Erlebnispädagogik, Abenteuerpädagogik, Aktionspädagogik, Erfahrungslernen – all diese Begriffe haben etwas mit Erlebnis und Erziehung zu tun. Doch was steckt genau dahinter?
Beim Erfahrungslernen erhält das Kind Erkenntnisse indem es sich aktiv und selbstbestimmt mit seiner Umwelt auseinandersetzt. Das hat schon sehr viel mit Erlebnispädagogik gemein. Aktionspädagogik hingegen ist ein relativ oberflächlicher Begriff. In der Erlebnispädagogik geht es nur scheinbar vordergründig um „action“, vielmehr stehen die Anstrengung, die Überwindung, die Persönlichkeit und die Stärkung des Selbstwertgefühls im Fokus des Geschehens. Das lässt erkennen, dass die Aktion nur das Hilfsmittel zur Erreichung des pädagogischen Ziels ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff Abenteuer. Ein Abenteuer ist pädagogisch nicht planbar und kann auch nicht als ein Ereignis mit offenem Ausgang eingesetzt werden. Und Pädagogen sollten immer mit berechen- und voraussehbaren Aktionen arbeiten. Alles andere wäre zu gefährlich.
Laut Heckmair und Michl wurde Erlebnispädagogik noch bis vor kurzem als handlungsorientierte Methode definiert, „in der die Elemente Natur, Erlebnis und Gemeinschaft pädagogisch zielgerichtet miteinander verbunden werden.“. Diese Begriffserklärung schließt natürlich die Weiterentwicklungen in der Erlebnispädagogik, wie z.B. Erleben in der Stadt, Hochseilgärten oder Sportpädagogik, aus. Daher verstehen wir heute unter Erlebnispädagogik „eine handlungsorientierte Methode, in der durch Gemeinschaft und Erlebnisse in naturnahen oder pädagogisch unerschlossenen Räumen neue Raum- und Zeitperspektiven erschlossen werden, die einem pädagogischen Zweck dienen.. Heckmair/Michl führen noch eine dritte Begriffsklärung an und fordern gleichzeitig Kritiker auf, diese Definition weiterzuentwickeln oder gar eine neue vorzulegen: „Erlebnispädagogik ist eine handlungsorientierte Methode und will durch exemplarische Lernprozesse, in denen junge Menschen vor physische, psychische und soziale Herausforderungen gestellt werden, diese in ihrer Persönlichkeitsentwicklung fördern und sie dazu befähigen, ihre Lebenswelt verantwortlich zu gestalten.“.
Der Reformpädagoge Kurt Hahn (1886 – 1974) ist sowohl geistiger Vater als auch Begründer der heutigen Erlebnispädagogik. In der Internatsschule Schloss Salem am Bodensee, die auch heute noch existiert, praktizierte er schon ab 1920 seine „Erlebnistherapie“ und integrierte hierbei erlebnispädagogische Elemente (körperliches Training, Rettungsdienst, Expeditionen und Projekt) in den Stundenplan. Einundzwanzig Jahre später gründete Hahn in Wales die Outward-Bound-Schule mit dem Ziel junge Menschen für das Leben zu rüsten um damit „fertig“ zu werden. Als Vorbild diente ihm die englische Seefahrerschule – ein zur Ausfahrt gerüstetes Schiff. Heute ist Outward Bound ein freier Träger der Jugend- und Erwachsenenbildung und bietet Seminare mit den Schwerpunkten Naturkunde und Sport an. Darüber hinaus wird seit 1993 eine berufsbegleitende erlebnispädagogische Zusatzausbildung angeboten.
Beim Analysieren der Gesellschaft stelle Kurt Hahn fest, dass sie unter so genannten „Zivilisationskrankheiten“ leidet. Laut seinen Beobachtungen gab bzw. gibt es einen Mangel an zwischenmenschlichen Beziehungen, ein zu wenig an physischer Ertüchtigung, einen Mangel an Initiative und den Hang sich gehen zu lassen. Dem entgegen setzte Hahn körperliches Training (Wandern, Laufen, Spielen, Turnen), Kunstübungen (Zeichnen, Modellieren) und praktische Arbeiten (im Garten, auf dem Feld, in der Werkstatt, auf dem Bauplatz). Die Konzepte wurden im Laufe der Jahre weiterentwickelt. Heute wird von einem ganzheitlichen Bildungskonzept gesprochen. Erlebnispädagogik ist „ein Lernen durch Kopf, Herz und Hand“
Erlebnispädagogik ist kein geschützter Begriff und vielleicht ist sie gerade dadurch mehr als nur eine Idee oder Therapie. Erlebnispädagogik „ist ein Menschenbild und eine Herausforderung. Sie kann überall stattfinden und ist nicht untrennbar mit Segelschiffen, Wüsten, Urwäldern und Bergen verbunden. Sie ist eine Herausforderung für jeden Teilnehmer. Es gibt diverse erlebnispädagogische Strömungen und unterschiedliche Konzepte. Doch trotz dieser Verschiedenheit zeigen sich in allen Konzepten Gemeinsamkeiten. Überwiegend spielen das Selbsterfahrungslernen (sich selbst erleben lernen), ganzheitliches Lernen, Lernen in der Gruppe und an realen Situationen eine entscheidende Rolle, wobei viel Wert auf die individuelle Grenzerfahrung sowie deren Reflexion gelegt wird.
Hahn verstand seine Pädagogik als weltoffen und partizipativ. Er wollte, das in der Schule vermittelte wirklichkeitsverzerrte, theoretische Wissen in Verbindung bringen mit den persönlichen Neigungen des Einzelnen und dem praktischen Nutzen. Er brachte sich damit in Gegenposition zu der vorherrschenden Methode in Landerziehungsheimen, die ihre Zöglinge im Allgemeinen von der „kranken Zivilisation“ fern halten wollten. Seine Idealvorstellung bestand in einem Lernen, dass durch konkretes Handeln und praktischen Lebensbezug gekennzeichnet, die Herausbildung eines „tatkräftigen, humanitär gesinnten Menschen“ fördert, der Verantwortung übernehmen kann und soll. „«Giftlose Leidenschaften» wie Forschungsdrang, Tatendrang, die «Seligkeit des musikalischen Schaffens», die «Sehnsucht nach Bewährung im Ernstfall» sollen bei den Jugendlichen gefördert werden, um so die Gefahren schädlicher Einflüsse einzudämmen.“ Sein Modell der Erlebnistherapie begründete er, auf den von ihm festgestellten „Verfallserscheinungen“ der Gesellschaft. Diese beinhalteten den Mangel an menschlicher Anteilnahme, den Mangel an Sorgsamkeit, den Mangel an Initiative und Spontaneität und dem Verfall der körperlichen Tauglichkeit. Seine Theorien sind kurz und prägnant, bilden aber das Fundament seiner praktischen Impulse und der Vielzahl von ihm initiierten Gründungen. Er hat sich mit der Gesellschaft und ihren „Leiden“ befasst um eine Lösung für deren „Heilung“ zu finden. Auch wenn die moderne Erlebnispädagogik als Handlungskonzept aufzufassen ist, entstand sie aus den Theorien von Kurt Hahn, die auch in der heutigen Gesellschaft im Allgemeinen ihre Gültigkeit nicht verloren haben.
Wir alle kennen den Ausdruck „Learning by doing“ oder aber auch den von Kurt Hahn geprägten Satz „Lernen durch Kopf, Herz und Hand“. Doch was heißt das genau und wie wird es umgesetzt? – Lernen durch den Kopf beinhaltet alle kognitiven Prozesse, wie z.B. den Wissenserwerb, das Erkennen von Zusammenhängen oder aber auch die Informationsverarbeitung. So eignet man sich z.B. vor und während der Erlebnispädagogik Bergsteigen Wissen über Klettertechniken, das Wetter, Geologie, erste Hilfe usw. an. „Lernen mit Herz meint die senso-motorische Dimension. Die innere und äußere Natur sinnlich begreifen, erfahren, ertasten, erfühlen, d.h. die Oberfläche eines Baumes blind ertasten, ein Schlammbad nehmen, die Strukturen einer verwitterten Wurzel nachzeichnen.“. Wenn wir darüber hinaus wieder Gefühle, wie z.B. Freude, aber auch Angst und Bedrohung zulassen, dann begegnen wir der affektiven Dimension. Dazu gehört die kreative Dimension, d.h. die Förderung der Phantasie, um in bestimmten Situationen kreativ handeln zu können - sowohl gegenüber der Natur als auch gegenüber unseren Mitmenschen. Die wichtigsten Ziele der Erlebnispädagogik waren und sind die „Charakterbildung und Ausformung der Persönlichkeit“.
„Lernen ist die relative überdauernde Veränderung von Verhalten oder Verhaltensmöglichkeiten aufgrund von Erfahrungen, die nicht auf Krankheit oder Entwicklung zurückzuführen sind.“. Wenn man sich mit dem Begriff ‚Lernen‘ befasst merkt man allerdings schnell, dass keine allgemein gültige Definition existiert. Schott wiederum „begreift Lernen als Zugang zu Wissen und Erkenntnis bzw. als Erkenntnisprozeß, bei dem es nicht allein darauf ankommt, Wissen quasi als Informationsabbildungen im Gedächtnis kumulativ zu speichern, sondern bei dem das Erkennen selbst mit all seinen Gütekriterien im Blickpunkt steht.“. Ein gemeinsamer Bezugspunkt lässt sich bei diesen Definitionsversuchen finden – nämlich den des Erlebens. Denn entweder lernen wir etwas aufgrund von Ereignissen oder Vorgängen, die erlebt wurden oder wir lernen etwas wobei das Lernen selbst der Grund für ein verändertes Erleben beim Individuum ist. Verschiedene Erlebensformen bedingen auch verschiedene Lernformen und umgekehrt. Erleben ist hier stets das Bindeglied: Zum Einen ermöglicht es Wissen und Erkenntnis und zum Anderen kann dieses Wissen in Taten / Handlungen umgesetzt werden. Darüber hinaus können Gefühle, Triebe, Begierden, Ängste, Empfindungen usw. mit Hilfe des Erlebnisses frei gesetzt und dadurch gespürt werden, was dann im Endeffekt unser Verhalten und Handeln beeinflusst. Laut Schott kann und soll Lernen „hier nicht nur als ein Ineinandergreifen von Verstand und Sinnlichkeit verstanden werden, sondern als wechselseitige Einflußnahme von Sinnlichkeit, Verstand, Gefühl und Wollen.“. Das Erleben dient dem Lernen sozusagen als Werkzeug, als Instrument. Schott geht noch einen Schritt weiter: „Das Erleben ist womöglich die conditio sine qua non für das Lernen.“. Doch wie sieht das beim Erlebnis aus? Grundsätzlich bedarf es keines Erlebnisses, damit Lernen stattfinden kann. Andererseits verknüpft das Erlebnis Empfindungen, Gefühle, das Denken und Wollen so intensiv miteinander, dass Lernen stattfinden kann. Trotzdem ist ein Lernerfolg nicht garantiert, da ein Erlebnis nicht auf Kontinuität und Permanenz ausgelegt ist, sondern durch Seltenheitscharakter besticht. Doch gerade das konsequente Üben und Wiederholen, durch das das Erleben geprägt ist, lässt dem Lernen Früchte tragen. Das Erlebnis hingegen ist dazu da, aus dieser Regelmäßigkeit einmal auszubrechen und neue Impulse in das Lernen einzubringen.
In seinen Werken „Das Erlebnis und die Dichtung“ und „Ideen über beschreibende und zergliederte Psychologie“ prägte Wilhelm Dilthey die geistesgeschichtlichen Wurzeln der Erlebnispädagogik.
In der Erlebnispädagogik geht es nicht um theoretische, auf reine Wissensvermittlung ausgerichtete Lernsituationen, sondern um eine praktische Erziehung zur Vermittlung bestimmter Charaktereigenschaften. Seit den 70er und 80er Jahren, wo eine kritische Bestandsaufnahme der bisherigen Bildungsleitlinien in Deutschland stattfand, erfährt die Erlebnispädagogik in pädagogischen Fachkreisen und in Teilen der Gesellschaft eine neue Wertschätzung. Durch erlebnispädagogische Maßnahmen sollten vor allem Jugendliche in die Lage versetzt werden, problemlösende Verhaltens- und Verständigungsformen kennen zu lernen und weiterzuentwickeln.
In der Herausbildung seiner pädagogischen Theorie wurde Kurt Hahn entscheidend von Platon, Johann Wolfgang von Goethe, Georg Kerschensteiner, Cecil Reddie, Hermann Lietz, den englischen Public Schools, Paul Geheeb und William James beeinflusst. Hahns pädagogische Anthropologie, die er vorwiegend in der Auseinandersetzung mit der in Platons „Politeia“ dargestellten pädagogischen Theorie entwickelte, zielte auf die Erziehung von Menschen hin, die aus Achtung vor dem Sittengesetz handelten. Hahn war der Überzeugung, dass die in pädagogischen Zirkeln seiner Zeit vertretene Hypothese von der „Deformität der Pubertätsjahre“ unzutreffend war. Stattdessen ging er von der Annahme aus, dass die „Kinderkraft“ in der Pubertät und in der Zeit danach durch die richtige Formung des menschlichen Charakters konserviert werden konnte.
Mit seiner Erziehungstheorie wandte er sich gegen die von ihm registrierten „Verfallserscheinungen“ in der Gesellschaft seiner Zeit. Besonders Kinder und Jugendliche waren nach Ansicht Hahns von einem Verfall der menschlichen Anteilnahme, der Sorgsamkeit, der persönlichen Initiative und der körperlichen Tauglichkeit bedroht. Mit Hilfe seiner Erlebnistherapie wollte Hahn diesen Verfallserscheinungen entgegentreten und den Jugendlichen „Quellen seelischer Gesundung“ ermöglichen. Die Erlebnistherapie Hahns besteht aus dem körperlichen Training (leichtathletische Pause), der Expedition, dem Projekt und dem Rettungsdienst, wobei ihre charakterbildende Wirkung sich erst im Zusammenspiel der vier Elemente einstellt
Die geistesgeschichtlichen Wurzeln der Erlebnispädagogik prägte laut Fischer der deutsche Geschichts- und Kulturphilosoph Wilhelm Dilthey (1833- 1911).[1]
Dilthey gilt als der Begründer der Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften und als einer der führenden Vertreter der hermeneutischen Wissenschaften („historische Schule“). In seinem Werk „Ideen über beschreibende und zergliederte Psychologie“[2] aus dem Jahre 1894 entwickelt er den Begriff des Erlebens zur erkenntnistheoretischen Verflechtung. In der Schrift „Das Erlebnis und die Dichtung“[3] aus dem Jahre 1906 stellt Dilthey den inneren Zusammenhang zwischen den menschlichen Erlebnisinhalten und ihrer äußeren Existenzformen, der künstlerischen Ausdrucksform des gefühlsmäßig Erlebten, her.
Wilhelm Dilthey gehört zu den bedeutendsten Philosophen des 19. Jahrhunderts. Er war, im Gegensatz zu Schopenhauer oder Nietzsche, akademisch erfolgreich und seine Werke haben bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren. Dilthey`s größte Bedeutung liegt in seinem Bemühen, die von ihm genannten Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften abzusichern, in dem er ihnen ein historisches und systematisches Fundament schuf. Unter dem Begriff der Geisteswissenschaften verstand Dilthey nicht nur die literarischen und historischen Wissenschaften eingefaßt, sondern die ,,Wissenschaften des handelnden Menschen", also die heutigen Sozialwissenschaften ebenso. Anders als in den Naturwissenschaften, in denen vom Menschen unabhängige Ereignisse erklärt und systematisiert werden, muß der Geisteswissenschaftler seinen Forschungsbereich, dessen Teil er selbst ist, also die Zusammenhänge der gesellschaftlichen Realität nachvollziehen. Die Gegenstände der Geisteswissenschaft umfaßt Dilthey in dem geistigen Akt des ,,Verstehens", daß ein Erlebnis voraussetztNach der Biographie von Wilhelm Dilthey stelle ich seine wichtigsten Thesen und Aussagen des im Seminar besprochenen Auszuges aus der ,,Einleitung in die Geisteswissenschaften" (1883) dar.
Wilhelm Dilthey wurde am 19. November 1833 in Biebrich bei Wiesbaden geboren. Er war Sohn eines Pfarrers und begann auf dessen Wunsch im Jahr 1852 ein Theologiestudium in Heidelberg. Ab dem Jahr 1853 studierte er in Berlin und legte dort 1856 das erste theologische Staatsexamen ab. In Berlin lagen Dilthey`s Studienschwerpunkte allerdings in der Philologie, Philosophie und in dem Studium der Geschichte. Dilthey schloß die staatliche Schulamtsprüfung ab und war kurze Zeit als Gymnasiallehrer tätig bevor er sich entschloß, die akademische Laufbahn einzuschlagen. 1864 fand Dilthey`s Promotion und Habilitation in Berlin statt. Es folgten mehrere Professuren u.a. in Basel (1867/68), Kiel (1868 - 1871), Breslau (1871 - 1882) und Berlin (1883 - 1908). Wilhelm Dilthey war der Begründer der Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften.Mit seiner ,,Einleitung in die Geisteswissenschaft" erschienen 1883, beginnt seine systematische Grundlegung derselben und damit der Versuch, ihre methodische Selbständigkeit zu sichern.
In dem ersten Kapitel stellt Dilthey den Sinn und Zweck seiner Arbeit dar. Es existierten für ihn bis dato nur naturwissenschaftliche Grundlagenwerke, die in die Methodik derselben einführten. Sie alle waren von Naturwissenschaftlern verfaßt. Demgegenüber wollte Dilthey für die Bereiche Geschichte, Politik, Theologie und Literatur ein ebensolches Grundlagenwerk schaffen, da seiner Meinung nach die Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert zu Unrecht ein Schattendasein neben den Naturwissenschaften führten. Zu der Unterstützung seines Anliegens, die Geisteswissenschaften in ihrer Berechtigung zu stärken, verglich Dilthey die Gesellschaft mit einem Maschinenbetrieb. Jeder geistig arbeitende Mensch sei ein Rad im Getriebe, aber es bedürfe einer übergeordneten Grundlegung in der Methodik. Dilthey wollte den Bezug zwischen Sätzen und Regeln der geistig Schaffenden und der realen menschlichen Gesellschaft herstellen. Es sei für die Zivilisation zu einer existenziellen Bedingung geworden, die Kräfte, welche in einer Gesellschaft herrschen, zu kennen und analysieren zu können. Im zweiten Kapitel definiert Dilthey zuerst die Begriffe ,,Wissenschaft" und ,,Geisteswissenschaften". Dilthey faßt die geschichtlich-gesellschaftlichen Wissenschaften unter dem Begriff der ,,Geisteswissenschaften" zusammen. Wissenschaft sei die Bündelung von Sätzen und Regeln die allgemeingültig, konstant und zu einem abgeschlossenen Ganzen zusammengefaßt sind. Im 19. Jahrhundert spielten die Naturwissenschaften innerhalb der akademischen Welt eine dominierende Rolle. Dilthey hingegen behauptete nicht nur eine Gleichberechtigung, sondern sogar eine Vormachtstellung der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften.
Die Vorgänge innerhalb der menschlichen Gesellschaft bezeichnete Dilthey als ,,geistige Tatsachen" Diese bilden die humane Realität, welche geistig durchdrungen und verstanden werden soll. Geistige Tatsachen, also die Wissenschaft insgesamt, teilt Dilthey in Geistes- und Naturwissenschaften, wobei der Begriff ,,Geisteswissenschaften" für ihn nicht das Optimum der Bezeichnung derselben darstellt.
Der Mensch hat, so Dilthey, die Fähigkeit, seine Handlungen und Gedanken seinem Willen zu unterwerfen. Es existiere im Menschen eine selbständige innere Welt. Für ihn ist nur real und existent, was ihm bewußt ist. Dilthey behauptet, daß es für den Menschen keine Tatsachen gibt, die ihm nicht bewußt sind. Tatsachen, die sich innerhalb der Natur abspielen sind uns bewußte Tatsachen, da es für sie Regeln und Sätze gibt, die eben allgemeingültig und konstant seien. Das Bewußtsein ist laut Dilthey eine geistige Angelegenheit und naturwissenschaftliche Erklärungen sind übergeordnet geisteswissenschaftliche Erklärungen, da sie uns bewußt sind.
Dilthey behauptet sogar, daß die Geisteswissenschaft die Naturwissenschaften nicht benötige, da die Gegenstände der Reflexion ein ,,eigenes Reich von Erfahrungen" sei.6Für Dilthey waren das ,,Erklären" der Naturwissenschaften und das ,,Verstehen" der Geisteswissenschaften beides dem Menschen bewußte Vorgänge. Die Voraussetzung der Wissenschaft insgesamt ist das Bewußtsein, also quasi eine ,,Bewußtseinswissenschaft" als obere Ebene. Daraus resultierte für Dilthey, daß Aspekte der Geisteswissenschaften in beiden Wissenschaftsteilen existieren muß. Die Objekte der Naturwissenschaften seien die Materie, Objekte und die Natur an sich.Die Objekte der Geisteswissenschaften aber seien der Geist und das Bewußtsein an sich. Die Naturwissenschaften sind für Dilthey nicht reflektiv, da sie Gesetze voraussetzen die allgemeingültig sind. Dagegen seien die Geisteswissenschaften reflektiv, da sie sich sowohl mit dem Objekt ,,Mensch", als auch mit dem ihm innewohnenden Vorgängen beschäftigen. Der ,,freie Wille" des Menschen macht für Dilthey den Unterschied und somit die ,,Wissenschaft vom Sein" höherwertig als die Naturwissenschaften, denn die Objekte derselben haben diesen ,,freien Willen" nicht.
Die Geisteswissenschaften sind laut Dilthey in der Praxis des Lebens erwachsen, jedoch zu seiner Zeit noch nicht als Ganzes konstituiert.
Dilthey stellt am fest, dass alle pädagogischen Systeme seiner Zeit „von leitenden Prinzipien aus das Ziel der Erziehung, die Werte der Unterrichtsgegenstände für dieselbe, die Bedeutung ihrer Zusammensetzungen in den einzelnen Schulen allgemeingültig (…) zu entscheiden [suchen]“. Dies bedeutet, dass für alle Bildungseinrichtungen in allen Ländern, für alle Völker die Gleichen Prinzipien für Bildung und Erziehung gelten sollen. Dilthey macht darauf aufmerksam, dass hierbei die Verschiedenheiten der Nationen, ihre unterschiedlichen Bedürfnisse und die Möglichkeiten sowie Ansprüche der Staaten völlig außer Acht gelassen werden. Er bezeichnet dies als „radikale Neigung“, welche durch die genannten Ansprüche gefördert wird und einen Zwang bedeutet, der den bestehenden Schulformen „aufgedrückt“ werden würde. Für Dilthey ist dies alles ein „Irrtum in der Pädagogischen Theorie“und eine Gefahr. Er parallelisiert dies mit den Geschehnissen im politischen Bereich im 18. Jahrhundert. Es ist zu vermuten, dass Dilthey zum Beispiel auf die Französische Revolution anspielt, denn er ist der Meinung, dass Theorien „mit falschem Anspruch auf Allgemeingültigkeit (…) revolutionär und zersetzend auf die geschichtlichen Ordnungen der Gesellschaft [wirken]“[. Auch dort wurden sozusagen die historische Ordnung von der Revolution und ihren Theorien „zersetzt“. Für Dilthey bedeutet dieser Zusammenhang für die Kritik an der vorherrschenden Pädagogik „eine erhebliche praktische Bedeutung“.
Die im ersten Punkt beschriebene Pädagogik entstand im 17. und 18. Jahrhundert. In der Antike kannte man, laut Dilthey, keine gesonderte Pädagogik mit allgemeingültigem Anspruch. Das Ziel der Erziehung in der Antike, sowohl bei den Griechen als auch den Römern, bestand einzig und allein darin den „wirksamen politischen Mann[…], de[n] bonus orator“ heranzuziehen. Natürlich war dies den jeweiligen Bedürfnissen der antiken Mächte angepasst. Es gab Versuche, zum Beispiel von Platon oder Aristoteles, das Unterrichtssystem, bzw. die Ziele der Erziehung zu reformieren. Diese Anstrengungen blieben jedoch Versuche, wie Dilthey es bezeichnet „Prophezeiung[en] auf die Zukunft“. Der Erfolg fiel den Rhetoren zu. Sie waren es, die die „vulgären Interessen“ des Volkes vertraten. Das Ideal der Rhetoren, der „orator“ gelangte über die Schriften zum Beispiel Ciceros in die moderne Zeit und wurde übernommen.
Im Mittelalter gingen alle Prinzipien und Ideale von der Kirche aus. Sie beherrschte jeden Bereich des Lebens und war getragen vom „theologisch-metaphysischen Systems“ Dies beinhaltet natürlich auch die Bereiche Bildung und Erziehung. Allein durch den Einfluss der Kirche gab es in Europa ein einheitliches Schulsystem, welches auch durch seine Macht seines gleichen sucht. Dies hat einen einfachen Grund. Der Geistliche war auch gleichzeitig Lehrer, „die Schule angebaut an Dom, Pfarrkirche oder Klosterkirche, das Erziehungsleben in den stillen Klöstern, die Schätze tieferen Gemüts traulich in sich hegend“
Aus diesem Zusammenhang lässt sich erkennen, welche Macht ein Lehrer in seinen Händen hielt und hinter sich wusste. Dies erklärt auch, warum es für die Kirche keine Schwierigkeit darstellte in jeden Bereich des Lebens einzugreifen. Der Geistlichkeit war schließlich auch die Macht über alles Wissen anvertraut, eine nicht zu unterschätzende Macht. Auch in der Politik war die Kirche allgegenwärtig.
Es ist nun offensichtlich, dass die Kirche durch ihre Allgegenwärtigkeit, vor allem in der Erziehung und Schule, einen großen Einfluss auf die Masse des Volkes in ganz Europa hatte. Sie hatte Zugang zu allem Wissen und entschied was davon wem zugänglich war. Nun muss man sich fragen, warum dies nicht so blieb. Schon ab dem 15. Jahrhundert ließ die Macht der Kleriker nach, aber man kann davon ausgehen, dass dies nicht freiwillig geschah.
Die absolute Macht der Kirche währte nicht ewig. Die Menschen befreiten sich von den ihnen auferlegten Prinzipien – denen der Kleriker und auch der Antike. Die Einheit dieser beiden, die bis dato bestand, löste sich auf, was für Dilthey unvermeidlich zu sein schien.[„Die beiden großen siegreichen Bewegungen in [dieser Zeit] sind Renaissance und Reformation“. Das theologisch-metaphysische System des Mittelalters fand hier nun keinen Platz mehr und wurde durch Neues, vor allem in der elementaren Bildung, ersetzt. Jedoch kann man nicht davon ausgehen, dass alles komplett ersetzt wurde. „[D]ie Allgemeingültigkeit des Altertums ward von den Humanisten, die des Christentums von den Reformatoren wie von ihren theologischen Gegnern festgehalten“ Auf diese Weise entstand ein völlig neues Ideal der Bildung, in dem Altes mit Neuem verschmolz. Die „gelehrten Schulen des 16. und 17. Jahrhunderts, neben den Universitäten die Grundkörper des neueren Unterrichtssystems“ verkörperten dieses Ideal.
In der Zeit als Dilthey seine philosophischen Aussagen formulierte, waren die Naturwissenschaften sehr bestimmend und es ist sehr positiv, daß die Geisteswissenschaften durch ihn in ihrer Berechtigung gestärkt wurden. Allerdings läßt Dilthey auch einige Fragen offen wie z.B. die Gewichtung zwischen den Bereichen der Wissenschaften verläuft. Eine Aussage wie: ,,Für den Menschen existiert nur das, was ihm bewußt ist", kann ich so nicht nachvollziehen. Um uns herum passiert so viel und wir nehmen es wahr ohne es zu verstehen oder weiter darüber nachzudenken. Auch das eigene Bewußtsein als Teil der Reflexion zu nehmen und quasi den eigenen Körper zu verlassen um über ihn nachzudenken halte ich für unrealistisch. Insgesamt kann ich Dilthey`s Argumentation nur sehr schwer nachvollziehen, was sicherlich nicht zuletzt an seiner unnötig komplizierten Satzbildung liegt, und ich stimme mit ihm nicht überein. Das mag an der anderen Zeit liegen und in dem geänderten Selbstverständnis der Wissenschaften, da auch im naturwissenschaftlichen Bereich die Reflexion über das eigene Tun existiert.
Dilthey differenziert dabei zwischen den „erklärenden Naturwissenschaften“ und dem „verstehenden Geist“. Er lehnt die positivistisch-experimentelle Denkschule seiner Zeit ab und negiert die verschiedenen Versuche naturwissenschaftlicher Erkenntnismodelle. Vielmehr macht Dilthey den Versuch, eine „Erfahrungswissenschaft der geistigen Erscheinungen“ aufzubauen und methodisch zu sichern. In seinem Denken ist Erkenntnis sehr stark mit der individuellen Bedeutsamkeit dieses neu erworbenen Wissens verbunden. Experimentelle Versuche, die alle Erscheinungen in „Ursache - Wirkung - Beziehungen“ sahen, finden nicht seine Zustimmung:[4] „Erleben ist eine unterschieden charakterisierende Art, in welcher Realität für mich da ist. Das Erlebnis tritt mir nämlich nicht gegenüber als ein Wahrgenommenes oder Vorgestelltes; es ist uns nicht gegeben, sondern die Realität. Erlebnis ist für und dadurch da, da wir ihrer innewerden, daß ich sie als zu mir in irgendeiner Sinn zugehörig unmittelbar habe.“ Das gefühlsmäßige Erleben wurde dadurch „eine Realität, unmittelbar als solche auftretend, ohne Abzug, innegeworden, nicht gegeben und nicht gedacht.“[5]
In ihrer im Jahre 1930 vorgelegten Dissertation „Das Erlebnis in der Pädagogik“ entwickelt Waltraut Neubert den Begriff der Erlebnispädagogik in der Nachbildung der Kulturphilosophie Diltheys.[6] Die Erlebnispädagogik realisiert sich in ihrem Verständnis von Erziehung aus dem inneren Zusammenhang von Arbeit in der Schule und persönlichem Erlebnis.[7] Ästhetische Gefühle des Menschen entstehen aus der Wahrnehmung der gegenständlichen Umwelt und kommen so der individuellen Person bewusst zur Geltung:[8] „Von hier aus werden Kraft und Grenzen des Erlebnisses noch einmal ganz deutlich: dadurch, daß es sich innerhalb des seelischen Zusammenhangs vornehmlich an das wertende Gefühl wendet, bekommt es eine eigentümliche Mittelstellung zwischen der Erkenntnis, die den Intellekt bildet, und der Arbeit, deren Aufgabe die Erziehung des Willens zu objektiver Leistung ist.“ Neubert thematisiert die Verbindung zwischen Erlebnis und Erziehung durch Methoden der Arbeitsschulbewegung.[9] In der Arbeitserziehung bemerkt sie, dass das Gefühl Ausdruck eines bewusst gewordenen Erlebens der Beziehung von Heranwachsenden zu den schulischen Anforderungen ist. In Anlehnung an Dilthey vertritt Neubert die These, dass die Verbindung des Gefühls mit dem Gegenstand, der dieses hervorrief, besonders bei ästhetischen Gefühlen deutlich auftritt. Dilthey deutet das ästhetische Gefühl als Ausgangspunkt, Rahmen und Ergebnis des Sich - Einfühlens in den Gegenstand. Das Einfühlen des Gegenstandes bedeutet nicht nur, dass das Gefühl durch den Gegenstand erzeugt wird, sondern auch, dass eine gefühlsmäßige individuelle Eindringlichkeit in den Gegenstand eingeht und ihn verändert. Bezogen auf den schulischen Erziehungsprozess beweisen die von Dilthey gewonnenen Erkenntnisse die Bedeutsamkeit des Sammelns von Erfahrungen im Hinblick auf den Erkenntnisprozess der Kinder und Jugendlichen. In ihrer altersspezifischen Eigenart sollten Kinder und Jugendliche das Wesen der Erscheinungen in ihrer Außenwelt erkennen. Dadurch werden Kunstobjekte, Naturgegenstände und die sozialen Gegebenheiten im Umfeld der Kinder und Jugendlichen zu Erkenntnisgegenständen, die wegen ihrer ästhetischen Eigenschaften verinnerlicht werden sollten. Neubert überträgt aus dieser Sicht wesentliche Thesen der Psychologie Diltheys auf den gesamten Erziehungsprozess. Erleben verwirklicht sich als das „Innewerden und Inbeziehungstreten von Gegenständen, Situationen und Personen“, die sich für den einzelnen Menschen als bedeutsam erwiesen haben.[10]
Während die Philosophen, bis einschließlich Kant, davon ausgegangen sind, dass sich die Wirklichkeit durch logisch-systematische Begründungen erkennen lässt, stellt Dilthey die Frage, ob diese Mittel, die ja der Philosophie eigen sind, überhaupt eine Wirklichkeitserkenntnis ermöglichen können, d.h. ob die Wirklichkeit auf einen logisch-systematischen Zusammenhang reduzierbar ist. Laut Dilthey ist dies nicht möglich, denn in dem Zusammenhang des menschlichen Lebens „sind Wahrnehmung, Erinnerung, Denkprozeß, Trieb, Gefühl, Begehren, Willenshandlung auf die mannigfaltigste Weise miteinander verwebt“. Hier wird schon Diltheys lebensphilosophischer Ansatz deutlich. Kants rein formale Philosophie lässt sich hier z.B. unter den Denkprozess einordnen, während die anderen Aspekte nur unzureichende oder überhaupt keine Berücksichtigung finden. Doch natürlich stellt sich die Frage, wie diese anderen Aspekte, die den „ganzen Menschen“ ausmachen, philosophisch untersucht und begründet werden können. Denn stellt man sie wieder unter einen logischen und systematischen Zusammenhangs mithilfe von Begründungen und Grundsätzen, gelangt man in einen Zirkel. Der andere, nicht logisch-formal begründete Teil der Wirklichkeit, müsste wieder mit eben denselben Mitteln untersucht werden. Es wäre also falsch, solche Lebensbegriffe wie Gefühl und Trieb in einen logischen Zusammenhang mithilfe der Denkprozesse einzuordnen: „Nirgends herrscht ja in der lebendigen Wirklichkeit des Seelenlebens jener strenge Schematismus, der in den Systemen der deutschen Philosophen seit dem unermeßlichen Schematiker Kant zu Hause ist. [...] Aber so nachdrücklich als möglich lehne ich nochmals auf dem Gebiet des Seelenlebens alles Rubrizieren und Katalogisieren ab.“
Um also hier einer Interpretation Diltheys gerecht zu werden, will ich diese Begriffe des Lebens nicht in einen engen logischen Zusammenhang bringen, sondern vielmehr die Stellen aufsuchen, die einen gewissen Sachverhalt näher erläutern. Dadurch wird das Verständnis sicherlich nicht erleichtert, denn viele Begriffe scheinen so zunächst unzusammenhängend nebeneinander zu stehen. Auf der anderen Seite ist dieses Verfahren jedoch auch unumgänglich, da, wie aus den oben genannten Gründen ersichtlich wurde, nicht ein neues philosophisches System entstehen soll.
Bei der „Struktur des Seelenlebens“ handelt es sich also nun um so einen Begriff, der nicht zu genau definiert werden darf, sondern wohl eher aus dem Leben selbst verstanden werden muss. Die Seelenstruktur lässt sich nun daraufhin untersuchen, auf welche Art und Weise sie auf das Leben wirkt ohne sie direkt zu kennen. Die Psychologie ist die Wissenschaft, die diese Struktur untersucht. Wie bereits oben erwähnt, besteht das menschliche Leben aus den vielfältigsten Zusammenhängen. Jedes zunächst subjektive Erlebnis ist durch diese unterschiedlichen Zusammenhänge (Denken, Gefühl, Trieb, usw.) geprägt. Daraus lässt sich nun auf dreierlei Weise auf die „Struktur des Seelenlebens schließen: 1. Die Psychologie untersucht die Seelenstruktur, „indem sie aus den zusammengesetzten Erlebnissen einzelne Prozesse aussondert und Regelmäßigkeiten an derselben induktiv erschließt“. Da alle „menschlichen Erzeugnisse [...] aus dem Seelenleben und dessen Beziehung zur äußeren Welt“ entspringen, lassen sich in dieser Beziehung Regelmäßigkeiten auffinden, die von der Psychologie untersucht werden können. 2. Das Seelenleben strebt auch danach, die einzelnen Teile zu einem Ganzen zusammenzufügen. Dies nennt Dilthey die „psychische Struktur“[7]. Diese hat einen teleologischen Charakter, d.h. sie sucht nach Sinn und Zweck im Leben. Dies geschieht dadurch, dass sie aus den unterschiedlichen Eindrücken das ihr Wichtige heraushebt. Demzufolge wird ersichtlich, warum die Wirklichkeit für uns nicht aus einer Vielzahl von zufälligen Ereignissen besteht, sondern diese Eindrücke durch Trieb und Gefühl - diese bilden den Mittelpunkt der seelischen Struktur - erst eine Bedeutung für uns erlangen und so zu einem Erlebnis werden. Zweitens wird auf Grund des teleologischen Charakter auch deutlich, dass das Seelenleben nach einer Weltanschauung strebt, in der alles seinen Sinn und Zweck besitzt. Indem wir nun durch die fortlaufenden verschiedenen Erlebnisse das uns Wertvolle aussondern, entsteht die Lebenserfahrung: „Den Zusammenhang von Vorgängen, in dem wir die Lebenswerte und die Werte der Dinge erproben, nenne ich Lebenserfahrung.“ 3. Aus dem „Bewußtsein von den Werten des Lebens“ entsteht schließlich auch noch ein Zusammenhang des praktischen Handelns.
Welche Rolle spielte die Philosophie im Laufe ihrer Geschichte, und welche Rolle kommt ihr heute zu? – Eine Antwort auf diese Frage kann nach Dilthey nur durch eine geschichtliche Betrachtung in Kombination mit einer Bestandsaufnahme des aktuellen Weltzeitalters erfolgen. Dilthey sah das 19. und das kommende 20. Jahrhundert geprägt durch einen sich aus den positiven Wissenschaften erhebenden „Wirklichkeitssinn“, das Bewusstsein von der Veränderbarkeit gesellschaftlicher und sozialer Strukturen und einen zur Allgemeingültigkeit der Wissenschaften in krassem Widerspruch stehenden weltanschaulichen und ethischen Relativismus.
In diesem Zusammenhang bestimmte Dilthey programmatisch drei Aufgaben für eine neue Philosophie:
Dilthey entwickelte also kein neues philosophisches System, sondern eine „Philosophie der Philosophie“. Aufgabe dieser ist es, die Weltanschauungen zu verstehen, welche überhaupt erst zu den metaphysischen Systemen geführt haben. Im Sinne von Diltheys Verwendung des Begriffs Psychologie könnte man dieses Programm also auch als „Psychologie der Metaphysik“ verstehen. Es kann dann dabei nicht mehr darum gehen, sich mit metaphysischen Argumenten auseinanderzusetzen, sondern die Systeme als Ausdruck einer weltanschaulichen Grundeinstellung zu begreifen. In dem Sinne kann man sagen, dass es sich mit metaphysischen Konzepten verhält wie mit dem künstlerischen Stil: Es lässt sich nicht sagen, ob dieser „wahr“ oder „falsch“ ist.
Von diesem Standpunkt der „Metaphilosophie“ aus wird im Rückblick klar, dass die Aufgabe der Philosophie nicht mehr über einen ihr zukommenden Inhalt definiert werden kann, beispielsweise als Erkenntnistheorie oder als Ethik. Auch anhand ihrer Methode kann die Philosophie nicht definiert werden, da diese sich nach der Sache zu richten hatte. Drei sich über die Geschichte der Philosophie durchhaltende Eigenschaften lassen sich dennoch bestimmen:
Anhand dieser von Inhalt und Methode unabhängigen Definition lässt sich nun die gesellschaftliche Funktion der von der Philosophie entwickelten metaphysischen Systeme bestimmen. So zeigt sich zunächst stets, anhand der Untersuchung der metaphysischen Konzepte, die dahinter liegende historische Weltanschauung. Die Philosophie versuchte also immer die Gesamtheit des Wissens in ein solches System einzuordnen und, dieser Erkenntnis entsprechend, eine Antwort auf die Frage „Wie soll ich handeln?“ zu liefern. Ein Versuch, der nach Dilthey freilich scheitern muss, denn sobald die Weltanschauung in metaphysische Systeme gepresst wird, verliert sie ihre Rückbindung an den konkreten Lebenszusammenhang und die verselbständigten Abstraktionen führen zu unauflösbaren Antinomien. Indem die Philosophie zugleich Rechenschaft über ihr Vorgehen gibt, versucht sie das von ihr entwickelte System zur Allgemeingültigkeit zu erheben. Die Reflexion ihres eigenen Vorgehens hat jedoch eine innere Gesetzmäßigkeit, welche sich zwar nicht voraussagen lässt, deren Zusammenhang sich aber im historischen Rückblick als notwendig enthüllt; so wird der Wunsch nach Allgemeingültigkeit mit der Zeit zu dem Versuch führen, die eigenen Aussagen zu begründen; dies führt wiederum auf die Frage, wie erkenntnistheoretisch Wissen möglich ist usf.
