Antiziganistische Einstellungen finden sich auch in weiten Teilen der jeweiligen Dominanzgesellschaft in ganz Europa. Bei einer Befragung eines repräsentativen Querschnitts der Bürger in allen 27 Staaten der Europäischen Union im Frühjahr 2008 durch die EU zum Thema Diskriminierung wurde die Frage gestellt, wie wohl auf einer Skala von 1 bis 10 sich die Befragten fühlten, wenn sie daran dächten, bestimmte Nachbarn zu haben. Mit weitem Abstand am unwohlsten fühlten sich nach eigenen Angaben die Europäer bei dem Gedanken, sie hätten Sinti und Roma als Nachbarn (Durchschnittswert: 6,0).[1]
Es blieb nicht immer bei der alltäglichen stillen Diskriminierung oder institutionellem Rassismus. Mord- oder Gewalttaten gegen Roma in Europa sind keine Seltenheit, Anknüpfungspunkte an faschistische Ideologien finden sich vor allem in Osteuropa. Im Februar 2009 wurde ein Haus in der Roma-Siedlung des ungarischen Dorfes Tatarzentgyörgy mit Brandsätzen attackiert. Als die dort wohnende Familie Csorba aus dem brennenden Haus fliehen wollte, schossen die Täter mit Schrotflinten auf sie. Der Familienvater und sein Sohn starben, während die Mutter und zwei weitere Kinder verletzt wurden. Die Polizei versuchte zunächst, die Morde zu vertuschen: Der Brand sei durch einen defekten Heizstrahler ausgelöst worden und die Opfer von Dachbalken erschlagen worden. Erst nach Interventionen von verschiedenen Seiten kam die schreckliche Wahrheit ans Licht. Bei den daraufhin eingesetzten Ermittlungen konnten mehrere ungarische Neonazis als Täter ermittelt werden.[2] Im April 2009 warfen Neonazis im tschechischen Ort Vitkov gezielt Molotowcocktails auf ein Haus in der dortigen Roma-Siedlung. Nur durch ein Wunder konnte sich die dort lebende Familie noch aus den Flammen retten. Die zweijährige Tochter erlitt dabei schwerste Verbrennungen.[3]
Ein 16-Jähriger Rom ist im Frühjahr 2014 im Pariser Vorort Pierrefitte-sur-Seine offenbar Opfer eines Lynchmobs geworden.[4] Der jugendliche Rom ist in einem sozialen Brennpunktviertel im Norden von Paris bewusstlos in einem Einkaufswagen gefunden worden. Er wurde zuvor von einem Dutzend Menschen verschleppt und ist in einem Keller brutal misshandelt worden. Die Gruppe habe ihn für einen Einbruch in eine Wohnung verantwortlich gemacht. Der jugendliche Rom liegt seitdem im Koma.
Im Zuge der EU-Osterweiterung 2007 kamen Menschen aus Rumänien und Bulgarien nach Westeuropa und auch in die BRD. In kollektivierender Weise wurden die Zuwander_innen oft als „Roma“ oder „Zigeuner“ charakterisiert und ihnen von verschiedener Seite innerhalb der Dominanzgesellschaft seit Jahrhunderten bestehende deviante Stereotype zugesprochen. Somit wurden und werden sie oft Opfer gesellschaftlicher Ausgrenzung. Die EU-Osterweiterung wird in der Öffentlichkeit fast ausschließlich als „Armutsmigration“ aus Rumänien und Bulgarien diskutiert und die Zuwanderung in einer Semantik der Gefahren dargestellt. Die mit der EU-Osterweiterung verbundenen Vorteile für die BRD wie eine Steigerung des Exportes in mittel- und osteuropäische Länder werden nur am Rande erwähnt.
Die Migrant_innen waren und sind vielfältigen Problemen ausgesetzt: Innerhalb einer Übergangszeit bis längstens 31.12.2013 durften bulgarische und rumänische Staatsangehörige nur mit einer ausdrücklichen Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit beschäftigt werden. Diese konnte als Arbeitsberechtigungs-EU mit uneingeschränktem Zugang zum Arbeitsmarkt oder als Arbeitserlaubnis-EU mit beschränktem Zugang zum Arbeitsmarkt erteilt werden, was jedoch nur in Ausnahmefällen geschah. Diese Einschränkung der Arbeitnehmer_innenfreizügigkeit bis zum 31.12.2013 wurde von der EU-Kommission damit begründet, dass Länder mit dringlichen Problemen auf ihren Arbeitsmärkten diese für eine begrenzte Zeit mit dem Beitritt neuer Mitgliedsstaaten einschränken könnten.
