der UdSSR aufgenommen und sein Roman Dr. Schiwago sollte in einer sowjetischen Zeitung veröffentlicht werden. Pasternaks Sohn nahm 1989 in einer besonderen Zeremonie den Nobelpreis in Stockholm stellvertretend an.

Die Stadt im Ural, in der Schiwago Lara wieder trifft, heißt im Roman Jurjatin und steht sinnbildlich für Perm. Hier hat der Autor einige Jahre während des Zweiten Weltkriegs verbracht. Auch das alte Anwesen Warykino, in dem Schiwago lebt, hat unweit der Stadt ein reales Gegenstück, das genau wie das im Roman beschriebene aussieht und deswegen eine Touristenattraktion geworden ist. Das Vorbild für Lara soll Pasternaks langjährige Geliebte Olga Iwinskaja gewesen sein.[141]

Voller Pläne und Ideen für weitere Gedichte und einen Roman starb Boris Pasternak am 30. Mai 1960 in Peredelkino an einem Herzinfarkt und starken Magenblutungen.[142] Außerdem wurde ein Lungenkrebs im Anfangsstadium festgestellt. Im Zuge der kulturpolitischen Liberalisierung in der UdSSR wurde Pasternak am 23. Februar 1987 rehabilitiert und postum wieder in den Schriftstellerverband der UdSSR aufgenommen und sein Roman Dr. Schiwago sollte in einer sowjetischen Zeitung veröffentlicht werden.[143] In einer besonderen Zeremonie nahm sein Sohn den von Pasternak 1958 abgelehnten Nobelpreis im Jahr 1989 in Stockholm stellvertretend für seinen Vater an.