Die „Philosophie der Philosophie“ untersucht nun diese Gesetzmäßigkeiten. Sie betrachtet die einzelnen philosophischen Systeme und erkennt, dass deren Struktur durch die gesellschaftliche Funktion der Philosophie bestimmt ist.
Im historischen Bewusstsein und dem philosophiegeschichtlichen Überblick über die Vielzahl der philosophischen Entwürfe sah Dilthey den Nährboden für den Skeptizismus. Dieser schließt aus der „Anarchie der Systeme“ und deren Widersprüchlichkeit untereinander, dass jegliche objektive Erkenntnis dem Menschen unmöglich ist. Dilthey versuchte nun nicht, die metaphysischen Systeme im Einzelnen zu bewerten, sondern betonte deren gemeinsamen Ursprung im Lebenszusammenhang des Menschen. Der Mensch ist als sinnlich-leibliches Wesen immer in eine konkrete Welt eingebunden, aus der er seine Lebenserfahrungen schöpft. „Die letzte Wurzel der Weltanschauung ist das Leben.“ Diese Verwurzelung im Leben ist für Diltheys Weltanschauungslehre zentral. Der „Hauptsatz der Weltanschauungslehre“ lautet daher: „Die Weltanschauungen sind nicht Erzeugnisse des Denkens. Sie entstehen nicht aus dem bloßen Willen der Erkenntnis. […] Aus dem Lebensverhalten, der Lebenserfahrung, der Struktur unserer psychischen Totalität gehen sie hervor.“ Nur aus dem Lebensvollzug heraus lassen sich die metaphysischen Entwürfe als Perspektivierungen ein und derselben Sache, nämlich des Lebens verstehen: „Das reine Licht der Wahrheit ist nur in verschieden gebrochenem Strahl für uns zu erblicken.“
Erst wenn diese Erfahrungen in rein abstrakten Prinzipien festgehalten werden sollen und sich so aus ihrem Ursprung, dem Lebenszusammenhang, lösen, entsteht die Metaphysik. Metaphysik ist daher die Annahme einer objektiven, vom menschlichen Lebenszusammenhang unabhängig existierenden Realität. Wenn nun der Skeptizismus aus der Vielzahl der philosophischen Systeme schließt, dass objektive Erkenntnis nicht möglich ist, so bleibt er gerade selbst in den metaphysischen Voraussetzungen befangen, welche er kritisierte. Er übersieht nämlich die konkreten Lebenszusammenhänge, aus denen heraus sich erst die abstrakten Systeme entwickelt haben.
Aber die Systeme lassen sich nicht nur durch ihre Rückführung auf den Lebenszusammenhang verstehen; denn haben sie sich erst einmal verselbstständigt, so gibt es innerhalb ihrer eine innere Bewegung des Geistes, die „innere Denkform“, welche sie bestimmt. Mit Hinsicht auf diese erweist sich die innere Notwendigkeit der Denkbewegung. Dilthey wollte hiermit einerseits an Kant anschließen, dessen Leistung er darin sah, gezeigt zu haben, wie sehr das Denken durch Kategorien, Begriffe und Schemata bestimmt ist. Andererseits knüpfte Dilthey an Fichte an, dessen Verdienst er in der Betonung der Bewegung des Geistes verortete. Damit ergab sich für Dilthey der Standpunkt, dass zwar Kategorien und Schemata das Denken bestimmen, diese aber nicht mehr wie bei Kant dem überzeitlichen Subjekt eingeschrieben sind, sondern sich selbst in der Bewegung des Geistes ergeben. Wenn sich also metaphysische Systeme ausbilden, so geschieht dies nicht nach festen Gesetzen, wenngleich die innere Struktur der Systeme gewissen Regeln folgt. Eine „Philosophie der Philosophie“, wie sie Dilthey anstrebte, wird sich daher ihrerseits nicht wieder in dogmatischen Aussagen ergehen, sondern bleibt an das gebunden, was ihr aus der Geschichte zugetragen wird: „Wir kennen das Bildungsgesetz nicht, nach welchem aus dem Leben die Differenzierung der metaphysischen Systeme hervorgeht. Wenn wir uns der Auffassung der Weltanschauungstypen nähern wollen, so müssen wir uns an die Geschichte wenden.“
Neben der Binnenstruktur des Denkens und den ihr gewissermaßen immanenten Regeln machte Dilthey zugleich auf die Grundstimmung aufmerksam, welche jeden Menschen in seinem Bezug zur Welt begleitet. Erst auf dem Grund dieser Gestimmtheit macht der Mensch seine Lebenserfahrungen, welche er nach und nach versucht, in ein sinnvolles Ganzes zu ordnen. Diese Grundstimmung findet sich auch in den philosophischen Systemen wieder. Dilthey sah in ihr sogar dasjenige, das die Systeme wesentlich „am Leben hält“: „[E]in System ist eine Art von lebendigem Wesen, ein Organismus, vom Herzblut eines Philosophen genährt, lebensfähig hierdurch, kämpfend mit anderen.“Daher greifen Klassifikationen wie Idealismus, Materialismus, Monismus, Dualismus für Dilthey stets zu kurz, da sie immer nur ein Moment dieses „lebendigen Organismus“ herausgreifen. Nur kraft dieser Grundstimmung tragen sich die von logischen Widersprüchen durchklüfteten Systeme überhaupt durch die Geschichte weiter.
Entsprechend dieser lebensphilosophischen Ausrichtung sah Dilthey beispielsweise die metaphysischen Entwürfe der Neuzeit als Versuch, eine Welt- und Lebensansicht, wie sie sich bei Goethe und Schiller ausgebildet hatte, in den Bereich des Denkens zu retten und dort zu sichern: „Und nun sind die Systeme von Schelling, Hegel und Schleiermacher nur logisch und metaphysisch begründete Durchführungen dieser von Lessing, Schiller und Goethe ausgebildeten Lebens- und Weltansichten.“
Um also die philosophischen Systementwürfe als Ausdruck einer Weltanschauung und Grundstimmung zu verstehen, versuchte Dilthey verschiedene Klassifikationen der Hauptformen der Philosophie zu bestimmen, diese sind:
Dilthey wusste um die Vorläufigkeit dieser Klassifizierung und betont, dass es ihm mehr um die Methode geht, wie man zu dieser gelangt: Die drei Haupttypen werden allein durch historische Vergleichung ermittelt. Ihr historisches Auftreten ist nicht paradigmatisch vorherzusagen, sondern rückblickend zu ermitteln. Jedoch braucht es auch für einen solchen Vergleich gewisse Maßstäbe. Diese können nicht im Voraus festgelegt werden, sondern ergeben sich mittels Intuition aus der langjährigen Beschäftigung mit den einzelnen Systemen. Nicht eine feste Einteilung war Dilthey also wichtig, sondern das Verstehen als Prozess. (Dilthey fügte später noch einen weiteren Typus hinzu, den der naturalistisch-positivistischen Weltanschauung.)
Jede Weltanschauung formt sich nach Dilthey entsprechend gleicher Prinzipien und so kommt allen Weltanschauungen eine gemeinsame Struktur zu. Ausgangspunkt für jede Weltanschauung ist dabei das Weltbild. Dieses entsteht durch grundlegende und rudimentäre Erkenntnisse des Menschen, der in seinem Bezug zur Welt sich ein Bild von dieser macht. Noch bleiben aber die Sinnzusammenhänge dieser Welt grob und nur lose verknüpft. Erst indem der Mensch anfängt, die erkannten Dinge um ihn herum zu ordnen und ihren Wert anhand ihrer Nützlichkeit für seinen Lebensvollzug zu bestimmen, entstehen die ersten weitläufigen Sinnstrukturen. Diese erheben sich dann durch weitere Abstraktion zu seiner Weltanschauung; in dieser wird festgelegt, welches die obersten Werte und Prinzipien sind, z. B. das Gute, und so wird ein Lebens- und Handlungsideal aufgestellt welches sich darauf richtet. Da sich dieser Prozess über mehrere Generationen ziehen kann, ist die Weltanschauung ein Produkt der Geschichte.
Der Naturalismus hat als Strömung seit dem 17. Jahrhundert dazu geführt, dass ein mechanisch-kausales Naturverständnis auch auf das Innenleben des Menschen übertragen wurde, also seinem Geistes- und Gefühlsvermögen dieselben kausalen Gesetze unterstellt wurden, wie man sie bei der physikalischen Beschreibung der Natur vorfand. Kant hat dieses Problem zu lösen versucht, indem er die physikalische Natur als Naturbeschreibung durch die reine Vernunft auffasste. Diese Unterscheidung setzt eine Trennung von Ding an sich und Erscheinungen voraus. Dabei sind es laut Kant nur die Erscheinungen, die der Verstand in der Anschauung erfassen kann und denen sich Kausalität zusprechen lässt. Ob die Kausalität jedoch auch dem hinter der Erscheinung liegenden Ding an sich zukommt, bleibt ungewiss.
Diese Erklärung hat allerdings nicht dazu geführt, dass die Naturwissenschaft ihre Ergebnisse als Konstruktionsmittel und hypothetische Erkenntnisse wertete. Vielmehr fand die Auffassung, dass die Naturwissenschaften ihren Gegenstand unmittelbar erklären könnten, einen ersten Höhepunkt im Positivismus und Naturalismus, wie ihn Comte und Mill vertraten. Hier ergab sich für Dilthey das offensichtliche Problem, dass, wenn alle Vernunftprozesse kausal determiniert sind, auch die positivistische und naturalistische Auffassung des Menschen selbst determiniert ist. Damit hebt sich jedoch der Anspruch auf Gewissheit unter verschiedenen alternativen Auffassungen selbst auf.
Diltheys Lösung besteht in der Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften, welche zugleich die Autonomie und Freiheit des Vernunftwesens Mensch wiederherstellen soll: Statt in den Naturzusammenhang band Dilthey den Menschen dabei in den Geschichts- und Kulturzusammenhang ein, innerhalb dessen sich seine geistige Spontaneität zeigt und ausbildet. So wie Kant mit seiner Kritik der reinen Vernunft die erkenntnistheoretische Grundlage der Naturwissenschaften zu erklären versuchte, bemühte sich Dilthey in seinem lebenslangen Projekt einer Kritik der historischen Vernunft, die Grundlage für die von ihm so benannten Geisteswissenschaften zu legen. Der Titel einer historischen Vernunft zeigt dabei schon Diltheys Kritik an Kant. So ist bei Dilthey die Vernunft keine überzeitliche und unveränderliche Größe eines individuellen Subjekts, sondern hat ihre Ausprägung im Verlauf der Geschichte erfahren und wird dadurch konstatiert. In sie fließen also auch die geschichtlich gewordenen Handlungen und Praktiken des Kulturwesens Mensch mit ein. Diltheys grundsätzlich geschichtliche Orientierung ging dabei auf J.G. Droysens geschichtsphilosophische Vorstellungen des Historismus zurück. Die Kritik der historischen Vernunft bezieht sich jedoch nicht nur auf Kant, sondern erhebt Anspruch darauf, die gesamte Geschichte der Metaphysik zu betrachten. In Anlehnung an Phänomenologie des Geistes bezeichnete Dilthey sein Programm auch als Phänomenologie der Metaphysik. Anders als bei Hegel führte er den geschichtlichen Prozess nicht zu einem metaphysischen System des absoluten Wissens zusammen, welches schließlich absolute Gewissheit bieten sollte. Vielmehr nimmt seine Betrachtung den umgekehrten Weg, nämlich zu zeigen, wie sich eine Weltanschauung erst durch die vielen kleinen Gewissheiten ausprägt, die in der unmittelbaren Gewissheit des Erlebnisses und des Lebens selbst wurzeln. Dieses dient ihm dann auch als Fundament zur Begründung der Geisteswissenschaften. Ihr Ziel ist ein „Verstehen des Lebens und der Geschichte“.
Nach dieser frühen persönlichen Ablösung vom Naturalismus und Positivismus suchte Dilthey ein neues Fundament, von dem aus das menschliche Leben in seiner ganzen Breite verstanden werden kann. Wesentliche Ansätze hierzu finden sich in seinen Ausarbeitungen zu einem geplanten, aber nie erschienenen zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), der sogenannten Breslauer Ausarbeitung, die bereits 1880 größtenteils ausformuliert vorlag. Dilthey entwickelte hier mit Hinblick auf die deutsche idealistische Tradition seinen stark erweiterten Begriff des Bewusstseins als zentraler Instanz des Erlebens:
„Mein Bewußtsein ist der Ort, welcher diese ganze, scheinbar so unermeßliche Außenwelt einschließt, der Stoff, aus welchem alle Objekte, die sich in ihr stoßen, gewoben sind. So weit sich diese mir erscheinenden Objekte erstrecken, so weit erstreckt sich der Zusammenhang meiner Vorstellungen. Was in ihnen angetroffen wird, die Härte welche zertrümmert, die glühende Hitze, welche schmilzt, alles bis ins Innerste der Objekte ist Tatsache meines Bewußtseins, und das Ding ist sozusagen eine Zusammensetzung von solchen geistigen Tatsachen.“
Allerdings ist das Bewusstsein für Dilthey kein perzeptiver „Kasten“, in dem die Erlebnisse stattfinden. Diese Auffassung des Bewusstseins geht für Dilthey auf eine verfehlte Orientierung an sprachlichen Strukturen zurück: Erst das substantivierte „Bewusstsein“ wird als ein Ding aufgefasst und verlangt dann nach einem Prädikat. Der Begriff des Bewusstseins ist für Dilthey vielmehr aufweisend und nicht beschreibend. In dieser Aufweisung des Bewusstseins als ganzem Tatbestand des Lebens liegt für Dilthey die Überwindung einer Philosophie, die nur vom theoretischen Verstand ihren Ausgang nimmt und daher niemals den Gegensatz von Leib-Seele und Innenwelt-Außenwelt zu überwinden vermag. Beides, Geist und Körper, Innen und Außen, ist immer schon durch das Bewusstsein verbunden, in dem all dies nur gegeben ist. Dabei laufen zwar die Vorgänge der äußeren Welt unabhängig von denen des Bewusstseins ab (als eigenständige physikalische Prozesse), sind aber immer nur da für ein Bewusstsein: „In dieser Beziehung zu einer von mir unabhängigen Außenwelt verläuft mein Leben.“ Dilthey macht also unseren Erfahrungsbefund in seiner ganzen Breite geltend und begreift den Lebensprozess als eine Einheit, bei der Erkennen, Vorstellen, Bewerten, Fühlen, Handeln und Wollen immer schon in Bezug zu einer Außenwelt stehen.
Jean-Jaques Rousseau (1712-1778) und David Henry Thoreau (1817-1862) haben das philosophische und pädagogische Denken bis in die heutige Zeit geprägt. Viele ihrer Ideen sind vergleichbar, beide entdecken die Einfachheit und Einsamkeit und sind den Denker gegen den Zeitgeist. Sowohl Rousseau als auch Thoreau sehen in der Natur die „Erzieherin und Lehrmeisterin“. Sie wollen einen neuen Menschen schaffen und entwickeln dafür eine Utopie der Erziehung
Im Umfeld der französischen Aufklärung entstand das pädagogische und philosophische Werk von J.J. Rousseau, sein Erziehungsroman „Emile oder Über die Erziehung“ war für das spätere Erziehungswesen folgenreich.
In seinen Ausführungen richtet er sich in erster Linie gegen die restriktiven Erziehungsbestimmungen seiner Zeit und postuliert ein Eigenrecht auf die Lebensphase Kindheit. Rousseaus Grundannahme ist, daß der Mensch von Natur aus gut sei und deshalb gute Erziehung von dieser Natur auszugehen hat. Mit seinem Ruf „zurück zur Natur“ fordert er, die Natur als Erziehungsmittel zu nutzen. Einfachheit, natürliche Bewegung in der Natur, unmittelbares Erleben durch die Sinne, Lernen aus eigenen Erfahrungen und der Erwerb von Selbständigkeit sind die Grundsäulen seiner Erziehungsphilosophie.
Sein Ziel ist die Erziehung ohne Erzieher, eine Minimalerziehung, die durch die negativen Folgen von unpassenden Handlungen (die natürliche Strafe) zum freien Menschen führt. Durch Handeln lernt der Mensch besser und mehr, wer gut handelt, wird ein guter Mensch. Die eigene Befindlichkeit, Zufriedenheit und Glück und die Fähigkeit, die Freuden und Leiden des Lebens zu ertragen sind der Maßstab für eine gute Erziehung.
Zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der amerikanische Schriftsteller D.H. Thoreau für ein der Natur nahes Leben und Lernen plädiert. Er forderte den einzelnen Menschen auf, seine soziale Rolle und individuelle Lebensbedingungen in den unmittelbaren Vorgängen und Prozessen der Natur zu reflektieren. Während Rousseau ein Schreibtischtäter blieb, lieferte Thoreau ein praktisches Beispiel der Lebenskunst: zwischen 1845 und 1848 zieht er sich in einem Eigenexperiment („Walden“) in die Wälder Kanadas zurück.
Thoreau beklagte der Verlust der Unmittelbarkeit durch den herrschenden Zeitgeist, durch Luxus, Bequemlichkeit, Mode, Zivilisation und Technik. Er suchte nach den ursprünglichen Bedürfnissen des Menschen und versuchte in seinem Walden-Experiment ein bedürfnisloses Leben zu führen, um zum eigentlich Wichtigen vorzustoßen.
Thoreau wollte beweisen, daß durch Reduktion von unnötigen Bedürfnissen mit wenig Geld eine einfache und solide Lebensgrundlage aufgebaut und erhalten werden kann. Somit stellt dieser Rückzug in die Natur ein Experiment im mehrfachen Sinn dar: eine Selbstheilung, ein Gegenentwurf zur herrschenden Gesellschaftsphilosophie und ein ökonomisches Experiment.
Thoreau’s Prinzipien sind die Unmittelbarkeit des eigenen Erlebens, die eigene Erfahrung, Lernen durch Versuch und Irrtum in möglichst realen Situationen. Er gilt somit neben Rousseau als Wegbereiter der Erlebnispädagogik.
In Konzentration auf die Sinnesfragen der menschlichen Existenz befaßten sich im 19 Jahrhundert die Vertreter der Existenz- sowie der Lebensphilosophie mit den Fragen des „Er-Lebens“. Henry Bergson (1859-1941) und William James (1842-1910) entwarfen philosophische Systeme, die über die intellektuelle Verstandesbildung hinausgriffen und Erfahrung, Intuition und im Gefühl erlebte Bewußtseinstatsachen als spezifisch menschliche Wesenszüge und Erziehungstatsachen klassifizierten. Unmittelbares Erleben in der praktischen Tätigkeit des handelnden Menschen wurde als zentrales Entwicklungsmoment des Individuums erarbeitet. Bergson sieht das Erleben als Zeiterfahrung, in unserem Erleben gestalten wir die Zeitdimension jedesmal neu. Erleben ist Freiheit, frei sind wir dann, wenn unsere Handlungen aus unserer ganzen Persönlichkeit hervorgehen und sie auszudrücken vermögen[6]. Nach Bauer ist hier die Erlebnispädagogik schon unmittelbar erkennbar.
James ging davon aus, daß die junge Generation in ihren Lebenswelten ständig Möglichkeiten vorfinden müßte, um innere Spannungen abbauen und die Bedürfnisse nach Bewegung und Arbeit befriedigen zu können. Seine Erziehungsprinzipien haben bis heute eine große Bedeutung für alle handlungsorientierten Ansätze:
Diese Gedanken wurden später von Kurt Hahn aufgegriffen und in sein Konzept eingebunden.
Die Geschichtsschreibung der Reformpädagogik (1890-1933) beginnt mit der Kulturkritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die Namen Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Friedrich Nietzsche werden damit verbunden. Die Kulturkritik stellte in erster Linie das veraltete preußische Bildungs- und Schulsystem in Frage, sie forderte pädagogisches Handeln und Denken, das sich zunehmend auf den psychischen und physischen Entwicklungsstand der Kinder zu richten hatte. Ein nächster Kritikpunkt war das Prinzip der Allgemeinbildung, das Wissen und Können zu den kulturellen Leistungen und Produkten menschlicher Entwicklung von allen gleichförmig abverlangt. Des weiteren lehnte die Kulturkritik die autoritären Disziplinierungen des Schulalltags ab und plädierte für einen behut- und einfühlsamen Aufbau des kindlichen Selbstbildes. Die Zielgruppe der Kritiker war die Jugend, der die neuen Ideale vermittelt werden sollten.
Die Kerngedanken der Reformpädagogik sind Augenblick, Unmittelbarkeit, Natur, Echtheit, Einfachheit, der Mensch in seiner Ganzheit und die Erziehung in der Gemeinschaft, in der das Erleben neuen Raum und neue Bedeutung gewinnt: in unterschiedlichen inhaltlichen und didaktischen Formen, wie die einzelnen Strömungen der Reformpädagogik aufweisen.
Den wohl entscheidendsten Impuls für die Erlebnispädagogik lieferte die Kunsterziehungsbewegung. Der Hamburger Kunstpädagoge Alfred Lichtwark stellte das Betrachten eines Kunstwerks und seine Wirkung auf das Kind in den Mittelpunkt seiner pädagogischen Bemühungen. Die Betrachtung und Analyse von Kunstwerken sollte die künstlerische Empfänglichkeit und Genußfähigkeit des Schülers wecken. Die subjektive Welt des Betrachters und sein inneres Erlebnis rückt in den Mittelpunkt des Unterrichts, somit ergibt sich eine Unterrichtsform des Erlebens.
Daneben setzte auch Julius Langbehn Akzente, indem er der bildenden Kunst die Fähigkeit der Erneuerung von Leben und Lernen zubilligte: künstlerische Erziehung könne Schule und Volksbildung reformieren. Der Zeichenunterricht solle dabei die produktiven Kräfte des Kindes entwickeln und fördern, der „Geist der Kunst“ sich auf Sprache und Dichtung übertragen, Gymnastik und Musik, schließlich auch der Turnunterricht (bisher eher militärische Disziplin) zu den in ihnen angelegten kreativen Wirkungen kommen.
Die große Bewegung und Umformung des pädagogischen Lebens bringt erst der Aufbruch der jungen Generation selbst, die Jugendbewegung. Ihr Protest richtete sich gegen die erstarrten bürgerlichen Lebens- und Daseinsformen, v.a. gegen das bürgerliche Elternhaus und die Autoritätsschule, die als Anstalt der Knechtung empfunden wird. Das großstädtische Leben erschien der Jugend schal und langweilig, alles war vorgeformt, aufbereitet, gefiltert durch die Welt der Erwachsenen. Das eigentliche Leben sollte dort stattfinden, wo weder Erwachsene noch Großstadt das unmittelbare Erleben verhindern: in der freien, ursprünglichen Natur. Bedeutend dabei sind gemeinsames Unternehmen und Erleben in den Jugendgruppen, das Erlebnis echter urtümlicher Gemeinschaft.
Die Erlebnispädagogik, die eine jüngere erziehungswissenschaftliche Teildisziplin darstellt, versteht sich als Alternative und Ergänzung traditioneller und etablierter Erziehungs- und Bildungseinrichtungen. Jürgen Oellers bezeichnete den Begriff Erlebnispädagogik als eine „Protestformel gegen die Verschulung“.[11]
Im Gegensatz zu theoretischen und lediglich auf die Wissensvermittlung ausgerichteten Lernsituationen dominieren bei Programmen mit erlebnispädagogischer Ausrichtung Vermittlungsstrategien, bei denen es um die praktische Erfahrbarkeit von Fertigkeiten und Kenntnissen geht. Der Leiter des Institutes für Erlebnispädagogik an der Universität Lüneburg, Jörg W. Ziegenspeck, verweist darauf, dass es sich bei der Erlebnispädagogik weder um ein Überlebenstraining noch um eine „Ranger - Ausbildung“ handelt, sondern praktische Erziehung zur Vermittlung bestimmter Charaktereigenschaften im Vordergrund steht.
Die Begriffe Erlebnis, Erfahrung, Erkenntnis und Einsicht sind von grundlegender Natur für die Erlebnispädagogik.[12]
Das Erleben wird als das subjektive Innewerden von Vorgängen verstanden, die von Menschen als bedeutsam empfunden werden. Es beschreibt die multisensorische Eigen- und Selbstwahrnehmung von Prozessen und Resultaten der seelischen und körperlichen Existenz des Menschen. Die Erfahrung ist das durch eigenes Erleben erworbene Wissen; sie stellt die Summe von Erlebnisanteilen dar. Erkenntnisse bezeichnet man als den Gewinn eines neuen Wissens und die Beschreibung bislang unerklärbarer Zustände und Zusammenhänge, die aus den Erfahrungen resultieren. Aus diesen Erkenntnissen können höchstwahrscheinlich Einsichten erwachsen, die die höchste Stufe menschlichen Wissens darstellen.
Ziegenspeck benennt sieben Faktoren, die im weitesten Sinne die Erlebnispädagogik ausmachen:[13]
In Deutschland entwickelte sich die Erlebnispädagogik um das Jahr 1930 in der Reformpädagogik[14] zu einem wichtigen Element des Unterrichtsverständnisses.[15] Die Erlebnispädagogik wurde in der Zeit zwischen 1933 - 1945 durch die Organe der NSDAP vereinnahmt und für parteipolitische Ziele missbraucht, wobei die ursprünglich postulierten Werte pervertiert wurden.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde in der Bundesrepublik Deutschland der Versuch gestartet, an die Erkenntnisse und Ziele der Erlebnispädagogik in der Weimarer Republik anzuknüpfen. Dies gelang jedoch nur in Ansätzen, da viele Pädagogen, die in der Zeit des Nationalsozialismus eine führende Rolle spielten, weiterhin wichtige Positionen im deutschen Erziehungswesen bekleideten. Verstärkend kam hinzu, dass ehemalige Unteroffiziere und Offiziere der Wehrmacht, die nach neuen Beschäftigungsfeldern suchten, in Erziehungs- und Ausbildungsstätten drängten, wo erheblicher Personalbedarf bestand. Noch immer beeinflusst vom nationalsozialistischen Gedankengut standen die meisten von ihnen den als progressiv empfundenen Ideen der Erlebnispädagogik skeptisch bis ablehnend gegenüber.
Ende der 50er Jahre musste sich das Bildungs- und Ausbildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland unter dem Eindruck der machtpolitischen Blockbildung in der Welt (NATO, Warschauer Pakt) dem „Wettlauf der Systeme“ unterordnen. Nach dem „Sputnik - Schock“ stand die Optimierung von kognitiven Lernleistungen im Vordergrund, die Ganzheitlichkeit des Bildungsgedankens spielte in pädagogischen Entscheidungsprozessen nur noch eine marginale Rolle.[16]
Das Aufkommen von ökologischen Erkenntnissen und sozialen Bewegungen in den 70er und 80er Jahren führte sowohl in weiten Teilen der Gesellschaft als auch in pädagogischen Fachkreisen zu einer kritischen Bestandsaufnahme der bisherigen Bildungsleitlinien und zu einer Neubesinnung über Bildung und Erziehung. Die Erlebnispädagogik erlebte in diesem Zusammenhang eine neue Wertschätzung, wobei außerschulische Wirkungsfelder eher im Vordergrund standen.
Ziegenspeck spricht zu Recht davon, dass der Erlebnispädagogik immer stärker eine sozialtherapeutische Aufgabe zuwächst.[17] Dieser Prozess wird durch die bildungspolitischen Folgen der „Wiedervereinigung“ Deutschlands beschleunigt. Es wird nach neuen Wegen öffentlicher Jugendhilfe gesucht, weil die Erziehungsproblematik unter den neuen sozialpolitischen Verhältnissen nicht mehr angemessen berücksichtigt werden kann (z.B. Massenarbeitslosigkeit, wachsende Drogenproblematik, Erfahrung sozialer Vereinzelung, zunehmender Rassismus usw.). Kinder und Jugendliche sollen über das Medium erlebnisintensiver Aktivitäten dabei unterstützt werden, problemlösende Verhaltens- und Verständigungsformen zu entwickeln und zu verinnerlichen, außerdem ist die Vermittlung von lebensbereichernden Faktoren wie Charakterstärke und Verantwortungsgefühl von großer Bedeutung.
Kurt Hahn wurde am 5.7.1886 als Sohn jüdischer Eltern in Berlin geboren.
Das folgenreichste Ereignis seiner Kindheit war der Tod seines 11jährigen älteren Bruders, der an den Folgen einer Mittelohrentzündung starb. Neben seinen Eltern übten die beiden Berliner Pädagogen Siegmund Auerbach und G. W. Humphreys den größten charakterbildenden Einfluß in seiner Kindheit auf ihn aus.
Von der Sexta bis zum Abschluß der Oberprima besuchte Hahn das humanistische Wilhelmsgymnasium in Berlin. Während seiner Gymnasialzeit wurde er durch die Dialoge „ Laches“ und „Gorgias“ in Platons Sittenlehre eingeführt und dadurch schon in Grundzügen mit der Gedankenwelt des griechischen Philosophen vertraut gemacht. Gemäß der Schilderung Hasselhorns galt Hahn als „temperamentvoller, tatendurstiger und sportlich veranlagter Junge, der die damalige Unterrichtsschule nur schwer erträglich fand.“[18] Hahn empfand den Unterricht am Berliner Wilhelmsgymnasium als „verknöcherter Lernbetrieb“, so dass er sich bereits während seiner Schulzeit mit der Planung einer „Reformschule“ beschäftigte, die auf gegenseitigem Vertrauen und Gemeinschaftgefühl von Schülern und Lehrern basieren sollte.[19] Der Unterricht sollte ein gemeinsames sozieles Lernen in einer Gemeinschaft von Schülern und Lehrern beinhalten, „ein an Fachkompetenz und Führungsautorität gebundenes inter- generationelles Lernen.“[20]
Kurt Hahns Verantwortungsgefühl für jüngere Kinder war schon in seiner Jugendzeit sehr stark ausgeprägt. Lora Landau - Wagner berichtete: „ (...) Kurt wurde im Jünglingsalter schon eine Art Erzieher der Kinderschar. Oft versammelte er die Kinder an heißen Sommernachmittagen in dem weißen Pavillon und las ihnen vor. Immer wählte er mit Bedacht die Lektüre, in der gewöhnlich eine heldenhafte Figur die Hauptrolle spielte.(...)“.[21]
Er unternahm mit den jüngeren Kindern Wanderungen durch unwegsames Gelände, wo sich schon Grundlagen seiner späteren Erziehungskonzeptionen andeuteten: sportliche Übungen und gemeinschaftliches Erleben.
Als sein Vater im Jahre 1904 starb, übernahm der angehende Abiturient faktisch die Erziehung seines jüngeren Bruders Rudolf.[22]
Die Charakterformung seines Bruders war eine Andeutung dessen, was Hahn in seinem späteren Leben bewirken wollte: die Erziehung der Jugend zu einer verantwortungsbewußten Persönlichkeit und staatsbürgerlicher Tugend.
Im Alter von 16 Jahren begegnete Hahn drei Schülern der Internatsschule Abbotsholme in England, die ihm das Buch „ Emlohstobba.“ von Hermann Lietz schenkten.[23] Die Lektüre dieses Buches wirkte auf Kurt Hahn „ wie ein Ruf des Schicksals“.[24]
Wenige Monate vor dem Abitur erlitt Hahn einen Sonnenstich, dessen langfristige Folgeerscheinungen ihm damals nicht bewußt waren. Nach dem erfolgreich bestandenen Abitur zog es ihn nach Oxford, wo er ein Studium der klassischen Philologie aufnahm. Im Jahre 1906 kehrte er nach Deutschland zurück und studierte mit langen Unterbrechungen bedingt durch die Folgen des Sonnenstichs an den Universitäten in Berlin, Heidelberg und Freiburg.
Danach schrieb er sich an der Universität Göttingen ein, wo er hauptsächlich an Philosophieveranstaltungen des damaligen Professors Leonard Nelson teilnahm.
Im Jahre 1910 kehrte er nach Oxford zurück; dort war in den Folgejahren für ihn das Studium nur noch im Winter möglich, da er die Sommermonate aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung (Sonnenstich) im kühlen schottischen Klima verbringen mußte. Erst nach mehreren Operationen, die von dem Hirnchirurg Victor Hornsley durchgeführt wurden, ging es ihm gesundheitlich besser. In Oxford beschäftigte sich Hahn in Zusammenarbeit mit dem Platoniker J. A. Stewart mit Plänen für die Gründung eines Internats in Deutschland nach dem Vorbild einer englischen Public School. [25] Im Sommer 1910 erschien Kurt Hahn Schulroman „Frau Elses Verheißung“, nachdem Ludwig Finkh und Hermann Hesse dem Verleger die Veröffentlichung des Werkes empfohlen hatten.[26] In dem Roman waren verschiedene Überzeugungen und Ideen der Hahnschen Erziehungskonzeption bereits enthalten:[27] die Verabscheuung der „Buchschule“, die die Entfaltung von Phantasie behinderte; die These, das die „Kraft der Kinderjahre“ im Erwachsenenalter beibehalten werden könnte; die Ablehnung einseitiger geistiger Bildung, die Forderung, dass Kinder in einer abgeschiedenen Umgebung jenseits der Städte erzogen werden müssten und die positive Wirkung ds Rettungsdienstes für den Helfenden selbst. [28]
Nach Ausbruch des 1. Weltkrieges kehrte Kurt Hahn nach Deutschland zurück und arbeitete als englischer Lektor bei der dem Auswärtigen Amt angegliederten „ Zentralstelle für Auslandsdienst“.[29] Dort machte er die Bekanntschaft des späteren Reichskanzlers Max von Baden, im Laufe der Zeit entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung zwischen ihnen.
Im Januar 1917 bezeichnete Hahn die bevorstehende Erklärung des verschärften U-Boot- Krieges als Fehlentscheidung, womit er sich den Zorn des Auswärtigen Amtes zuzog. Hahn wurde in die militärische Stelle des Auswärtigen Amtes versetzt und bekam ein politisches Referat. Nach und nach kam er mit Anhängern des sogenannten Verständigungsfriedens wie Friedrich Naumann, Hans Dellbrück und Friedrich Meinecke in Kontakt.[30]
Nach dem Ende des 1. Weltkrieges wurde er der Privatsekretär des Prinzen Max von Baden und zog gemeinsam mit ihm nach Salem am Bodensee.
Prinz Max von Baden und Kurt Hahn begannen, die politischen und gesellschaftlichen Vorkommnisse der letzten Jahre zu analysieren. Dabei kamen sie zu der Erkenntnis, dass Unmündigkeit und Verantwortungslosigkeit in der deutschen Gesellschaft stark ausgeprägt waren. Die Verantwortung für diese Fehlentwicklung lag ihrer Meinung nach im methodischen Konzept der Staatsschulen, wo lediglich die reine Wissensvermittlung im Vordergrund stand. Sie bemängelten, dass die Charakterbildung und die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler keinen hohen Stellenwert bei der Organisation des Unterrichts in den Staatsschulen besaßen.[31]
Um diese Mißstände zu beseitigen, gründete Prinz Max von Baden auf der Grundlage Hahnscher Ideen die Internatsschule Schloß Salem, die im April 1920 eröffnet wurde. Bis zu seiner Emigration im Jahre 1933 leitete Kurt Hahn zusammen mit Marina Ewald die Schule.
Im Jahre 1923 mißglückte dank der Aussage eines Mitwissers ein geplantes Attentat einer völkischen Organisation auf Hahn. [32]
Zur Konfrontation mit dem aufstrebenden Nationalsozialismus kam es im August 1932, als Kurt Hahn sich gegen die Verherrlichung der „Potempamörder“[33] durch Adolf Hitler wandte.[34] Hahn schickte ein Rundschreiben an die Mitglieder des Salemer Bundes: „Durch das Telegramm von Hitler an die „ Kameraden“ von Beuthen ist ein Kampf entbrannt, der über die Politik hinausführt. Es geht um Deutschland, seine christliche Gesinnung, sein Ansehen, seine Soldatenehre: Salem kann nicht neutral bleiben. Ich fordere die Mitglieder des Salemer Bundes auf, die in einer SA- oder SS- Tätigkeit sind, entweder ihr Treueverhältnis zu Hitler oder zu Salem zu lösen.“[35]
Darufhin folgte eine Hetzkampagne gegen den „Juden Hahn“[36] und später ebenfalls gegen den „Markgrafen Berthold als Schildhalter des Juden Hahn“[37]
Kurt Hahn wurde im März 1933 von den Nationalsozialisten in „Schutzhaft“ genommen. Nur aufgrund der permanenten Intervention des damaligen englischen Premierministers Ramsay Mc Donalds, des Markgrafen von Baden und anderer einflußreicher Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland wurde er 5 Tage später unter der Bedingung, Baden sofort zu verlassen, aus der Haft entlassen.[38]
Aus Angst vor einer erneuten Verhaftung wanderte Hahn im Juli 1933 nach England aus, wo er kurze Zeit nach seiner Ankunft den Posten des Schulleiters des neugegründeten Landerziehungsheims in Gordonstoun ( Schottland) annahm.
In den darauffolgenden Jahren entwickelte Hahn nach und nach die Konzeption der Kurzschule. Im Jahre 1941 wurde die erste Kurzschule , die Outward Bound Sea School, in Aberdovey (Wales) gegründet.
Die Zielsetzung der Kurzschule umriß Hahn folgendermaßen: „ (...) Was ist das Ziel? Die heutige Jugend, vor allem die unterpriviligierte Jugend, gegen eine kranke Zivilisation zu schützen. Die Kurzschule versucht, schützende Erfahrungen zu vermitteln. (...) Kann man wirklich in einem Monat Gesundheit bringen? Das kann man nicht, aber man kann die Heilung in Bewegung setzen. Man kann nicht gute Samariter in vier Wochen heranbilden, aber man kann die Jungen und Mädchen soweit bringen, daß sie sich ernsthaft fragen, ob sie nicht hingehen und dergleichen tun sollen.“[39]
Im Jahre 1953 gab Hahn sein Amt als Schulleiter von Gordonstoun ab und kehrte nach Deutschland zurück, wo er weiterhin als Berater der Internatsschule Salem tätig war.
Kurt Hahn hat in einer großen zeitlichen Spanne nur wenig publizistisch veröffentlicht. Es ist daher schwer ein gesamtes Menschenbild aus wenigen Informationen über einen Zeitraum in dem sich ein Mensch mit seinen Einstellungen ändern kann zusammen zufassen. Aber die Grundgedanken bei Kurt Hahn haben sich über die Jahre hinweg nicht grundlegend verändert.
Hahns Menschenbild orientiert sich stark an den Theorien dreier Persönlichkeiten: Plato, Kant und Hermann Lietz. Plato wird in den Schriften von Hahn immer wieder zitiert und seine Pädagogik, d.h. junge Menschen zu erziehen, wird fortwährend von diesem beeinflusst. Seine ersten Schriften sind sehr stark an Kant angelehnt, denn er sagt, dass das einzige Ziel der Pädagogik die Erziehung der Kinder zu sittlichen Menschen ist. Außerdem hat jeder Mensch eine grundlegende Achtung vor der Würde des Menschen, welche auf der Vernunft gegründet ist. Doch der Verstand alleine ist keine ausreichende Bedingung zur Entwicklung zum sittlichen Menschen. Das Ziel muss es sein, im Wiederspruch zu Kant, die verschiedenen Neigungen eines Menschen in ein ausgeglichenes Kräftespiel zu bringen, so dass die Neigungen den Menschen nicht zwingen sondern nur raten. Dieses Ziel kann heute als Selbständigkeit formuliert werden.
Hahns Menschenbild ist wie bei fast allen Reformpädagogen humanistisch. Er geht von der Unschuld und dem Guten des Kindes aus. Hahn „glorifiziert“ die Kindheit und bezeichnet sie als energische Schönheit der Seele, die erst in ihrer Entwicklung „verkommt“ genauso wie die Zivilisation. Seine Kritik richtet sich an die Jugendbewegung, aus der er interpretiert, dass die Heranwachsenden sich nicht weiter entwickeln müssen, sondern schon vollständig entwickelt sind. Hahn sieht in der Pubertät die Gefahr eines starken Einbruches in einen Zustand des Verlustes bis dahin entwickelter Stärken sowie auch eine gefährliche Stagnation der psychischen Fortschritt des Einzelnen. Das bedeutet nicht, dass Hahn die Pubertät nur als eine negative Phase betrachtet. Er sieht auch eine große Chance in ihr, denn für ihn ist dies auch eine Zeit in der ein Jugendlicher die Tugenden lernen und sich durch sie weiter entwickeln kann. Es ist zu erkennen, dass sich Hahn sehr stark von dem hedonistischen Individualismus abgrenzt, denn er will, dass die Heranwachsenden psychisch und physisch fähig werden, um der Gemeinschaft zu dienen. Dafür muss sich der Mensch Gefahren und Grenzen aussetzen, um zu lernen, Stärken zu fördern und Schwächen zu mildern. Wichtig ist, dass sich das Individuum bewähren darf aber immer mit der Sicherheit des Sozialennetzes, welches die Grundlage für die persönliche Stabilität gibt.
Wie Kurt Hahn die jungen Menschen fördern will, zeigt sich am Besten an seiner ersten Schule Schloss Salem. Die Vorstellung dieser Schule soll erste Einblicke in die pädagogischen Betrachtungsweisen Hahns geben.