Seit dem 1. Januar 2014 haben rumänische und bulgarische Staatsangehörige dieselben Rechte wie alle anderen EU-Bürger_innen: Sie haben das Recht auf einen uneingeschränkten EU-Arbeitsmarktzugang, dürfen in der gesamten EU arbeiten und sich für drei Monate grundsätzlich ohne Erlaubnis in jedem Mitgliedsland aufhalten.[5] Ein Anspruch auf längeren Aufenthalt haben beispielsweise Arbeitnehmer_innen, Selbstständige, Familienangehörige, Studierende und unter bestimmten Umständen auch Arbeitssuchende. Ein Daueraufenthaltsrecht wird erst nach fünf Jahren erwirkt. Das Recht auf Freizügigkeit ist ein zentraler Bestandteil der Grundrechtscharta der EU: „Ein Gemeinschaftsangehöriger, der sich als Arbeitnehmer oder Selbständiger (…) in einen anderen Mitgliedstaat begibt, (…) ist berechtigt zu sagen ‚Civis europeus sum‘, und sich auf diesen Status zu berufen, um sich jeder Verletzung seiner Grundrechte zu widersetzen.“[6] Der Verlust dieses Rechts und eine damit verbundene Ausweisung aus einem Land sind nur in Ausnahmefällen wie der Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit möglich. Abschiebungen von Zuwander_innen vor allem aus Rumänien wie in Frankreich unter dem damaligen Ministerpräsidenten Sarkozy sind nach geltendem EU-Recht nicht zulässig und haben nur populistischen Charakter, da eine sofortige Wiedereinreise wieder möglich ist.
Antiziganistische Stereotype wie Nomadentum, Kriminalität, Primitivität, Arbeitsscheu usw entstanden in den vergangenen Jahrhunderten und werden seitdem wie ein „kultureller Code“ in der Gesellschaft von Generation zu Generation weiter tradiert. Die heutigen antiziganistischen Einstellungsmuster können nicht ohne den Rückgriff auf ihre historische Entwicklung verstanden werden. Romantisierende und exotistische Vorurteile wie die „musizierenden Zigeuner“, die „wild“ und „unproduktiv“ in den Tag hineinleben, sind immer noch vorhanden. Daher ist eine ausführlichere historische Betrachtungsweise notwendig, da der heutige Antiziganismus und die damit verbundenen Bilder und Ressentiments nur durch den Rückgriff auf die Geschichte verstanden werden kann
Sprachforscher_innen fanden heraus, dass Sinti und Roma ursprünglich aus dem Panjab, einem Gebiet im nordwestlichen Indien und östlichen Pakistan, stammen. Das Romanes stammt aus dem altindischen Sanskrit. Von dort sind sie im 9. und 10. Jahrhundert im Zuge der Islamisierung durch arabische Erober_innen verjagt und verschleppt worden. Zwei Hauptwanderwege nach Mitteleuropa wurden anhand von Lehnwörten, die aus den verschiedenen Durchgangsregionen stammen, rekonstruiert. Der erste Weg führte über Griechenland und den Balkan, der zweite über Armenien, Russland und Ostpolen. Eine dritte Verbindung, die der spanischen und portugiesischen Sinti und Roma, könnte über Nordafrika geführt haben. Bis zur zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts waren Sinti und Roma in allen europäischen Staaten urkundlich erwähnt worden, wobei dies nicht mit ihrer Ankunft in einem jeweiligen Land gleichzusetzen ist.