Fußnoten

  1.  ↑ Reinhold Neumann-Hoditz: Peter der Große. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 2000,S. 69
  2.  ↑ Massie, R. K.: Peter der Große. Sein Leben und seine Zeit, Frankfurt/M. 1992, S. 78ff
  3.  ↑ Hellmann, M. u.a.: Weltgeschichte – Russland, Band 31, Frankfurt am Main 1998, S. 230
  4.  ↑ Löwe, H.-D.: Volksaufstände in Russland. Von der Zeit der Wirren bis zur „Grünen Revolution“ gegen die Sowjetherrschaft, Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Band 65, Wiesbaden 2006, S. 28
  5.  ↑ Massie, R. K.: Peter der Große. Sein Leben und seine Zeit, Frankfurt/M. 1992, S. 97
  6.  ↑ Granin, D.: Peter der Grosse, Berlin 2001, S. 78f
  7.  ↑ Hellmann M./ Zernack, K./ Schramm, G.: Handbuch der Geschichte Russlands, Band 6, Berlin/Wien 2008, S. 171
  8.  ↑ Torke, H.-J.: Die russischen Zaren, 1547–1917, München 2006, S. 87
  9.  ↑ Findeisen, J.-P.: Das Ringen um die Ostseeherrschaft, Berlin 1992, S. 113
  10.  ↑ Hans-Heinrich Nolte: Kleine Geschichte Rußlands, Ditzingen 2003, S. 117
  11.  ↑ Granin, D.: Peter der Grosse, Berlin 2001, S. 154
  12.  ↑ Torke, H.-J.: Die russischen Zaren, 1547–1917, München 2006, S. 69
  13.  ↑ Donnert, E.: Peter der Große, Leipzig 1988, S. 129
  14.  ↑ Stobbe, P.: Utopisches Denken bei V. Chlebnikov, München 1982S. 20
  15.  ↑ Urban, P. (Hrsg.): Velimir Chlebnikov: Werke. Poesie - Prosa - Schriften – Briefe, Reinbek 1985, S. 53
  16.  ↑ Stobbe, P.: Utopisches Denken bei V. Chlebnikov, München 1982, S. 100
  17.  ↑ Gretchko, V.: Die Zaum'-Sprache der russischen Futuristen, Bochum 1999, S. 35
  18.  ↑ Scherstjanoi, V./ Andryczuk, H.: Chlebnikov-Trilogie (Tiergarten; Zangesia; Der Untergang von Atlantis), Texte, Übersetzungen, Zeichnungen, Skribentismen, Berlin 2004–2006, S. 47
  19.  ↑ Urban, P. (Hrsg.): Velimir Chlebnikov: Werke. Poesie - Prosa - Schriften – Briefe, Reinbek 1985, S. 71
  20.  ↑ Sames, B.: Linie der Avantgarde in Russland : transrationale Dichtkunst in der "Akademija Zaumi". Kovač, Hamburg 2004, S. 102
  21.  ↑ Gretchko, V.: Die Zaum'-Sprache der russischen Futuristen, Bochum 1999, S. 87
  22.  ↑ Urban, P. (Hrsg.): Velimir Chlebnikov: Werke. Poesie - Prosa - Schriften – Briefe, Reinbek 1985, S. 76
  23.  ↑ Ingold, F. P.: Der große Bruch. Russland im Epochenjahr 1913, Berlin 2013, S. 65
  24.  ↑ Niederbudde, A. Mathematische Konzeptionen in der russischen Moderne : Florenskij - Chlebnikov - Charms Sagner, München 2006, S. 65
  25.  ↑ Niederbudde, A. Mathematische Konzeptionen in der russischen Moderne : Florenskij - Chlebnikov - Charms Sagner, München 2006, S. 73
  26.  ↑ Förtsch, M.: Die Oper „Sieg über die Sonne“ – ein Kollektivwerk futuristischer Künstler. Zittau 2006, S. 55
  27.  ↑ Scherstjanoi, V./ Andryczuk, H.: Chlebnikov-Trilogie (Tiergarten; Zangesia; Der Untergang von Atlantis), Texte, Übersetzungen, Zeichnungen, Skribentismen, Berlin 2004–2006, S. 134
  28.  ↑ Niederbudde, A. Mathematische Konzeptionen in der russischen Moderne : Florenskij - Chlebnikov - Charms Sagner, München 2006, S. 73
  29.  ↑ Förtsch, M.: Die Oper „Sieg über die Sonne“ – ein Kollektivwerk futuristischer Künstler. Zittau 2006, S. 55
  30.  ↑ Scherstjanoi, V./ Andryczuk, H.: Chlebnikov-Trilogie (Tiergarten; Zangesia; Der Untergang von Atlantis), Texte, Übersetzungen, Zeichnungen, Skribentismen, Berlin 2004–2006, S. 134
  31.  ↑ Sames, B.: Linie der Avantgarde in Russland : transrationale Dichtkunst in der "Akademija Zaumi". Kovač, Hamburg 2004, S. 90
  32.  ↑ Stobbe, P.: Utopisches Denken bei V. Chlebnikov, München 1982, S. 117
  33.  ↑ Bowlt, J. E./ Drutt, M. (Hrsg.): Amazonen der Avantgarde. Alexandra Exter, Natalja Gontscharowa, Ljubow Popowa, Olga Rosanowa, Warwara Stepanowa und Nadeschda Udalzowa. New York 1999. S. 45
  34.  ↑ Marcade, J. C.:Text anlässlich der Ausstellung der Arbeit auf der Kunstmesse Basel 1980, S. 2
  35.  ↑ Greusser, H.: Geschichte der Sowjetunion, Berlin 1982, S. 125
  36.  ↑ Balabanowitsch, J.S.: Anton Semjonowitsch Makarenko. Ein Abriß seines Lebens und Schaffens, Berlin. 1953, S. 15ff
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  40.  ↑ Balabanowitsch, J.S.: Anton Semjonowitsch Makarenko. Ein Abriß seines Lebens und Schaffens, Berlin. 1953, S. 65
  41.  ↑ Greiner, B.: Von der Allegorie zur Idylle. Die Literatur der Arbeitswelt in der DDR, Heidelberg 1974, S. 85
  42.  ↑ Schubbe, E. (Hrsg.): Dokumente zur Kunst, Literatur und Kulturpolitik der SED, Stuttgart 1972, S. 74
  43.  ↑ Arnold, H. u.a. (Hrsg.): Literatur in der DDR. Rückblicke, München 1991, S. 105f
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  45.  ↑ Stender Petersen, A.: Geschichte der russischen Literatur. 5. Auflage, München 1993, S. 156
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  58.  ↑ Lauer, R.: Funktion der Literatur in der Literatur. Die literarischen Anspielungen in Ilja Ehrenburgs Roman „Ottepel’“ in: Rammelmeyer, A./ Giesemann, G. (Hrsg.): Ost und West. Band 2: Aufsätze zur slavischen und baltischen Philologie und allgemeinen Sprachwissenschaft, Wiesbaden 1977, S. 138–152, hier S. 150
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  75.  ↑ Grollmann, N.: Geschichte der Sowjetunion, Berlin 1986, S. 93
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  81.  ↑ Grollmann, N.: Geschichte der Sowjetunion, Berlin 1986, S. 93
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  86.  ↑ Specht, B.: Die Lyrik Bella Achmadulinas. München 2005, S. 17f
  87.  ↑ Lauer, R.: Geschichte der russischen Literatur, München 2000, S. 206
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  107.  ↑ Tschukowskajy, L.: Aufzeichnungen über Anna Achmatowa (= Edition Orient – Occident. Band 7), Tübingen 1987, S. 69
  108.  ↑ Dalos, G.: Der Gast aus der Zukunft – Anna Achmatowa und Isaiah Berlin, Hamburg 2002, S. 127
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  112.  ↑ Brodsky, J.: Flucht aus Byzanz. Essays, München 1988, S. 76
  113.  ↑ Kusmina, J.: Anna Achmatowa. Ein Leben im Unbehausten. Biographie, Berlin 1993, S. 64
  114.  ↑ Tschukowskajy, L.: Aufzeichnungen über Anna Achmatowa (= Edition Orient – Occident. Band 7), Tübingen 1987, S. 76
  115.  ↑ Henseler, D.: Texte in Bewegung. Anna Achmatovas Spätwerk (= Slawische Literaturen. Band 33), Frankfurt am Main u. a. 2004, S. 97
  116.  ↑ Tschukowskajy, L.: Aufzeichnungen über Anna Achmatowa (= Edition Orient – Occident. Band 7), Tübingen 1987, S. 80
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  128.  ↑ Döring, J. R.: Die Lyrik Pasternaks in den Jahren 1928–1934, München 1973, S. 102
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  130.  ↑ Belentschikow, V.: Zur Poetik Boris Pasternaks. Der Berliner Gedichtzyklus 1922–1923. Vergleichende Studien zu den slawischen Sprachen und Literaturen. Bd 2., Frankfurt am Main u.a. 1998, S. 96
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  140.  ↑ Meyer, A.: „Sestra moja – zizn“ von Boris Pasternak. Analyse und Interpretation, München 1987, S. 26
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  143.  ↑ Borowsky, K.: Kunst und Leben. Die Ästhetik Boris Pasternaks. Germanistische Texte und Studien. Bd 2, Hildesheim u.a. 1976, S. 62