Am 14.4.1920 erklären Prinz Max von Baden und Kurt Hahn die Schule Schloss Salem für eröffnet. Es besuchen anfangs 9 interne und 25 externe Schüler die neue Schule. Salem ist schon immer ein koedukatives Landschulheim. Hahn ist Schulleiter bis 1933, als er sich gegen das nationalsozialistische Regime lehnte und emigrieren muss. Es ist das erste Landschulheim, welches nach dem ersten Weltkrieg eröffnet weil Hahn dem jungen deutschen „demokratischen“ Staat helfen will. Die Gründung enthält einen starken politischen Grundgedanken im Gegensatz zu den Heimen Lietzsches. Salem entsteht als ein Schulstaat, d.h. es soll eine mikroskopische Nachbildung des Staatswesens darstellen, um die Menschenbildvorstellungen Hahns vom sittlichen und gemeinnützigen Bürger zu verwirklichen. An der Schule sollen politische Verantwortung und kooperatives Handeln durch Zuständigkeiten in Ämtern, Diensten und Pflichten in eigenem Handeln erprobt und geübt werden. In den Salemern Landerziehungsheimen herrscht eine eher sittlich-religiöse Erziehung im Gegensatz zu den liberalen oder lietzischen Heimen (nationalistisch)
Mitte der 50er Jahre verfolgte Hahn zusammen mit dem ehemaligen Leiter des NATO Defence College in Paris, Sir Lawrence Darvall, das Ziel, die Gründung von Atlantic Colleges in aller Welt herbeizuführen. Hinter dieser Gründung steckte das Ziel, die positiven Erfahrungen des Defence College bei der militärischen Ausbildung von Erwachsenen aus verschiedenen Ländern auf begabte Jugendliche in den letzten zwei Oberschuljahren mit dem Gedanken der internationalen Verständigung anzuwenden.
Hahn verstand die Gründungen von Atlantic Colleges in verschiedensten Teilen der Welt als Hoffnungsschimmer: „ Es gilt den Abscheu einzupflanzen vor der Vergewaltigung von Menschen und Völkern im Krieg wie im Frieden. Wenn Duldsamkeit und menschliches Verstehen, so sagt Darvall, noch neue Wurzeln schlagen kann bei reifen Männern von ganz verschiedener Nationalität dank gemeinsamen Erlebnissen, wieviel hoffnungsvoller wäre die Aufgabe, werdende Menschen aus aller Welt in ihren empfänglichsten Jahren durch die Kameradschaft eines fordernden Gemeinschaftslebens miteinander zu verbrüdern.“[40]
Im Jahre 1974 verstarb Kurt Hahn in der Neuroklinik Weissenau in der Nähe von Ravensburg. Zu Lebzeiten war Hahn für die Gründung von zahlreichen Einrichtungen und Initiativen verantwortlich:[41]
Hahns pädagogische Anthropologie wurde vor allem aus seinem Referat „Gedanken über Erziehung“, das er im Jahre 1908 in Oxford gehalten hat, deutlich.[43] Die hierin vertretene Auffasung Hahns vom Menschen hatte seinen Ausgangspunkt in der Auseinandersetzung mit der Philosophie Platons, besonders mit der in der „Politeia“ entwickelten pädagogischen Theorie. Unter Bezugnahme auf Kant[44] lag für Hahn das Ziel der Erziehung darin, Kinder und Jugendliche zu sittlichen Menschen zu formen; darunter verstand er, Menschen zu erziehen, die aus Achtung vor dem Sittengesetz handelten.[45] Hahns Glauben an „die Macht der Erziehung“[46] sützte sich auf die Voraussetzung:[47] „In jedem Menschen ist die Achtung vor dem Gesetz: Schone die Würde des Menschen. Mit einer weiteren Verweis auf die Kantsche Philosophie stellte er fest, dass die „Stimme der Vernunft“ für jeden Menschen „vernehmlich“ war. Das Hindernis des sittlichen Handelns lag darin begründet, dass „Wucht der Neigungen“ dermaßen stark ausgeprägt war, so dass der Mensch nicht mehr vernünftig handelte.[48] Den platonischen Überzeugungen folgend unterschied Hahn zwei Punkte, die dem sittlichen Handeln des Menschen im Weg standen:
Diese Neigungen[50], die das sittliche Handeln eines Menschen unterbinden könnten, sollten geschwächt werden, worin die Aufgabe der Erziehung bestand. Hieraus wird ersichtlich, dass Hahn den Menschen nicht als harmonische Persönlichkeit betrachtete, sondern er befand sich in einem Spannungsgefüge zwischen der „Stimme der Vernunft“ bzw. „der Stimme des Gewissens“ [51] und seinen Neigungen. Neben dieser Spannung existierte eine sekundäre Spannung innerhalb der Neigungen: der „Eigennutz“ und die „energischen Teilnahme“.
Hahn definierte den „ Eigennutz“ als die Neigung, die Würde anderer Menschen zu verletzen. Er ging davon aus, dass sie bei vielen Menschen vorhanden war und deren Denken und Handeln entscheidend beeinflußte. Ein probates Mittel, den „Eigennutz“ zu überwinden, war die Ausbildung der „energischen Teilnahme“, die „ man unbegrenzt verkümmern, aber nur begrenzt verstärken kann.“[52]
Hahn verstand darunter nicht nur die leidende Teilnahme, die Ergriffenheit von Freud und Leid anderer Menschen, sondern auch „den Zorn, der zu Taten drängt, der Zorn, der den Menschen packt bei dem Unrecht, das ihm und anderen geschieht.“[53] Er ordnete die „energische Teilnahme“ als einen „Bundesgenossen“ dem „guten Willen“ zur Abwehr von „feindlichen Mächten“ zu.[54]
Hinter dieser Überlegung stand Platons Bild von den sich in der „Politeia“ entwickelnden 3 Seelenteilen, die sich in Spannung miteinander befanden.[55]
Platon entwickelte einen Vergleich der menschlichen Seele mit einem Wagengespann: [56] „einem Wagenlenker (Vernunft) mit einem besseren Pferd (Willen) und einem wilderen Pferd (sinnliche Begierde). Wollen und Sinnlichkeit sollen im Menschen durchaus ihren Platz haben, aber er ist erst dadurch wirklich Mensch, daß die Vernunft über beide herrscht oder doch herrschen soll (wie der Wagenlenker über die Pferde).“. Jedem Seelenteil ensprach eine besondere Tugend: der Sinnlichkeit die Mäßigung, dem Willen die Tapferkeit, der Vernunft der Weisheit; über diesen thronte als höchste Tugend die Gerechtigkeit. [57] Hahn benannte neben dem Kampf zwischen dem „Eigennutz“ und der „energischen Teilnahme“ eine weitere Spannung in der „Schönheit der Seele“ zwischen der „Sanftheit“ und der „Beherztheit“. [58] Keine der beiden Eigenschaften sollte Überhand gewinnen:[59] „ Die Überernährung der Sanftheit führt zur Weichlichkeit gegen sich und andere, die Überernährung der beherztheit zur Wildheit gegen sich und andere.“ Das Ziel lag für Hahn in der Vereinigung der beiden Kräfte, so dass eine „wagemutige begeisterte Teilnahme für das Recht der Menschen“ entstand. [60] Hier zeigte sich wiederum eine Übereinstimmung mit der platonischen Vorstellung von der richtigen Zusammenstimmung der im Widerstreit befindlichen drei Seelenteile. Die Grundvoraussetzung zu dieser Harmonie der Seele lag in ihrer „Wohlgestimmtheit“ infolge einer richtigen Erziehung durch Gymnastik und Musik.[61] Platon wandte sich gegen eine einseitig betriebene Gymnastik, die zur „Rauhigkeit“ führte und eine Spezialisierung der Erziehung durch Musik, die „Weichlichkeit“ zur Folge hatte, erst durch die Synthese von Musik und Gymnastik wurden Tapferkeit und Besonnenheit erzeugt. Die richtige Abstimmung der Besonnenheit und Tapferkeit verlangte Platon von seinen Wächtern. In Übereinstimmung mit Platon war für Hahn das Erziehungsziel der Eirichtung eines ausgeglichenen Kräfteverhälnisses der Neigungen dann erreicht, wenn die Kinder „sanft und kühn, schnellfüßig, stark und klug“ waren.[62] Hahn war der Ansicht, dass nur durch kontinuierliche Nachahmung und Übung die „energische Teilnahme“ den „Eigennutz“ im Menschen verdrängen und sich als beständige Neigung etablieren konnte. Hahn vertrat die Auffassung, dass die Achtung vor dem Sittengesetz gewährleistet sein sollte, damit man von sittlichem Handeln sprechen konnte. Dies mußte nicht immer bewußt sein, sondern es konnte sich hierbei durch häufiges Üben bedingt um eine „unbewußte Kontrolle des Pflichtgefühls“ handeln. [63] Hahns Zielvorstellung war die folgende: [64] „(...) je mehr Handlungen ein Mensch in Übereinstimmung mit seiner Achtung vor dem Sittengesetz , aber nicht bestimmt durch seine Achtung vor dem Sittengestz, sondern durch die Neigung, die Würde seiner Mitmenschen zu schonen, vollbringt, um so fähiger ist der Mensch, jede sittliche Handlung ohne unüberwindlichen Neigungswiderstand zu vollbringen.“ Hahn negierte die These, dass Pädagogen sittliche Menschen erziehen, stattdessen vertrat er die Ansicht, dass sie „die Seele des Kindes schön, lebendig und fähig“ [65] formen sollten, um dem Kind selbst die Gelegenheit zu geben, sich zu einem sittlichen Menschen zu entwickeln. Wenn dem „Eigennutz“ durch die systematische Stärkung der „energischen Teilnahme“ Widerstand entgegengebracht wurde, „so erwächst in dem werdenden Menschen ein Kampf der Neigungen und dieser Kampf der Neigungen bedeutet die günstigste Konstellation für die Achtung vor dem Sittengesetz, um es als souveräner Bestimmer das menschlichen Handelns ans Licht treten zu lassen.“.[66] Eine weitere Voraussetzung zur Förderung des sittlichen Handelns sah Hahn in Anlehnung an Platon in der Vermeidung der Nachsicht. Der Mensch sollte dazu imstande sein, „die Reue in ihrer ganzen Bitternis“ zu spüren, „weil aus dem Sieg wie aus der Niederlage neue Kräfte wachsen können.“[67] Die innerliche Akzeptanz der Reue konnte durch die Nachsicht verhindert werden, sie erlaubte es dem Menschen nicht, das Gefühl der Reue auszuleben:[68] „Für den Beobachter ist der Seelenzustand des Reuigen ein ergreifender und festlicher zugleich. Jählings von dem Druck der Betörung befreit, erwacht der Mensch zur Klarheit, spürt die wahren Werte seines Lebens und schüttelt sich von den Verdunklern in seiner eigenen Seele frei.“
Hahns war überzeugt von der These, dass die Seele des Menschen der Formbarkeit unterlag und sich abhängig von der Erziehung entweder zum Guten oder zum Schlechten ausbilden konnte. Jeder Mensch besaß laut Hahn die Fähigkeit, alles nachzuahmen, da jede menschliche Eigenschaft latent in ihm stecke. Abhängig von der Disposition des Individuums besaßen die einzelnen Eigenschaften eine differenzierte Entwicklungskraft. Der Erzieher mußte deshalb auf die richtige Auswahl der „Nahrung“ der Seele der jungen Menschen achten, um die Verkümmerung wichtiger Eigenschaften zu verhindern. Weiterhin sollte der Erzieher in Abhängigkeit von der Disposition der Jugendlichen die Intensität und Dauer der „ Nahrungszufuhr“ im Auge behalten. Hahn unterschied zwei Arten der „ Nahrungszufuhr“:[69]
Die „Ernährung der lebendigen Motive“ erfolgte durch dauerhafte Betätigung; im Falle der Nichtbetätigung starben die Motive ab. Die „Ernährung der Motivembryonen“ geschah durch den Antrieb zur Nachahmung. Dabei verstand Hahn unter Nachahmen nicht das bewußte Nachahmen von klar vorgegebenen Tendenzen, sondern „das unbewußte Sichhineinleben in eine fremde Lebensrichtung, wie sie die seelische Berührung einleitet.“[70] Als zentrale Voraussetzung für dieses Sichhineinleben sah er die Eigenschaft der Sympathie, die eine grundlegende seelische Berührung herstellte. Hahn nannte als Beispiele „die Helden der umgebenden Wirklichkeit“ der Kinder und Jugendlichen: Vater, Lehrer und Freunde.[71]
Kurt Hahn kritisierte die Verkümmerung der Kinderkraft“ in der Pubertät im Erziehungssystem seiner Zeit. Der Verfall der Kraft kindlicher Eigenschaften in den Entwicklungsjahren wurde als „Naturgesetz“ hingenommen, sein Leben lang bemühte sich Hahn darum,das in pädagogischen Fachkreisen anerkannte „Dogma“ von der „Deformität der Pubertätsjahre“ als „Irrlehre“zu entzaubern.[72]
Hahn besaß die Überzeugung, dass die „Kinderkraft“ in der Pubertät und der Zeit danach erhalten werden konnte. Die Voraussetzung dafür bestand darin, dass der menschliche Charakter, der der Hahnschen Vorstellung nach formbar war, in die „richtigen“ erzieherischen Bahnen gelenkt wurde.
Ähnliche Gedanken fanden sich bereits in den Erziehungstheorien der Pädagogen Friedrich Fröbel und Georg Kerschensteiner sowie des Kulturphilosophen Leopold Ziegler.
In seinem Werk „Menschenerziehung“ aus dem Jahre 1826 wies Fröbel darauf hin, dass der „ Bildungs - und Gestaltungstrieb“ in der „Knabenstufe“ durch praktische Handlungen unterstützt werden müsse.[73] In dem Falle der unzureichenden Förderung des „Bildungs - und Gestaltungstriebes“ wüßten die Schüler „ mit der erregten Kraft nichts anzufangen, ja sie selbst wird ihnen lästig und drückend, sie werden verdrossen, träge.“ Fröbel griff wie Hahn die „häusliche wie die Schulerziehung“ seiner Epoche an, die die Schüler zur „Körperträgheit und Werkfaulheit“ ermunterte.[74] Er stellte die Forderung auf, dass man den ersten spielerischen Betätigungsdrang des Kindes frühzeitig zur Erziehung „für künftige Aufmerksamkeit und Fleiß und Werktätigkeit“ hinüberführen müsse. Fröbel schätzte den bildenden Wert der Arbeit so hoch ein, dass er ausdrücklich für die Einführung von „Arbeitsstunden“ neben den bisher allein bestehenden „Unterrichtsstunden“ plädierte. Damit wandte er sich gegen die auf Passivität eingestellte Schulerziehung und betonte die „Tätigkeit des eigentlichen Arbeitens“.[75] Die Notwendigkeit zur Arbeit begründete Fröbel nicht nur vom wirtschaftlichen Standpunkt her, sondern sah sie als freie Selbstgestaltung des Menschen und somit als Mittel zur Wesensverwirklichung.[76] Für Georg Kerschensteiner waren die Jahre der Kindheit und Pubertät von lebendiger Aktivität gekennzeichnet: [77] „Das Wesen des Menschen um diese Zeit ist Arbeiten, Schaffen, Wirken, Probieren, Erfahren, Erleben, um ohne Unterlaß im Medium der Wirklichkeit zu lernen.“ Die Schule hatte die Aufgabe, diese aktiven Charakterzüge nicht verkümmern zu lassen, sondern für die Förderung der selbständigen Beobachtens, Prüfens und Arbeitens zu sorgen.
Die große Bewegung und Umformung des pädagogischen Lebens bringt erst der Aufbruch der jungen Generation selbst, die Jugendbewegung. Ihr Protest richtete sich gegen die erstarrten bürgerlichen Lebens- und Daseinsformen, v.a. gegen das bürgerliche Elternhaus und die Autoritätsschule, die als Anstalt der Knechtung empfunden wird. Das großstädtische Leben erschien der Jugend schal und langweilig, alles war vorgeformt, aufbereitet, gefiltert durch die Welt der Erwachsenen. Das eigentliche Leben sollte dort stattfinden, wo weder Erwachsene noch Großstadt das unmittelbare Erleben verhindern: in der freien, ursprünglichen Natur. Bedeutend dabei sind gemeinsames Unternehmen und Erleben in den Jugendgruppen, das Erlebnis echter urtümlicher Gemeinschaft.
Leopold Ziegler forderte, „die ganz besondere Genialität“ des Kindes, die in einer „unerreichten Kraft der Verlebendigung und Beseelung alles Wirklichen“ bestand, in keinem Lebensalter jemals verkümmern oder gar verschwinden zu lassen: diese „nämliche Kraft“ vielmehr nach Möglichkeit über das eigentliche Kindesalter hinaus zu erhalten und noch zu steigern.[78]
Auch Hahn beklagte, dass in der damaligen Gesellschaft die „ Schätze der Kindheit“, der „ unbesiegbare Lebensmut, das Mitgefühl, die lebhafte Neugierde, die Bewegungsfreude“ während der Pubertät verlorengegangen waren.[79]
Der Ansatz zur Verhinderung der Pubertätskrise lag für Hahn in der Erkenntnis von der Bedeutung der Thymosschicht im Menschen (Platon) philosophisch beegründet.[80]
Der Thymos war beim Kind in ausgeprägtem Maße vorhanden, wurde jedoch bei „fehlender Nahrungszufuhr“[81] immer schwächer. Die Thymosschicht sollte dadurch genährt werden, dass „ an der Schwelle der Pubertät“ Eigenschaften wie „ die Lust am Bauen, die Sehnsucht nach Bewährung im Ernstfall, auch in der Gefahr, der Forschungstrieb, die Seligkeit des musischen Schaffens, die Sorgfalt und Geduld erfordert“ in den jungen Menschen geweckt wurden.[82] Diese Eigenschaften wurden von Kurt Hahn als „giftlose Leidenschaften“ bezeichnet; er war der Ansicht, dass sie die Jugendlichen in der Pubertätskrise „wie Schutzengel“ behüteten.
Hahn sah das Wecken der „giftlosen Leidenschaften“ als grundlegend für die Charakterbildung der Kinder an: „Wir können (...) den Drang zur schöpferischen Zeugung befriedigen und dadurch der Gefahr vorbeugen, daß der erwachte Geschlechtstrieb die gesamte seelische Energie des werdenden Menschen beansprucht und heimliche Wege der Befriedigung sucht.“[83]
Um die ständige Existenz der „ giftlosen Leidenschaften“ zu gewährleisten, forderte Hahn die ihre feste Verankerung im Stundenplan der Schule.
Hahn betrachtete die Pubertät als Suche nach Identität, Zeit der Formung der kindlichen Persönlichkeit, Streben nach Erlebnistiefe und Übergangsphase verbunden mit Gefühlen der Unsicherheit. Er besaß die Hoffnung, durch eine angemessene Erziehung zur Überwindung dieser „ Krisenjahre“ beizutragen.
Hahn betrachtete es als Versäumnis, dass die Staatsschulen seiner Zeit die Gelegenheit einer umfassenden Charakterbildung in der Zeit vor und nach der Pubertät ungenutzt ließen. Angelehnt an die Behauptung von William James[84], nach der die seeliche Plastizität bei Jugendlichen mit zunehmenden Alter durch das Vordringen persönlicher und berufsbedingter Gewohnheiten abnahm, sollte die erzieherische Formung der Kinder gerade in der Zeit der Pubertät erfolgen. Trotz Hahns distanzierten Haltung zu den Ideen Siegmund Freuds wird deutlich, dass seinen Vorstellungen über Pubertät und Adoleszenz die Freudsche Theorie von der Psyche als einem geschlossenen Energiesystem zugrunde lag.[85] In diesem System wurde Energie, die von einem Interesse absorbiert wurde, einem anderen Interesse weggenommen.[86] Dabei greift er auf Dilthey zurück.
Diese Erklärung hat allerdings nicht dazu geführt, dass die Naturwissenschaft ihre Ergebnisse als Konstruktionsmittel und hypothetische Erkenntnisse wertete. Vielmehr fand die Auffassung, dass die Naturwissenschaften ihren Gegenstand unmittelbar erklären könnten, einen ersten Höhepunkt im Positivismus und Naturalismus, wie ihn Comte und Mill vertraten. Hier ergab sich für Dilthey das offensichtliche Problem, dass, wenn alle Vernunftprozesse kausal determiniert sind, auch die positivistische und naturalistische Auffassung des Menschen selbst determiniert ist. Damit hebt sich jedoch der Anspruch auf Gewissheit unter verschiedenen alternativen Auffassungen selbst auf.
Diltheys Lösung besteht in der Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften, welche zugleich die Autonomie und Freiheit des Vernunftwesens Mensch wiederherstellen soll: Statt in den Naturzusammenhang band Dilthey den Menschen dabei in den Geschichts- und Kulturzusammenhang ein, innerhalb dessen sich seine geistige Spontaneität zeigt und ausbildet. So wie Kant mit seiner Kritik der reinen Vernunft die erkenntnistheoretische Grundlage der Naturwissenschaften zu erklären versuchte, bemühte sich Dilthey in seinem lebenslangen Projekt einer Kritik der historischen Vernunft, die Grundlage für die von ihm so benannten Geisteswissenschaften zu legen. Der Titel einer historischen Vernunft zeigt dabei schon Diltheys Kritik an Kant. So ist bei Dilthey die Vernunft keine überzeitliche und unveränderliche Größe eines individuellen Subjekts, sondern hat ihre Ausprägung im Verlauf der Geschichte erfahren und wird dadurch konstatiert. In sie fließen also auch die geschichtlich gewordenen Handlungen und Praktiken des Kulturwesens Mensch mit ein. Diltheys grundsätzlich geschichtliche Orientierung ging dabei auf J.G. Droysens geschichtsphilosophische Vorstellungen des Historismus zurück. Die Kritik der historischen Vernunft bezieht sich jedoch nicht nur auf Kant, sondern erhebt Anspruch darauf, die gesamte Geschichte der Metaphysik zu betrachten. In Anlehnung an Phänomenologie des Geistes bezeichnete Dilthey sein Programm auch als Phänomenologie der Metaphysik. Anders als bei Hegel führte er den geschichtlichen Prozess nicht zu einem metaphysischen System des absoluten Wissens zusammen, welches schließlich absolute Gewissheit bieten sollte. Vielmehr nimmt seine Betrachtung den umgekehrten Weg, nämlich zu zeigen, wie sich eine Weltanschauung erst durch die vielen kleinen Gewissheiten ausprägt, die in der unmittelbaren Gewissheit des Erlebnisses und des Lebens selbst wurzeln. Dieses dient ihm dann auch als Fundament zur Begründung der Geisteswissenschaften. Ihr Ziel ist ein „Verstehen des Lebens und der Geschichte“.
Nach dieser frühen persönlichen Ablösung vom Naturalismus und Positivismus suchte Dilthey ein neues Fundament, von dem aus das menschliche Leben in seiner ganzen Breite verstanden werden kann. Wesentliche Ansätze hierzu finden sich in seinen Ausarbeitungen zu einem geplanten, aber nie erschienenen zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), der sogenannten Breslauer Ausarbeitung, die bereits 1880 größtenteils ausformuliert vorlag. Dilthey entwickelte hier mit Hinblick auf die deutsche idealistische Tradition seinen stark erweiterten Begriff des Bewusstseins als zentraler Instanz des Erlebens:
„Mein Bewußtsein ist der Ort, welcher diese ganze, scheinbar so unermeßliche Außenwelt einschließt, der Stoff, aus welchem alle Objekte, die sich in ihr stoßen, gewoben sind. So weit sich diese mir erscheinenden Objekte erstrecken, so weit erstreckt sich der Zusammenhang meiner Vorstellungen. Was in ihnen angetroffen wird, die Härte welche zertrümmert, die glühende Hitze, welche schmilzt, alles bis ins Innerste der Objekte ist Tatsache meines Bewußtseins, und das Ding ist sozusagen eine Zusammensetzung von solchen geistigen Tatsachen.“
Allerdings ist das Bewusstsein für Dilthey kein perzeptiver „Kasten“, in dem die Erlebnisse stattfinden. Diese Auffassung des Bewusstseins geht für Dilthey auf eine verfehlte Orientierung an sprachlichen Strukturen zurück: Erst das substantivierte „Bewusstsein“ wird als ein Ding aufgefasst und verlangt dann nach einem Prädikat. Der Begriff des Bewusstseins ist für Dilthey vielmehr aufweisend und nicht beschreibend. In dieser Aufweisung des Bewusstseins als ganzem Tatbestand des Lebens liegt für Dilthey die Überwindung einer Philosophie, die nur vom theoretischen Verstand ihren Ausgang nimmt und daher niemals den Gegensatz von Leib-Seele und Innenwelt-Außenwelt zu überwinden vermag. Beides, Geist und Körper, Innen und Außen, ist immer schon durch das Bewusstsein verbunden, in dem all dies nur gegeben ist. Dabei laufen zwar die Vorgänge der äußeren Welt unabhängig von denen des Bewusstseins ab (als eigenständige physikalische Prozesse), sind aber immer nur da für ein Bewusstsein: „In dieser Beziehung zu einer von mir unabhängigen Außenwelt verläuft mein Leben.“ Dilthey macht also unseren Erfahrungsbefund in seiner ganzen Breite geltend und begreift den Lebensprozess als eine Einheit, bei der Erkennen, Vorstellen, Bewerten, Fühlen, Handeln und Wollen immer schon in Bezug zu einer Außenwelt stehen.
Hahns Kampf gegen die „Irrlehre von der Deformität der Pubertätsjahre“ muß als Kritik an den entwicklungspsychlogischen Vorstellungen Hildegard Hetzers[87] verstanden werden, deren Ansicht nach die Entwicklung des Kindes und Jugendlichen in Entwicklungsreihen, die auf das jeweilige Lebensalter bezogen waren, eingeteilt werden konnte und festgelegten Entwicklungsgesetzen folgte.[88]
Von Hentig setzte sich kritisch mit den Thesen Hahns auseinander: „Nicht die „Neurologen, Psychologen, Pädagogen“ denunziren die Pubertät, sondern Kurt Hahn; er ist es, der hier etwas umgehen will, der hier einen „vermeidbaren“ Bruch findet; der die Kindheit hinüberretten will in ein Alter, das wir Jugend und dann Erwachsensein nennen. Die Psychologen finden die Wandlung normal und notwendig.“ Er hielt es für angebracht, mißtrauisch zu reagieren, „wo immer über die Pubertät der pädagogische Notstand ausgerufen wird. Die Pubertät ist kein Unfall in der menschlichen Entwicklung, sondern ein von der Natur sorgsamm vorbereiteter, notwendig unschematischer heilsam- krisenhafter Vorgang. Alles, was an besonderen Maßnahmen aufgewendet wird, an „Schutzengeln“ und „giftlosen Leidenschaften“ ist Ausdruck eines schlechten Kulturgewissens.“ [89]
Skidelsky kritisierte ebenfalls die Vorstellungen Hahns: [90] „Ob die Sexualentwicklung der Heranwachsenden für andere Möglichkeiten im Heranwachsenden so schädlich ist, wie Hahn das glaubte, darf bezweifelt werden.“
Den Äußerungen von Hentigs und Skidelskys ist grundsätzlich zuzustimmen, da Hahn von einer Überbetonung des Allgemeinmenschlichen ausging und das Geschlechtsspezifische fast nicht beachtete. Dennoch muß festgestellt werden, die Interpretation der Ideen Hahns von von Hentig nicht vollständig den Kern der Sache traf, sondern überspitzt ausgelegt wurde. Es ging Hahn um die Bewahrung bestimmter Eigenschaften des Kindes, jedoch nicht darum, den „Kinderzustand“ zu „konservieren“ [91]. Mit Schwarz ist festzuhalten: [92] „Hahn kämpft (...)gegen eine Kapitulation der Pädagogik vor der erzieherischen Beeinflußbarkeit der Reifezeit, deren Störungen zu leicht als „Naturgesetze“ hingenommen werden. Es kommt ihm unter Berücksichtigung der Elastizität und der Entwicklungsfähigkeit des jugendlichen Menschen auf eine möglichst lange erzieherische Einwirkung und gerade nicht, wie Hentig meint, auf „Bewahrung“ und auf „Sich-treu-Bleiben“ an.“
Aus heutiger Sicht betrachtet legte Hahn eine nicht mehr zeitgemäße sexualfeindliche Einstellung an den Tag. Wittigs Ansatz, der in Hahns Absicht, durch die Erlebnistherapie zu vermeiden, „dass die Sexualität zu früh und ausschließlich Macht über den Jugendlichen gewinnt- eine Bestrebung“ sah, die „(...) bei der heutigen Spannung zwischen körperlicher Akzeleration einerseits und später sozialer Reife andererseits sehr zeitgemäß zu sein scheint“, ist daher abzulehnen.
Kurt Hahn wandte sich mit seiner Vorstellung von Erziehung gegen „Verfallserscheinungen“ in der Gesellschaft seiner Zeit. Er sah die Jugend von einem Verfall der menschlichen Anteilnahme, der Sorgsamkeit, der persönlichen Initiative und der körperlichen Tauglichkeit bedroht. Gegen diese in der Gesellschaft weit verbreiteten „sozialen Seuchen“ wollte Hahn angehen und dafür sorgen, dass „in den Lebensplan der Schüler und jugendlichen Arbeiter Heilkräfte hieneinströmen.“ [93]
Hahn gelangte zu der Feststellung, dass die damalige Gesellschaft mit den sich rasant weiterentwickelnden sozialen und technischen Veränderungen überfordert war. Die Jugend fand in der sich immer stärker von Technik bestimmten Welt keinerlei Möglichkeiten vor, ihren Tatendrang, Mutproben, Bewährungssituationen und Unternehmungsgeist auszuleben. Außerdem erhob Hahn den Vorwurf, dass die Staatsschulen in keiner Weise zur „Heilung“ der Jugendlichen beitrugen, sondern die „Seuchen“ durch ihren Grundsatz der reinen Wissensvermittlung sogar noch verschlimmerten.[94]
In seinen Augen gab diese Entwicklung Anlaß zu großer Sorge um den Seelenzustand der Jugendlichen: „Es ist gefährlich, dem Tatendrang der heranwachsenden Jugend keinen legitimen Spielraum zu geben. Bei vielen welkt er dahin, die Verkümmerung bringt in ihrem Gefolge oft Reizbarkeit und Mißmut- weitverbereitete Pubertätsgebrechen, denen wir Erzieher ratlos gegenüberstehen; aber in allen Ländern nimmt die Zahl jener Halbwüchsigen erschreckend zu, deren Sehnsucht nach Erprobung ihrer Menschenkraft ungeduldig zur Erfüllung drängt und dabei die Bande der Zucht und Gesittung sprengt.“ [95]
Die Aufzählung der „Verfallserscheinungen“ in der Gesellschaft fanden sich in zahlreichen Werken von ihm wieder.[96] Jedoch betrieb er in keinem seiner Zeugnisse eine tiefgreifende Analyse der Ursachen, vielmehr ging es ihm lediglich um eine Zustandsbeschreibung der gegenwärtigen Phänomene und der daraus folgenden Wirkung auf das Individuum.
Hahn machte für den Mangel der menschlichen Anteilnahme die Hektik und Ruhelosigkeit der damaligen Gesellschaft verantwortlich. Die „grausame Pausenlosigkeit unseres Daseins“ vernichtete in fortschreitendem Maße die Kraft des intensiven menschlichen Erlebnisses.[97] Ermöglicht durch die Technik [98] verminderte laut Hahn die Sucht nach neuen oberflächlichen Sensationen die Fähigkeit zu intensiven Gefühlen und wahrem Mitgefühl. Die Geschwindigkeit des Lebens in der Gesellschaft war dafür verantwortlich, dass Selbstbesinnung und Mitgefühl verlorengegangen waren: „Wer kann noch allein sein, um sich zu sammeln, und dabei kann die Menschenliebe nur in der Selbstbesinnung tiefe Wurzeln schlagen.“ [99]
Der einzelne Mensch schien der persönlichen Verantwortung durch die Existenz offizieller Hilfsorganisationen entbunden zu sein, wozu von Hentig bemerkte: „Organisationen, Verwaltung, Verkehrsregeln haben die persönliche Verantwortung, das Erbarmen ersetzt.“ [100]Hahn stand mit seiner Kritik an der zunehmenden Hektik des Lebens und der damit verbundenden fehlenden Anteilnahme am Lebensschicksal anderer Menschen nicht alleine da. Der damalige Erzbischof von Canterbury, William Temple, bemerkte ebenfalls in der englischen Gesellschaft eine zunehmende Kälte in den Beziehungen zwischen den Menschen, was er als „Seelentod“ bezeichnete.
Kurt Hahn sah in dem von ihm beobachteten Verfall der Sorgsamkeit „ eine Seuche der Schlamperei.“[101] Die Ursache dafür lag in der zunehmenden Technisierung und Mechanisierung, was dazu führte, dass die „geruhsam arbeitenden Berufe“, vor allem das Handwerk, nicht mehr die bedeutende Stellung innerhalb der Gesellschaft besaßen, die sie früher innehatten: „(...) das Handwerk erzog zur Beobachtung des Details; die Fabrikfabrikation enthebt uns nicht nur dieser Beobachtung, sondern auch der Achtung vor und des pfleglichen Umgangs mit den Dingen:“[102] Der Verfall der Sorgsamkeit äußerte sich in einem Nachlassen der Konzentration, in einer weitverbreiteten Unordentlichkeit und in der fehlenden Bereitschaft zu kompliziertem und mühevollem Arbeiten.
Hahn bemerkte in diesem Zusammenhang: „ Die heutige Jugend will nicht mehr wandern und beobachten in diesem technischen Zeitalter. Sorgsamkeit und Geduld vertragen sich nicht mit der Hast des modernen Lebens. Das gilt nicht nur für den handwerklichen Bezirk.“[103]
In seiner Schrift „Erziehung zur Verantwortung“ aus dem Jahre 1954 kritisierte Hahn ebenfalls den fehlenden Wunsch der heranwachsenenden Generation nach tiefgreifender Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, besonders der Zeit des Nationalsozialismus.[104]
Hahn sprach beim Verfall der persönlichen Initiative von einer Zuschauerkrankheit, der Seuche der „ Spektatoris“.[105] Das Sammeln von Eindrücken war dem im technischen Zeitalter lebendem Menschen nur noch mit Hilfe der neuen Kommunikationsmittel Verkehr, Bild und Funk möglich. Im Fernsehen konnten Kinder und Jugendliche an Abenteuern und spektakulären Erlebenissen teilhaben, ohne dabei als Person beteiligt zu sein. Man konnte den Erfolg eines „Helden“ miterleben, ohne die damit einhergehenden Anstrengung zur Erreichung des Ziels hautnah mitzubekommen. Die Beschränkung auf die erfolgreiche Seite der handlung enthielt die Gefahr, dass die damit untrennbar verbundene Seite der Mühen oder auch des Mißerfolgs ausgeklammert wurde. [106]
Die Teilnahmslosigkeit und Passivität, die Hahn immer wieder beklagte, führte dazu, dass eigenverantwortliches Handeln und die Bereitschaft zur Initiative besonders innerhalb der Jugend weitesgehend nicht mehr vorhanden war. Der Mensch wurde zum passiven Zuschauer degradiert, dadurch starb die Fähigkeit des aktiven Erlebens ab: [107] „Die Jugend von heute entwickelt schnelle Radio- Ohren und schnelle Kino- Augen: sie kostet in verwirrender Folge widerstreitende Gemütsbewegungen, aber sie kostet nur deren Oberfläche.“
Die Vernachlässigung der körperlichen Tauglichkeit ließ laut Hahn die Grundlagen der Überwindungskräfte verkümmern: „ Einen willigen, leistungsfähigen Körper zu haben, ist heute nicht mehr Mode in England, und damit ist eine der Grundlagen der Überwindungskraft gefährdet, wie man sie zu langwierigen und mühsamen Unternehmungen braucht.“[108]
Einen Grund des Verfalls der körperlichen Tauglichkeit sah Hahn in den Methoden der modernen Fortbewegung und in der „Entartung des Sports“.
Hahn verdeutlichte dies an einem Beispiel aus der antiken griechischen Geschichte. Die Athener, die gegen die Perser in der Schlacht von Marathon im Jahre 490 v. Chr.kämpften, beschrieb Hahn als „Nation von trainierten Athleten“. Dagegen bezeichnete er die athenischen Kämpfer, die im Peloponnesischen Krieg gegen Sparta ins Felde zogen, als „ Nation von kompetenten Zuschauern“.[109]
Für diesen Niedergang machte er die „ungebührliche Heldenverehrung“, die außergewöhnlichen Sportlern entgegengebracht wurde, verantwortlich.
Die Heldenverehrung hinderte durchschnittlich begabte Jugendliche an ihrer eigenen Entfaltung im Streben nach Höchstleistungen. Hahn sah dieses Phänomen auch in der damaligen Zeit, vor allem in England und den Vereinigten Staaten von Amerika. Zur Überwindung dieses Verfalls nahmen verschiedene Formen des körperlichen Trainings in der Erziehungskonzeption Hahns eine bedeutende Stellung ein.
Trotz der überall verbreiteten „Verfallserscheinungen“ resignierte Hahn nicht: „ Ich glaube mit Plato an die Macht der Erziehung: Ich bilde mir nicht ein, daß Landerziehungsheime und Kurzschulen soziale Seuchen heilen können. Aber sie haben deren Heilbarkeit erwiesen. „ Das Weideland der Jugend“ ist krank überall in der Welt. Aber noch fließen Quellen seelischer Gesundung.“[110]
Hahn leitete aus den „Verfallserscheinungen“ die These [111] ab, dass Erziehen heute Schützen und Heilen bedeutete. Den Jugendlichen wollte Hahn „schützende Gewohnheiten“ vermitteln, um sie gegen die „ Seuchen“ der Gesellschaft zu immunisieren. Dies sollte durch die von Hahn konzipierte Erziehung in den Landerziehungsheimen und den Kurzschulen erreicht werden. Weiterhin sollten den staatlichen Schulen „erprobte Heilmittel“ der Landerziehungsheime zugute kommen, um eine „vollständige Gesundung“ der Jugend zu gewährleisten.
Hahn beobachtete einen vor allem bei Jugendlichen einen Verfall der Charakterbildung in der technisierten und schnelllebigen Gesellschaft seiner Zeit.
Seine Erlebnistherapie wollte die Kinder und Jugendlichen von den „ sozialen Seuchen heilen“ und ihnen „ Quellen seelischer Gesundung“ schenken:[112] „ Es ist Vergewaltigung, Kinder in Meinungen hineinzuzwängen, aber es ist Verwahrlosung, ihnen nicht zu Erlebnissen zu verhelfen, durch die sie ihrer verborgenen Kräfte gewahr werden können. Das ist umso nötiger, je weniger die moderne Umwelt die heranwachsende Jugend zu heilsamen Betätigungen ermuntert.“ Die Hahnsche Erlebnistherapie bestand aus vier Elementen: dem körperlichen Training (leichtathletische Pause), der Expedition, dem Projekt und dem Rettungsdienst. Die einzelnen Elemente durften dabei nicht unabhängig voneinander betrachtet und einegsetzt werden, ihre charakterbildende Wirkung ergab sich erst in ihrem Zusammenwirken.
Kurt Hahn war der Überzeugung, dass das körperliche Training aus Leibesübungen bestehen sollte, um besonders die Schnellkraft, die Sprungkraft, die Ausdauer und die Körperbeherrschung zu schulen.[113] Gedanklicher Orientierungspunkt Hahns war der deutsche Sportwissenschaftler Carl Diem [114], der die Charakterbildung körperlicher Betätigungen hervorhob:[115] „Sport als Leibesübung ist im Lebensbereich zweckfreien Tuns ein von Wohlgefühl und Festlichkeit erfülltes, natur- und kampffrohes, verfeinert und typisiert geregeltes Vervollkommnungsstreben. Der Gegner im Sport ist Freund als Träger der vergleichbaren Wettbewerbsleistung.“
Der Begriff der „leichtathletischen Pause“ stammte aus dem konzeptionellen Entwurf für das Landerziehungsheim Salem. Dort wurde die „leichtathletische Pause“ eingeführt, um die sitzende Tätigkeit am Vormittag während der Unterrichtsstunden durch ein Bewegungstraining zu unterbrechen. Für Hahn bedeutete die „leichtathletische Pause“ eine Kompensation der Bewegungsarmut der Schüler während den Unterrichtsstunden.