1453 eroberte das Osmanische Reich Konstantinopel und machte es zu ihrer Hauptstadt Istanbul. Das bedeutete das Ende des Oströmischen Reiches und seiner über 1000 Jahre langen Vorherrschaft des Christentums. Europas Staatenbund sowie das Heilige Römische Reich deutscher Nation war bedroht.[7] In der Schlacht von Mohacs 1526 erlitt das Heer des Königsreiches Ungarn gegen die Osman_innen eine vernichtende Niederlage. Nach der Schlacht konnten die Türken große Teile Ungarns und Kroatiens einnehmen und in das Osmanische Reich eingliedern. Die Belagerung Wiens durch die Osman_innen drei Jahre später wurde zurückgeschlagen. Der Expansionswille des Osmanischen Reiches löste in Mitteleuropa Angst und Schrecken aus; die „Türkengefahr“ wurde zu einem wichtigen gesellschaftspolitischen Faktor.[8] Seit Mitte des 15. Jahrhunderts wurde den Sinti und Roma vorgeworfen, Kundschaften der Türk_innen zu sein und eine Art „inneren Feind“ in Westeuropa darzustellen. Dieser Vorwurf der Spionage hielt sich bis zum 2. Weltkrieg, wo den osteuropäischen Roma von den Nationalsoszialist_innen vorgeworfen wurde, sie würden für die Bolschewist_innen oder den Widerstand im jeweiligen Land spionieren.
Im Jahre 1417 wurden Sinti und Roma in Hildesheim erstmalig urkundlich erwähnt. Der Theologe Albert Krantz schrieb: „Im Jahre 1417 erschienen in diesen unseren Seegebieten am Germanischen Meer Menschen, hässlich durch ihre schwarze Hautfarbe, ausgedörrt von der Sonne, mit schmutziger Kleidung, abstoßend in Gebrauch aller Dinge, besonders eifrig im Stehlen, worin sich vor allem die Frauen dieses Geschlechts hervortaten, denn die Männer leben vom Diebstahl ihrer Frauen.“[9] In den Kämmereieintragungen der Stadt Hamburg kamen Sinti und Roma erstmalig 1434 vor. Ein erster Stadtverweis für sie ist im Jahre 1448 für Frankfurt/Main belegt. Innerhalb einer gewissen Frist mussten sie die Stadt verlassen, für den Fall der Weigerung wurde ihnen Gewalt angedroht. Ähnliche Verweise sind auch aus anderen Städten oder Regionen wie in Hessen-Kassel, Dillenburg oder Geismar bekannt. Vorwürfe wurden in vielen Fällen nicht erhoben, allein die Anwesenheit der Sinti und Roma war Grund für eine auch zur Not gewaltsame Vertreibung.[10]
In einigen Fällen bekamen Sinti und Roma Schutzbriefe von weltlichen und geistlichen Autoritäten ausgestellt. Papst Martin V., Kaiser Sigismund und andere Fürsten des Reiches sicherten ihnen freies Geleit, Jagdrecht und eine eigene Gerichtbarkeit zu. Eigentums- oder Autonomierechte wurden ihnen allerdings nicht zugestanden. In dem Schutzbrief Kaiser Sigismund vom April 1423 hieß es: „Wir Sigismund von Gottes Gnaden römischer König (…) Unser Getreuer Ladislaus der Zigeuner nebst andere zu ihm gehörige, haben uns gehorsamst ersucht wir möchten sie unserer weitgehenden Gnade würdigen. Daher haben wir ihrem gehorsamen Gesuche willfahrend, ihnen diese Freiheit einräumen wollen. Darum – wen eben dieser Woiwode Ladislaus und sein Volk zu einer der genannten unsrigen Herrschaften, seien es Flecken oder Städte gelangt so vertrauen wir ihn eurer Treue an ihr sollt auf diese Weise schützen den Woiwoden Ladislaus und die Zigeuner welche ihm Untertan sind (…)“[11] In Urkunden der Stadt Colmar aus dem Jahre 1422 und von König Friedrichs III. aus dem Jahre 1442, die Geleitbriefe darstellen, wurde ihnen das Recht zugestanden, durch das jeweilige Herrschaftsgebiet hindurchzuziehen und sich dort ungehindert eine bestimmte Zeit darin aufzuhalten.[12]
Die wohlwollende Behandlung der Sinti und Roma von Feudalherren beim Ausstellen von Schutzbriefen hatte den Hintergrund, dass diese selbst ein Leben als Reisende führten. Könige und Fürsten waren mit ihrem Hofstaat ständig unterwegs, um ihre häufig weit voneinander entfernt liegenden Besitztümer aufzusuchen und zu verwalten. Martin Ruch bemerkte: „Residenzen fehlten noch weitgehend, und so wanderte die gesamte Administration einschließlich der Kanzlerbeamten mit ihrer höchsten Instanz auf dem eigenen Territorium ständig umher. Die Rechtssprechung erfolgte also gewissermaßen vom Pferd herab. Eine Gruppe fremdartiger Menschen, die unter Führung eines Grafen oder Herzogs (…) durch die Lande zog, praktizierte also lediglich nur das, was auch in der Sichtweise der Territorialherren völlig legal und üblich war.“[13]
Im 15. Jahrhundert wurden noch vor den Reichsabschieden in einzelnen Grafschaften Edikte gegen Sinti und Roma verfasst. Im Jahre 1482 befahl Markgraf Achill von Brandenburg der Obrigkeit aller Städte, Märkte und Dörfer, eine Niederlassung von Sinti und Roma nicht zu dulden und sie aus der Grafschaft zu entfernen.