Hinter dieser Überlegung steckte auch die ganzheitliche Anschauung des Menschen von Kurt Hahn. Hahn ging von einer Wechselwirkung der geistigen Anstrengung und der körperlichen Betätigung aus: „ (...) die Leibesübungen in Hahns Schulen (können, M.L.) über biologische Schutzmaßnahmen hinaus in besonderem Maße seelisch- geistige Werte im Menschen vom Leib her entwickeln.“[116]
Für Kurt Hahn war das körperliche Training wegen seiner Förderung zur vitalen Gesundheit[117] und seiner Stärkung des Willens ein wichtiges Erziehungsmittel.[118]
Hahn besaß eine Vorliebe für Leichtathletik, bei den Mannschaftssportarten bevorzugte er das Hockeyspiel. Ausgewählte Mannschaftssportarten förderten seiner Meinung nach die soziale Kompetenz der Schüler: „ Die Krönung bildeten die Mannschaftssportarten, die den bundesgenössischen Sinn üben und somit zur Sozialkompetenz erziehen.“[119]
In der viermal wöchentlich stattfindenden „leichtathletischen Pause“ wurde erst durch die Ausübung von gewohnten und bereits beherrschten Übungen Erfolgserlebnisse vermittelt und damit Zuversicht und Selbstvertrauen aufgebaut.[120]
Anhand der Hahnschen Vorstellung von Willensbildung sollten auch die ungewohnten, schwächeren Disziplinen trainiert werden: [121] „ Wir fordern die mühselige Überwindung der Schwäche, genauso wie wir die beglückende Entwicklung der angeborenen Stärke ermutigen.“ Um diese Selbstüberwindung zu trainieren und dabei den Schülern eine Selbstentdeckung beim Umgang mit ihren eigenen Leistungsgrenzen und Schwächen zu ermöglichen, wurden für jeden einzelnen individuelle Leistungsziele ausgearbeitet, die es ohne Zwang zu realisieren galt.[122] Bei der Ausarbeitung des individuellen Trainingsplans wurde besonders darauf geachtet, dass das Zeil nicht zu hoch gesteckt wurde, so dass es mit stetigem Trainingsaufwand und Überwindung erreicht werden konnte. Damit ließ die Differenzierung eine Konzentration auf die individuelle Leistungssteigerung zu und sprengte den als einseitig empfundenen Bewertungsmaßstab in Gruppen, der vom leistungsstärksten Teilnehmer ausging.
Hahn wollte auf dem sportlichen Sektor unterdurchschnittlich begabten Schülern durch intensives Training die Möglichkeit zur Stärkung des Selbstvertrauens geben.[123] Von Hentig kritisierte diese Denkhaltung Hahns, da „sich mit seiner eigenen Schwäche zu befassen, selbst ein Ausdruck dieser Schwäche ist.“[124] Dem ist zu entgegnen, dass sich mit seiner Schwäche auseinanderzusetzen, nur dann Ausdruck einer Schwäche selbst ist, wenn man diese Schwäche als Makel empfindet und sich durch unnötige Grübeleien über die Schwäche verliert. Wenn die Schüler Hahns die Schwäche durch fortdauerndes Training überwinden lernen, wird sie zu einem pädagogischen Instrument der Willensstärkung.
Die „leichtathletische Pause“ in Salem wurde im Laufe der Zeit durch andere Disziplinen wie Kletterübungen, Bergsteigen, Segeln, Kanufahren, Skifahren, Reitübungen usw. ergänzt.
Das sportliche Training wirkte dem Verfall der körperlichen Tauglichkeit und der Unternehmungslust entgegen und förderte die körperliche Leistungsfähigkeit für die anderen Komponenten der Erlebnistherapie.[125]
Hahn adaptierte die Projektmethode aus dem gleichlautenden amerikanischen Ansatz von Kilpatrick und Dewey. [126] Deren Projektmethode gründete sich auf der Theorie, dass Erziehung das Leben selbst, wie umgekehrt Leben gleich Erziehung war.[127] Weil Leben eine Planung erforderte, mußte sich Erziehúng und infolge dessen auch das sie umfassende Leben auf planendes Handeln gründen und dies lernen und üben lassen. Dies geschah am besten in Projekten mittels eines Lernens durch Handlung. Dewey und Kilpatrick bezeichneten das Lernen im Projekt als Methode der denkenden Erfahrung. Lernen bedeutete das Herstellungen von Erfahrungen, dabei besaß das Handeln eine doppelte Funktion:[128]
Das Projekt Hahns bestand aus einer selbst gewählten oder von außen vorgegeben Aufgabe;. es diente als geistiger und handwerklicher Ausgleich zu den körperlichen Aktivitäten. Die Jahresarbeiten in den Landerziehungsheimen von Hermann Lietz dienten als Vorbild für die Durchführung des Projektes in den Hahnschen Schulen.
Das Projekt enthielt drei spezielle Merkmale:[129]
Als Projektinhalte konnten künstlerische Arbeiten, Naturschutzaktivitäten, musische Vorführungen, Theaterdarstellungen, Konzerte, das Erstellen von Dokumentationen sowie Informationsveranstaltungen über ein bestimmtes Thema gewählt werden. Das folgende Beispiel diente Hahn als Musterexemplar eines Projektes:[130] „Ein an Tierphotographie interessierter Junge wurde von einem Salemer Lehrer dazu ermutigt, die folgende Aufgabe zu lösen: wilde Turmfalken zu photographieren von dem Tag an, an dem sie auskrochen, bis zu dem Tage, an dem sie flügge wurden. Es ist unschwer zu ermessen, welche Kräfte bei diesem Jungen bei der bewältigung der Aufgabe ins Spiel kamen: Erfinderkraft bei dem raffinierten Einbau des Photoapperates, Voraussicht in der Überlistung der Vögel, scharfe Beobachtung und siegreiche Geduld, die ganze Zeit hindurch: man kann sich vorstellen, wie das Gelingen der mühseligen Unternehmung den jungen Menschen beseligt hat.“
Hahn ging es bei bei dem Projekt um einen intensiven ausdauernden Umgang mit einer Aufgabe, die der Schüler sich zu eigen machen und erfolgreich bis zum Ende durchführen sollte. Mit dem Projekt sollte der Schnellebigkeit, der Oberflächlichkeit und dem Verfall der Sorgsamkeit entgegengewirkt werden.
In der Regel wurden keine außergewöhnlichen Beiträge oder Werke erwartet; die Projekte sollten vielmehr der Lebenserziehung der Schüler dienen.
Bei der Durchführung des Projektes kam es Kurt Hahn vor allem darauf an, „die Leidenschaft des Schaffens und der Mühsal und Sorgfalt auf dem Weg zum Ziel“ in den Schülern zu wecken.“[131]
Die Expedition diente als Ergänzung des körperlichen Trainings [132] und wandte sich gegen den Verfall der Initiative innerhalb der Jugend. Während den Expeditionen konnten die Schüler intensive Erfahrungen sammeln, die für das zukünftige Leben als immer wieder abrufbare Orientierung dienen sollten.
Die Behauptung von Hentigs, dass Hahn „ (...) sich auf dem Gebiet des „Lernens“ die Expeditionen der Jugendbewegung der (Lietz- Schulen) zu eigen gemacht“[133] hat, muß als undifferenziert abgelehnt werden. Der Hahnsche Projektansatz unterscheidet sich eindeutig in Form und Zielsetzung von den häufig mehrere Wochen dauernden „Schulreisen“ der Lietzschen Gründungen und den rein auf die Gemeinschaft ausgerichteten Unternehmungen der Jugendbewegung.[134]
Unter einer Expedition konnten ein- oder mehrtägige Touren wie Bergbesteigungen, Seereisen, Kanufahrten oder Skiunternehmungen verstanden werden. Die Lernziele bei einer Expedition bestanden in der intensiven Planung, Sorgsamkeit, Umsicht, Entschlußkraft, Widerstandsfähigkeit, Flexibilität, Zähigkeit in der Durchführung, Widerstandsfähigkeit und Nervenkraft.[135]
Ein Beispiel für das Erlernen dieser Eigenschaften war eine siebentägige Wanderung innerhalb eines Sommerkurs in der Kurzschule Berchtesgaden, wo die Teilnehmer hohen physischen, psychischen und sozialen Belastungen ausgesetzt waren.[136] Dabei wurde den ihnen vermittelt, nicht nur positive Gefühle beim Erreichen des Ziels zu erfahren, sondern auch die vordergründig als negativ empfundenen Elemente wie Erschöpfung, Angst oder Auseinandersetzungen inerhalb der Gruppe als untrennbar damit verbunden zu erleben. Die Betonung bei der Durchführung von Expeditionen lag in der Einübung der Ausdauerfähigkeit sowie in der Überwindung von Erschöpfungszuständen, Hunger und Durst und nicht in Erfahrung kurzfristiger Höchstleistungen oder Sensationen.[137]
In den Landerziehungsheimen wurden pro Jahr drei bis vier kleinere Expeditionen durchgeführt, die als Vorbereitung einer größeren in den Ferien dienten.
Häufig fanden auch Expeditionen in Verbindung mit Projekten statt, vor allem wenn sie biologische und geologische Erkundungen beinhalteten.
Kurt Hahn betrachtete den Rettungsdienst unter den vier Komponenten der Erlebnistherapie als das „wichtigste Element der Heilung.“[138]
Dabei wurde eine für die Allgemeinheit nützliche Einrichtung mit dem herausragenden Hahnschen Erziehungsziel, dem Dienst am Nächsten, praktisch verbunden. So konnte ein direkter und sinnvoller Lernbezug hergestellt werden, der dem Schüler die Bedeutung seines Handelns unmittelbar erkennen ließ.[139]
Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, dessen Schlußsatz lautete: „ So gehe hin und tue desgkleichen“ [140], wurde im Rettungsdienst umgesetzt. Hahn ging es dabei nicht um die mitleidende Teilnahme, die als bloße Ergriffenheit von fremdem Leid begriffen wurde, sondern um die „energische Teilnahme“, die praktische Tathandlung.[141] Er verband in diesem Zusammenhang seine Vorstellung von der „energischen Teilnahme“ mit dem christlichen Gebot der Nächstenliebe.
In Abhängigkeit von der Lage der Schule wurden die Jugendlichen in verschiedenen Rettungsorganisationen wie Küstenwacht, Bergwacht bzw. in Erster Hilfe ausgebildet.
Die Kurzschule Baad im Kleinwalsertal, die im Hochgebirge liegt, wurde mit dem notwendigen Equipment für Rettungseinsätze im Sommer und Winter ausgestattet. Die Schüler lernten bei den Bergrettungsübungen das Abseilen von Verunglückten über unwegsame Hindernisse ( Akja) und das Absuchen einer Lawine mit Sonden. Weiterhin wurde ihnen beigebracht, mit dem Sprechfunkgerät der Schule umzugehen, das bei Rettungsaktionen eine große Hilfe darstellte.[142] Hahn kam aufgrund seiner Beobachtungen zu der Erkenntnis, dass „nicht nur der Einsatz im Ernstfall, sondern auch die realistische Schulung für den Ernstfall eine befreiende und veredelnde Wirkung auf junge Menschen ausübt.“[143]
Durch die Einführung des Rettungsdienstes in Gordonstoun gewann Hahn drei allgemeingültige Ansichten über die Bedürfnisse der Jugendlichen: [144]
Dem Bewährungsdrang des Jugendlichen wurde somit ein höherer sozialer Status verliehen und außerdem konnte Kurt Hahn seine Vorstellungen, im Rettungsdienst ein „moralisches Äquivalent des Krieges“ gefunden zu haben, verwirklichen. Eine der Hahnschen Grundideen, der Friedensdienst, wurde dadurch realisiert.
Weiterhin dienten die Berg- und Seerettungsdienste als Gegenpol zum Verfall der Hilfsbereitschaft, der menschlichen Anteilnahme und dem sozialen Handeln.[146]
Es ist umumstritten, dass Hahn als der pädagogische Vorreiter in der Erkenntnis und praktischen Umsetzung des Rettungsdienstes als Erziehungsmittel bezeichnet werden kann. Die These Meissners [147], dass Hahns Vorstellungen von der erzieherischen Bedeutung des Rettungsdienstes mit den körperlichen Arbeiten in der Landwirtschaft der Landerziehungsheime von Hermann Lietz in der „Rückverbindung zum Elementaren“ [148] in einem geistigen Zusammenhang standen, muß als zu weit hergeholte Konstruktion zurückgewiesen werden.
Die charakterbildende Wirkung der Erlebnistherapie ließ sich in einer Dreistufung beobachten. Die einzelnen Teile bedingten und ergänzten sich gegenseitig und bildeten somit eine organische Einheit:[149]
1. Die vier Komponenten der Erlebnistherapie (körperliches Training, Expedition, Projekt und Rettungsdienst) wurden gezielt den vier „Verfallserscheinungen“ (Verfall der körperlichen Tauglichkeit, der Initiative, der Sorgsamkeit und der menschlichen Anteilnahme) entgegengestellt. Sie blieben als Einzelelemente aber nur auf das teleologische Entgegentreten einer bestimmten zivilisatorischen Notlage beschränkt.
2. In der zweiten Stufe kam die eigentliche charakterbildende Wirkung der Erlebnistherapie zum Vorschein. Sie entwickelte sich in der gegenseitigen Verästelung und in der praktischen Durchführung des Zusammenspiels ihrer Elemente unter dem gemeinsamen Motiv des Erlebnisses in der Kurzschule.[150] Das Erlebnis bedeutete für Kurt Hahn kein zufälliges Ereignis, es war vielmehr das Endresultat eines sorgsam durchdachten Planes.
Diese Erlebnisse sollten die Erinnerungen der Schüler[151] prägen und als Kraftquelle für entscheidende Augenblicke im weiteren Leben dienen. Die Wirkung der prägenden Erlebnisse in den vier Elementen der Erlebnistherapie in Form „heilsamer Erinnerungsbilder“ für das spätere Leben entnahm Hahn dem Gedankengut von William James.
Hahn übernahm von James die Vorstellung, dass der Grad der Intensität eines Erlebnisses im weiteren Leben bei gleichen Erfahrungen für die Wiedererinnerung entscheidend war: „Events lived through only one, and in youth, may comes in after- years by reason of their exiting quality or emotional intensity to serve as types or instances.“[152]
Die im Gedächtnis eingebrannten Erfahrungen konnten laut James bei ähnlichen Erfahrungen dieselbe Wirkung beim Menschen auslösen wie die Gewohnheit.
Im Gegensatz zu der Gewohnheit, die auf die ständige Übung aufbaute, war die Intensität des Erlebnisses und des handelnden Einsatzes für das spätere Verhalten von enormer Wichtigkeit. Der Grad der persönlichen Aktivität war entscheidend für die Stärke des Widererinnerns: „ Where you are passive you forget; where you are active you remember.“[153]
3. Die Erlebnistherapie war für Hahn nur das Mittel der Erziehung, die den Schüler vor der Verkümmerung der „Kinderkraft“ in den Pubertätsjahren und vor einseitiger Wissensvermittlung durch die Staatsschulen schützen sollte. Über diesem thronte die oberste Leitidee Hahns: die Erziehung des Menschen zur Verantwortung und zur Sittlichkeit in einem Staate auf demokratischer Grundlage. Dieses Ziel sollte jeder Schüler durch die Erlebnistherapie verinnerlichen.
In seiner Schrift „Hoffnungen und Sorgen eines Landerziehungsheims aus dem Jahre 1957 erweiterte Hahn die oben genannten Zielvorstellungen: [154] „ (...) Wenn Duldsamkeit und menschliches Verstehen (...) noch neue Wurzeln schlagen kann bei reifen Männern von ganz verschiedenen Nationalitäten, dank gemeinsamer Erlebnisse, wieviel hoffnungsvoller wäre die Aufgabe, werdende Menschen aus aller Welt in ihren empfänglichsten Jahren durch die Kameradschaft eines fordernden Gemeinschaftslebens miteinander zu verbrüdern.“
Der griechische Philosoph Platon (428/427[155]- 348/347 v. Chr.) stellte für Kurt Hahn einen „ewigen Lehrmeister“ dar.[156] Schon während seiner Schul- und Studienzeit machte sich Kurt Hahn mit den pädagogischen Gedanken Platons vertraut. Vor allem durch die in der „Politeia“ entwickelte Theorie erwarb Hahn Erkenntnisse, die seine eigenen Erziehungsvorstellungen nachhaltig beeinflusst haben.[157]
In der „Politeia“ unterschied Platon drei Stände, nämlich den der „Philosophenkönige“, der Wächter und den Erwerbsstand.[158] Er behandelte im Wesentlichen nur die Erziehung der Wächter, die die „Tüchtigsten“ aus dem dritten Stande darstellten und aus deren Kreise wiederum durch noch strengere Auswahlkriterien die „Philosophenkönige“ hervorgingen. Neben diesen Auswahlkriterien sollte eine planmäßige Erziehung der körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte nach dem griechischen Leitbild des Kalokagathos treten. Die Kalokagathie (griechisch: schön und gut) war das altgriechische Hochbild vom Menschen, das die körperliche und die seelische Wohlgeformtheit, die Tüchtigkeit und die geistige Vollkommenheit umfasste.[159]
Platon unternahm den Versuch, den einzelnen Menschen wieder in das Gesamte der Polis einzuordnen. Die Paideia[160], die Einheit der musisch - gymnastischen Erziehung, die nicht an die Voraussetzung besonderer Schuleinrichtungen geknüpft war, bedeutete für den athenischen Denker, Formung in der Gemeinschaft und um der Gemeinschaft willen, aber auch Hingabe an eine objektive Sache.
Laut Natorp lag ein zentraler Inhalt seiner Philosophie in der Idee des Guten, des obersten Wertes der Ideenlehre. Diese bildete die Krönung seiner Philosophie wie seiner pädagogischen Ideen.[161]
Derbolavs These, dass der Erziehungsvorstellung Platon eine bestimmte Anschauung vom Wesen der menschlichen Seele zugrunde lag, ist zuzustimmen.[162] Die menschliche Seele bestand laut Platon aus dem vernünftigen (logistikon), dem mutigen (thymoeides) und dem begehrenden (epithymetikon) Seelenteil. Diese drei Seelenteile sollten jeweils im Verhältnis zueinander stehen, so wie in der „Politeia“ der erste Stand („Philosophenkönige“), dem zweiten („Wächter“) und dem dritten (Erwerbsstand) übergeordnet war. Platon war der Überzeugung, dass den drei Seelenteilen und den drei Ständen drei Tugenden entsprachen:
Diese drei Tugenden waren ein Teil der höchsten und allen gemeinsamen Tugend, der Gerechtigkeit (dikaiosyne).[163]
Die Erziehungsgemeinschaft lag für Platon in dem näheren Verhältnis zwischen älteren Lehrenden und jüngeren Lernenden im gemeinsamen Streben nach dem Guten.[164] Lernen bedeutete für Platon gegenseitiges Verständnis über ein objektiv Gegebenes im gemeinsamen Hinblicken auf eine Sache, zugleich das Schauen des Wahren, Guten und Schönen.
Gemäß Nettleship blieben Wissenschaft und Philosophie in der platonischen Philosophie einer Führungselite vorbehalten.[165] Dagegen sollte die breite Masse der Bevölkerung an der musischen und gymnastischen Erziehung teilhaben. Die gymnastische Erziehung zielte auf die harmonische Ausbildung der körperlichen Anlagen und Förderung der Gesundheit zum Wohle der Gemeinschaft. Über die Erziehung der Jugend durch Gymnastik schrieb Platon:[166] „Also einer auserlesenen Übung, sprach ich, werden unsere kriegerischen Kämpfer bedurften, da sie ja wie Hunde notwendig wachsam sein müssen und möglichst scharf sehen und hören, und weil sie sich im Felde vielerlei Abwechslungen des Getränkes und der Speisen und so auch der Hitze und Kälte müssen gefallen lassen, nicht zärtlich sein dürfen von Gesundheit.“
Der Begriff der Mimesis, des Hinschauens auf beeindruckende Vorbilder und des selbständigen Nachvollzugs, war für die musische Erziehung von großer Bedeutung. Platon fasste die musische Erziehung so weit, dass auch Mathematik und Naturwissenschaften miteinbezogen wurden. Störig folgend verstand der griechische Denker die musische Erziehung als Vorstufe des philosophischen Denkens.[167]
Kurt Hahn nahm sich vor allem Platons ganzheitliche Sicht des Menschen (Körper, Geist und Seele, Individuum und Gesellschaft) zum Vorbild.[168]
Ein weiterer Bezug zur platonischen Pädagogik lag in der Übernahme von Nachahmung und Übung, die von Kurt Hahn als unentbehrlich für die Realisierung seiner Erziehungsziele angesehen wurde.[169]
Hahn teilte mit Platon den Glauben an die Macht der Erziehung. Sie waren beide der Überzeugung, dass in jedem Heranwachsenden positive und negative Kräfte vorhanden waren. Um die positiven Eigenschaften zu wecken und in stärkerem Maße auszubilden, bedurften junge Menschen einer intensiven und nachhaltigen Erziehung.
Laut Schwarz führte Hahn die individualistische und staatsorientierte Sichtweise der Erziehung Platons weiter fort, die in einer Wechselbeziehung standen:[170] „Hahn sieht in Anlehnung an Platon folglich die Mitte in einer Erziehung, die im Interesse des Staates einerseits das Individuum zur Entdeckung seiner (...) latenten Kräfte hinführt und andererseits im Interesse des Individuums dieses für einen Platz im Dienst an der Gemeinschaft qualifiziert.“
Kurt Hahn konzipierte die Erziehungsgrundsätze des Landerziehungsheims Salem in Anlehnung an Platons „Politeia“. In Salem waren Namen und Wesen der führenden Ämter der Selbstverwaltung durch Platon bestimmt, der vertrauenswürdigste Schüler galt als „Wächter“ des Schulstaates.[171]
Von Hentig vertrat die Auffassung, dass Hahn die platonischen Gedanken falsch interpretiert habe:[172] „Bei meiner Beschäftigung mit Hahns schmalen und seiner Freunde dickeren Schriften habe ich mich immer wieder gefragt, wie soviel Mißverständnis von Platon möglich ist.“ Er warf Kurt Hahn vor, nicht beachtet zu haben, dass Platons „Politeia“ lediglich ein Modell für den Zweck der Erkenntnis von Gerechtigkeit darstellte und er Salem als „Kopie der Politeia“ konzipiert hat.[173]
Diesem Einwand ist mit Ziegenspeck zu begegnen, der mit Recht darauf verwies, dass Hahn bewusst eine eigene Deutung der pädagogischen Vorstellungen Platons vornahm.[174] Hahn selbst wies in seiner Schrift „The practical child and the bookworm“ aus dem Jahre 1934 darauf hin, dass er die Erziehungsideen Platons vereinfachend gedeutet hat und dabei nicht immer dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand gefolgt war.[175] Erst diese individuelle Interpretation Platons versuchte Hahn, in die Wirklichkeit zu transformieren.
Cecil Reddie, der als Begründer der internationalen Landerziehungsheimbewegung gilt, gründete im Oktober 1889 aus Protest gegen die traditionelle britische Public School das erste Landerziehungsheim in Abbotsholme bei Rochester/England.[176] Die traditionelle Schule in England sah Reddie als Ort harter Arbeit und sturer Wissensvermittlung an; er vermisste in den Erziehungsplänen die Vermittlung der Freude am Lernen und die Formung des Charakters der Schüler:[177] „Anstatt die Grundbegriffe der (...) Orthographie zu pauken, sollte unseren Kindern beigebracht werden, zu leben und zu lieben, das Gute zu wollen (...). Statt Herzensbildung haben wir ihnen pure technische Kennerschaft aufgezwungen, und zwar auf Gebieten, die für das Leben unwesentlich sind. (...) Die Hauptaufgabe der Schule ist, dem Kind seine Umwelt und das Leben zu erklären und es dazu zu bringen, die Verbesserung von beidem zu unterstützen. Das kann man durch eine Kombination von Disziplin und Liebe (...) erreichen (...).“
Reddie studierte an den Universitäten Edinburgh und Göttingen Chemie und Mathematik, wenige Jahre nach der Gründung von Abbotsholme ging er nach Jena zu dem Herbartianer Wilhelm Rein, in dessen Übungsschule er auch Hermann Lietz als Oberlehrer kennen lernte. Gemäß Andreesen trug die Beschäftigung mit Reins Werken zur Entfaltung und Entwicklung seines eigenen erzieherischen Grundkonzeptes bei.[178] Reddie zeigte sich vor allem vom Herbartianismus, der in England unter dem Thema „The five steps“[179] großen Anklang fand, in hohem Maße angetan. Was den intellektuellen Bereich betraf, schätzte er den deutschen Schulunterricht sehr hoch ein. Reddie hatte die Absicht ihn „(...) mit unserer englischen Vorliebe für Freiheit und Selbstvertrauen (...) zu kombinieren.“[180]
Reddie besaß den Anspruch, zuerst Schüler und erst dann Fächer zu unterrichten:[181] „Der Erziehungsplan von Abbotsholme richtet sich nach dem Postulat, daß die Seele - ebenso wie Geist und Körper - auf die Umgebung reagiert und so auf die sittliche Natur eine Reihe von gebändigten Kräften einwirken läßt, die denen parallel laufen, welche den Jungen geistig und körperlich erziehen sollen. Nun ist die zwingenste bekannte Kraft jene, die sich aus einer Haltung von mit Verantwortungsbewußtsein gepaarter Zuneigung ergibt.“
In Abbotsholme stand der Unterricht in den neuen Sprachen, Geschichte und die Naturwissenschaften im Vordergrund, daneben führten die klassischen Sprachen ein Schattendasein.[182] Der Schulalltag sah morgens die Unterrichtsstunden und am Nachmittag die freieren Aktivitäten vor, zu denen neben Sport, Exkursionen, musischen Tätigkeiten auch praktische Arbeit auf dem Feld, in den Werkstätten oder im Garten zählten. Das geistige Zentrum des Schultages, das die verschiedenen Tätigkeitsbereiche in einer Einheit zusammenschließen sollte, war die „Chapel“ von Abbotsholme, die einen „meditativen Haltepunkt, der von christlicher Geistigkeit durchdrungen ist“[183], darstellte.[184]
Kurt Hahn erfuhr im Jahre 1903 von Abbotsholme durch das Werk „Emlohstobba[185] - Roman oder Wirklichkeit“ von Hermann Lietz. Dieses Buch machte auf ihn einen nachhaltigen Eindruck:[186] „Man gab mir das Buch ‚Emlohstobba’, das mein Schicksal besiegelte.“
Hahn lernte die Schule Abbotsholme erst in den 30er Jahren kennen, jedoch kam es zu keiner persönlichen Begegnung mit Cecil Reddie. Der Besuch von Abbotsholme School und die dort angewandten Erziehungsmethoden beeindruckten Hahn sehr:[187] „Ich hatte riesigen Respekt vor der Pionierarbeit von Cecil Reddie, fühle mich jedoch von seinem exzentrischen Wesen wenig angezogen, da es mit mir verwandt war.“
Hahn war von der Idee Reddies[188], eine Gemeinschaft von Erziehern und Schülern aufzubauen, äußerst angetan:[189] „Ein Internat sollte nicht eine Familie im großen, sondern ein Staat im kleinen sein. Ich glaubte fest an die Partnerschaft von Schülern und Lehrern, nicht durch unechte Familienbande, sondern durch fesselnde Aufgaben und Zielsetzungen miteinander verbunden, die das bereitwillige Eintreten der Partner erfordern. In diesem Zusammenhang sollte ich erwähnen, daß das, was mich am Gemeinschaftsleben (...) von Abbotsholme am meisten beeindruckte, der Brückenschlag war, der auch der benachbarten Gegend zugute kam.“
Reddie lag das Entstehen einer europäischen Kultur am Herzen:[190] „Der Tag wird kommen, da kein Lehrer in England für gebildet angesehen wird, der nicht Englisch, Französisch und Deutsch sprechen und schreiben kann, - ob er Latein oder Griechisch oder Hebräisch kann, danach wird nicht einmal mehr gefragt werden. Ein Lehrerkollegium, das somit in der Lage ist, die Kultur dreier Völker aufzunehmen, wird englischen Jungen in Bälde etwas von jenem Weltkulturgeist einflößen vermögen, dessen Fehlen uns gegenwärtig untauglich für die Verwaltung des weiten Machtsbereich macht, den uns eher der Zufall als ein ausgeklügelter Plan übertrug. (...) Britische Universitäten sind gegenwärtig wenig mehr als Colleges provinziellen Charakters - internationale Stätten kultureller Begegnung sollten sie sein.“ Hahn verinnerlichte diesen Gedanken und realisierte ihn in der Praxis bei der Gründung von Atlantic Colleges in allen Teilen der Welt. Im Jahre 1962 wurde im St. Donat’s Castle an der Südwestküste von Wales das erste Atlantic College eröffnet, das als internationale Oberstufenschule Jugendliche aus den verschiedensten Ländern der Welt auf die Maturität vorbereiten sollte. Das Ziel der Atlantic Colleges lag in der Vermittlung einer internationalen Bildung und die Förderung des gegenseitigen Verständnisses eines ausgewählten Kreises Jugendlicher.
Reddie lag das Entstehen einer europäischen Kultur am Herzen:[191] „Der Tag wird kommen, da kein Lehrer in England für gebildet angesehen wird, der nicht Englisch, Französisch und Deutsch sprechen und schreiben kann, - ob er Latein oder Griechisch oder Hebräisch kann, danach wird nicht einmal mehr gefragt werden. Ein Lehrerkollegium, das somit in der Lage ist, die Kultur dreier Völker aufzunehmen, wird englischen Jungen in Bälde etwas von jenem Weltkulturgeist einflößen vermögen, dessen Fehlen uns gegenwärtig untauglich für die Verwaltung des weiten Machtsbereich macht, den uns eher der Zufall als ein ausgeklügelter Plan übertrug. (...) Britische Universitäten sind gegenwärtig wenig mehr als Colleges provinziellen Charakters - internationale Stätten kultureller Begegnung sollten sie sein.“ Hahn verinnerlichte diesen Gedanken und realisierte ihn in der Praxis bei der Gründung von Atlantic Colleges in allen Teilen der Welt. Im Jahre 1962 wurde im St. Donat’s Castle an der Südwestküste von Wales das erste Atlantic College eröffnet, das als internationale Oberstufenschule Jugendliche aus den verschiedensten Ländern der Welt auf die Maturität vorbereiten sollte. Das Ziel der Atlantic Colleges lag in der Vermittlung einer internationalen Bildung und die Förderung des gegenseitigen Verständnisses eines ausgewählten Kreises Jugendlicher.
Reddie wandte sich vehement gegen eine Spezialisierung des Lernens; die Erziehung der jungen Menschen sollte möglichst alle Facetten des Wissensspektrums enthalten, damit der Geist der Schüler in alle Richtungen hin zur freien Entfaltung gelangen konnte. Hahn konnte ebenfalls der Spezialisierung des Lehrplanes wenig abgewinnen und teilte Reddies Anschauungen:[192] „(...) also muß der Pädagoge dafür sorgen, daß solche Eigenschaften wie physischer Mut, Schärfe des Denkens, Gesundheit und Lebensfreude ausgebildet werden, damit der von ihm erzogene Mensch nicht in der Freiheit seiner Wahl beschränkt wird.“
Die Auffassung Hahns, dass Spiele[193] „entthront“ werden müssten, ging eindeutig auf Reddie zurück:[194] „Körperliches Training ergibt sich nicht nur einseitig aus bloßem Spielen, sondern in einem gewissen vernünftigem Maß aus nutzbringender Handarbeit.“
Die Gründung der Schule Abbotsholme blieb in Großbritannien bis auf das Interesse einiger weniger Fachleute aus dem Erziehungswesen unbemerkt.
In anderen Ländern wie Frankreich[195]
Demolins, E.: L’Education nouvelle, Paris 1901 oder Bäcker, M.: Die Landerziehungsheime in Frankreich, Langensalza 1914, Deutschland, Niederlande, Schweiz, Finnland und Schweden besaßen die Ideen Reddies eine größere Bedeutung.
In Deutschland war für die Verbreitung der Vorstellungen Reddies die Veröffentlichung des bereits oben erwähnten Buches „Emlohstobba“ von Hermann Lietz entscheidend. Lietz war ein Jahr lang Gastlehrer in Abbotsholme, wo er die pädagogischen Vorstellungen von Cecil Reddie kennen lernte und verinnerlichte.
Die dort gesammelten Erfahrungen veranlassten ihn, im Jahre 1889 ohne staatliche Unterstützung ein Landerziehungsheim bei Ilsenburg im Harz zu gründen. Diese Gründung zog weitere nach sich, so entstanden Heime in Schondorf am Ammersee (1905), die Freie Schulgemeinde Wickersdorf (1906), die Odenwaldschule (1910), Gandersheim (1923), Juist (1925), Laacher See (1928) usw., die direkt oder indirekt auf Lietz zurückgingen. Lietz wurde demnach als „Vater der deutschen Landerziehungsheime“ bezeichnet.[196]
Von der „New School Abbotsholme“ übernahm Lietz vielseitige Anregungen zur äußeren Gestaltung.[197] Das geistige Fundament erhielt er von dem Herbartianer Wilhelm Rein an dessen Universitätsübungsschule in Jena. Rein formulierte das programmatische Ziel einer Erziehungsschule, deren Ziel darin bestand „(…) eine allgemeine Menschenbildung, die im Dienste der religiös - sittlichen Interessen steht, zu vermitteln; die Veredelung einer Gesamtbildung anzubahnen, die nicht an gewisse Stände geknüpft ist.“[198] Laut Blättner bekam Lietz durch die Beschäftigung mit der Schrift Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ in der Jenaer Übungsschule wichtige Gedankenanstöße für die Gründung der Landerziehungsheime.[199]
Lietz kritisierte in seinen schriftlichen Zeugnissen vor allem das traditionelle Schulwesen in Deutschland:[200] „Man hat bei der Aufstellung der Lehrpläne eben fast nur die Menge der Kenntnisse berücksichtigt, die der Schüler wissen müßte. Um das wahre Erziehungsziel, um die Einheit des Ganzen, um die Verbindung der Fächer, den psychologischen Fortschritt von der Anschauung zur Vorstellung, zum Denken bekümmert man sich dabei nur zu wenig.“
Er stellte der traditionellen „Unterrichtsschule“[201] eine neue „Erziehungsschule“ entgegen:[202] „(...) Das Ziel der Unterrichtsschule alten Systems war und ist die Aneignung von Kenntnissen und Fertigkeiten, von Wissen, von Gelehrsamkeit. (...) Ganz anders, ja gerade entgegengesetzt, in Zielen wie in Mitteln, verfährt die Schule, welche die alte Unterrichtsschule ablösen wird oder hier und da schon abgelöst hat: die Erziehungsschule. Nicht Kenntnisse, Wissen, Gelehrsamkeit, sondern Charakterbildung, nicht alleinige Ausbildung des Verstandes und Gedächtnisses, sondern Entwicklungen aller Seiten aller Kräfte, Sinne, Organe, Glieder und guten Triebe der kindlichen Natur zu einer möglichst harmonischen Persönlichkeit; nicht Lesen, Schreiben, Griechisch, sondern Leben lehren: das ist das ideale Ziel, welches die Erziehungsschule bei allem, was sie mit dem Zögling vornimmt, nie außer acht läßt.“
Lietz wollte ein Bildungsideal schaffen, wo die Charakterentwicklung der Schüler einen ebenbürtigen Platz neben der Wissensvermittlung einnahm:[203] „Wenn somit Ziel jeder Erziehungsschule (...) Vorbereitung aufs Leben durch Ausbildung eines charakterstarken Willens ist, so nimmt als Mittel zu solchem Ziel die Ausbildung der Körperkraft und Gewandtheit, sowie der Tüchtigkeit im Gebrauch der Gliedmaßen zu praktischer Handarbeit und die Ausbildung der Sinne eine ebenso hohe Stellung ein, als die Ausbildung des Intellekts.“
In der Erziehungsschule sollten laut Lietz körperliche Übungen, Handfertigkeiten, Turnen und spielerische Übungen durchgeführt werden:[204] „Die alte Unterrichtsschule hatte naturgemäß zunächst gar keine körperliche Betätigung der Jugend. Dann führte sie langsam und meist widerwillig Turnen ein. (…) In der reichen Skala der körperlichen Bethätigungen der Erziehungsschule nimmt Turnen etwa nur die Stelle ein, wie früher Erdkunde, inmitten der übrigen Unterrichtsfächer. Schwimmen, Rudern, Zweiradfahren, jede Art von Spiel und körperlicher Arbeit, kommen hinzu und werden methodisch betrieben. Denn nur so kann aus ihnen Nutzen für die Charakterbildung entspringen. Das Spiel z.B. muß geordnet, organisiert sein. In ihm hat jeder seinen Posten und auf diesem etwas ganz bestimmtes zu thun. Dabei wird freiwillig Unterordnung, wird Zusammenarbeit gelernt, wird Geistesgegenwart, Mut, Stärke, Geschicklichkeit entwickelt.“
Lietz verfolgte die Absicht, durch die Betonung handwerklicher Tätigkeiten soziale Unterschiede zu nivellieren:[205] „(...) die Handarbeit unserer vornehmsten Knaben (wird, M.L) eine Brücke abgeben können, über die klaffenden gesellschaftlichen Klassenunterschiede“. Weiterhin lieferten ökonomische Zwänge die Begründung für die praktische Arbeit in den Landerziehungsheimen von Hermann Lietz. Die Arbeiten im Garten, in der Landwirtschaft und beim Bau stellten einen Beitrag der Schüler zur Aufrechterhaltung des Heimlebens dar.[206] Lietz gestaltete die von ihm gegründeten Landerziehungsheime zu Stätten lebendiger Persönlichkeitsbildung aus. In den Heimen wurden die Schüler zu selbständigen Menschen vor allem in den Tätigkeitsfeldern Handwerk, Landarbeit, Wissenschaft und Kunst erzogen.[207] Es existierte zumeist ein kameradschaftliches Verhältnis zwischen Erziehern und Schülern, es bildeten sich sogar familienartige Gruppen oder Erziehungsgemeinschaften.[208]
Kurt Hahn erhielt von Hermann Lietz wertvolle pädagogische Anregungen für seine eigene Theoriebildung. Beide wandten sich gegen die reine Wissensvermittlung in den Schulen und stellten die Charakterbildung der jungen Menschen in den Mittelpunkt.
Hahn orientierte sich bei seiner Wertschätzung der handwerklich-praktischen Arbeit an den Vorstellungen Lietz’. Die materielle Entlastung in Salem durch praktische Arbeit der Schüler im Anfangsstadium der Schule steht außer Frage:[209] „Es gab in dem Salem der ersten Jahre kaum helfende Angestellte. Die Schülerschaft hatte daher nicht allein in der Landwirtschaft, sondern auch im Hause zahlreiche praktische Arbeiten zu erledigen.“ Jedoch lag für Hahn im Gegensatz zu Lietz die Begründung der praktischen Arbeit zuallererst in der erzieherischen Wirkung:[210] „Ich denke (...) nicht nur an die Nützlichkeit handwerklicher Fertigkeiten, ich denke an die Menschenkraft, die dem echten Handwerker eigen ist, die siegreiche Geduld, die ihn zum Erfolg führt; Selbstachtung, die von dem Gelingen ausströmt. Ich denke an die täglichen Antriebe zur nüchternen Selbstkritik. Integrität ist die Herrschaft über Selbstbeschwindelung. Das Handwerk nährt die Integrität.“
Lietz’ Vorstellung der Verbindung von geistigen und körperlichen Arbeiten im Heimalltag besaß für Hahn Vorbildcharakter; indem er den für alle seine pädagogischen Einrichtungen gültigen Erziehungsauftrag formulierte:[211] „Sorgt dafür, daß die Welt des Handelns und die Welt des Denkens nicht länger zwei getrennte feindliche Lager sind.“
Ebenso schätzte Hahn die Zielvorgabe der Landerziehungsheime, eine gleichberechtigte Lebensgemeinschaft zwischen Schülern und Lehrern im Heimalltag zu verankern. Die Forderung von Lietz, die Schüler zum Dienst an der Gemeinschaft zu erziehen, nahm Hahn in seine Erziehungstheorie auf:[212] „Jeder echte Landheimer, der aus diesen Schulen hervorgeht, bringt eine natürliche Abwehrstellung mit gegen Menschen, die private Rücksichten oder Parteiinteressen den großen staatlichen Belangen voranstellen, findet es verächtlich, wenn man dem politischen Gegner die Ehre abschneidet und möchte lieber Hand anlegen, als nur unfruchtbar kritisieren.“
Weiterhin nahm sich Hahn die staatsbürgerliche Erziehung in den Landerziehungsheimen zum Vorbild:[213] „Vor allem hat Lietz bewiesen, dass man in einem bisher nie dagewesenem Umfang Kinder zu Trägern der Verantwortung machen kann. Viele Landerziehungsheime weisen ihren führenden Schülern Aufgaben zu, bei denen jeder schlampige Organisator und ungenaue Planer versagen muss. Vom Standpunkt der Nation ist es das Wichtigste, das die Landerziehungsheime leisten, die staatsbürgerliche Erziehung.“
Die von Lietz erhaltenen Anstöße flossen in Hahns Gründungskonzept des Landerziehungsheims Salem mit ein. Bei der Planung des Unterrichts wurde die von Lietz geforderte Arbeit auf dem Lande mitberücksichtigt wie auch das Projekt nach dem Vorbild der Lietzschen Jahresarbeiten.[214]
Somit ist festzuhalten, dass Hahn sowohl durch Cecil Reddie als auch durch Hermann Lietz wichtige Denkanstöße zur Ausformung seiner Erziehungsvorstellungen erhielt.
Wertvolle Anregungen für die Ausgestaltung seines Erziehungskonzeptes erhielt Kurt Hahn von dem deutschen Pädagogen Paul Geheeb (1870- 1961).
Geheeb wurde zwar niemals in Hahns Schriften und Zeugnissen als geistiges Vorbild erwähnt, es lassen sich aber trotzdem in Hahns pädagogischem Denken Einstellungen ermitteln, die Paul Geheebs geistigen Grundlagen entsprachen.
Paul Geheeb[215] unterrichtete einige Zeit in dem von Cecil Reddie gegründeten Abbotsholme, wo er sich vielseitige Anregungen für sein eigenes pädagogisches Denken holte. Eine weitere prägende Etappe seines Lebens war die langjährige Lehrertätigkeit bei Hermann Lietz in Haubinda. Zusammen mit Gustav Wyneken rief Geheeb im Jahre 1906 die Freie Schulgemeinde Wickersdorf ins Leben.
Im Jahre 1910 gründete Geheeb die Odenwaldschule in Oberhambach bei Heppenheim an der Bergstraße, die sich für die damalige Zeit zu einer viel beachteten Freien Schule entwickelte.
In seiner Eröffnungsrede vertrat Geheeb folgenden Standpunkt:[216]„Nicht bequemer wollen wir es euch machen - nein schwerer, insofern wir euch höhere Ziele stecken und größere Ansprüche an eure Einsicht, an eure Initiative, an eure Energie, an euer vernünftiges Wollen stellen. Leichter freilich machen wir es dadurch, dass wir die in euch wohnende Schaffenskraft nicht beengen und unterdrücken, sondern zur freien Entfaltung und kräftiger Erstarkung zu bringen suchen, in der Absicht, euch auf euch selbst zu stellen und uns nach und nach entbehrlich zu machen.“
Geheebs pädagogische Gedanken erhielten vielseitige Anregungen durch die Beschäftigung mit Platon, Aristoteles, Herder, Schiller, Goethe, von Humboldt, Fichte, Pestalozzi, Tolstoj und Gandhi. Seine Zielsetzung bestand laut Schäfer darin, die Odenwaldschule zu einer Stätte der Menschwerdung und Menschenbildung zu machen.[217]
Geheeb übte heftige Kritik an der traditionellen Lernschule und sah als notwendige Alternative die nachhaltige Entwicklung der Individualität der Schüler:[218] „In ethischer Hinsicht führt die Forderung der individuellen Autonomie zu dem Bestreben, schon in dem Kinde möglichst früh ein starkes Verantwortungsgefühl zu entwickeln, Verantwortung für sich selbst sowie für die Gemeinschaft, in der es lebt; man erzieht zur moralischen Selbständigkeit dadurch, dass man auf die Gewissenhaftigkeit der Kinder vertraut, ihren Gemeinschaften eine weitgehende Selbstverwaltung zugesteht und dahin wirkt, dass die Disziplin sich aus den Kindern selbst entwickele, anstatt durch Vorgesetzte und Autorität von außen erzwungen zu werden.“
Diese Aussagen kamen Hahns Kritikpunkten an den staatlichen Schulen seiner Zeit sehr nahe, die sich bei der Erziehung lediglich auf die Vermittlung von Wissen beschränkten und die Gesamterziehung der jungen Menschen vernachlässigten.[219]
Die Zöglinge der Odenwaldschule kamen aus unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen sozialen Schichten. Weit intensiver als die anderen Landerziehungsheime pflegte die Odenwaldschule kurz nach ihrer Gründung und dann zwischen den Jahren 1918 und 1933 wichtige internationale Beziehungen. In den 1920er Jahren kam es zu häufigen Besuchen von Anhängern der Reformpädagogik aus den verschiedensten Ländern der Erde (Japan, Indien, der ehemaligen Sowjetunion, USA). Weiterhin spielte die Odenwaldschule schon früh eine wichtige Rolle in der deutschen Sektion des „Weltbundes für die Erneuerung der Erziehung“.
Hier zeigten sich weitere Gemeinsamkeiten der pädagogischen Grundüberzeugungen Hahns und Geheebs. Hahns Methoden der Charakterbildung sollten ebenfalls Kindern aus allen sozialen Schichten zugute kommen, der Gedanke der internationalen Verständigung spiegelte sich auch im pädagogischen Denken Kurt Hahns wieder. Das internationale Verständigungsdenken Hahns zeigte sich vor allem bei seiner Mitarbeit an der Gründung von Atlantic Colleges, die offen waren für Schüler zwischen 16 und 19 Jahren aus allen Staaten der Erde.
Die Wertschätzung der staatsbürgerlichen Erziehung in der Odenwaldschule diente Hahn als Vorbild für seine eigenen Anschauungen:[220] „Jeder Jüngling, jedes Mädchen lernt im Landerziehungsheim, als verantwortungsvolles Glied einer kleinen Gemeinschaft zu leben, um als Staatsbürger später mit voller Hingabe dem Wohle der Nation zu dienen.“
Einen weiteren Anstoß erhielt Kurt Hahn von Geheebs Konzeption der Übertragung von Verantwortung:[221] „Die zentrale Idee unserer Gemeinschaft ist eben die der Verantwortung, der Verantwortung jedes einzelnen für sich und für die Gesamtheit; und die ganze bei uns herrschende Atmosphäre und alle Einrichtungen zielen darauf ab, die Kinder schon möglichst früh mit einem starken Verantwortungsgefühl zu erfüllen, zugleich das Vertrauen der noch hilflosen und führungsbedürftigen Kinder zu den reiferen Kameraden und zu menschlich hochentwickelten Persönlichkeiten zu pflegen und so zu bewirken, daß eine wahre Aristokratie, äußerlich unkenntlich und auf den verschiedenen Lebensgebieten wechselnd, den stärksten Einfluß auf die Lebensgestaltung der Gesamtheit wie jedes einzelnen ausübe.“
Weiterhin lenkte Geheeb die Aufmerksamkeit Hahns auf die sorgfältige Ausbildung und Ausübung von handwerklichen Tätigkeiten:[222]„Keineswegs aber gilt etwa theoretische Arbeit als vornehmer denn praktische; vielmehr stehen alle Kultur - und Arbeitsgebiete als gleichwertig nebeneinander.“
Ähnlich wie für Hahn spielte Platons pädagogisches Konzept für Geheeb eine wichtige Rolle:[223]„(...) die Gestalt Platons als des unerschöpflichen und unversiegbaren Urquells des Abendlandes.“
Geheeb teilte mit Hahn die Betonung der Lebensgemeinschaft zwischen Lehrern und Schülern:[224]„Durch das alltägliche Miteinanderleben findet die Auseinandersetzung und Verständigung des Kindes mit den Menschen seiner Umgebung statt; entsteht das Bedürfnis nach einer besonderen intellektuellen Auseinandersetzung oder nach theoretischer Klärung und Verständigung oder nach einer gemeinsamen Willenskundgebung der Gesamtheit.“
Die oben erwähnten Beispiele zeigen, dass sich viele Ansichten Geheebs in der Theorie von Kurt Hahn widerspiegeln. Daraus lässt sich ableiten, dass Geheeb, obwohl er in sämtlichen Zeugnissen Hahns nicht namentlich als geistiges Vorbild erwähnt wurde, die Erziehungsvorstellungen Kurt Hahns mitgeprägt hat.
Kurt Hahn beschäftigte sich in einem Teil seiner Werke immer wieder mit dem im Jahre 1910 erschienenen Essay „The moral equivalent of war“ von dem US- amerikanischen Philosophen und Psychologen William James (1842 - 1910).[225]
James galt als richtungsweisender Vertreter des amerikanischen Pragmatismus seiner Zeit. Für James war Pragmatismus[226] vor allem eine Methode, die philosophischen Prinzipien, Grundsätze und Aussagen in ihrem Wert und in ihrer Bedeutung an den und für die Handlungen des Menschen nach dem Kriterium ihrer Praktikabilität zu prüfen.
Bei seiner Beschäftigung mit James’ Gedanken ging es Hahn laut Schwarz vor allem um dessen Forderung, einen Feldzug gegen den Krieg zu beginnen und das „moralische Äquivalent für den Krieg“ herauszufinden.[227] Kurt Hahn sah dieses moralische Äquivalent im Rettungsdienst gegeben:[228] „Der amerikanische Philosoph William James sagte einmal, der Krieg zeige die menschliche Seele in ihrer höchsten Dynamik. Er irrt sich: die Leidenschaft des Rettens entbindet die höhere Dynamik. Um die Jahrhundertwende hat James Erzieher und Staatsmänner angerufen, sie möchten das moralische Äquivalent für den Krieg finden. Es ist entdeckt worden.“
James sah es sowohl für das Individuum als auch für den Staat als gefährlich an, wenn die gefühlsmäßige Stärke von Jugendlichen in einem dauernden Zustand des Wartens verharren musste und sich keine Möglichkeit der Realisierung durch eine Tathandlung bot.[229]
Der Analyse von Schwarz folgend lehnten sowohl James als auch Hahn den Menschentyp des Träumers ab, der in konkreten Tathandlungen keine Entschlüsse fassen konnte und zur Zögerlichkeit neigte. Nur durch die regelmäßige Durchführung guter Tathandlungen, die sich mit der Zeit zu Gewohnheiten verfestigten, bestand die Möglichkeit, die Jugendlichen dazu zu erziehen, dass sie das schnelle Handeln dem reinen Reden von den Dingen vorzogen.[230]
In Friedenszeiten sollten daher Gelegenheiten geschaffen werden, wo diese Emotionen ausgelebt werden konnten.[231] Gemäß James sollten Jugendliche - anstatt in einen Krieg zu ziehen - für ein paar Jahre im Dienst der Weltgemeinschaft „ein neues Verständnis für die Beziehungen der Menschen zu der von ihm bewohnten und bestellten Erde gewinnen“[232], was auf der geistigen Ebene einseitig entwickelten und konsumorientierten Jugendlichen fehlte.
James stellte sich für die Jugendlichen Arbeiten in Kohlen- und Erzbergwerken, in Gießereien und Hochöfen, beim Straßen- und Tunnelbau usw. vor. In einem solchen Einsatz sah James die Möglichkeit für einen dauerhaften Frieden gegeben. Anstatt der „old morals of military honor“ sollte auf diesem Wege die neue Vorstellung von „morals of civic honor“[233] entstehen.
Kurt Hahn bediente sich in seinen Erziehungsvorstellungen - vor allem in der Kurzschule - mancher Aspekte des Entwurfs von William James.
Beide postulierten, dass in Friedenszeiten Einsatzbereiche geschaffen werden mussten, die Jugendlichen die Erfahrung der Verantwortung, des Engagements und des sozialen Handelns veranschaulichten. Dies sollte Gefahren sowohl bei der individuellen Entwicklung der Jugendlichen wie auch in der Gesamtstruktur der Gesellschaft vermeiden helfen.
Von der Opfer- und Einsatzbereitschaft von Jugendlichen für eine sinnvolle Sache überzeugt, rief Hahn den Rettungsdienst als Erziehungsgrundlage in seinen Schulen ins Leben.
Die erzieherischen Bestrebungen von Hahn und James unterschieden sich jedoch in einem wichtigen Punkt voneinander.[234] James’ Vorschläge zielten auf eine Beseitigung der bellizistischen Impulse im Menschen. Dagegen versuchte Hahn die von ihm beobachteten „Verfallserscheinungen“ in der Gesellschaft in einem vorgeplanten Erziehungsprogramm zu beheben. Der Rettungsdienst war damit für Hahn kein isoliertes Betätigungsfeld, sondern Teil der Gesamtstruktur der Erziehung in seinen Schulen.
Hahn kritisierte an der Gesellschaft seiner Zeit die Herabminderung der „Menschenkraft“ durch den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, die in hohem Maße zu „seelischen Krankheiten“ besonders bei Kindern und Jugendlichen führte. Die Hektik des modernen Lebens verhinderte laut Hahn die Ausbildung der Erlebniskraft bei jungen Menschen; angesichts einer nicht zu bewältigenden Reizfülle konnten intensive Gefühle nicht mehr ausgelebt werden. Hahn verfolgte die Zielsetzung, diesem Verfall der Persönlichkeitsentwicklung bei jungen Menschen mit Hilfe seiner Erlebnistherapie zu begegnen.
Bei seiner Kritik an der Staatsschule bemängelte Hahn die einseitige Vermittlung von Wissensstoff und die Vernachlässigung der Charakterbildung der Schüler. Der Unterricht an den Staatsschulen bewirkte seiner Meinung nach eine Verschlimmerung der „sozialen Seuchen“ bei Kindern und Jugendlichen. Um dieser verheerenden Entwicklung entgegenzuwirken, forderte er eine Umgestaltung des Lehrplanes hin zur Förderung der Charakterbildung der Schüler.
Hahn vertrat die Einstellung, dass die Eltern nicht die Fähigkeit besaßen, ihre Kinder zu charakterfesten Persönlichkeiten zu erziehen. Daraus erwuchs die Forderung, die Kinder in den entscheidenden Entwicklungsjahren von ihren Eltern zu trennen und sie in einer abgeschirmten Erziehungsstätte in Form einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zu sittlichen Persönlichkeiten zu formen.
In seiner Kritik an der organisierten Sportbewegung in Deutschland vermisste Hahn vor allem die mangelhafte Gesundheitskontrolle bei der Ausübung sportlicher Aktivitäten und die fehlende Minimierung sportlicher Übungen auf bestimmte festgelegte Zeiten am Tag.
An den Universitäten stand laut Hahn wie an den Staatsschulen die reine Wissensvermittlung im Vordergrund. Die mangelnden Fähigkeiten der Professoren, charakterstarke Persönlichkeiten zu erziehen und das dort nicht vorhandene Gemeinschaftsleben führten zu einer geistigen Orientierungslosigkeit unter den Studenten.
Ein grundlegendes Anliegen in der Erziehungskonzeption Hahns lag in der Ausbildung eines Menschen zu staatsbürgerlicher Verantwortung. Darunter verstand er die Erziehung des Menschen zu verantwortungsbewusstem Denken und Handeln in einem demokratischen Staatsgefüge. Alle Schulen Hahns wiesen die Form eines „kleinen Staates“ auf, um die Jugendlichen in der Praxis im staatsbürgerlichen Sinne zu formen. Ihnen sollte vermittelt werden, dass die Existenz dieses „kleinen Staates“ ohne eine Gemeinschaftsarbeit auf der Grundlage von Verantwortung nicht gewährleistet war. Hahns Prinzip der Erziehung zur Verantwortung war ein Stufenprozess, der sich äußerlich von der Erfüllung kleinerer Pflichten bis hin zu größeren Verantwortungen und innerlich von der Entstehung eines Gemeinschaftssinnes im Menschen bis zur Herstellung eines „tätigen Bürgersinnes“ vollziehte.
Sowohl in den dauerhaften Einrichtungen Salem und Gordonstoun/Schottland als auch in den Kurzschulen Aberdovey/Wales, Weißenhaus und Baad fanden die theoretischen Erziehungsvorstellungen Hahns ihre praktische Vollendung. Die wesentlichen Merkmale der deutschen Kurzschulen gegenüber den englischen und überseeischen lagen in der wichtigen Stellung des Rettungsdienstes im Unterrichtsprogramm, in der weitergehenden geistigen Anregung durch Lebenskunde, Vorträge und Arbeitsgemeinschaften sowie in der sozialen, geographischen und altersmäßigen Mischung der Teilnehmer im Vorfeld eines Kurses.
Aus Angst vor einer erneuten Verhaftung durch die Nationalsozialisten wanderte der Erlebnispädagoge Kurt Hahn im Juli 1933 nach England aus, wo er kurze Zeit nach seiner Ankunft den Posten des Schulleiters des neu gegründeten Landerziehungsheims in Gordonstoun (Schottland) annahm.
In den darauf folgenden Jahren entwickelte Hahn nach und nach die Konzeption der Kurzschule. Im Jahre 1941 wurde die erste Kurzschule, die Outward Bound Sea School, in Aberdovey (Wales) gegründet.
Die Zielsetzung der Kurzschule umriss Hahn folgendermaßen:[235] „Was ist das Ziel? Die heutige Jugend, vor allem die unterprivilegierte Jugend, gegen eine kranke Zivilisation zu schützen. Die Kurzschule versucht, schützende Erfahrungen zu vermitteln. (...) Kann man wirklich in einem Monat Gesundheit bringen? Das kann man nicht, aber man kann die Heilung in Bewegung setzen. Man kann nicht gute Samariter in vier Wochen heranbilden, aber man kann die Jungen und Mädchen soweit bringen, daß sie sich ernsthaft fragen, ob sie nicht hingehen und dergleichen tun sollen.“
Im Jahre 1953 gab Hahn sein Amt als Schulleiter von Gordonstoun ab und kehrte nach Deutschland zurück, wo er weiterhin als Berater der Internatsschule Salem tätig war.
Mitte der 50er Jahre verfolgte Hahn zusammen mit dem ehemaligen Leiter des NATO Defence College in Paris, Sir Lawrence Darvall, das Ziel, die Gründung von Atlantic Colleges in aller Welt herbeizuführen. Hinter dieser Gründung steckte die Absicht, die positiven Erfahrungen des Defence College bei der militärischen Ausbildung von Erwachsenen aus verschiedenen Ländern auf begabte Jugendliche in den letzten zwei Oberschuljahren mit dem Gedanken der internationalen Verständigung anzuwenden.[236]
Hahn verstand die Gründungen von Atlantic Colleges in verschiedensten Teilen der Welt als Hoffnungsschimmer:[237] „Es gilt den Abscheu einzupflanzen vor der Vergewaltigung von Menschen und Völkern im Krieg wie im Frieden. Wenn Duldsamkeit und menschliches Verstehen, so sagt Darvall, noch neue Wurzeln schlagen kann bei reifen Männern von ganz verschiedener Nationalität dank gemeinsamen Erlebnissen, wieviel hoffnungsvoller wäre die Aufgabe, werdende Menschen aus aller Welt in ihren empfänglichsten Jahren durch die Kameradschaft eines fordernden Gemeinschaftslebens miteinander zu verbrüdern.“
Im Jahre 1974 verstarb Kurt Hahn. Zu Lebzeiten war Hahn für die Gründung von zahlreichen Einrichtungen und Initiativen verantwortlich:[238]
Kurt Hahn wandte sich mit seiner Vorstellung von Erziehung gegen „Verfallserscheinungen“ in der Gesellschaft seiner Zeit. Er sah die Jugend von einem Verfall der menschlichen Anteilnahme, der Sorgsamkeit, der persönlichen Initiative und der körperlichen Tauglichkeit bedroht. Gegen diese in der Gesellschaft weit verbreiteten „sozialen Seuchen“ wollte Hahn angehen und dafür sorgen, dass „in den Lebensplan der Schüler und jugendlichen Arbeiter Heilkräfte hineinströmen.“[240]
Hahn gelangte zu der Feststellung, dass die damalige Gesellschaft mit den sich rasant weiterentwickelnden sozialen und technischen Veränderungen überfordert war. Die Jugend fand in der immer stärker von Technik bestimmten Welt keinerlei Möglichkeiten vor, ihren Tatendrang, Mutproben, Bewährungssituationen und Unternehmungsgeist auszuleben. Außerdem erhob Hahn den Vorwurf, dass die Staatsschulen in keiner Weise zur „Heilung“ der Jugendlichen beitrugen, sondern die „Seuchen“ durch ihren Grundsatz der reinen Wissensvermittlung sogar noch verschlimmerten.[241]
In seinen Augen gab diese Entwicklung Anlass zu großer Sorge um den Seelenzustand der Jugendlichen:[242] „Es ist gefährlich, dem Tatendrang der heranwachsenden Jugend keinen legitimen Spielraum zu geben. Bei vielen welkt er dahin, die Verkümmerung bringt in ihrem Gefolge oft Reizbarkeit und Missmut-weitverbereitete Pubertätsgebrechen, denen wir Erzieher ratlos gegenüberstehen; aber in allen Ländern nimmt die Zahl jener Halbwüchsigen erschreckend zu, deren Sehnsucht nach Erprobung ihrer Menschenkraft ungeduldig zur Erfüllung drängt und dabei die Bande der Zucht und Gesittung sprengt.“
Hahn lieferte für seine Anschauung von der Notwendigkeit von Abenteuersituationen und Risikoerfahrungen in der Erziehung keine wissenschaftlich fundierte Begründung.[243] Einige Grundzüge der Hahnschen Überzeugung, dass das Abenteuer und die Risikobereitschaft in der Erziehung eine bedeutende Funktion besitzt, finden sich in den Werken von Wolfgang Schleske[244] wieder, der sich mit den psychologischen Aspekten des Abenteuers auseinandergesetzt hat. Abgeleitet aus der Motivationspsychologie sieht Schleske im Risikoverhalten eine intrinsisch motivierte Tätigkeit, deren wichtigstes Kennzeichen das Phänomen der „Zweckfreiheit“ ist. Laut Schleske enthält die „Zweckfreiheit“ keine Ziel- oder Produktorientierung. Er deutet das Risiko- und Abenteuerverhalten als Training zum Erhalt der Funktionsfähigkeit des zentralen Nervensystems:[245] „Wenn es keine unmittelbaren Beanspruchungen gäbe, könne und müsse das zentrale Nervensystem von sich aus tätig sein, um voll arbeitsfähig zu bleiben.“
Das Risikoverhalten beim Menschen wird vor allem durch Reize wie Unbestimmtheit, Überraschung und Neugierde angeregt, die „über das Aktivierungszentrum neurophysische Reaktionen, Aktivierungsvorgänge und Spannungszustände bzw. Orientierungsreaktionen“ auslösen, die „bis zu einer bestimmten Intensität als angenehm und anregend empfunden werden.“[246]
Schleske ist der Überzeugung, dass ein Mensch das Vorhandensein von Reizen zum Leben benötigt. Die Abwesenheit von Reizen kann entweder eine Deaktivierung (verstärktes Schlafbedürfnis) oder eine zusätzliche Aktivierung des Organismus (Aggressivität) zur Folge haben. Abhängig von der individuellen Entwicklung eines Menschen ist die Neugierde für die ständige Suche nach Reizen verantwortlich. Schleske deutet das Abenteuerverhalten als bestimmte Form der Neugierde:[247] „Das Abenteuerverhalten erweist sich als eine Form des explorativen Verhaltens. Die Exploration richtet sich dabei auf solche Qualitäten wie Mut, Ausdauer, Leistungsfähigkeit, Handlungs- und Reaktionsbereitschaft. Eine ich-bezogene Erforschung eigener Handlungskompetenz und charakterlicher Qualitäten führt offenbar zu einer optimalen Anregung und Aktivierung des lebenden und handelnden Individuums.“
Da in den hochtechnisierten, konsumorientierten Staaten Westeuropas kein Mangel an Reizen festzustellen ist, kann ein Reizmangel nicht die alleinige Ursache für das Bedürfnis des Menschen nach Abenteuern sein. Die entscheidende Bedingung für das Erleben eines Abenteuers ist laut Schleske das Kriterium der Steuerung der Ereignisse durch das selbständig handelnde Individuum. In diesem Punkt überschneiden sich die Gedankengänge von Hahn und Schleske. Hahn stellte fest:[248] Man kann als Zuschauer teilnehmen –durch Fernsehen und Kino- an den erstaunlichsten Leistungen der Menschenkraft, man durchlebt die Spannung der Gefahr, man kostet die Erregung des Gelingens, ja begleitet sie mit den Ausdrucksbewegungen des eigenen Körpers, als sei man selbst Teil der Handlung. Die Sensation aber ist unverdient, trügerisch und flüchtig, und dennoch immer heißbegehrt. Kein Wunder, dass auch die Jugend von der sogenannten ‚Spectatoris’ befallen wird, zum Schaden des natürlichen Tatendrangs; aber ich kenne wenige junge Menschen, denen nicht eine gut geplante und zähe durchgeführte Expedition Genugtuuung, zum mindesten im Rückblick, vermittelt, wenn sie einem klaren Forschungsziel zustrebte.“
Da der Mensch in der heutigen Welt nur noch wenige Gelegenheiten besitzt, Steuerungsfunktionen auszuüben[249], versucht er, dieses Bedürfnis durch Abenteuer und Risikoerfahrungen zu kompensieren. Die Art und Weise des Abenteuers wird von jedem Menschen individuell bestimmt. Gemäß Schleske erlebt der Mensch das von ihm selbst gewählte Abenteuer folgendermaßen:[250] „Der rasche Wechsel von Wahrnehmung, Entscheidung zum Handeln und Aktion, die Erfahrung von euphorischer Entrücktheit und spontan sich entfaltender Handlungsfähigkeit und das damit verbundene Bewusstsein eines persönlichen Könnens verdichten sich zu einem Erlebnis des ‚Abenteuers’, das auch positive Rückwirkungen auf die handelnde Person hat. In der Regel kommt es zu einem erfolgreichen Abschluß, zu einer Bewältigung der Situation; ein ‚Erfolgserlebnis’ stellt sich ein, Entspannung und Erleichterung sind die Folge.“
Inwieweit der Grad von Abenteuer und Risikoverhalten ausgeprägt ist, hängt von der individuellen Entwicklung und der Umwelt des jeweiligen Menschen ab:[251] „‚Erfahrungen’ hinsichtlich eines angenehmen Anregungs- und Spannungszustandes werden affektiv positiv besetzt und wirken kurzfristig verhaltensverstärkend – als Engagement und Interessiertheit. Mittelfristig tragen sie zur Ausbildung von Interessen und Gewohnheiten bei, und langfristig führen sie (…) zur Ausbildung von positiven Grundhaltungen gegenüber bestimmten Anregungsvariabeln (‚Abenteuerverhalten’, ‚Neugierverhalten’, ‚Risikoverhalten’).“
Die Aufzählung der „Verfallserscheinungen“ in der Gesellschaft ist in zahlreichen Werken Hahns enthalten.[252] Jedoch betrieb er in keinem seiner Zeugnisse eine tief greifende Analyse der Ursachen, vielmehr ging es ihm lediglich um eine Zustandsbeschreibung der gegenwärtigen Phänomene und der daraus folgenden Wirkung auf das Individuum.
Hahn machte für den Mangel der menschlichen Anteilnahme die Hektik und Ruhelosigkeit der damaligen Gesellschaft verantwortlich. Die „grausame Pausenlosigkeit unseres Daseins“ vernichtete in fortschreitendem Maße die Kraft des intensiven menschlichen Erlebnisses.[253] Ermöglicht durch die Technik[254] verminderte laut Hahn die Sucht nach neuen oberflächlichen Sensationen die Fähigkeit zu intensiven Gefühlen und wahrem Mitgefühl. Die Geschwindigkeit des Lebens in der Gesellschaft war dafür verantwortlich, dass Selbstbesinnung und Mitgefühl verloren gegangen waren:[255] „Wer kann noch allein sein, um sich zu sammeln, und dabei kann die Menschenliebe nur in der Selbstbesinnung tiefe Wurzeln schlagen.“
Der einzelne Mensch schien der persönlichen Verantwortung durch die Existenz offizieller Hilfsorganisationen entbunden zu sein, wozu von Hentig bemerkte:[256] „Organisationen, Verwaltung, Verkehrsregeln haben die persönliche Verantwortung, das Erbarmen ersetzt.“ Hahn stand mit seiner Kritik an der zunehmenden Hektik des Lebens und der damit verbundenen fehlenden Anteilnahme am Lebensschicksal anderer Menschen nicht alleine da. Der damalige Erzbischof von Canterbury, William Temple, bemerkte ebenfalls in der englischen Gesellschaft eine zunehmende Kälte in den Beziehungen zwischen den Menschen, was er als „Seelentod“ bezeichnete.[257]
Kurt Hahn sah in dem von ihm beobachteten Verfall der Sorgsamkeit „eine Seuche der Schlamperei.“[258] Die Ursache dafür lag seiner Ansicht nach in der zunehmenden Technisierung und Mechanisierung, was dazu führte, dass die „geruhsam arbeitenden Berufe“, vor allem das Handwerk, nicht mehr die bedeutende Stellung innerhalb der Gesellschaft besaßen, die sie früher innehatten:[259]„(...) das Handwerk erzog zur Beobachtung des Details; die Fabrikfabrikation enthebt uns nicht nur dieser Beobachtung, sondern auch der Achtung vor und des pfleglichen Umgangs mit den Dingen:“
Der Verfall der Sorgsamkeit äußerte sich in einem Nachlassen der Konzentration, in einer weit verbreiteten Unordentlichkeit und in der fehlenden Bereitschaft zu kompliziertem und mühevollem Arbeiten. Hahn bemerkte in diesem Zusammenhang:[260]„Die heutige Jugend will nicht mehr wandern und beobachten in diesem technischen Zeitalter. Sorgsamkeit und Geduld vertragen sich nicht mit der Hast des modernen Lebens. Das gilt nicht nur für den handwerklichen Bezirk.“
In seiner Schrift „Erziehung zur Verantwortung“ aus dem Jahre 1954 kritisierte Hahn ebenfalls den fehlenden Wunsch der heranwachsenenden Generation nach tief greifender Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, besonders der Zeit des Nationalsozialismus.[261]
Hahn sprach beim Verfall der persönlichen Initiative von einer Zuschauerkrankheit, der Seuche der „Spektatoris“.[262] Das Sammeln von Eindrücken war dem im technischen Zeitalter lebendem Menschen nur noch mit Hilfe der neuen Kommunikationsmittel Verkehr, Bild und Funk möglich. Im Fernsehen konnten Kinder und Jugendliche an Abenteuern und spektakulären Erlebnissen teilhaben, ohne dabei als Person beteiligt zu sein. Man konnte den Erfolg eines „Helden“ miterleben, ohne die damit einhergehenden Anstrengungen zur Erreichung des Ziels hautnah mitzubekommen. Die Beschränkung auf die erfolgreiche Seite der Handlung enthielt die Gefahr, dass die damit untrennbar verbundenen Seiten der Mühen oder auch des Misserfolgs ausgeklammert wurden.[263]
Die Teilnahmslosigkeit und Passivität, die Hahn immer wieder beklagte, führte dazu, dass eigenverantwortliches Handeln und die Bereitschaft zur Initiative besonders innerhalb der Jugend weitestgehend nicht mehr vorhanden war. Der Mensch wurde zum passiven Zuschauer degradiert, dadurch starb die Fähigkeit des aktiven Erlebens ab.
Die Vernachlässigung der körperlichen Tauglichkeit ließ laut Hahn die Grundlagen der Überwindungskräfte verkümmern:[264] „Einen willigen, leistungsfähigen Körper zu haben, ist heute nicht mehr Mode in England, und damit ist eine der Grundlagen der Überwindungskraft gefährdet, wie man sie zu langwierigen und mühsamen Unternehmungen braucht.“
Einen Grund des Verfalls der körperlichen Tauglichkeit sah Hahn in den Methoden der modernen Fortbewegung und in der „Entartung des Sports“.
Hahn verdeutlichte dies an einem Beispiel aus der antiken griechischen Geschichte. Die Athener, die gegen die Perser in der Schlacht von Marathon im Jahre 490 v. Chr. kämpften, beschrieb Hahn als „Nation von trainierten Athleten“. Dagegen bezeichnete er die athenischen Kämpfer, die im Peloponnesischen Krieg gegen Sparta ins Feld zogen, als „Nation von kompetenten Zuschauern“.[265]
Für diesen Niedergang machte er die „ungebührliche Heldenverehrung“, die außergewöhnlichen Sportlern entgegengebracht wurde, verantwortlich. Die Heldenverehrung hinderte durchschnittlich begabte Jugendliche an ihrer eigenen Entfaltung im Streben nach Höchstleistungen. Hahn sah dieses Phänomen auch in der damaligen Zeit, vor allem in England und den Vereinigten Staaten von Amerika. Zur Überwindung dieses Verfalls nahmen verschiedene Formen des körperlichen Trainings in der Erziehungskonzeption Hahns eine bedeutende Stellung ein.
Trotz der überall verbreiteten „Verfallserscheinungen“ resignierte Hahn nicht:[266]„Ich glaube mit Plato an die Macht der Erziehung: Ich bilde mir nicht ein, daß Landerziehungsheime und Kurzschulen soziale Seuchen heilen können. Aber sie haben deren Heilbarkeit erwiesen. Das Weideland der Jugend ist krank überall in der Welt. Aber noch fließen Quellen seelischer Gesundung.“
Hahn leitete aus den „Verfallserscheinungen“ die These[267] ab, dass Erziehen heute Schützen und Heilen bedeutete. Den Jugendlichen wollte Hahn „schützende Gewohnheiten“ vermitteln, um sie gegen die „Seuchen“ der Gesellschaft zu immunisieren. Dies sollte durch die von Hahn konzipierte Erziehung in den Landerziehungsheimen und den Kurzschulen erreicht werden. Weiterhin sollten den staatlichen Schulen „erprobte Heilmittel“ der Landerziehungsheime zugute kommen, um eine „vollständige Gesundung“ der Jugend zu gewährleisten.
Hahn beobachtete einen vor allem bei Jugendlichen eintretenden Verfall der Charakterbildung in der technisierten und schnelllebigen Gesellschaft seiner Zeit.
Eine Schwäche des Hahnschen Begriffs der Charakterbildung liegt darin, dass er sich nicht an den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Persönlichkeitspsychologie seiner Zeit orientiert. Es ist davon auszugehen, dass Hahn sowohl das psychoanalytische Paradigma[268] der Persönlichkeitspsychologie Sigmund Freuds (1856-1939) als auch die behavioristische Theorie, die zwischen den Jahren 1920 und 1970 die empirisch orientierte Psychologie in Nordamerika prägte, bekannt gewesen sein dürfte. Das Eigenschaftsparadigma, das von William Stern (1871-1938) und Gordon Allport (1897-1967) begründet wurde, kann ebenfalls dem vielseitig interessierten Hahn nicht verborgen geblieben sein.
Eine kurze Darstellung der drei Paradigmen der Persönlichkeitspsychologie soll illustrieren, dass Hahn bei der Entwicklung des Begriffes der Charakterbildung keine wesentlichen Aspekte dieser Ansätze berücksichtigt hat.
Das psychoanalytische Paradigma der Persönlichkeitspsychologie geht auf die Gedanken Freuds zurück. Im Menschenbild des psychoanalytischen Paradigmas werden irrationale gegenüber rationalen Prozessen sowie sexuelle und aggressive Motive auf Kosten anderer Motive überbetont.[269] Freud deutet den Charakter als individualtypische Ausformung der in weiten Teilen unbewusst ablaufenden Triebdynamik. Laut Freud macht jedes Kind drei Phasen der Entwicklung durch, die durch jeweils bevorzugte Körperzonen der Triebbefriedigung gekennzeichnet sind:
Im Falle der zu starken Entwöhnung oder zu starker Einschränkung durch die Eltern in der oralen, analen oder phallischen Phase kommt es zu einer Fixierung der frühkindlichen Triebimpulse, die für die weitere Triebregulation prägend sind. Im weiteren Verlauf der Entwicklung des Ichs werden laut Freud individualtypische Abwehrmechanismen gegenüber inneren und äußeren Gefahrenreizen ausgebildet. Die Fixierung und die Abwehrformen prägen zusammen den Charakter, der nach dem Ende der phallischen Phase weitgehend konstant bleibt.
Nach behavioristischer Auffassung sind Personen Opfer ihrer Umwelt. Somit wäre die individuelle Persönlichkeitsentwicklung vollständig erklärbar, voraussagbar und veränderbar. Das behavioristische Persönlichkeitskonzept geht davon aus, dass individuelle Besonderheiten im Verhalten und im Belohnungswert spezieller Reize das Resultat der individuellen Lerngeschichte darstellen. Im Falle der Kenntnis der Reize, denen ein Kind ausgesetzt ist, lässt sich die Art der Persönlichkeit vorhersagen. Asendorpf erklärt dies am Beispiel der Angst vor Hunden.[270] Da die Angst vor Hunden kein dem Menschen angeborener Reflex ist, hängt es von der individuellen Erfahrung mit Hunden ab, ob eine Person später Hunden gegenüber mit Angst oder nicht reagiert. Indem entsprechende Umweltbedingungen konstruiert werden, kann Hundeangst bei einem Menschen erzeugt oder beseitigt werden.
Das Eigenschaftsparadigma vertritt die Überzeugung, dass Eigenschaften stabile Reaktionen zwischen den Situationen und den Reaktionen einer Person erzeugen. Es existieren zwei unterschiedliche Ansätze, die Beschreibung von Personen vorzunehmen.[271] Der individuumzentrierte Ansatz erschließt die individuellen Eigenschaften eines Menschen aus seinen Situations-Reaktions-Beziehungen. Jedoch beschreibt die Summe dieser persönlichen Eigenschaften nicht die Persönlichkeit des Menschen, sondern lediglich die individuelle Organisation seines Verhaltens.
Das Eigenschaftsparadigma geht davon aus, dass die Persönlichkeit auf individuellen Besonderheiten beruht, die aus dem Vergleich eines Menschen mit einer Referenzpopulation ersichtlich werden. Im differenziellen Ansatz werden Mitglieder einer bestimmten Population in einzelnen Merkmalen verglichen. Außerdem existiert die Möglichkeit, sie personenorientiert durch stabile Merkmalsprofile zu beschreiben.
Hahns Erlebnistherapie wollte die Kinder und Jugendlichen von den „sozialen Seuchen heilen“ und ihnen „Quellen seelischer Gesundung“ schenken:[272] „Es ist Vergewaltigung, Kinder in Meinungen hineinzuzwängen, aber es ist Verwahrlosung, ihnen nicht zu Erlebnissen zu verhelfen, durch die sie ihrer verborgenen Kräfte gewahr werden können. Das ist umso nötiger, je weniger die moderne Umwelt die heranwachsende Jugend zu heilsamen Betätigungen ermuntert.“
Die Hahnsche Erlebnistherapie bestand aus vier Elementen: dem körperlichen Training (leichtathletische Pause), der Expedition, dem Projekt und dem Rettungsdienst. Die einzelnen Elemente durften dabei nicht unabhängig voneinander betrachtet und eingesetzt werden, ihre charakterbildende Wirkung ergab sich erst in ihrem Zusammenwirken.
Gemäß Kurt Hahn sollte das körperliche Training aus Leibesübungen bestehen, um besonders die Schnellkraft, die Sprungkraft, die Ausdauer und die Körperbeherrschung zu schulen.[273]
Der Begriff der „leichtathletischen Pause“ stammte aus dem konzeptionellen Entwurf für das Landerziehungsheim Salem. Dort wurde die „leichtathletische Pause“ eingeführt, um die sitzende Tätigkeit am Vormittag während der Unterrichtsstunden durch ein Bewegungstraining zu unterbrechen. Für Hahn bedeutete die „leichtathletische Pause“ eine Kompensation der Bewegungsarmut der Schüler während den Unterrichtsstunden.
Hinter dieser Überlegung steckte gemäß Schwarz die ganzheitliche Anschauung des Menschen von Kurt Hahn. Hahn ging von einer Wechselwirkung der geistigen Anstrengung und der körperlichen Betätigung aus:[274] „(...) die Leibesübungen in Hahns Schulen (können, M.L.) über biologische Schutzmaßnahmen hinaus in besonderem Maße seelisch - geistige Werte im Menschen vom Leib her entwickeln.“
Für Kurt Hahn war das körperliche Training wegen seiner Förderung zur vitalen Gesundheit[275] und seiner Stärkung des Willens ein wichtiges Erziehungsmittel.[276]
Hahn besaß eine Vorliebe für Leichtathletik, bei den Mannschaftssportarten bevorzugte er das Hockeyspiel. Ausgewählte Mannschaftssportarten förderten seiner Meinung nach die soziale Kompetenz der Schüler:[277] „Die Krönung bildeten die Mannschaftssportarten, die den bundesgenössischen Sinn üben und somit zur Sozialkompetenz erziehen.“
In der viermal wöchentlich stattfindenden „leichtathletischen Pause“ wurde erst durch die Durchführung von gewohnten und bereits beherrschten Übungen Erfolgserlebnisse vermittelt und damit Zuversicht und Selbstvertrauen aufgebaut.[278]
Gemäß der Hahnschen Vorstellung von Willensbildung sollten auch die ungewohnten, schwächeren Disziplinen trainiert werden:[279] „Wir fordern die mühselige Überwindung der Schwäche, genauso wie wir die beglückende Entwicklung der angeborenen Stärke ermutigen.“ Um diese Selbstüberwindung zu trainieren und dabei den Schülern eine Selbstentdeckung beim Umgang mit ihren eigenen Leistungsgrenzen und Schwächen zu ermöglichen, wurden für jeden einzelnen individuelle Leistungsziele ausgearbeitet, die es ohne Zwang zu realisieren galt.[280] Bei der Ausarbeitung des individuellen Trainingsplans wurde besonders darauf geachtet, dass das Ziel nicht zu hoch gesteckt wurde, so dass es mit stetigem Trainingsaufwand und Überwindung erreicht werden konnte. Damit ließ die Differenzierung eine Konzentration auf die individuelle Leistungssteigerung zu und sprengte den als einseitig empfundenen Bewertungsmaßstab in Gruppen, der vom leistungsstärksten Teilnehmer ausging.
Hahn wollte auf dem sportlichen Sektor unterdurchschnittlich begabten Schülern durch intensives Training die Möglichkeit zur Stärkung des Selbstvertrauens geben.[281] Von Hentig kritisierte diese Denkhaltung Hahns, da „sich mit seiner eigenen Schwäche zu befassen, selbst ein Ausdruck dieser Schwäche ist.“[282] Dem ist zu entgegnen, dass sich mit seiner Schwäche auseinanderzusetzen, nur dann Ausdruck einer Schwäche selbst ist, wenn man diese Schwäche als Makel empfindet und sich durch unnötige Grübeleien über die Schwäche verliert. Wenn die Schüler Hahns die Schwäche durch fortdauerndes Training überwinden lernen, wird sie zu einem pädagogischen Instrument der Willensstärkung.
Die „leichtathletische Pause“ in Salem wurde im Laufe der Zeit durch andere Disziplinen wie Kletterübungen, Bergsteigen, Segeln, Kanufahren, Skifahren, Reitübungen usw. ergänzt.
Es bleibt festzuhalten, dass das sportliche Training dem Verfall der körperlichen Tauglichkeit und der Unternehmungslust entgegenwirkte und die körperliche Leistungsfähigkeit für die anderen Komponenten der Erlebnistherapie förderte.[283]
Hahn adaptierte die Projektmethode aus dem gleichlautenden amerikanischen Ansatz von Kilpatrick und Dewey.[284] Deren Projektmethode gründete sich auf der Theorie, dass Erziehung das Leben selbst, wie umgekehrt Leben gleich Erziehung war.[285] Weil Leben eine Planung erforderte, musste sich Erziehung und infolge dessen auch das sie umfassende Leben auf planendes Handeln gründen und dies lernen und üben lassen. Dies geschah am besten in Projekten mittels eines Lernens durch Handlung. Dewey und Kilpatrick bezeichneten das Lernen im Projekt als Methode der denkenden Erfahrung. Lernen bedeutete das Herstellungen von Erfahrungen, dabei besaß das Handeln laut Bauer eine doppelte Funktion:[286]
Das Projekt Hahns bestand aus einer selbst gewählten oder von außen vorgegebenen Aufgabe; es diente als geistiger und handwerklicher Ausgleich zu den körperlichen Aktivitäten. Die Jahresarbeiten in den Landerziehungsheimen von Hermann Lietz dienten als Vorbild für die Durchführung des Projektes in den Hahnschen Schulen.
Das Projekt enthielt drei spezielle Merkmale:[287]
Als Projektinhalte konnten künstlerische Arbeiten, Naturschutzaktivitäten, musische Vorführungen, Theaterdarstellungen, Konzerte, das Erstellen von Dokumentationen sowie Informationsveranstaltungen über ein bestimmtes Thema gewählt werden. Das folgende Beispiel diente Hahn als Musterexemplar eines Projektes:[288] „Ein an Tierphotographie interessierter Junge wurde von einem Salemer Lehrer dazu ermutigt, die folgende Aufgabe zu lösen: wilde Turmfalken zu photographieren von dem Tag an, an dem sie auskrochen, bis zu dem Tage, an dem sie flügge wurden. Es ist unschwer zu ermessen, welche Kräfte bei diesem Jungen bei der Bewältigung der Aufgabe ins Spiel kamen: Erfinderkraft bei dem raffinierten Einbau des Photoapperates, Voraussicht in der Überlistung der Vögel, scharfe Beobachtung und siegreiche Geduld, die ganze Zeit hindurch: man kann sich vorstellen, wie das Gelingen der mühseligen Unternehmung den jungen Menschen beseligt hat.“
Hahn ging es bei dem Projekt um einen intensiven ausdauernden Umgang mit einer Aufgabe, die der Schüler sich zu Eigen machen und erfolgreich bis zum Ende durchführen sollte. Mit dem Projekt sollte der Schnelllebigkeit, der Oberflächlichkeit und dem Verfall der Sorgsamkeit entgegengewirkt werden.
In der Regel wurden keine außergewöhnlichen Beiträge oder Werke erwartet; die Projekte sollten vielmehr der Lebenserziehung der Schüler dienen.[289]
Bei der Durchführung des Projektes kam es Kurt Hahn vor allem darauf an, „die Leidenschaft des Schaffens und der Mühsal und Sorgfalt auf dem Weg zum Ziel“ in den Schülern zu wecken.“[290]
Die Expedition diente als Ergänzung des körperlichen Trainings[291] und wandte sich gegen den Verfall der Initiative innerhalb der Jugend. Während den Expeditionen konnten die Schüler intensive Erfahrungen sammeln, die für das zukünftige Leben als immer wieder abrufbare Orientierung dienen sollten.
Die Behauptung von Hentigs, dass Hahn „(...) sich auf dem Gebiet des ‚Lernens’ die Expeditionen der Jugendbewegung der (Lietz - Schulen) zu eigen gemacht“[292] hat, muss als undifferenziert abgelehnt werden. Der Hahnsche Projektansatz unterscheidet sich eindeutig in Form und Zielsetzung von den häufig mehrere Wochen dauernden „Schulreisen“ der Lietzschen Gründungen und den rein auf die Gemeinschaft ausgerichteten Unternehmungen der Jugendbewegung.[293]
Unter einer Expedition konnten ein- oder mehrtägige Touren wie Bergbesteigungen, Seereisen, Kanufahrten oder Skiunternehmungen verstanden werden. Die Lernziele bei einer Expedition bestanden in der intensiven Planung, Sorgsamkeit, Umsicht, Entschlusskraft, Widerstandsfähigkeit, Flexibilität, Zähigkeit in der Durchführung, Widerstandsfähigkeit und Nervenkraft.[294]
Ein Beispiel für das Erlernen dieser Eigenschaften war eine siebentägige Wanderung innerhalb eines Sommerkurs in der Kurzschule Berchtesgaden, wo die Teilnehmer hohen physischen, psychischen und sozialen Belastungen ausgesetzt waren.[295] Dabei wurde ihnen vermittelt, nicht nur positive Gefühle beim Erreichen des Ziels zu erfahren, sondern auch die vordergründig als negativ empfundenen Elemente wie Erschöpfung, Angst oder Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe als untrennbar damit verbunden zu erleben. Die Betonung bei der Durchführung von Expeditionen lag gemäß den Äußerungen von Ziegenspeck in der Einübung der Ausdauerfähigkeit sowie in der Überwindung von Erschöpfungszuständen, Hunger und Durst und nicht in Erfahrung kurzfristiger Höchstleistungen oder Sensationen.[296]
In den Landerziehungsheimen wurden pro Jahr drei bis vier kleinere Expeditionen durchgeführt, die als Vorbereitung einer größeren in den Ferien dienten.
Häufig fanden auch Expeditionen in Verbindung mit Projekten statt, vor allem wenn sie biologische und geologische Erkundungen beinhalteten.
Kurt Hahn betrachtete den Rettungsdienst unter den vier Komponenten der Erlebnistherapie als das „wichtigste Element der Heilung.“[297]
Dabei wurde eine für die Allgemeinheit nützliche Einrichtung mit dem herausragenden Hahnschen Erziehungsziel, dem Dienst am Nächsten, praktisch verbunden. So konnte ein direkter und sinnvoller Lernbezug hergestellt werden, der dem Schüler die Bedeutung seines Handelns unmittelbar erkennen ließ.[298]
Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, dessen Schlusssatz lautete: „So gehe hin und tue desgleichen“[299], wurde im Rettungsdienst umgesetzt. Hahn ging es dabei nicht um die mitleidende Teilnahme, die als bloße Ergriffenheit von fremdem Leid begriffen wurde, sondern um die „energische Teilnahme“, die praktische Tathandlung.[300] Er verband in diesem Zusammenhang seine Vorstellung von der „energischen Teilnahme“ mit dem christlichen Gebot der Nächstenliebe.
In Abhängigkeit von der Lage der Schule wurden die Jugendlichen in verschiedenen Rettungsorganisationen wie Küstenwacht, Bergwacht bzw. in Erster Hilfe ausgebildet.
Die Kurzschule Baad im Kleinwalsertal, die im Hochgebirge liegt, wurde mit dem notwendigen Equipment für Rettungseinsätze im Sommer und Winter ausgestattet. Die Schüler lernten bei den Bergrettungsübungen das Abseilen von Verunglückten über unwegsame Hindernisse (Akja) und das Absuchen einer Lawine mit Sonden. Weiterhin wurde ihnen beigebracht, mit dem Sprechfunkgerät der Schule umzugehen, das bei Rettungsaktionen eine große Hilfe darstellte.[301] Hahn kam aufgrund seiner Beobachtungen zu der Erkenntnis, dass „nicht nur der Einsatz im Ernstfall, sondern auch die realistische Schulung für den Ernstfall eine befreiende und veredelnde Wirkung auf junge Menschen ausübt.“[302]
Durch die Einführung des Rettungsdienstes in Gordonstoun gewann Hahn drei allgemeingültige Ansichten über die Bedürfnisse der Jugendlichen:[303]
Dem Bewährungsdrang des Jugendlichen wurde somit ein höherer sozialer Status verliehen und außerdem konnte Kurt Hahn seine Vorstellungen, im Rettungsdienst ein „moralisches Äquivalent des Krieges“ gefunden zu haben, verwirklichen. Eine der Hahnschen Grundideen, der Friedensdienst, wurde dadurch realisiert.
Weiterhin dienten die Berg- und Seerettungsdienste als Gegenpol zum Verfall der Hilfsbereitschaft, der menschlichen Anteilnahme und dem sozialen Handeln.[305]
Es ist in der Forschung unumstritten, dass Hahn als der pädagogische Vorreiter in der Erkenntnis und praktischen Umsetzung des Rettungsdienstes als Erziehungsmittel bezeichnet werden kann. Die These Meissners [306], dass Hahns Vorstellungen von der erzieherischen Bedeutung des Rettungsdienstes mit den körperlichen Arbeiten in der Landwirtschaft der Landerziehungsheime von Hermann Lietz in der „Rückverbindung zum Elementaren“[307] in einem geistigen Zusammenhang standen, muss als zu weit hergeholte Konstruktion zurückgewiesen werden. Hahn definierte den „ Eigennutz“ als die Neigung, die Würde anderer Menschen zu verletzen. Er ging davon aus, dass sie bei vielen Menschen vorhanden war und deren Denken und Handeln entscheidend beeinflußte. Ein probates Mittel, den „Eigennutz“ zu überwinden, war die Ausbildung der „energischen Teilnahme“, die „ man unbegrenzt verkümmern, aber nur begrenzt verstärken kann.“[308]
Hahn verstand darunter nicht nur die leidende Teilnahme, die Ergriffenheit von Freud und Leid anderer Menschen, sondern auch „den Zorn, der zu Taten drängt, der Zorn, der den Menschen packt bei dem Unrecht, das ihm und anderen geschieht.“[309] Er ordnete die „energische Teilnahme“ als einen „Bundesgenossen“ dem „guten Willen“ zur Abwehr von „feindlichen Mächten“ zu.[310]
Hinter dieser Überlegung stand Platons Bild von den sich in der „Politeia“ entwickelnden 3 Seelenteilen, die sich in Spannung miteinander befanden.[311]
Platon entwickelte einen Vergleich der menschlichen Seele mit einem Wagengespann: [312] „einem Wagenlenker (Vernunft) mit einem besseren Pferd (Willen) und einem wilderen Pferd (sinnliche Begierde). Wollen und Sinnlichkeit sollen im Menschen durchaus ihren Platz haben, aber er ist erst dadurch wirklich Mensch, daß die Vernunft über beide herrscht oder doch herrschen soll (wie der Wagenlenker über die Pferde).“. Jedem Seelenteil ensprach eine besondere Tugend: der Sinnlichkeit die Mäßigung, dem Willen die Tapferkeit, der Vernunft der Weisheit; über diesen thronte als höchste Tugend die Gerechtigkeit. [313] Hahn benannte neben dem Kampf zwischen dem „Eigennutz“ und der „energischen Teilnahme“ eine weitere Spannung in der „Schönheit der Seele“ zwischen der „Sanftheit“ und der „Beherztheit“. [314] Keine der beiden Eigenschaften sollte Überhand gewinnen:[315] „ Die Überernährung der Sanftheit führt zur Weichlichkeit gegen sich und andere, die Überernährung der beherztheit zur Wildheit gegen sich und andere.“ Das Ziel lag für Hahn in der Vereinigung der beiden Kräfte, so dass eine „wagemutige begeisterte Teilnahme für das Recht der Menschen“ entstand. [316] Hier zeigte sich wiederum eine Übereinstimmung mit der platonischen Vorstellung von der richtigen Zusammenstimmung der im Widerstreit befindlichen drei Seelenteile. Die Grundvoraussetzung zu dieser Harmonie der Seele lag in ihrer „Wohlgestimmtheit“ infolge einer richtigen Erziehung durch Gymnastik und Musik.[317] Platon wandte sich gegen eine einseitig betriebene Gymnastik, die zur „Rauhigkeit“ führte und eine Spezialisierung der Erziehung durch Musik, die „Weichlichkeit“ zur Folge hatte, erst durch die Synthese von Musik und Gymnastik wurden Tapferkeit und Besonnenheit erzeugt. Die richtige Abstimmung der Besonnenheit und Tapferkeit verlangte Platon von seinen Wächtern. In Übereinstimmung mit Platon war für Hahn das Erziehungsziel der Eirichtung eines ausgeglichenen Kräfteverhälnisses der Neigungen dann erreicht, wenn die Kinder „sanft und kühn, schnellfüßig, stark und klug“ waren.[318] Hahn war der Ansicht, dass nur durch kontinuierliche Nachahmung und Übung die „energische Teilnahme“ den „Eigennutz“ im Menschen verdrängen und sich als beständige Neigung etablieren konnte. Hahn vertrat die Auffassung, dass die Achtung vor dem Sittengesetz gewährleistet sein sollte, damit man von sittlichem Handeln sprechen konnte. Dies mußte nicht immer bewußt sein, sondern es konnte sich hierbei durch häufiges Üben bedingt um eine „unbewußte Kontrolle des Pflichtgefühls“ handeln. [319] Hahns Zielvorstellung war die folgende: [320] „(...) je mehr Handlungen ein Mensch in Übereinstimmung mit seiner Achtung vor dem Sittengesetz , aber nicht bestimmt durch seine Achtung vor dem Sittengestz, sondern durch die Neigung, die Würde seiner Mitmenschen zu schonen, vollbringt, um so fähiger ist der Mensch, jede sittliche Handlung ohne unüberwindlichen Neigungswiderstand zu vollbringen.“ Hahn negierte die These, dass Pädagogen sittliche Menschen erziehen, stattdessen vertrat er die Ansicht, dass sie „die Seele des Kindes schön, lebendig und fähig“ [321] formen sollten, um dem Kind selbst die Gelegenheit zu geben, sich zu einem sittlichen Menschen zu entwickeln. Wenn dem „Eigennutz“ durch die systematische Stärkung der „energischen Teilnahme“ Widerstand entgegengebracht wurde, „so erwächst in dem werdenden Menschen ein Kampf der Neigungen und dieser Kampf der Neigungen bedeutet die günstigste Konstellation für die Achtung vor dem Sittengesetz, um es als souveräner Bestimmer das menschlichen Handelns ans Licht treten zu lassen.“.[322] Eine weitere Voraussetzung zur Förderung des sittlichen Handelns sah Hahn in Anlehnung an Platon in der Vermeidung der Nachsicht. Der Mensch sollte dazu imstande sein, „die Reue in ihrer ganzen Bitternis“ zu spüren, „weil aus dem Sieg wie aus der Niederlage neue Kräfte wachsen können.“[323] Die innerliche Akzeptanz der Reue konnte durch die Nachsicht verhindert werden, sie erlaubte es dem Menschen nicht, das Gefühl der Reue auszuleben:[324] „Für den Beobachter ist der Seelenzustand des Reuigen ein ergreifender und festlicher zugleich. Jählings von dem Druck der Betörung befreit, erwacht der Mensch zur Klarheit, spürt die wahren Werte seines Lebens und schüttelt sich von den Verdunklern in seiner eigenen Seele frei.“
Hahns war überzeugt von der These, dass die Seele des Menschen der Formbarkeit unterlag und sich abhängig von der Erziehung entweder zum Guten oder zum Schlechten ausbilden konnte. Jeder Mensch besaß laut Hahn die Fähigkeit, alles nachzuahmen, da jede menschliche Eigenschaft latent in ihm stecke. Abhängig von der Disposition des Individuums besaßen die einzelnen Eigenschaften eine differenzierte Entwicklungskraft. Der Erzieher mußte deshalb auf die richtige Auswahl der „Nahrung“ der Seele der jungen Menschen achten, um die Verkümmerung wichtiger Eigenschaften zu verhindern. Weiterhin sollte der Erzieher in Abhängigkeit von der Disposition der Jugendlichen die Intensität und Dauer der „ Nahrungszufuhr“ im Auge behalten.
Die Überlegungen Hahns zum Rettungsdienst lassen sich folgendermaßen in die aktuelle Altruismusforschung einordnen. Als altruistisch werden jene Verhaltensweisen bezeichnet, die hauptsächlich dadurch motiviert sind, dem Interaktionspartner einen Nutzen zu verschaffen.[325] Nach Batson existieren vier Motive für altruistisches Verhalten:[326]
1a) Erlangen einer Belohnung,
1b) Vermeiden einer Bestrafung,
2) Reduktion von Aktivierung,
3) der Wunsch, dem Opfer zu helfen.
Batson betont, dass lediglich das zuletzt genannte Motiv die Bezeichnung altruistisch verdient, da die anderen Motive in erster Linie auf das eigene Wohlbefinden abzielen. Bei dieser Art des Altruismus ist die altruistische Handlung Selbstzweck, während sie bei den anderen Altruismusformen nur Mittel zu einem anderen Zweck ist.[327]
Der Hahnsche Rettungsdienst entspricht exakt dem von Batson genannten Motiv der Hilfe des Opfers aus uneigennützigem Prinzip. Bei Anblick eines Menschen in Not erhält der einzelne den Auftrag, ein bedeutsam erscheinendes Anliegen in diesem Augenblick zurückzustellen und unmittelbar handelnd einzugreifen. Schwarz beschreibt die pädagogische Wirkung des Rettungsdienstes folgendermaßen:[328] „Der Lernprozeß besteht in den entscheidenden Erkenntnissen, dass der Anruf von einem in Not befindlichen Mitmenschen gerade nicht allein an alle anderen außer mir selbst oder an die kraft ihres Amtes dazu Berufenen ergeht, sondern direkt an mich persönlich gerichtet ist, dass Helfenkönnen über den sittlichen Imperativ des Helfenmüssens hinaus zu der ‚reinen Neigung’ des Helfenwollens führt und dass dieses Helfenwollen seinen Lohn und seine Erfüllung in sich selber trägt, in der verifizierten Nächstenliebe.“
Die charakterbildende Wirkung der Erlebnistherapie ist laut Schwarz in einer Dreistufung zu beobachten. Die einzelnen Teile bedingten und ergänzten sich gegenseitig und bildeten somit eine organische Einheit:[329]
1. Die vier Komponenten der Erlebnistherapie (körperliches Training, Expedition, Projekt und Rettungsdienst) wurden gezielt den vier „Verfallserscheinungen“ (Verfall der körperlichen Tauglichkeit, der Initiative, der Sorgsamkeit und der menschlichen Anteilnahme) entgegengestellt. Sie blieben als Einzelelemente aber lediglich auf das teleologische Entgegentreten einer bestimmten zivilisatorischen Notlage beschränkt.
2. In der zweiten Stufe kam die eigentliche charakterbildende Wirkung der Erlebnistherapie zum Vorschein. Sie entwickelte sich in der gegenseitigen Verästelung und in der praktischen Durchführung des Zusammenspiels ihrer Elemente unter dem gemeinsamen Motiv des Erlebnisses in der Kurzschule.[330] Das Erlebnis bedeutete für Kurt Hahn kein zufälliges Ereignis, es war vielmehr das Endresultat eines sorgsam durchdachten Planes. Diese Erlebnisse sollten die Erinnerungen der Schüler[331] prägen und als Kraftquelle für entscheidende Augenblicke im weiteren Leben dienen.
Die Wirkung der prägenden Erlebnisse in den vier Elementen der Erlebnistherapie in Form „heilsamer Erinnerungsbilder“ für das spätere Leben entnahm Hahn dem Gedankengut von William James. Hahn übernahm von James die Vorstellung, dass der Grad der Intensität eines Erlebnisses im weiteren Leben bei gleichen Erfahrungen für die Wiedererinnerung entscheidend war:[332]„Events lived through only one, and in youth, may comes in after years by reason of their exiting quality or emotional intensity to serve as types or instances.“
Die im Gedächtnis eingebrannten Erfahrungen („vividness in an original experience“) konnten laut James bei ähnlichen Erfahrungen dieselbe Wirkung beim Menschen auslösen wie die Gewohnheit. Solche Erinnerungen aufgrund prägender Erlebnisse als Jugendlicher können jederzeit durch Assoziationen aktiviert werden und als innere Aufforderung den „bösen Leidenschaften“ entgegentreten.
Im Gegensatz zu der Gewohnheit, die auf die ständige Übung aufbaute, war die Intensität des Erlebnisses und des handelnden Einsatzes für das spätere Verhalten von enormer Wichtigkeit. Der Grad der persönlichen Aktivität war entscheidend für die Stärke des Widererinnerns:[333] „Where you are passive you forget; where you are active you remember.“
Im Gegensatz zur Gewohnheit, die auf ständiger Einübung basierte, war in diesem Fall nicht die Dauer, sondern die Stärke und der Einfluss des Erlebnisses für das spätere Verhalten ausschlaggebend.
3. Die Erlebnistherapie war für Hahn nur das Mittel der Erziehung, die den Schüler vor der Verkümmerung der „Kinderkraft“ in den Pubertätsjahren und vor einseitiger Wissensvermittlung durch die Staatsschulen schützen sollte. Über diesem thronte die oberste Leitidee Hahns: die Erziehung des Menschen zur Verantwortung und zur Sittlichkeit in einem Staate auf demokratischer Grundlage. Dieses Ziel sollte jeder Schüler durch die Erlebnistherapie verinnerlichen.
In seiner Schrift „Hoffnungen und Sorgen eines Landerziehungsheims aus dem Jahre 1957 erweiterte Hahn die oben genannten Zielvorstellungen:[334] „Wenn Duldsamkeit und menschliches Verstehen (...) noch neue Wurzeln schlagen kann bei reifen Männern von ganz verschiedenen Nationalitäten, dank gemeinsamer Erlebnisse, wieviel hoffnungsvoller wäre die Aufgabe, werdende Menschen aus aller Welt in ihren empfänglichsten Jahren durch die Kameradschaft eines fordernden Gemeinschaftslebens miteinander zu verbrüdern.“
Nach seiner Emigration aus Deutschland wählte Hahn zunächst London als neuen Wohnort. Dort erneuerte er den Kontakt zu einflussreichen Persönlichkeiten des englischen Geisteslebens, die ihm aus seinen Aufenthalten in Oxford vertraut geblieben waren, um die Realisierung seiner Erziehungsvorstellungen auch in England voranzutreiben. Nach intensiver Vorbereitung wurde im Jahre 1934 die Schule Gordonstoun in Schottland durch ein Kuratorium ins Leben gerufen, dessen Angestellter Hahn war. Diesem Kuratorium gehörten gesellschaftliche Verantwortungsträger wie z. B. Erzbischof William Temple, Admiral Sir Herbert Richmond, Professor Sir James Butler, Geoffrey Winthrop Young, Brigadegeneral Sir Wyndham Deedes, Professor G. M. Trevelyan und Sir Claud Elliott, der damalige Leiter von Eton, an.[335] Hahn selbst wurde Schulleiter von Gordonstoun; dieses Amt übte er bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1953 aus.
In Gordonstoun wurde der Darstellung Sutcliffes folgend die Konzeption Salems, durch Erziehung verantwortungsvolle, sittliche und staatsbürgerliche Tugenden bei den Schülern zu wecken, übernommen und als pädagogisches Unternehmen weiterentwickelt.[336]
Die Bedeutung der Gründung Gordonstouns lag für Hahn darin, „die lebendige Beziehung einer Schule zu ihrer landwirtschaftlichen Umgebung, zu ihren Nachbarn, zu ihrem Haus, zu all den dort gesammelten Sitten und verpflichtenden Traditionen“[337] erneut herzustellen.
Die Nähe Gordonstouns zur Küste und den Häfen faszinierte Hahn, wie in seinem ersten Bericht an das Kuratorium der Schule zu lesen war:[338] „Hier ist eine gute Weide. Ich weiß, daß es viele wunderschöne Gegenden in England gibt, die dem Zentrum der Aktivität näher liegen, aber sehr oft zeichnen sie sich durch eine süße, ehrenwerte Verschlafenheit aus, die sie eher als Rahmen für den Lebensabend als für den Lebensmorgen erscheinen lassen (...). Gordonstoun liegt in einem friedlichen und fruchtbaren Landstrich, aber am Horizont liegt die Herausforderung: im Norden das Meer und im Süden die hohen Berge.“
Ein weiterer Grund, diesen Standort zu wählen, war der kreisrunde Platz in der Mitte des Schulgebäudes. Dieser erschien Hahn als ein Symbol der dort vereinigten Menschen aus allen Ländern der Erde.
In Salem und Gordonstoun boten sich ähnliche pädagogische Möglichkeiten. Um eine lebendige Beziehung zu den unmittelbaren Nachbarn herzustellen, boten sich sowohl die Handwerker des Salemer Tals als auch die Fischer von Hopeman Village an. Das reiche Tier- und Pflanzenleben im Bodenseegebiet und die facettenreiche Landschaft in Morayshire luden zur Durchführung von Projekten ein. Dieselben Voraussetzungen für Expeditionen waren durch die unmittelbare Nähe Salems zum Bodensee sowie den Schweizer Alpen und Gordonstouns zur Bucht von Moray und den Cairngorm Mountains gegeben.
Die Gründung von Gordonstoun lehnte sich zwar an die in Salem entwickelten Ideen und Vorstellungen an, es wurden aber auch Anregungen von der englischen Tradition und den dort existierenden Denkweisen übernommen. Die Unterschiede zwischen Deutschland und England in den Unterrichtszielen zeigten sich besonders in Gordonstoun und Salem.[339]
Salem war aufgrund der Wichtigkeit des Abiturs in Deutschland für den späteren beruflichen Werdegang dazu verpflichtet, eine „ständige Begabtenauslese“ vorzunehmen.[340] Dies bedeutete, dass die verantwortlichen Posten in der Schulgemeinschaft nicht von Schülern besetzt werden konnten, die die vorgegebenen Lernziele verfehlten. Damit blieb den schwächeren Schülern sowohl das Abitur als auch zum Teil die Erziehung zur Verantwortung durch die Ausübung eines wichtigen Postens in der Schulgemeinschaft versagt.
Dagegen blieben die Schüler in Gordonstoun in der Regel bis zum 18. Lebensjahr der Schule erhalten und arbeiteten gemäß ihrer Begabung wissenschaftlich, so dass ihnen die verantwortlichen Ämter der Schule offen standen.
Sutcliffe vertrat die Ansicht, dass das englische System durch die größere Fächerwahl eine größere Freiheit in der Durchführung des Lehrplanes erlaubte:[341] „Die sich daraus ergebende Schulgemeinschaft ist umfassender, man kann sagen vollständiger, da sie sich nicht nur auf diejenigen beschränkt, die eine Universitätsausbildung vor sich haben“.
Gordonstoun wurde von Vertretern des schottischen Erziehungssystems weitestgehend akzeptiert, obwohl man wusste, dass die Schule sich mehr englischen und deutschen Erziehungsidealen verbunden fühlte. Weiterhin stand Gordonstoun in ständigem wechselseitigem Austausch mit schottischen Pädagogen, die die Entwicklung der Schule mit positiven Darstellungen in der Öffentlichkeit und kritischen Anregungen unterstützten. Gordonstoun übernahm jedoch nicht das schottische Prüfungssystem und den schottischen Lehrplan, sondern wählte angeregt von Oxford, Eton, Harrow usw. das englische System. Hahn fand an der Strenge des schottischen Systems keinen Gefallen:[342] „Das größte Lob, das ich der schottischen Nation erteilen kann, ist, daß sie die Härte des schottischen Erziehungssystems überlebt hat.“
Gordonstoun wurde als Public School angesehen.[343] Unter Public School verstand man im traditionellen Sinne eine Internatsschule für männliche Jugendliche, die sowohl in finanzieller Hinsicht als auch in der Kontrolle vom Staat her unabhängig waren. Die Erziehung in den traditionellen Public Schools wie Eton oder Winchester baute auf einem strengen Ordnungsprinzip und einer Bewahrung althergebrachter Werte auf. Eine Zugangsvoraussetzung für die Public Schools war ein hohes Einkommen des Vaters, somit wurde lediglich ein exklusiver Kreis von Jugendlichen aufgenommen. Im Laufe der Zeit wurde der Begriff der Public Schools auf Internatsschulen ausgedehnt, wo die Söhne von Bauern und Handwerkern unterrichtet wurden. Eine Erweiterung erfuhr der Begriff der Public Schools durch die Aufnahme der Organisationen „Headmasters Conference“ und „Governing Bodies Association“. In diesen Organisationen waren Tagesschulen und schottische Gymnasien mit lokaler Tradition und völliger oder teilweiser Unabhängigkeit Mitglied.
In manchen Punkten orientierte sich Gordonstoun nicht an den Praktiken der zeitgenössischen Public Schools.[344] Die für die Public Schools typischen Mannschaftssportarten wie Rugby wurden durch erlebnisorientierte Veranstaltungen wie seemännische Ausbildung, Bergsteigen und Reiten ersetzt. Neue Wege wurden auch dadurch beschritten, dass mit schottischen Organisationen verabredet wurde, Schüler offiziell als freiwillige Küstenwächter oder Feuerwehrleute zu beschäftigen. Hintergrund dieser Überlegung war die Übertragung von Verantwortung, so dass die Schüler in der Praxis zu charakterstarken und helfenden Persönlichkeiten ausgebildet werden konnten.[345] Außerdem war die „formlose Kameradschaft“[346] zwischen Lehrern und Schülern, wie sie in Gordonstoun praktiziert wurde, für viele zeitgenössische Public Schools ein Novum.
Gordonstoun wurde nicht nur von den Public Schools sondern auch von den Schulen der englischen Progressiven Bewegung beeinflusst, die in der „New Education Fellowship“ lose zusammengefasst waren. Zu dem Zeitpunkt, als Hahn nach England emigrierte, befanden sich die Schulen der Progressiven Bewegung auf dem Höhepunkt ihres Einflusses. Der geistige Hintergrund der Gründung der Progressiven Bewegung war die kritische Prüfung der englischen Gesellschaft und ihres Erziehungssystems nach dem Ende des 1. Weltkrieges.[347] Viele Eltern und Lehrer in England orientierten sich an der Psychologie Sigmund Freuds (1856- 1939)[348] und Carl Gustav Jungs (1875- 1961)[349].
Vor allem durch Freuds Schriften „Die Traumdeutung“ aus dem Jahre 1900 und „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“ aus dem Jahre 1901 fand die Idee der Psychosomatik in immer stärkerem Maße Anhänger in England. Über die Methode der selbstanalytischen Traumdeutung wurde im Lande öffentlich kontrovers diskutiert.
Jung war ein tiefenpsychologischer Repräsentant eines romantizistisch- symbolischen Neuplatonismus. Er bezog sich in seinem Denken auf die alte alchemistische Philosophie, in deren Zentrum Phantasie, Phantastik und Esoterik, Mythen und Symbolik standen. Mit dieser antiaufklärerischen und antirationalistischen Denkweise, die besonders in seinen Werken „Wandlungen und Symbolen der Libido“ aus dem Jahre 1912 und „Psychologische Typen“ aus dem Jahre 1921 auftauchte, war er von prägender Wirkung für die geistige Welt des frühen 20. Jahrhunderts.
Weitere Anregungen erhielten die nach Veränderung suchenden Eltern und Lehrer von den Gedanken John Deweys (1859-1952).[350]
John Dewey, ein führender Vertreter des amerikanischen Pragmatismus, stellte die Wissenschaft radikal in den Dienst der Verbesserung der sozialen Verhältnisse.[351] Für Dewey ergab sich eine Neuordnung der Pädagogik aus der historischen Entwicklung der Naturwissenschaften, der industriellen Revolution und der Demokratisierung. Die Erziehung musste laut Dewey einerseits von der Gesellschaft, andererseits vom Individuum aus bestimmt werden. Dewey forderte den Aufbau eines Erziehungssystems, das die alten Verhältnisse beseitigte und eine Demokratisierung ermöglichte. Sein Ziel der Erziehung lag in einer Festsetzung von Handlungsmöglichkeiten, die sowohl die Fortführung des Prozesses der Erfahrung als auch das Entwickeln der Person ermöglichten.[352]
Die Vorbereitungsschulen Abinger Hill und Bedales stellten Beispiele für Schultypen der Progressiven Bewegung dar.[353] In Abinger Hill wurden selbst junge Schüler dazu ermuntert, die Arbeitsmethode und ihr Lerntempo selbst zu bestimmen. Selbständiges Denken und Handeln sowie die Übertragung von Verantwortung auf die Schüler waren die wichtigsten erzieherischen Maßnahmen von Abinger Hill. Der damalige Direktor der Schule, Jim Harrison, entwickelte Methoden des Selbststudiums in seiner Schule, die in Gordonstoun durch Projekte und Aufgaben ebenfalls angewandt wurden.
J. H. Badley (1865-1967) war seit dem Jahre 1889 einige Jahre in Abbotsholme als Lehrer tätig, bevor er im Jahre 1893 die Schule Bedales in Sussex gründete. Für Bedales war die starke Individualisierung der Arbeitsweise, die Koedukation, die Betonung der musischen Bildung sowie die Gestaltung der „laboratory method“ charakteristisch. Badley umschrieb die erzieherische Konzeption in Bedales folgendermaßen:[354] „Erziehung darf nicht als Prozess der Formung von außen gedacht werden, sondern als Entfalten des Lebens von innen, durch eigene Impulse, aber als Antwort auf Reize von außen, und konditioniert durch die Umwelt, sowohl materiell als auch sozial.“
Eine der wichtigsten Eigenschaften Gordonstouns war ihr internationaler Charakter.[355] Viele der ersten Lehrer in Gordonstoun hatten bereits in Salem unterrichtet, darunter waren Engländer und Deutsche. Von den Schülern kamen ebenfalls viele aus Salem und seinen Juniorenschulen. Aber auch Jugendliche aus Spanien, Peru, England und Österreich prägten das Bild, so dass man von einer internationalen Ausrichtung Gordonstouns sprechen konnte.[356]
Die Schülerzahl in Gordonstoun betrug in der Anfangszeit 45 Personen; die Zahl erhöhte sich im Laufe der Jahre stetig, so dass im Jahre 1954 400 Schüler und eine Vorbereitungsschule mit 100 Schülern verzeichnet werden konnten.
Hahn erhielt in den ersten Jahren nach der Gründung von Gordonstoun von verschiedenen Seiten mannigfaltige ideologische Unterstützung seiner pädagogischen Ideen[357], jedoch sah es mit finanziellen Hilfestellungen nicht gut aus. Ein Bericht des Vorsitzenden des Exekutivkomitees des Kuratoriums vom Juli 1935 gab darüber Auskunft:[358] „Die Schule wurde gegründet mit einem Kapital oder Subskriptionsfond von weniger als 1400 Pfund. In der Zwischenzeit ist eine Barsumme in gleicher Höhe gezeichnet worden und ein Kontokorrentkredit in Höhe von 2000 Pfund (...) wurde garantiert. Bis zum heutigen Tag betrug daher die Gesamtsumme des verfügbaren Kapitals weniger als 5000 Pfund.“
Die prekäre Finanzsituation führte dazu, dass die Bezahlung der Lehrer im Gegensatz zu anderen Schulen gering war. Weiterhin bestand keine ausreichende Absicherung im Falle einer Pensionierung. Erst gegen Ende der 50er Jahre bekam die Schule das Finanzproblem unter Mithilfe einer kleinen Direktorengruppe („Board of Govenors“) in den Griff. [359]
Die fehlende Schuleinrichtung wurde durch die Eigeninitiative der Schüler und Lehrer kompensiert. So bauten z.B. die Schüler im Hafen von Hopeman ihre eigenen Boote, installierten eine Küstenwacht sowie einen Aussichtsturm und konstruierten anstelle der nicht mehr nutzbaren Turnhalle eine „Affen- Kletterwand“ und eine Hindernisbahn. Die finanziellen Entsagungen der Anfangsjahre von Gordonstoun wandelte Hahn in einen Vorteil um. Durch die notwendige Eigeninitiative wurde von den Schülern Tatkraft, Entschlussfähigkeit und Freude an der Arbeit gefordert, so dass sie schon auf diesem Wege dem Ziel der Erziehung von Gordonstoun, die Herausbildung einer verantwortungsbewussten und charakterstarken Persönlichkeit, ein Stück näher kamen.
Hahn verdeutlichte den Gordonstouner Schülern, denen er Verantwortung übertragen hatte, dass sie „in jedem Falle eines Auftretens von Schikanen, Massengrausamheiten, oder Verfolgung eines Nonkonformisten als Bürger der Schule versagt hätten.“[360] Er verglich die Situation mit dem Verhalten vieler junger Deutscher während der NS-Zeit, die von Gerüchten über die Existenz von Konzentrationslagern nichts wissen wollten. Die Schüler sollten zu immerwährender Aufmerksamkeit erzogen werden und Verantwortung für den „kleinen Staat“ Gordonstoun übernehmen. Die Erziehung zur Verantwortung und zur Wachsamkeit stand ganz weit oben auf der Zielsetzung von Gordonstoun:[361] „Man gebe dem Jungen soviel Verantwortung und Gelegenheit zur Initiative und Wahl, wie er seiner Reife entsprechend übernehmen kann und seine Eltern und Lehrer ihrer Reife entsprechend ihm geben können.“
Während der Zeit des 2. Weltkrieges nutzten viele deutsche Familien Gordonstoun als Refugium. Das in der Bevölkerung kursierende Gerücht, eine „verkappte fünfte Kolonne“ darzustellen, führte schließlich zur Internierung von 30 Deutschen aus Gordonstoun.[362] Das Angebot Hahns, englische Lehrer und die ältesten Schüler Gordonstouns zur „Home Guard“ zu entsenden, wurde von offizieller Seite ohne Angabe von Gründen abgelehnt.
Aus „militärischen Notwendigkeiten“[363] musste die Seniorenschule im Mai 1940 nach Wales verlegt werden; die Rückkehr nach Gordonstoun erfolgte erst im Herbst des Jahres 1945.[364] Hahn sah in der Standhaftigkeit der Lehrer und Schüler den Grund dafür, dass Gordonstoun den Krieg überdauerte:[365] „Nie werde ich den klaren, vernünftigen Gerechtigkeitssinn der älteren Schüler in dieser Zeit vergessen, ihre philosophisch gute Laune, als man sie als ‚Verdächtige’ für die Home Guard abwies, ihre herzliche Freundschaft den deutschen Flüchtlingen in ihrer Mitte gegenüber, ihre unerschütterliche Loyalität zu ihrer Schule und ihrem Land. Ihr Denken war nie verwirrt, wie es unter den Umständen hätte sein können.“
In Gordonstoun lernten die Jugendlichen, den von Hahn postulierten Dienst am Nächsten auszuüben und dadurch zu charakterstarken und sittlichen Persönlichkeiten heranzureifen. Dies soll nun exemplarisch an der seemännischen Ausbildung, der Expedition und dem Projekt illustriert werden.
Seit der Gründung der zweiten Höheren Schule in Spetzgart am Bodensee im Jahre 1929 setzte sich Hahn mit den Prinzipien der seemännischen Ausbildung auseinander. Dort segelten die Schüler an vorher festgelegten Nachmittagen in der Woche auf zwei Marinekuttern.[366]
Die seemännische Ausbildung war in Moray ein Teil des Tagesplans der Schule. Die Schüler sollten durch die Ausbildung die Eigenschaften der Wachsamkeit, Ausdauer, siegreichen Geduld, Kaltblütigkeit, Entschlusskraft, Brüderlichkeit und den Glauben an die Kraft des Menschen in sich entwickeln.[367] Die Idee, dass die seemännische Ausbildung ein Teil der Erziehung bedeutete, stellte für das englische Erziehungskonzept ein Novum dar. Hahn nutzte die Tatsache, dass entlang der Küste Ausbildungsstätten für Seeleute existierten, für seine Schule, indem er einen Marineoffizier in den Lehrkörper integrierte.[368] Die seemännischen Aktivitäten verlegte Hahn in den Hafen von Hopeman, der von der Schule aus leicht zu erreichen war.
Im Laufe der Zeit entwickelten sich freundschaftliche Beziehungen zwischen den Einwohnern von Hopeman und der Schule. Hahn berichtete:[369] „Die Brüderlichkeit zwischen den Fischersleuten von Hopeman und Gordonstoun ist ungebrochen. Wir haben Jahre lang ihre Küste getreulich bewacht. Sie haben uns bei unserer Seefahrt geholfen, uns gewarnt, wenn sie glaubten, daß wir unweise handelten, und bei einer unvergeßlichen Gelegenheit unsere Angst und Sorge geteilt, als ob unsere Kinder ihre eigenen wären. Solche Bande werden nicht so leicht zerrissen.“
Nach dem Ende des 2. Weltkrieges existierte einige Jahre lang die Abteilung „sea cadets“ für die Jugendlichen von Hopeman und Gordonstoun, die von einem Gordonstouner Lehrer geleitet wurde. Unter der Anleitung des Bootsbauers von Hopeman wurde kurz nach der Schulgründung im Jahre 1934 von den Gordonstouner Schülern ein Kutter gebaut. Zwei Jahre später entstanden auf ähnliche Weise ein zweiter Kutter und eine Rennyacht.
Ein Beispiel für das wachsende Vertrauen in die Schüler von Gordonstoun war der Dienst im Rahmen der königlichen Küstenwache, wodurch die Jugendlichen praxisnahe Verantwortung kennen lernten.[370] Der Inspektor der Küstenwache für Ostschottland besuchte vierteljährlich Gordonstoun und hielt eine Überraschungsübung ab. Aufgrund der engen Verbindung zu dem Ausbildungsschiff H.M.S. Convey und den Mangel an Handelsmarineoffizieren während des 2. Weltkrieges gründete sich in Gordonstoun im Juli 1941 eine „nautische Abteilung“. Als der damalige Ausbilder Mac Gregor im Jahre 1955 starb, hatten mehr als 200 Kadetten den nautischen Zweijahreskurs erfolgreich absolviert. Die theoretische Ausbildung der Kadetten war mit derjenigen der Seekadettenschulen vergleichbar; in Gordonstoun lernten die Jugendlichen aber noch zusätzlich die Praxisnähe im Segeldienst.
Mit der Schulyacht „Pinta“ wurden weite Reisen unternommen, so z.B. der Besuch des internationalen Segel-Training-Rennens in Spanien.[371]
Aufgrund der steigenden Schülerzahlen wurde im Jahre 1950 in Altyre eine Zweigstelle von Gordonstoun gegründet[372]. Die unmittelbare Nähe von Altyre zu den Cairngorm Mountains führte dazu, dass dort das Bergsteigen den Platz der seemännischen Ausbildung im Stundenplan der Schule einnahm. Den Lehrern Altyres wurde ein professioneller Bergsteiger zur Seite gestellt, manche von ihnen erhielten selbst eine Kurzausbildung als Verantwortliche für kleinere Bergmannschaften. Die Schüler verließen wechselweise mit dem Expeditionsleiter und dem Klassenlehrer die Schule und verbrachten vier bis fünf Nächte in den Bergen. Im Verlaufe der Bergtouren wurden die Schüler sowohl im Lesen von Karten und Kompassen als auch im Umgang mit verletzten und hilfsbedürftigen Personen unterrichtet. Dabei erlernten sie Fähigkeiten wie Verantwortungsbewusstsein, Hilfsbereitschaft, Wagemut, Entschlusskraft und Respekt vor der Natur.
Die Expeditionen in den Bergen weckten den Erlebnisdrang und die Abenteuerlust der Schüler, was schließlich zur Gründung einer Bergrettungsmannschaft führte. Die Bergrettungsmannschaft, die sich im Besitz eines Range Rovers befand, wurde für Such- und Rettungsarbeiten im Hochgebirge ausgebildet. Im Falle eines Einsatzes wandte sich die örtliche Polizei an Gordonstoun, um mit Hilfe der Schüler das Leben von verunglückten oder verschwundenen Personen zu retten.[373]
Als im Jahre 1959 der Pachtvertrag von Altyre nicht mehr erneuert wurde, konnte das Vorhaben, das Fach Bergsteigen parallel zur seemännischen Ausbildung in den Stundenplan von Gordonstoun aufzunehmen, nur bedingt realisiert werden. Mit dem Ziel, weiterhin mehrtägige Expeditionen als Erziehungsmittel für die Jugendliche zu gewährleisten, fanden an den Wochenenden regelmäßige Expeditionen in die Cairngorm-Mountains statt.
In den Schulferien nahmen die begabtesten Schüler an internationalen Bergwanderungen in Österreich, in der Schweiz sowie in Norwegen teil.
Das Projekt in Gordonstoun diente als geistiger und handwerklicher Ausgleich zu den sportlichen Aktivitäten.[374] In der Wahl des Projektes, das sowohl individuell als auch in Gruppenform bearbeitet werden konnte, besaßen die Schüler einen breiten Spielraum, nach Abschluss der untersten Klasse durften sie nahezu alle Projekte selber vorschlagen. Bei einer offiziellen Arbeitszeit von drei Stunden in der Woche und der Einbeziehung der Freizeit sollten die Projekte die Dauer eines Jahres nicht überschreiten. Schon im Voraus mussten die Schüler nachweisen, dass sie für das Projekt notwendige Materialien, Kenntnisse und gegebenenfalls Literatur besaßen, um es problemlos bis zum Ende durchführen zu können.
Das Projekt musste von einer der Schulinnungen abgesegnet oder von einem Lehrer kontrolliert werden. Zum weiteren Ansporn der Schüler wurde das Projekt mit einer Prüfung verbunden. Am Ende jedes Schuljahres veranstaltete die Schulleitung eine Ausstellung der Projekte, die von schulfremden Gutachtern beurteilt wurden. Sehr gute Arbeiten wurden mit einer Goldmedaille belohnt, weitere Auszeichnungen waren Silber, Bronze und das Etikett „Lobenswert“.[375]
Unter den Projekten befanden sich handwerkliche Arbeiten wie Möbelstücke, Haushaltsgeräte, Gemälde und Töpferarbeiten, ökologische Untersuchungen wie eine Zusammenstellung von Flora und Fauna der Teiche von Gordonstoun oder historische Themen wie die Architektur der lokalen Schlösser und Kirchen.
Projektteilnehmer, die sich durch außergewöhnliches Engagement außerhalb der Schule auszeichneten, besaßen die Möglichkeit, Trevelyan-Stipendien[376] zu erhalten. Diese Auszeichnung - benannt nach dem englischen Historiker G. M. Trevelyan - beinhaltete ein dreijähriges Studium für 34 Stipendiaten an den Universitäten Oxford und Cambridge, das von führenden Industrieunternehmen Englands finanziert wurde.[377] Die Unternehmen wollten mit dieser Initiative zur Erziehung von charakterstarken Menschen beitragen, die zu einem späteren Zeitpunkt führende Positionen im wirtschaftlichen Leben bekleiden sollten.
Sir Walter Benton-Jones, der damalige Vorsitzende von United Steel, benannte die Zielsetzung:[378] „Uns kam es darauf an, nicht nur akademischer Hochleistung den Vorzug zu geben, sondern auch, ohne akademische Leistungen beiseite zu lassen, die Möglichkeit zu schaffen, andere wichtige Eigenschaften wie Entschlossenheit, Initiative, Zielbewußtsein und Menschenkenntnis in Erwägung zu ziehen. (...) Es ist unsere Hoffnung, keinen Zweifel daran groß werden zu lassen, daß Leistungen in Gebieten, die außerhalb des Hauptfachs eines Kandidaten liegen, ihm die Türen der Universität öffnen, wenn seine geistigen Eigenschaften seinen praktischen Fähigkeiten ebenbürtig sind und wenn seine Standhaftigkeit genau so groß ist wie seine Unternehmungslust und seine Anpassungsgabe.“
Unmittelbar nach dem Ende des 2. Weltkrieges regte der Erlebnispädagoge Kurt Hahn die Einrichtung von deutschen Kurzschulen an. Infolge der schwerwiegenden politischen und wirtschaftlichen Probleme der Nachkriegszeit dauerte es jedoch noch sieben Jahre bis zur Eröffnung der ersten Kurzschule in Deutschland. Die Erlebnistherapie wurde erst nach langem Ringen ein vollwertiger Bestandteil des Erziehungssystems der Bundesrepublik Deutschland.[379] Daher ist es notwendig, auf die Vorgeschichte und die Umstände, die zur Eröffnung der Kurzschulen führten, näher einzugehen.
Laut Hahn[380] befand sich die Jugend in Deutschland nach der Befreiung durch die Alliierten und dem Ende des Krieges in einem geistigen Vakuum.[381]
Gleichzeitig sah Hahn auch die Bereitschaft zu einem geistigen Neuanfang:[382] „They were ready for a new inspiration, but they were also longing for it.“
Durch die Gründung von Kurzschulen wollte er der Jugend zu neuem Verantwortungsgefühl und Charakterstärke im Sinne des Friedens verhelfen. Im Jahre 1945 schlug Hahn den Alliierten die Gründung von 100 Kurzschulen in Deutschland vor. Den Notwendigkeiten der damaligen Zeit angepasst sollte ein berufsvorbereitender Bestandteil in Verbindung mit den Elementen der Erlebnistherapie eine bedeutende Stellung im Unterrichtsgefüge einnehmen. Je nach Lage und Möglichkeit der Schule konnte sich Hahn die Ausbildung von jungen Menschen im Bergbau, im Forstbereich, in der Hochseefischerei, in der Krankenpflege oder im Bergrettungsdienst vorstellen. Die Siegermächte standen Hahns Ideen jedoch zurückhaltend und bisweilen sehr skeptisch gegenüber und lehnten sein Ansinnen ab.
Im Jahre 1949 schätzte Hahn die Situation der Jugend in Deutschland noch kritischer als einige Jahre zuvor ein. Unter dem Druck der alltäglichen Probleme war eine geistige Apathie und Hoffnungslosigkeit entstanden:[383] „Many thousands vegetate without faith or standards.“
Hahn änderte seine ursprüngliche vor den Alliierten vertretene Konzeption und drängte die berufsvorbereitenden Maßnahmen zugunsten des Dienstes am Nächsten nach dem Vorbild der Küstenwache und Feuerwehr in Gordonstoun zurück. Die zentrale Bedeutung des Rettungsdienstes in den deutschen Kurzschulen gründete sich also auf jene Erfahrungen Hahns, die er im Jahre 1949 sammelte. Anstatt wie einige Jahre zuvor noch die Gründung von 100 Kurzschulen zu fordern, hatte Hahn nun die Errichtung einiger weniger im Auge, in denen der Rettungsdienst eine tragende Rolle spielen sollte. Die Idee der Einführung berufsvorbereitender Maßnahmen tauchte bei den Gründungen von Weißenhaus und Baad nicht mehr auf.
Hahn bemerkte ebenfalls eine auf den Eigennutz fixierte Denk- und Verhaltensweise innerhalb der Jugend. Die Kurzschule in ihrer Form der Gemeinschaftserziehung war für Hahn der Rettungsanker, um diesem Mangel an „loyal cooperation“ entgegenzuwirken.[384] So erhielt die deutsche Kurzschule in der Planungsphase ein weiteres wichtiges Merkmal: Eine möglichst breite Streuung bei der Zusammensetzung der Kurse nach Alter und sozialer Schicht wurde angestrebt, um die Voraussetzung für ein partnerschaftliches Miteinander zu schaffen.
Zur Realisierung seiner Kurzschulidee knüpfte Hahn die Verbindung zu einem einflussreichen Zirkel in den USA um T. H. Mc Kittrick[385], dem Vizepräsidenten der Chase National Bank.[386] Auf Initiative Hahns kam die Gründung der „American-British Foundation for European Education“ zustande. Das Ziel dieser Gründung bestand neben der Vermittlung von Stipendien für Landerziehungsheime darin, eine finanzielle Basis in den USA für die Errichtung von drei deutschen Kurzschulen als Modell für weitere Gründungen zu schaffen.
Zusammen mit Theodor Bäuerle, dem damaligem Kultusminister von Baden- Württemberg, organisierte Kurt Hahn im Mai 1950 eine Konferenz, an der pädagogisch interessierte Personen in einflussreichen Positionen teilnahmen. Dort wurde zur Freude Hahns die Gründung einer Organisation zur Realisierung seiner Erziehungsvorstellungen beschlossen. Auf der „Burnside Conference“[387] in Gordonstoun wurde im Juni 1951 die „Deutsche Gesellschaft für Europäische Erziehung (DGEE)“ als Tochtergesellschaft der „American-British Foundation for European Education“ gegründet.[388] Die DGEE wollte laut ihrem Programm die Interessen der Landerziehungsheime in gleichem Maße wie die der noch zu errichtenden Kurzschulen fördern. Doch mit der Zeit wandte sich die DGEE immer mehr den Kurzschulen zu:[389] „(...) The short-term school movement can justifiably invaluable as is their independent status, were clearly not in a position to do justice to the wide scope of our aims. (...) So the provision of short- term schools became our No.1 objective.“
Die große Nachfrage von deutschen Pädagogen hinsichtlich authentischer Informationen über Hahns Erziehungskonzept führte zur Gründung eines Gästehauses in Gordonstoun[390] im Oktober 1951. Finanziert durch Gönner aus den USA besuchten zwischen 1951 und 1953 133 pädagogisch interessierte Personen Gordonstoun. In der Zeit ihres Aufenthalts lernten sie die pädagogischen Prinzipien der Schule kennen, insbesondere den Rettungsdienst. Diese Besuche waren für die Weiterverbreitung der Ideen der Kurzschule in Deutschland von enormer Wichtigkeit und markierten einen beachtlichen Meilenstein für die Gründung der ersten deutschen Kurzschule im Jahre 1953.[391]
In Deutschland entwickelte sich die Erlebnispädagogik um das Jahr 1930 in der Reformpädagogik[392] zu einem wichtigen Element des Unterrichtsverständnisses.[393] Die Erlebnispädagogik wurde in der Zeit zwischen 1933 - 1945 durch die Organe der NSDAP vereinnahmt und für parteipolitische Ziele missbraucht, wobei die ursprünglich postulierten Werte pervertiert wurden.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde in der Bundesrepublik Deutschland der Versuch gestartet, an die Erkenntnisse und Ziele der Erlebnispädagogik in der Weimarer Republik anzuknüpfen. Dies gelang jedoch nur in Ansätzen, da viele Pädagogen, die in der Zeit des Nationalsozialismus eine führende Rolle spielten, weiterhin wichtige Positionen im deutschen Erziehungswesen bekleideten. Verstärkend kam hinzu, dass ehemalige Unteroffiziere und Offiziere der Wehrmacht, die nach neuen Beschäftigungsfeldern suchten, in Erziehungs- und Ausbildungsstätten drängten, wo erheblicher Personalbedarf bestand. Noch immer beeinflusst vom nationalsozialistischen Gedankengut standen die meisten von ihnen den als progressiv empfundenen Ideen der Erlebnispädagogik skeptisch bis ablehnend gegenüber.
Ende der 50er Jahre musste sich das Bildungs- und Ausbildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland unter dem Eindruck der machtpolitischen Blockbildung in der Welt (NATO, Warschauer Pakt) dem „Wettlauf der Systeme“ unterordnen. Nach dem „Sputnik - Schock“ stand die Optimierung von kognitiven Lernleistungen im Vordergrund, die Ganzheitlichkeit des Bildungsgedankens spielte in pädagogischen Entscheidungsprozessen nur noch eine marginale Rolle.[394]
Das Aufkommen von ökologischen Erkenntnissen und sozialen Bewegungen in den 70er und 80er Jahren führte sowohl in weiten Teilen der Gesellschaft als auch in pädagogischen Fachkreisen zu einer kritischen Bestandsaufnahme der bisherigen Bildungsleitlinien und zu einer Neubesinnung über Bildung und Erziehung. Die Erlebnispädagogik erlebte in diesem Zusammenhang eine neue Wertschätzung, wobei außerschulische Wirkungsfelder eher im Vordergrund standen.
Eine neue Form der Erlebnispädagogik findet als „Spielpädagogik“ mit verkürztem therapeutischem Ansatz Anerkennung. In der „Christuszentrierten Erlebnispädagogik“ werden auch Gott und die Schöpfung in der Natur individuell „erfahrbar“ gemacht. In einer hochtechnisierten Welt wird es immer wichtiger, diesem Urtrieb des Menschen, dem Drang nach Abenteuer, gerecht zu werden. Im Bereich der Erwachsenenbildung hat die Erlebnispädagogik ihre Entsprechung in der sogenannten Suggestopädie gefunden, in der die wichtigsten Elemente für den schnellen und gehirngerechten Lerntransfer in der Verbindung von kognitiven und affektiven Kompetenzen genutzt werden.
Ziegenspeck spricht zu Recht davon, dass der Erlebnispädagogik immer stärker eine sozialtherapeutische Aufgabe zuwächst.[395] Dieser Prozess wird durch die bildungspolitischen Folgen der „Wiedervereinigung“ Deutschlands beschleunigt. Es wird nach neuen Wegen öffentlicher Jugendhilfe gesucht, weil die Erziehungsproblematik unter den neuen sozialpolitischen Verhältnissen nicht mehr angemessen berücksichtigt werden kann (z.B. Massenarbeitslosigkeit, wachsende Drogenproblematik, Erfahrung sozialer Vereinzelung, zunehmender Rassismus usw.). Kinder und Jugendliche sollen über das Medium erlebnisintensiver Aktivitäten dabei unterstützt werden, problemlösende Verhaltens- und Verständigungsformen zu entwickeln und zu verinnerlichen, außerdem ist die Vermittlung von lebensbereichernden Faktoren wie Charakterstärke und Verantwortungsgefühl von großer Bedeutung.
Ein Erlebnis im erlebnispädagogischen Sinne ist also nicht etwas Alltägliches, sondern ein besonderes Ereignis. Man verbindet Erlebnisse eher mit dem Neuen, Ungewohnten und Unbekannten, obwohl aus psychologischer Sicht das Erleben als neutral definiert wird. Sowohl banale alltägliche Dinge als auch intensive außergewöhnliche Eindrücke sind hier einbezogen. In der Psychologie bezieht sich das Erleben auf die unterschiedlichsten Dinge, beispielsweise auf Umwelteindrücke, auf das eigene Handeln, auf seelische und körperliche Prozesse oder auf zwischenmenschliche Einflüsse. Inhalte des Erlebten, die als bedeutungsvoll angesehen werden, werden zu Eindrücken verarbeitet, die positive oder negative Gefühle oder Erinnerungen hervorbringen können. Für den Menschen stellt das Erleben etwas Persönliches und Subjektives dar, das unmittelbar wahrgenommen wird.
Hahn war der Ansicht, dass nur durch kontinuierliche Nachahmung und Übung die „energische Teilnahme“ den „Eigennutz“ im Menschen verdrängen und sich als beständige Neigung etablieren konnte. Er vertrat die Auffassung, dass die Achtung vor dem Sittengesetz gewährleistet sein sollte, damit man von sittlichem Handeln sprechen konnte. Dies musste nicht immer bewusst sein, sondern es konnte sich hierbei durch häufiges Üben bedingt um eine „unbewußte Kontrolle des Pflichtgefühls“ handeln.[396] Hahns Zielvorstellung war die folgende:[397] „(...) je mehr Handlungen ein Mensch in Übereinstimmung mit seiner Achtung vor dem Sittengesetz, aber nicht bestimmt durch seine Achtung vor dem Sittengesetz, sondern durch die Neigung, die Würde seiner Mitmenschen zu schonen, vollbringt, um so fähiger ist der Mensch, jede sittliche Handlung ohne unüberwindlichen Neigungswiderstand zu vollbringen.“
Hahn negierte die These, dass die Aufgabe von Pädagogen darin bestand, sittliche Menschen zu erziehen; stattdessen vertrat er die Ansicht, dass sie „die Seele des Kindes schön, lebendig und fähig“[398] formen sollten, um dem Kind selbst die Gelegenheit zu geben, sich zu einem sittlichen Menschen zu entwickeln. Wenn dem „Eigennutz“ durch die systematische Stärkung der „energischen Teilnahme“ Widerstand entgegengebracht wurde, „so erwächst in dem werdenden Menschen ein Kampf der Neigungen und dieser Kampf der Neigungen bedeutet die günstigste Konstellation für die Achtung vor dem Sittengesetz, um es als souveräner Bestimmer das menschlichen Handelns ans Licht treten zu lassen.“[399] Eine weitere Voraussetzung zur Förderung des sittlichen Handelns sah Hahn in Anlehnung an Platon in der Vermeidung der Nachsicht. Der Mensch sollte dazu in der Lage sein, „die Reue in ihrer ganzen Bitternis“ zu spüren, „weil aus dem Sieg wie aus der Niederlage neue Kräfte wachsen können.“[400] Die innerliche Akzeptanz der Reue konnte durch die Nachsicht verhindert werden, sie erlaubte es dem Menschen nicht, das Gefühl der Reue auszuleben:[401] „Für den Beobachter ist der Seelenzustand des Reuigen ein ergreifender und festlicher zugleich. Jählings von dem Druck der Betörung befreit, erwacht der Mensch zur Klarheit, spürt die wahren Werte seines Lebens und schüttelt sich von den Verdunklern in seiner eigenen Seele frei.“
Hahn war überzeugt von der These, dass die Seele des Menschen der Formbarkeit unterlag und sich abhängig von der Erziehung entweder zum Guten oder zum Schlechten ausbilden konnte. Jeder Mensch besaß die Fähigkeit, alles nachzuahmen, da jede menschliche Eigenschaft latent in ihm stecke. Abhängig von der Disposition des Individuums besaßen die einzelnen Eigenschaften eine differenzierte Entwicklungskraft. Der Erzieher musste deshalb auf die richtige Auswahl der „Nahrung“ der Seele der jungen Menschen achten, um die Verkümmerung wichtiger Eigenschaften zu verhindern.
Die vorbereitenden Kurse in Nehmten bedeuteten ebenfalls als Erfahrungsgrundlage einen weiteren Schritt in der auf die Eröffnung von Weißenhaus zusteuernde Entwicklungslinie.
Die entscheidende Initiative zur Erprobung der Kurzschulmethoden in Deutschland und gleichzeitigen Möglichkeit der Präsentation dieser Erziehungsmethoden in der Öffentlichkeit entwickelte sich aus einem unerwarteten Ereignis. Der Hamburger Reeder Heinz Schliewen kaufte die beiden Großsegler „Pamir“ und „Passat“, die bereits zum Abwracken bestimmt waren. Schliewen beabsichtigte, die beiden Schiffe nach einer Modernisierung als Frachtschulschiffe in den Handelsdienst und in die Ausbildung des nautischen Nachwuchses zu stellen.
Die Schiffe sollten nach Fertigstellung des Umbaus Ende 1951 mit 50-60 Jugendlichen, denen eine nautische Ausbildung ermöglicht wurde, nach Brasilien auslaufen.[402] Nach einigen Gesprächen überzeugte Hahn Schliewen von der Bedeutsamkeit eines vorbereitenden Trainings für die Seekadetten vor der anstehenden Fahrt nach Brasilien, das ihnen Charakterstärke, Gemeinschaftsgefühl und Selbstdisziplin vermitteln sollte. Hahn orientierte sich dabei an seine mit der nautischen Abteilung in Gordonstoun gemachten Erfahrungen, wo seit dem Jahre 1941 Jugendliche, die den Beruf des Offiziers in der Handelsmarine ausüben wollten, ausgebildet wurden.[403]
Hahn und Schliewen vereinbarten, dass eine Vorausbildung der jugendlichen Seekadetten nach dem Outward-Bound-Muster durchgeführt werden sollte. Die DGEE bildete ein nautisches Komitee und übernahm die Trägerschaft für diese Unternehmung.[404] Die Landesregierung von Schleswig-Holstein stellte das Schloss Nehmten am Plöner See für die Kurse zur Verfügung. Nach Abschluss der Vorgespräche wurde der Hauptkurs in Nehmten mit Unterstützung der Reederei Schliewen, mehrerer Hamburger Wirtschaftsunternehmen und der Landesregierung Schleswig- Holsteins am 4.10.1951 unter Leitung des Vorstandsmitgliedes der DGEE, Fritz Christiansen-Weniger, eröffnet.[405]
Unter den 83 Kursteilnehmern waren 30 Flüchtlingskinder mit unterbrochener Schulausbildung, die dadurch eine neue berufliche Chance und Zukunftsperspektive erhielten.[406]
Das Programm des Kurses, an dessen Planung Kurt Hahn beteiligt war, orientierte sich weitestgehend an dem Vorbild Gordonstouns. Die aus dem englischen Vorbild entstandene theoretische und praktische Ausbildung in Erster Hilfe und Unfallverhütung gehörte zu dem für Nehmten typischen Merkmal, dass das Kursprogramm im Unterschied zu den Inhalten der Kurzschulerziehung auf eine spezielle Berufsausbildung ausgerichtet war.[407] Pullen, Wriggen, Knoten und Spießen waren Bestandteile der praktischen Ausbildung, die Takelung einer Viermastbark, Geschichte der Seefahrt und Englisch Merkmale der theoretischen fachlichen Ausbildung.[408] Daneben wurde die körperliche Ausbildung mit leichtathletischem Training, kraft- und geschicklichkeitsschulenden Übungen an den Geräten der Hindernisbahn und Gruppenwettkämpfen durchgeführt. Geistige Weiterbildung mit Englischunterricht, Lebenskunde, täglichen Morgenandachten und Vorträgen fand ebenfalls statt. [409]
Dem ersten fünfwöchigen Kurs in Nehmten schlossen sich zwei weitere an, da die Schiffe doch nicht wie vorgesehen am 15.11. fertig gestellt wurden, sondern erst am 15.12.1951 bzw. am 24.1.1952. Die Kurse wurden von der Deutschen Gesellschaft für Europäische Erziehung in einer Nachbetrachtung als „hervorragende Vorstudie für die Arbeit, die dann in der ersten ständigen deutschen Kurzschule in Weißenhaus geleistet werden sollte“ beurteilt.[410] Hahn betrachtete die vorbereitenden Kurse in Nehmten ebenfalls als „the forerunner of Weissenhaus.“[411] Innerhalb der Kurse in Nehmten wurden Methoden entwickelt, die bei der späteren Gründung von Weißenhaus übernommen worden sind:[412]
Das starke Interesse der Medien an den vorbereitenden Kursen in Nehmten steigerte den Bekanntheitsgrad der Hahnschen Erziehungsmethode um ein Beträchtliches.[413] Bei der Probefahrt der „Pamir“ am 15.12.1951 in Kiel hielt der damalige Bundespräsident Theodor Heuss eine Rede an Bord des Schiffes, in der er die Wichtigkeit der pädagogischen Arbeit von Kurt Hahn für die Jugendlichen in Deutschland hervorhob. Heuss stellte fest:[414] „Charakter ist kein Lehrfach mit Stundenzahl, sondern ein Vorleben des Beispiels, und nicht nur des Beispiels des Lehrers, sondern auch der Kameraden; das Bedeutendste des Unterfangens, das wir hier sahen, ist ja nun, daß die wechselseitige Erziehungskraft in der wohlgeordneten Gemeinschaft gewiß ein ‚bürgerliches’, ein berufliches Lebensziel hat, daß sie aber dieses berufliche Lebensziel in eine größere menschliche Sinngebung einzubetten weiß. Das Erziehungsprinzip findet seine eigentliche Erprobung erst in der Bewährung, und zwar besonders dann - das möchte ich gerade im Zusammenhang mit dem, was wir hier erleben, sagen-, wenn die nichtdomestizierte Natur dem Menschen unmittelbar gegenübersteht.“
Die Gewissheit der erfolgreichen Arbeit in Nehmten ermunterte Hahn, als nächsten Schritt zur Realisierung seiner Erziehungsmethode eine ständige Kurzschule in Deutschland zu eröffnen. Hahn hatte als Gründungsort schon seit längerem das Schloss Weißenhaus an der Hohwachter Bucht zwischen Lübeck und Kiel im Auge.[415]
Der Besitzer des Schlosses, Graf von Platen-Hallermund erklärte sich bereit, den größten Teil seines Schlosses und der näheren Umgebung gegen eine geringe Abnutzungsgebühr für die Dauer von 25 Jahren zur Verfügung zu stellen.
In Weißenhaus waren bereits zwei für die Kurzschulerziehung grundlegende Elemente verwirklicht. Die Entsprechung zu der in den Kurzschulen angestrebten sozialen Mischung lag für Hahn in der sich angesichts der Bedrohung des Meeres notwendigerweise ergebener Zusammenarbeit der gesamten Bevölkerung von Weißenhaus. Die zweite günstige Voraussetzung bestand darin, dass Weißenhaus mit einer Seenotrettungsstation der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“, einer örtlichen Feuerwehr und einer Station des Roten Kreuzes von vornherein ein Rettungszentrum darstellte. So wurde die Kurzschule in ein lange bestehendes Rettungszentrum integriert, was bislang ein Novum darstellte, denn in allen anderen Kurzschulen wurde der Rettungsdienst erst nachträglich hinzugefügt.[416]
Eine Stiftung von 70000 Dollar aus den USA, die an die Bedingung gekoppelt war, dass von deutscher Seite derselbe Betrag bereitgestellt werden musste, schuf Ende des Jahres 1951 die Voraussetzungen für den Beginn der Vorbereitungsarbeiten in Weißenhaus. In Deutschland zeigten sich die „Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ mit Geld- und Sachspenden, das Deutsche Rote Kreuz (DRK), die Landesregierung von Schleswig-Holstein, der Bundesjugendplan durch die Gewährung von Stipendien und verschiedene Reedereien für die finanzielle Unterstützung des Projektes Weißenhaus verantwortlich.
Der erste Kurs wurde am 4.6.1952 mit 40 Jugendlichen aus verschiedenen deutschen Industriefirmen und 30 Schülern aus Hamburg eröffnet.[417] Pro Jahr fanden neun Kurse von je vier Wochen Dauer, von März bis November, statt. Die Leitung der Kurzschule wurde Prof. Dr. Christiansen-Weniger nach dem erfolgreichen Experiment von Nehmten übertragen. Aus den Kursen in Nehmten konnte auch ein Großteil der Pädagogen für die Arbeit in Weißenhaus gewonnen werden.
Der Rettungsdienst sollte von Anfang an die Arbeit in Weißenhaus bestimmen:[418] „Nicht Leben zu zerstören, sondern Leben zu retten sollten die jungen Menschen lernen, die Bereitschaft zu helfen - und das Können, die Bereitschaft zur Tat werden zu lassen, wann immer es erforderlich wäre.“
Der in Weißenhaus durchgeführte Erste Hilfe-Kurs stand unter der Verantwortung des DRK. Rettungsboote und ein Raketenapparat mit Hosenboje wurden von der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ zur besseren Ausbildungsmöglichkeit zur Verfügung gestellt. Die australische Brandungsrettungsgesellschaft stiftete ein Spezialgerät für die Ausbildung zum Rettungsschwimmen, das in den Sommermonaten in die Kurse eingebaut wurde.
Um den Schutz des anliegenden Badestrandes zu gewährleisten und Notsignale von Schiffen an die Rettungsstation weiterzugeben, hielten die Schüler von Weißenhaus Tag und Nacht Küstenwache in einem extra eingerichteten Haus am Strand. In Notfallsituationen half die Weißenhauser Küstenwache bei Bergungsaktionen von kleineren Schiffen erfolgreich mit. Die Feuerwehr der Schule konnte bei Bränden in der näheren Umgebung zusammen mit der örtlichen Feuerwehr ihre Fähigkeiten beweisen.[419]
Der Erziehungsplan in Weißenhaus sah das körperliche Training vor, da es die Grundvoraussetzungen für den Einsatz im Rettungsdienst schuf. Ebenso wurden die seemännische Ausbildung, Landschaftskunde, Lebens- und Sozialkunde sowie Arbeitsgemeinschaften über politische und weltanschauliche Themen in den Mittelpunkt des Unterrichts gestellt.[420] Die Analyse der Erziehungspraxis in Weißenhaus von Schwarz ist zutreffend:[421] „Die Methode der Erziehung zum mitbürgerlichen Denken und Handeln durch den Weg des Erfahrenlassens der gegenseitigen Abhängigkeit des Menschen untereinander und der Verpflichtung des Individuums gegenüber der Gemeinschaft in herausfordernden Situationen des täglichen Zusammenlebens geht in der Kurzschule Hand in Hand mit der geistigen Vergegenwärtigung dieser menschlichen Grunderfahrung im Unterricht der Lebenskunde, in Arbeitsgemeinschaften, Vorträgen, Lesungen und Diskussionen.“
Im lebenskundlichen Unterricht war die eigene Erfahrung Anknüpfungspunkt für die anschließende Diskussion über Aspekte des menschlichen Miteinanders in der Gesellschaft. Die zentrale Aufgabe des Lebenskundeunterrichtes lag „in der Aufarbeitung der durch die Methoden der Kurzschule provozierten Gruppenerfahrung und in der Bewußtmachung der Erfahrung des Aufeinander- angewiesen-Seins in herausfordernden Situationen.“[422] In den Arbeitsgemeinschaften lernten die Schüler die Herausbildung der eigenen Stellungnahme und die Akzeptanz anderer Meinungen. Exkursionen zur Erforschung von Wald, Feld, Strand und Steilküste wurde im Landschaftskundeunterricht durchgeführt, wobei es hauptsächlich darum ging, die nähere Umgebung der Kurzschule geographisch, klimatisch und naturkundlich kennen zu lernen. Besuche von verschiedenen Städten in der Umgebung von Weißenhaus waren ebenfalls Bestandteil der Unterrichtsstunden in der Landschaftskunde, wobei dort vor allem historische und wirtschaftliche Themen angesprochen wurden.[423]
Die einzelnen Arbeitsgebiete wurden während eines Kurses von 4 Wochen Dauer folgendermaßen verteilt: 12 Stunden Lebenskunde, 10 Stunden Segeln und Rudern, 10 Stunden Knoten, je 12 Stunden Raketenrettungsapparat und Feuerwehr, 16 Stunden Erste Hilfe, 12 Stunden Hindernisbahn, 16 Stunden Leichtathletik, 16 Stunden Biologie und 12 Stunden Musik.[424]
In allen Bereichen der Ausbildung spielte die Erziehung zur Gemeinschaft und Verantwortung eine große Rolle. Die Schüler wurden in „Wachen“[425], einer Gruppe von 10-12 Personen, eingeteilt, in denen sich das Leben der Teilnehmer weitestgehend abspielte. Den „Wachen“ wurde ein Erwachsener als „Wachführer“ zur Seite gestellt. Innerhalb jeder „Wache“ wurde ein „Wachältester“ unter den Teilnehmern gewählt. Die einzelnen „Wachen“ saßen beim Essen zusammen, absolvierten gemeinsam ihre Ausbildung und trafen in Wettkämpfen auf die anderen „Wachen“.
In der ersten Zeit war es für die Kurzschule sehr schwierig, die zur Finanzierung der Einrichtung notwendigen Teilnehmer zusammenzubekommen.[426] Erst als mit Hilfe von „Freundschaftskreisen“ innerhalb der Wirtschaft Hahns Methoden eine größere Lobby fanden, stieg das Interesse der Firmen an, ihre jugendlichen Mitarbeiter zu einer Kurzschule zu entsenden.[427] Hahn bemerkte dabei nicht die mögliche finanzielle Abhängigkeit von der Großindustrie, die Einfluss auf den Inhalt der Kurse in Weißenhaus nehmen könnte. Die Teilnahme von Schülern an den Kursen in Weißenhaus war äußerst problematisch. Außerhalb der beiden Ferienmonate Juli und August waren wenige Schulen und Eltern dazu bereit, das Risiko eines vierwöchigen Schulausfalls auf sich zu nehmen.
Erst durch den Vorstoß des damaligen Leiters der Abteilung Höhere Schulen im Kultusministerium von Schleswig- Holstein, Ministerialrat Möhlmann, während der Schulzeit ganze Klasenverbände für den Besuch von Weißenhaus zu beurlauben, stieg die Zahl der Jugendlichen in den Kurzschulen stetig an.[428] Mit der Zeit machten auch andere Bundesländer außer Schleswig Holstein von der Möglichkeit Gebrauch, Schulklassen nach Weißenhaus zu entsenden.
Die Kurzschule Weißenhaus beschäftigte sieben festangestellte Lehrer für die seemännische Ausbildung, die Feuerwehrausbildung, die Erste Hilfe-Übungen und Landschaftsbiologie. Weiterhin waren in jedem Kurs drei bis fünf Hilfserzieher vorübergehend tätig.[429] Dies waren in der Regel Studienreferendare, die von den Bundesländern beurlaubt wurden, um in Weißenhaus praxisorientierte Erfahrungen im Umgang mit Schülern zu sammeln. Die meisten der Referendare gewannen positive Eindrücke von der Arbeit in Weißenhaus und vermittelten die gesammelten Erfahrungen in den Höheren Schulen weiter.[430] Dies bedeutete für die Schule Weißenhaus eine wertvolle Gelegenheit, die Methoden der Kurzschulerziehung auch in den Höheren Schulen im gesamten Bundesgebiet bekannt zu machen.
Nach ihrem eindrucksvollsten Erlebnis ihres Aufenthalts befragt, entschieden sich viele Kursteilnehmer für die zweitägige Fahrt mit dem Motorsegler der Schule über die westliche Ostsee.[431] Diese Fahrt stellte eine besondere Bewährungsprobe für die körperliche Fitness und die in der seemännischen Ausbildung gelernten Fähigkeiten dar. Es wurde deutlich, dass innerhalb des gesamten Erziehungsprogramms der Kurzschule die Expeditionen bei den Kursteilnehmern den nachhaltigsten Eindruck hinterließen.[432] Weiterhin besaß das Erlebnis der Natur und der Kameradschaft einen hohen Stellenwert. Ein Schüler schrieb ein Jahr nach seinem Aufenthalt in Weißenhaus:[433] „Die Landschaft hat mich sehr beeindruckt, und ich möchte sagen, daß sie und das besonders gute Verhältnis zu den Kameraden zu meinen besten Erinnerungen an Weißenhaus gehören. Die verschiedensten Kenntnisse, die ich in Weißenhaus erwarb, sind zum größten Teil verloren oder verdunkelt.“
Während der Flutkatastrophe im Jahre 1962 an der Nordsee zeigte sich die Bedeutsamkeit der erlernten Kenntnisse des Rettungsdienstes in der Kurzschule Weißenhaus. Ein Bericht einer Hamburger Firma über den Einsatz ihrer Lehrlinge bestätigte dies:[434] „Die Weißenhäuser waren den anderen Lehrlingen dadurch überlegen, daß sie wußten, wie man Menschen und Dinge anfaßt, die man bergen will. (...) Mehrere kamen auch mit ihren technischen Kenntnissen, die sie bei der Feuerwehrausbildung gelernt hatten, zum Zuge und konnten sich zum Erstaunen aller hervorragend nützlich machen, daß sie die Geräte im Handumdrehen anzuschließen verstanden (...). So ist dies während der Hamburger Katastrophentage deutlich geworden, daß die souveräne Anwendung der Rettungs- und Hilfsmethoden wesentlich ist, ebenso wie die innere Sicherheit, entschlossen zuzugreifen.“
Nach einem Belegungsboom der 50er und 60er Jahre musste die Kurzschule Weißenhaus im Jahre 1975 wegen zu geringer Auslastungsmöglichkeiten geschlossen werden. Ziegenspeck und Händel machten noch andere Gründe für die Schließung Weißenhaus’ aus:[435] „Die Entwicklung des Fremdenverkehrs am Weißenhäuser Strand, vor allem die Einrichtung von Schießplätzen der Deutschen Bundeswehr westlich und östlich der Hohenwarter Bucht, machten einen normalen Kursbetrieb unmöglich.“
In den Jahren 1953 bis 1965 steigerte sich die Belegungszahl von Weißenhaus von 608 Teilnehmern bis zur Höchstkapazität von 858 Schülern. Manchmal waren die Anmeldungszahlen derart hoch, dass vielen Jugendlichen eine Absage erteilt werden musste. Diese Entwicklung und die Gefahr, dass Weißenhaus in Deutschland nur als einmaliges Experiment angesehen werden könnte, zwangen die Verantwortlichen der DGEE zum Nachdenken.[436]
Daraufhin entschloss sich die DGEE neben einer Kurzschule an der See eine weitere in den Bergen zu eröffnen. Die American-British Foundation erklärte sich bereit, 50.000 Dollar für die Gründung einer zweiten Kurzschule unter der Bedingung zur Verfügung zu stellen, dass aus Deutschland dieselbe Summe aufgebracht wurde. Durch finanzielle Zuwendungen des Bundesjugendplanes und führender Wirtschaftsunternehmen wurde im Mai 1956 die Vorgabe der American- British Foundation erfüllt. Nach der Prüfung verschiedener Projekte entschied man sich letztlich für Baad in den Bayrischen Alpen.[437] Das von Bergen umgebene Baad am hinteren Ende des Kleinwalsertals besaß die besten Voraussetzungen zur Einführung des Bergrettungsdienstes.[438]
Die Eröffnung der Kurzschule Baad erfolgte am 1.8.1956. In Baad wurde ein nach Sommer- und Winterkursen differenziertes Unterrichtsprogramm durchgeführt; damit war sie die einzige Kurzschule der Welt, wo zwei unterschiedliche Kurstypen nebeneinander existierten.[439] Im Sommer bildete die Bergausbildung, Hochgebirgstouren und der Rettungsdienst für in Not geratene Alpinisten den Schwerpunkt des Unterrichtsplans. Dagegen orientierte man sich im Winter auf den touristischen Skilauf mit den entsprechenden Rettungsübungen.
Der Ausbildungsplan in Baad ähnelte demjenigen in Weißenhaus: körperliches Training, Feuerwehrdienst, die Einweisung in Erster Hilfe, Landschafts- und Sozialkunde standen im Mittelpunkt der Erziehung. Innerhalb eines Jahres fanden neun Kurseinheiten statt, von denen vier als Winterkurse und fünf als Sommerkurse angeboten wurden.[440]
Der Rettungsdienst stellte das wichtigste Erziehungsmittel in Baad dar.[441] Die Kurzschule war mit allen notwendigen Geräten für Rettungseinsätze im Sommer wie im Winter ausgestattet. Im Bergrettungstraining lernten die Jugendlichen das Abseilen von verunglückten Personen über unwegsame Hindernisse (Akja) sowie das Absuchen einer Lawine mit Hilfe moderner Sonden. Der Umgang mit dem schuleigenen Sprechfunkgerät und die Absolvierung einer Feuerwehrausbildung, um den Feuerschutz für Baad selbständig übernehmen zu können, war ebenfalls Bestandteil des Unterrichtsplans. Nach den Richtlinien des DRK fanden mehrere Lehrgänge in Erster Hilfe statt. Die Kurzschule arbeitete mit mehreren benachbarten Rettungsstationen wie der Bayrischen Bergwacht, der lokalen Polizeistation und dem österreichischen Bergrettungsdienst zusammen. Damit wurde die Forderung Hahns erfüllt, dass die Kurzschule für Aufgaben, die ihre unmittelbare Umgebung an sie richtete[442], gewappnet sein musste. Schwarz zählte im Rettungsbuch der Schule bis zum August 1965 86 Einsätze innerhalb von 70 Kursen, d.h. Einsätze im Ernstfall wurden häufig durchgeführt.[443]
Die Kurzschule bezog in den von Hahn geforderten Dienst am Nächsten auch die Bevölkerung des Kleinwalsertals mit ein:[444] „Auch die Bauern merkten, daß sie Helfer in den Schülern hatten. Sie müssen sehr überrascht gewesen sein, als eines Tages bei der Heuernte in drohender Gewitterstimmung plötzlich die gesamte Schule ‚ausschwärmte’ und ihnen in geradezu leidenschaftlicher Hingabe das Heu mit einbringen half, bevor es der Regen durchnäßt hätte. (...) Bei der Überschwemmung am Bach, als die Holzbrücke weggerissen zu werden drohte, standen die Jungen in Gummistiefeln bei strömendem Regen dort und lenkten mit Stangen das reißende Geröll in die richtige Wasserrinne.“
Die Bergausbildung im Sommer und die Skiausbildung im Winter verfolgten weiterhin das Ziel, den Teilnehmern Leistungserfahrungen zu vermitteln, mit denen sie selbst nicht rechneten. Beim Skilaufen machten die Anfänger meistens 80- 90 % der Teilnehmer aus. Die meisten der Anfänger erwarben bereits innerhalb einer Woche die Grundvoraussetzungen für die erste alpine Hochtour und zeigten bei Wettkämpfen am Ende des Kurses Steigerungen ihres Leistungsvermögens. So urteilte ein Schüler aus Baad nach Kursende:[445] „Meine persönlichen Bestleistungen, die ich in der Kurzschule beim Sport erreichte, stärkten mein Selbstvertrauen.“
Im Landschaftskundeunterricht kam es darauf an, nicht nur die Kenntnis einzelner Pflanzen oder Tierarten den Schülern zu vermitteln, sondern vielmehr die ökologischen Zusammenhänge zu veranschaulichen. Um den Schülern die direkte Erfahrbarkeit und Beobachtung zu ermöglichen, wurden regelmäßige Exkursionen durchgeführt. Als Ergänzung dazu wurden zu den unterschiedlichsten Themen Arbeitsgemeinschaften angeboten, die je nach Interessenslage der Jugendlichen frei gewählt werden konnten.[446]
In Baad wurden besonders die Bergtouren in den Allgäuer Alpen, die Nächte in abgelegenen Berghütten oder die Abende auf der schuleigenen Hütte als gemeinschaftsstiftende Situationen empfunden. Die Tatsache, dass eine kleine Gruppe von Jugendlichen verschiedenster Herkunft abgeschnitten von der Umwelt zur Kooperation gezwungen wurde, um die besonderen Anforderungen ihrer Situation zu bewältigen, ließ ein intensives, für die meisten Teilnehmer unbekanntes Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen.[447]
In Zusammenarbeit mit der Kurzschule Baad fand im April 1965 im benachbarten Hirschegg der „erste Kurzschulkurs für Mädchen“ statt.[448] Aufgrund der positiven Erfahrungen des ersten Kurses wurden in den folgenden Jahren regelmäßig weitere „Mädchenkurse“ angeboten. In diesen Kursen stand nicht wie bei den Jungen die Vorbereitung zum Rettungseinsatz mit der Bergwacht in Baad im Vordergrund, sondern die Erste Hilfe-Ausbildung. Mit dieser geschlechtsspezifischen Erziehung sollte der „Gefahr entgegengewirkt werden“, dem „Mädchenkurs“ einen „maskulinen Charakter“ zu verleihen. Des Weiteren wurde die Ansicht vertreten, „typische weibliche Verhaltensweisen fördern zu wollen“; um die Schülerinnen auf „ihre spätere Rolle als Ehefrau und Mutter vorzubereiten“.[449] Erst im Jahre 1970 kam es zur Durchführung erster Koedukationskurse.
Im August 1965 wurde erstmals von der Kurzschule Baad ein Ergänzungslehrgang in Form einer Hochtourenwoche durchgeführt, um das durch den ersten Aufenthalt erworbene Wissen zu vertiefen. Unter der Leitung eines Bergführers bewanderten zwölf Teilnehmer mehrere Tage lang die Silvretta. In den beiden folgenden Jahren wurden weitere Ergänzungskurse in den Stubaier Alpen, den Ötztaler Alpen und in den Bergen des Aostatals angeboten.
Die Kurzschule Baad pflegte durch das Angebot von Sonderkursen internationale Kontakte. Im Jahre 1966 führte die Schule im Auftrag des deutsch-französischen Jugendwerkes zweiwöchige Spezialkurse für Mädchen und Jungen aus Frankreich und Deutschland durch. Infolge der Vermittlung der Bundesregierung fand im Juli 1967 ein Sonderlehrgang für Jugendbetreuer aus Marokko statt, wodurch bilaterale Kontakte entstanden. Des Weiteren nahm im Rahmen eines deutsch-sowjetischen Alpinistenaustauschs im Jahre 1975 eine Gruppe von 15 Personen aus Sibirien an einem Kurs in Baad teil.[450]
Der These Schwarz ist zutreffend, dass die deutschen Kurzschulen innerhalb der weltweiten Kurzschulbewegung in manchen Punkten eine Eigenentwicklung durchmachten.[451] Die wesentlichen Merkmale der deutschen Kurzschulen gegenüber den englischen oder überseeischen Schulen lagen in drei Punkten:[452]
Die Public Schools stellten exklusive höhere Internatsschulen mit alter Tradition dar.[454] In der Geschichte Englands waren sie vor allem die Träger der Erziehung der wohlhabenden und sowohl politisch als auch wirtschaftlich einflussreichen Gesellschaftsschicht. Die Erziehung der Public Schools baute auf strenger Zucht und der exakten Fortführung des Überlieferten und Althergebrachten auf. Finanziert aus dem Schulvermögen, durch Zuwendungen von Gönnern und ehemaligen Schülern sowie dem Schulgeld wurden dort junge Menschen im Alter von 11- 18 Jahren unterrichtet.
Zu den außerhalb Großbritanniens bekanntesten und angesehensten Public Schools zählten u.a Eton College, Rugby School und Winchester College. Charakteristisch für diese Schulform waren laut Brereton Korpsgeist, Kameradschaftlichkeit, Willensschulung und körperliche Erziehung.[455]
Kurt Hahn bewunderte bestimmte, für ihn typische Eigenschaften der englischen Public Schools:[456]
Hahn hob insbesondere die Leistung der englischen Public Schools für die demokratische Gesinnung in Großbritannien hervor:[457] „Es gelingt ihnen, junge Menschen heranzubilden, die argumentieren können, ohne sich zu zanken, die zanken können, ohne sich zu verdächtigen, sich verdächtigen können, ohne sich zu verleumden.“
Weiterhin schätzte Hahn die Bedeutung, die die Public Schools in ihren Erziehungsgrundsätzen der körperlichen Ertüchtigung und dem Dienst am Nächsten beimaßen. Daraus erwachte der Wunsch, die Grundlagen der Public Schools auf Deutschland zu übertragen:[458] „Im Jahre 1914 hatte ich Oxford verlassen mit dem einen Ziel, ein Internat zu gründen, das ich nach dem Vorbild der englischen Public Schools aufzubauen gedachte.“
Im Landerziehungsheim Salem am Bodensee finden sich Wesenszüge der englischen Public Schools wieder. Der ehemalige Internatsleiter am Atlantic College South Wales, David B. Sutcliffe, stellte fest:[459] „Salem entstand als eine pädagogische Antwort auf die politische Situation, als Beitrag zur Behebung eines menschlichen und nationalen Notstandes. Für das deutsche öffentliche Leben sollten durch Erziehung Eigenschaften der verantwortungsvollen, sicheren, um das Wohl des Landes besorgten Führung geweckt werden, die die englischen Public Schools in der politischen Tradition ihres Landes auszeichneten. Das Salemer Abgangszeugnis erhielt Beurteilungen über diese Qualitäten (...)“
Sportarten, die in den Public Schools auf dem Lehrplan standen, fanden auch in Salem Verbreitung, wie z.B. Hockey. Marina Ewald berichtete:[460] „ Hockey war nun mal das Wichtigste für die meisten Salemer, obwohl sie nur ein- bis zweimal wöchentlich spielen und dazwischen nicht üben durften. (...) Die Erfolge, die bald, sowohl in der Leichtathletik als auch im Hockey erzielt wurden, beruhten nicht auf technische Ausbildung, sondern auf der guten Allgemeinverfassung und der Einsatzfreudigkeit.“
Im Gegensatz zu den elitären Public Schools verfolgte Hahn das Ziel, dass Jugendliche aus allen sozialen Schichten seine Schulen besuchen konnten.
Er orientierte sich dabei an den Worten des Prinzen Max von Baden:[461] „ Macht die Schule möglichst unabhängig vom Reichtum dadurch, daß ihr das Schulgeld dem Einkommen der Eltern entsprechend stuft. Aber sucht Euch nicht nur Kinder aus, die akademische Begabung haben, nehmt auch Jungen und Mädchen, die nichts anderes wollen als gute Handwerker werden.“.
Mit der Gründung Salems wollten Prinz Max von Baden und Kurt Hahn zur politischen und gesellschaftlichen Erneuerung Deutschlands nach dem 1. Weltkrieg durch Erziehung zur Verantwortung beitragen. In seinem Werk „Hoffnungen und Sorgen eines Landerziehungsheims“ aus dem Jahre 1957 führte Hahn aus:[462] „Die neugegründete Schule sollte Gutes in der Salemer Gegend wirken, zur Heilung der zerstörten Gesittung beitragen und schließlich auch zur Solidarität Europas.“
Allerdings überschätzte er die Macht seiner Erziehungsmethoden, was durch den ehemaligen Schüler Salems, Golo Mann, deutlich zum Ausdruck kommt:[463] „Zu oft, zu deutlich ließ er uns wissen, was er von uns erhoffte, daß wir Deutschland die Generation von ‚Führern’ stellen sollten, besser als jene im Kaiserreich gewesen waren; ferner auch, daß wir den moralischen Verfall, wie er ihn sah, aufhalten oder den üblen Gang der Dinge umzukehren bestimmt waren. Darin lag eine Anmaßung, eine Überschätzung dessen, was eine Schule, wäre sie auch ein System von dreien oder vieren, im glücklichsten Fall leisten konnte. (...) Während der dreißiger, frühen vierziger Jahre gab es nur einige hundert ‚Altsalemer’ unter sechzig resp. achtzig Millionen Deutschen ein paar Körner im Sand.“
Prinz Max von Baden stellte zur Durchführung des Projektes einen Teil seines Schlosses, der ehemaligen Zisterzienserabtei Salem am Bodensee, zur Verfügung. Außerdem stiftete er eine beachtliche Summe, um den Schulbetrieb durchzuführen und meldete gleichzeitig seinen Sohn als ersten Schüler an.
Am 21.4.1920 wurde Salem mit Kurt Hahn als Leiter und 8 internen und 20 externen Schülern feierlich eröffnet. Die externen Schüler kamen aus angesehenen Familien aus der Umgebung Salems, während die internen aus Familien mit kultureller Tradition stammten, deren Kriegsschicksale es unmöglich machte, ihre Kinder zu einer höheren Schule zu schicken[464]
Trotz der Zuwendungen von Prinz Max von Baden fehlte in der ersten Zeit nach der Gründung aus materieller Sicht gesehen das Notwendigste; den Unterrichtsräumen mangelte es an Einrichtung und es existierte lediglich eine Spirituslampe für die gesamte Schule.
Salem war ein staatlich anerkanntes Gymnasium und unterlag somit denselben Lehrplänen, Leistungsanforderungen und Abiturbestimmungen wie alle anderen Gymnasien in Baden-Württemberg. In Fragen der Klassengröße, Einteilung der Stunden und Lehrerauswahl nutzte Salem jedoch das vom Staat zugebilligte Selbstbestimmungsrecht.[465] Neben dem staatlichen wurde auch ein Salemer Reifezeugnis vergeben. Dieses Reifezeugnis enthielt Beurteilungen über die gelernten Fähigkeiten auf allen Gebieten des Salemer Schullebens.[466] Der nachfolgende Vordruck soll dies näher illustrieren:
Abschließender Bericht an die Eltern
Gemeinsinn:
Gerechtigkeitsgefühl:
Fähigkeit zur präzisen Tatbestandsaufnahme:
Fähigkeit, das als Recht Erkannte durchzusetzen:
gegen Unbequemlichkeiten: gegen Strapazen:
gegen Gefahren: gegen Hohn der Umwelt:
gegen Eingebungen des Augenblicks: gegen Skepsis:
Fähigkeiten des Planens:
Fähigkeit des Organisierens:
Einteilung von Arbeiten:
Leitung von Jüngeren:
Fähigkeit, sich in unerwarteten Situationen zu bewähren:
Geistige Konzentrationsfähigkeit:
bei Arbeiten aus dem eigenen Interessenkreis:
bei Arbeiten außerhalb des eigenen Interessenkreises:
Sorgfalt:
im täglichen Leben:
bei der Erfüllung besonderer Pflichten:
Äußere Lebensgewohnheiten:
Handgeschicklichkeit:
Leistungen im Unterricht:
Deutsch: Alte Sprachen: Neue Sprachen:
Geschichte: Naturwissenschaften: Mathematik:
Praktische Arbeiten:
Künstlerische Leistungen:
Leibesübungen:
Kampfkraft: Zähigkeit: Reaktionsgeschwindigkeit:
Kurt Hahn, der laut Knoll den einzelnen Schulfächern als Erziehungsmittel nicht viel abgewinnen konnte, überließ den organisatorischen Part und die Durchführung in vielen Fällen den Studienleitern.[467] Karl Reinhardt, früherer Geheimrat im preußischen Kultusministerium, gründete Salem als Reformgymnasium mit geringerer Jahresstufenzahl und verkürztem Stundenplan.
Die vier Elemente der Erlebnistherapie (körperliches Training, Expedition, Projekt und Rettungsdienst) wurden nach und nach in den Wochenplan Salems integriert.
Das körperliche Training hielt Kurt Hahn von Anfang an für sehr bedeutsam. Zwischen den Unterrichtsstunden fand viermal die Woche vormittags die „leichtathletische Pause“ statt, wo die Schüler im Werfen, Lang- und Kurzstreckenlauf sowie im Springen trainiert wurden. Weiterhin schrieb der Trainingsplan Übungen wie Seilspringen, Laufen, Werfen oder Hochsprung vor, die täglich absolviert werden mussten.
Die Wichtigkeit von Expeditionen für die Charakterbildung der Schüler erkannte Kurt Hahn Mitte der 20er Jahre. Die von der Entfernung her weiteste Expedition unternahmen 20 Salemer in offenen Booten über die finnischen Seen. Bei diesen Touren ging es nicht um kurzfristige Höchstleistungen oder zwanghaften Erfolg, sondern um die Herbeiführung von Erlebnissen zur Charakterentwicklung der jungen Menschen.
Seit dem Jahre 1926 wurde ein unterrichtsfreier Samstagvormittag für die Oberklassen zur Durchführung eines Projektes eingeführt. Das Projekt besaß den Charakter einer Facharbeit, die sich mindestens über ein Trimester erstrecken musste und anschließend im Schülerplenum präsentiert wurde.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde in Salem für die Schüler der 10-13 Klasse verpflichtend der Rettungsdienst eingeführt (Feuerwehr, Sanitäts- und Seenotrettungsdienst und ein Stützpunkt des Technischen Hilfswerkes (THW)). Dies bedeutete eine entscheidende Wende:[468] „Die Salemer Erlebnistherapie, die bis 1933 vornehmlich dazu dienen sollte, die Jugend vor den Gefahren der Pubertät zu bewahren, war in den Imperativ vom Dienst am Nächsten übergegangen.“
Die Aufnahme des Rettungsdienstes in den Wochenplan der Schule resultierte aus den in Gordonstoun gesammelten positiven Erfahrungen.[469] Der Rettungsgedanke war jedoch vorher schon im Salemer Erziehungssystem durch die Berufung auf die Tradition der Zisterzienser[470] und die Heranziehung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter, das zu Beginn jedes Trimesters vorgelesen wurde, enthalten.[471]
Durch den Trainingsplan in Salem wurde ein Organ der Selbstkontrolle geschaffen, um die Voraussetzungen für den Anspruch auf Selbstverwaltung zu erfüllen. Einzelne Punkte wie das Duschen mit warmem und kaltem Wasser, die Einnahme einer Zwischenmahlzeit und leichtathletische Übungen mussten jeden Tag erfüllt und protokolliert werden. Der Trainingsplan unterlag keiner Kontrolle, nur auf Verlangen musste er vorgezeigt werden.
In den hierarchischen Grundstrukturen Salems war die Aushändigung des Trainingsplans die zweite Stufe.[472] Die Neulinge erhielten zuerst nach einer gewissen Orientierungsphase als Zeichen der Zugehörigkeit zu Salem einen Schulanzug bzw. ein Schulkleid. Wenn die neuen Schüler gegen die Regeln der Kameradschaft oder Disziplin verstießen, führte dies zum Verlust der Schuluniform, was einer sozialen Erniedrigung gleichkam.
In den ersten Jahren nach der Gründung von Salem gab es nur wenige Angestellte zur Erledigung von landwirtschaftlichen oder häuslichen Arbeiten. Dies wurde dadurch kompensiert, dass den Schülern diese Aufgaben übertragen wurden, die sie an Pflichterfüllung und Zuverlässigkeit gewöhnen sollten. Die Erfüllung dieser Pflichten war der wichtigste Punkt im Trainingsplan. Wenn sich die Schüler bei den ihnen zugeteilten Aufgaben bewährten, kamen sie für höhere Ämter der Selbstverwaltung in Frage.
Kurt Hahn sah Salem als „kleinen Staat“ an, dessen Überleben von dem Verantwortungsbewusstsein der Schüler abhing. Anknüpfend an Platons Staatsideal legte Hahn in der Salemer Verfassung großen Wert auf aristokratische Elemente. Die folgende Abbildung gab die Salemer Schulverfassung um das Jahr 1930 wieder.[473]
Der Leiter
Der Wächter
Die Helferexekutive
Rangstufen | Ämter |
Die Farbentragenden (von der farbentragenden Versammlung gewählt aus den Reihen der Anwärter) Die Anwärter auf die Farben (von der farbentragenden Versamm- lung gewählt aus den Reihen der Die Schulanzugsträger |
Helfer Flügelhelfer Betriebshelfer Studienhelfer Juniorenhelfer Assistenten der Helfer Zimmerführer Warte (Betreuung der Fahrräder, des Inventars usw.) Ausführung von kleinen häuslichen Pflichten |
Ein Beispiel für die aristokratische Struktur der Verfassung war die Tatsache, dass die „Farbentragenden“ nicht von allen Schülern gewählt, sondern durch eigene Zuwahl bestimmt wurden. In den Versammlungen der „Farbentragenden“ lag der Vorsitz bei Kurt Hahn; den stellvertretenden Vorsitz hatte der Wächter, das Oberhaupt der Selbstverwaltung der Schüler, inne. Die Person des Wächters[474] wurde nicht in einer Wahl ermittelt, sondern vom Leiter Salems ernannt. Der Gruppe der „Farbentragenden“ gehörten nicht nur Schüler an; einige Erwachsene, die in enger Beziehung zu Salem standen, waren ebenfalls Mitglied dieses Kreises.
Die „Farbentragenden“ besaßen gesetzesberatende und durchführende Funktionen.[475] Sie sollten die Einhaltung der Gesetze von Salem überwachen, insbesondere die ungeschriebenen Gesetze der Gemeinschaft und der individuellen Verantwortung.
Bedingt durch die allmähliche Zunahme der Schülerzahl differenzierten sich im Laufe der Zeit die Aufgaben der „Farbentragenden“. Einige bekamen als „Helfer“ ein bestimmtes Ressort (Sport, Werksarbeit, Junioren, Wohnflügel) zugewiesen, in dem sie für die Einhaltung der Salemer Gesetze verantwortlich waren. Fast jedes Zimmer wurde einem „Zimmerführer“ zugeteilt, der kein „Farbentragender“ war, aber doch ähnliche Aufgaben übernahm. Für den Fall der unkorrekten Erfüllung ihrer Aufgaben wurden den Schülern ihre Ämter entzogen, was eine schwerwiegende Strafe innerhalb des Gemeinschaftslebens Salems darstellte.
Die aristokratischen Grundelemente in der Salemer Verfassung waren im Hinblick auf das Demokratieverständnis der Schüler bedenklich. Zutreffend bemerkte von Hentig:[476] „Diese Verbindung von einer sogenannten ‚natürlichen’ Hierarchie mit einer Verabsolutierung der Gemeinschaft ist die ungewollte, aber nichtsdestoweniger direkte Verneinung der Demokratie. Wenn diese Verbindung als ein Mittel der Erziehung angesehen wird (und nicht nur als unvermeidliche Form der Verwaltung), dann wird die Vorbereitung auf die Lebensordnung, die die Schüler später ‚draußen’ vorfinden werden und verteidigen müssen, nicht nur versäumt, sondern verhindert.“ Köppens Kritik enthielt denselben Grundtenor:[477] „(...) die Versammlung der Farbentragenden ist ihrer Struktur nach keine demokratische Institution. (...) Sie ist eher aristokratisch zu nennen, die Mitglieder werden nicht im Sinne der Demokratie von allen Schülern der Schule gewählt, sondern die Zuwahl erfolgt durch die Mitglieder der Versammlung.“. Sein gleichzeitig unternommener Versuch der Relativierung „in Salem waren stets der Geist und die Verhandlungsformen innerhalb der Versammlung demokratisch“[478] ändert nichts am aristokratischen Grundcharakter der Versammlung der „Farbentragenden“.
Außer in der aristokratischen Struktur der Versammlung der „Farbentragenden“ lag nach von Hentig die Gefahr einer undemokratischen Erziehung in Salem in der Person Hahns selbst begründet:[479] „Die auf die Person des oder der Erzieher konzentrierte Pädagogik ist gleichsam mit Notwendigkeit an ihrer Wurzel undemokratisch. Die Demokratie ersetzt die Herrschaft der Personen durch die Herrschaft der Gesetze und Institutionen.“ Zu diesem Vorwurf ist festzustellen, dass sich von Hentig selbst widerspricht, wenn er kurz vor diesem oben skizzierten Vorwurf Martin Hasselhorn, einen früheren Schüler Salems, mit den Worten zitiert:[480] „Seine (Hahns, Anmerkung M.L.) Liebe und Hingabe galt ausschließlich den Kindern, die er (...) nie an sich persönlich zu binden suchte, sondern sie immer wieder an die Gemeinschaft und ihre geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze verwies. Stets ging es ihm um ein Drittes, nie um die Person.“
Ein weiteres Indiz dafür, dass Hahn den Erziehungsprozess nicht auf seine Person fixieren wollte, war die Anwerbung von kompetenten Mitarbeitern, von denen er keinen Opportunismus, sondern konstruktive Kritik erwarten konnte:[481] „Ich war immer auf der Suche nach Kollegen, von denen loyale Opposition zu erwarten war: z.B. Leute wie Meissner, deren intellektuelle Begabung meiner eigenen weit überlegen war.“ Hahn legte Wert darauf, zu seinem Einfluss eine Gegenkraft zu schaffen. Dies wurde am Beispiel der Leitung Gordonstouns deutlich:[482] „Nun war es Hahn immer ganz klar gewesen, daß wenn der Schulleiter der neuen Schule aus dem Ausland kam, er von einem Schulleiter, der aus dem Lande selbst stammte, unterstützt werden müsse.“
Zur Realisierung des Anspruches Hahns, die Erziehungsprinzipien in Salem nicht auf seine eigene Person fixieren zu wollen, existieren in der Forschung unterschiedliche Ansichten. Während Skidelsky dies als „rühmlichen, wenn auch weitestgehend erfolglosen Versuch“[483] wertete, stellte Becker fest:[484] „Hahn gehörte zu den Menschen, die in hohem Maße zur Kooperation und Freundschaft fähig waren, und diese Fähigkeit noch im Alter zu steigern gewußt haben.“
Durch Musikveranstaltungen, Aufführungen und Unternehmungen sollte das Gemeinschaftsempfinden und das Verantwortungsgefühl für den „Salemer Geist“ gestärkt werden. Das Theaterspiel in Salem wurde ebenfalls dazu eingesetzt, den Charakter der Schüler zu formen. Dabei orientierte sich Kurt Hahn sehr stark an der Rütli - Szene aus „Wilhelm Tell“ und an dem irischen Freiheitsdrama Cathleen ni Houlihan, wo patriotische Heldengeschichten im Vordergrund der Stücke standen.[485] Er verlangte, dass jeder Schüler in den Theaterstücken mitspielen sollte, da die Identifikation mit dem Inhalt „bleibende Spuren hinterläßt.“[486]
Hahn hatte es sich zum Ziel gesetzt, dass mindestens ein Drittel der Schüler von Salem unabhängig von der finanziellen Situation der Eltern in der Schule aufgenommen werden sollte.[487] Prinz Max von Baden gründete kurz nach der Eröffnung Salems eine Stiftung zur Vergabe von Freistellen und Teilstipendien für die Jugendlichen der Salemer Umgebung. Weiterhin bemühte sich Hahn unablässig darum, Stipendiengelder von Wirtschaftsunternehmen und begüterten Anhängern der Salemer Erziehungsidee zu erhalten.
Der Sinn der Stipendiengelder lag einerseits in der Unterstützung bei materiellen und familiären Notsituationen und andererseits in der sozialen Mischung der Schülerschaft:[488] „Solche Kinder bewahren unsere Schule vor dem entnervendem Gefühl der Privilegiertheit, das sich so leicht einstellt, wo nur reiche Kinder beieinander sind. Andererseits ist gerade den Kindern, die schon viel durchgemacht haben, die Berührung mit Kameraden zu wünschen, die aus einem geborgenen Elternhaus Lebensfreude und Sorglosigkeit mitbringen.“
In den Jahren 1922/23 bedrohte die einsetzende Inflation die wirtschaftliche Situation Salems.[489] Salem war damals fast ausschließlich von den Schülern, deren Eltern die Erziehungskosten vollständig tragen konnten, abhängig. In dieser finanziellen Krise konnte Kurt Hahn zahlungskräftige Eltern davon überzeugen, neben den Kosten für ihre eigenen Kinder zusätzliche Gelder der Schule zukommen zu lassen, so dass Salem bis zu 40% ermäßigte oder volle Freistellen bereitstellen konnte. Dabei konnten die Eltern den zu zahlenden Beitragssatz nach eigener Einschätzung bestimmen.
Nach Überwindung der Inflation wurde in dem ehemaligen Nonnenkloster Hermannsburg in der Nähe von Salem im Jahre 1925 die erste Zweigschule für die Juniorenklassen eröffnet. Sechs Jahre später kam es zu einer weiteren Gründung einer Juniorenschule auf Schloss Hohenfels. Bereits im Jahre 1929 gründete Hahn eine zweite Seniorenschule in Spetzgart. Die Lage Spetzgarts in der unmittelbaren Nähe des Bodensees erlaubte den Aufbau einer seemännischen Ausbildung, wodurch die Schüler Gemeinschaftssinn, Tatkraft, Einsatzfreude und Unternehmungslust erlernten.[490] Im Jahre 1932 kam es zu einer weiteren Neugründung im Birklehof/Schwarzwald, der am Anfang als „Kräftigungsstätte für anfällige Kinder“ bestimmt war.[491] Fischer stellte zu Recht fest, dass diese Schulen trotz personeller, räumlicher und materieller Unterschiede „Duplikate der Salemer Erziehung“ darstellten, da ihre schultheoretischen Grundlagen dem Konzept Salems entlehnt wurden.[492] Des Weiteren bekamen die neu gegründeten Schulen ab dem Jahre 1927 wichtige Entwicklungsimpulse durch den von Kurt Hahn gegründeten Dachverband „Salemer Bund e. V.“.
Im März 1933 wurde Kurt Hahn von den Nationalsozialisten in „Schutzhaft“ genommen, als Schulleiter Salems abgesetzt und aus Baden verbannt. Daraufhin emigrierte Hahn zusammen mit einigen Lehrern und Schülern Salems nach England. In der Frage der weiteren Entwicklung Salems existierten gemäß Knoll innerhalb und außerhalb der Schule große Interessensgegensätze.[493]
Im Kultusministerium Badens gab es einerseits Stimmen, die Salem aus ideologischen und finanziellen Gründen am Leben erhalten wollten, andererseits existierten Pläne von Beamten, die die Schule in eine „Nationalpolitische Erziehungsanstalt“ umwandeln wollten. Frühere Schüler, Förderer und Lehrer plädierten für eine Fortsetzung der bislang ausgeübten Erziehungsgrundsätze zur Bewahrung von Freiräumen im nationalsozialistischen Deutschland. Dagegen bezogen Lehrer und Schüler Salems Stellung, die die Schule in die nationalsozialistischen Erziehungspläne einverleiben wollten.
Im Oktober 1934 wurde Dr. Blendinger, ein Anhänger von Hahns pädagogischen Grundsätzen, neuer Schulleiter in Salem.[494] In einer wirtschaftlich schwierigen Lage - viele Schüler wurden von Salem abgemeldet, was die Schule in finanzielle Not brachte - vermochte es Blendinger, die Interessengegensätze innerhalb Salems weitestgehend zu überwinden, Amtsenthebungen und die Schließung von Zweigschulen abzuwenden sowie die zahlreichen Besuche von Mitgliedern des nationalsozialistischen Herrschaftsapparates ohne weitreichende Folgen zu überstehen. Er legte den Grundstein zur Wiederbelebung der Schülermitverantwortung und setzte sich erfolgreich für die unter der Leitung Hahns postulierten Werte ein, so dass die Zahl der Salemer Schüler ab Ostern 1935 anstieg. Während seiner Zeit als Schulleiter legte Blendinger vor allem auf die Stärkung des Willens, die Überwindung persönlicher Schwächen und das freiwillige Ertragen von Entbehrungen großen Wert.[495] Blendinger setzte sich über die Forderung des für Salem zuständigen Ministerialrats Kraft, das „Führerprinzip“ in der Schule zu verankern, hinweg und hielt an der Selbstkontrolle durch den Trainingsplan und der Förderung des Verantwortungsbewusstseins der Schüler fest.
Im Jahre 1966 stellte Hahn fest:[496] „Blendingers Einfluß auf junge Menschen war, wenn ich so sagen darf, ethischer Natur, aber umso nachhaltiger. (...) Erwähnenswert ist auch die Mahnung an das Gewissen des Einzelnen, die Blendinger durch eine neue Rubrik auf dem Trainingsplan „Zivilcourage“ einführte. Sie ist natürlich als Gegenwehr gegen den Gewissenszwang zu erklären, den die Naziumwelt täglich ausübte.“
Jedoch kam es auch zu Zugeständnissen an das NS-Regime, die den Werten und Zielen Salems diametral entgegenstanden. Durch die Entlassung „halbjüdischer“ Kinder, die Organisation der Schuljugend in den nationalsozialistischen Jugendverbänden, die Durchführung nationalsozialistisch eingefärbter „Heimatstunden“, die „Deutschgrußpflicht“ und die Lehrerarbeit in den „NS-Lehrervereinigungen“ geriet Salem sukzessive in den Sog der nationalsozialistischen Schulpolitik.[497]
In der Folgezeit verloren die nach Hahns Erziehungsgrundsätzen arbeitenden Salemer immer mehr ihren bestimmenden Einfluss auf Leben und Ordnung der Schule. Durch die Unterstellung der Schule unter die „Inspektion der deutschen Heimschulen“ wurden die Prinzipien der nationalsozialistischen Schulpolitik in Salem bittere Realität. Da zwischen Herbst 1942 und Sommer 1943 zahlreiche Schüler Salems zur „Heimatflak“ einrücken mussten, konnte der Oberstufenunterricht in Salem nur noch schwerlich durchgeführt werden. Nach dem Einmarsch französischer Truppen schloss der Schulbetrieb im April 1945.
Salem war nicht am aktiven Widerstand gegen das NS- Regime beteiligt. Kupffer rechtfertigte dies folgendermaßen:[498] „Ein solcher Versuch hätte die Schule soweit exponiert, daß sie binnen kurzem geschlossen oder verstaatlicht worden wäre. (...) Mit profilierterer Opposition hätte er (Blendinger, M.L.) jedoch zwar sein Gewissen beruhigt, der Schule aber schweren Schaden zugefügt. Nur durch den Verzicht auf die Rolle des Märtyrers konnte er ihr ein gewisses Maß an Freiheit bewahren.“
Dieser Einstellung Kupffers muss energisch widersprochen werden. Während der Rettung der Schule in der NS-Zeit oberste Priorität zugesprochen wurde, vergaß man dabei aber vollkommen die menschliche Pflicht, sich den Verbrechen des Nationalsozialismus entgegenzustellen. Die Forderung Hahns in der Laienpredigt „Über das Mitleid“ im Jahre 1943 in der anglikanischen Kirche in Liverpool wurde nicht erfüllt:[499] „Kein Friede mit den Mördern, kein Friede mit den Begünstigern, die wissen, was recht ist und dennoch niemals ihr Leben einsetzen, um Geiseln vor dem Erschießen, Häftlinge vor der Folter und Juden vor der Vernichtung zu bewahren.“
Zusammenfassend gesagt gab es in Salem nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und in der Zeit des 2. Weltkrieges Krisensituationen, die das pädagogische Grundgerüst und die wirtschaftliche Existenz der Schule zutiefst in Frage stellten. In der Zwischenzeit existierte eine Periode der Stabilisierung und der weitesgehenden Widersetzung der Umwandlung der Schule in eine nationalsozialistische Erziehungsanstalt.
Bedingt durch die Initiative des Markgrafen von Baden und Marina Ewalds kam es kurze Zeit nach der Schließung Salems am 12.11.1945 zur Neueröffnung der Schule.[500] Georg Wilhelm Prinz von Hannover, der Salem ab dem Jahre 1948 leitete, bemerkte zur Zielsetzung der Schule in der Nachkriegszeit:[501] „Der von dem Gründer, Prinz Max von Baden, der Schule erteilte Auftrag hatte nach dem 2ten Weltkrieg keinen Deut seiner Berechtigung verloren. Im Gegenteil, die nationalsozialistische Bewegung hätte sich nie in Deutschland durchsetzen können, wenn die führenden Schichten ihrer Einsicht nach entsprechend gehandelt und entschlossene Gegenwehr geleistet hätten. An Bildung hat es ihnen nicht gefehlt, wohl aber an Charakterfestigkeit. (...) die Übung in staatsbürgerlicher Verantwortung liegt noch im Argen.“
Anstatt einer mündlichen Überlieferung wurde eine schriftliche Fassung der Salemer Verfassung ausgearbeitet. In der Verfassung[502] wurden die folgenden Punkte festgelegt[503]:
Das Prinzip des Trainingsplans wurde wieder aufgenommen und individuell neu vergeben. Die „leichtathletische Pause“ wurde für alle humanistischen Klassen viermal und für Realklassen fünfmal in der Woche durchgeführt.
Georg Wilhelm Prinz von Hannover belebte die unter Hahn existierende Regelung, an zwei Nachmittagen in der Woche sportliche Übungen zu absolvieren, wieder.[505] Die während des Krieges abgerissene Verbindung zu den Handwerksmeistern in der Umgebung von Salem wurde wieder aufgenommen, damit die Schüler Eigenschaften wie Aktivität, Präzision und Ausdauer erlernten. Georg Wilhelm Prinz von Hannover traf eine Vereinbarung mit der Handwerkskammer in Konstanz, so dass die Salemer Schüler abhängig von ihrer Begabtheit die Lehrlingszwischenprüfung im Schreiner-, Schmiede- oder Schneiderhandwerk für die erste oder zweite Stufe ablegen konnten.
Nach dem Vorbild von Gordonstoun wurden in Salem verschiedene Formen des Rettungsdienstes eingeführt.[506] Zunächst rief die Schule eine Feuerwehr ins Leben, die dieselbe finanzielle Unterstützung von staatlicher Seite wie eine Ortsfeuerwehr bekam. Weiterhin gründete sich die THW-Gruppe Salemer Jungen, die der Ortsgruppe Friedrichshafen zur Ausbildung angegliedert war. Außerdem wurde die Schulung für die Erste Hilfe des Roten Kreuzes für jeden Schüler zur Pflicht erhoben. Der Rettungsdienst auf dem Überlinger See wurde von einer Gruppe der Zweigschule Spetzgart durchgeführt. Die „Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ unterstützte die Unternehmung der Schüler Spetzgarts, indem sie ein altes Motorrettungsboot zur Verfügung stellte. Für diese Arten von Rettungsdiensten stand in der Woche ein Nachmittag zur Verfügung.
Umfangreiche Hilfsaktionen im Dienste der Allgemeinheit wurden in den ersten drei Wochen der Sommerferien durchgeführt. Die ersten beiden Projekte basierten auf Freiwilligkeit, danach wurden sie für jeden Schüler zur Pflicht und als Aufnahmebedingung im Prospekt der Schule festgesetzt. Die Projekte fanden sowohl in Deutschland wie auch in anderen Ländern statt. Die Schüler halfen beim Aufbau der Flüchtlingssiedlung Espelkamp bei Bielefeld und unterstützten den Wiederaufbau des von einem Erdbeben verwüsteten Dorfes Argostoli[507] in Griechenland. Weitere Projekte beschäftigten sich mit dem Straßenbau in von Lawinen heimgesuchten Gebieten im Vorarlberg, dem Hafenbau am Bodensee, dem Aufbau eines Kindergartens für das benachbarte Dorf usw. [508]
Die Salemer Schulen erhielten sehr schnell nach ihrer Wiedereröffnung die notwendige staatliche Anerkennung. Durch Arbeitsgemeinschaften am Samstagvormittag in der Oberstufe wurde den Schülern selbständiges und kritisches Denken, das Abwägen von Problemen und Diskussionsbereitschaft beigebracht. Gemäß den Hahnschen Vorstellungen besaß Salem nach der Wiedereröffnung den Charakter einer christlichen Schule, was jedoch nicht bedeutete, dass Jugendlichen anderer Religionen der Besuch der Schule verwehrt wurde.
Veranstaltungen wie Gottesdienste, Andachten und Zusammenkünfte im Betsaal der Schule, wo Schulchor und -orchester sakrale Musik[509] darboten, waren für jeden Schüler Pflicht.
Seit 2008 lautet das pädagogische Credo in Salem „Persönlichkeiten bilden". Die Formulierung ist bewusst doppeldeutig gewählt und meint, dass zum einen Lehrer-Persönlichkeiten den Schul- und Internatsalltag in Salem gestalten, zum anderen aber die Schüler über eine fundierte akademische Ausbildung hinaus ihre Talente und Begabungen nach besten Kräften entwickeln sollen. Es geht dabei vor allem um Charakterbildung im Rahmen der ganzheitlichen Erziehung an der Schule.
Erfahrungsgestützte Einheit von Erziehung und Unterricht, von Leben und Lernen, ob in sozialer, akademischer oder musisch-kreativer Perspektive, ist Leitvorstellung der Salemer Pädagogik. Dieses Konzept wurde bereits 1930 von Kurt Hahn für die von ihm gegründeten Schulen in seinen so genannten Sieben Salemer Gesetzen zusammengefasst. Die Salemer Dienste, Handwerk, Sport, Musik, Theater, Erlebnispädagogik, eine Vielzahl von Arbeitsgemeinschaften und nicht zuletzt das Erfahrungsfeld Internat stehen zusammen mit dem schulischen Unterricht für den ganzheitlichen Erziehungs- und Bildungsanspruch Salems.
Die Qualität der schulischen Ausbildung spielt im Vergleich zu den Gründungsjahren der Schule eine zunehmend wichtige Rolle. Die Einführung des IB-Systems, die internationale Schüler- sowie Lehrerakquise und die seit den 1980er Jahren gezielt entwickelte Stipendienpolitik dienen dem Ziel, den schulischen Standard zu heben und das Schul- und Internatsleben durch eine leistungsbereite und breit gefächerte Schülerschaft zu bereichern. Die Schule stellt für diese Nachwuchsförderung jährlich 2,1 Millionen Euro zur Verfügung. In Salem leben und arbeiten Schüler und Mitarbeiter aus mehr als 30 Nationen.
Fußnoten