Die Reichstage in Lindau (1496–1497) und Freiburg (1498) stellten sie als angebliche Verräter_innen der Christenheit und Kundschafter_innen des Osmanischen Reiches, als Zauberer_innen und Überträger_innen der Pest außerhalb der Rechtsordnung, verfügten ihren sozialen Ausschluss und erklärten sie für vogelfrei außerhalb jeder Rechtsordnung: „Wann (…) yemandts mit der Tat gegen inen Hanndel furnemen wurde, der sol daran nit gefrevelt noch Unrecht gethan haben“.[14] Die Reichstagsbeschlüsse wurden im Jahr 1500 durch Kaiser Maximilian bestätigt.
Diese Anordnung wurde jedoch nicht einheitlich umgesetzt und in der Praxis in vielen Fällen unterlaufen. Eine einheitliche Regelung sollte beim Reichstag in Augsburg 1551 festgelegt werden. Im Heiligen Römischen Reich fanden seit dem 12. Jahrhundert Reichstage in Augsburg statt, die aus den Hoftagen des Kaisers hervorgegangen waren. Sie entwickelten sich zu einer festen Rechtsinstitution. Drei Gruppierungen bestimmten außer dem Regenten das Geschehen: Kurfürst_innen, Fürst_innen und die Vertreter_innen der Reichsstädte. Der Reichstag sprach erneut ein allgemeines Verbot der Duldung und die Vernichtung aller existierenden Pässe aus.
Der ohnehin schon stark ausgeprägte religiöse Antiziganismus wurde nach dem Reichstag in Augsburg noch verschärft. Im Jahre 1563 bestätigte der Rat von Trent in Rom, dass Sinti und Roma keine Priester werden können. Fünf Jahre später ordnete Papst Pius V. die Vertreibung aller Sinti und Roma vom Gebiet der römisch-katholischen Kirche an.
In Martin Luthers antisemitischem Werk „Von den Juden und ihren Lügen“ aus dem Jahre 1543 hieß es: „Erstlich, daß man ihre Synagoge oder Schulen mit Feuer anstecke und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, daß kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich. Und solches soll man tun, unserem Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, daß wir Christen seien und öffentlich Lügen, Fluchen und Lästern seines Sohnes und seiner Christen wissentlich nicht geduldet noch gewilliget haben. (...) Zum anderen, daß man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre. Denn sie treiben ebendasselbige darinnen, was sie in ihren Schulen treiben. Dafür mag man sie etwa unter ein Dach oder Stall tun, wie die Zigeuner, auf daß sie wissen, sie seien nicht Herrn in unserem Lande.“[15]
Ein Bestandteil des religiösen Antiziganismus war auch der Vorwurf, dass Sinti und Roma keine der christlichen Religionen selbst praktizieren. Konkret bedeutete dies die Nichtausbildung von Priester_innen und Theolog_innen und die Weigerung, Kirchen oder andere sakrale Räume zu errichten. Weiterhin wurde ihnen unterstellt, dass sie die jeweilige Religion des Staatsgebietes durch Mehrfachtaufe zu ihrem finanziellen Vorteil ausnutzten. Bei Fritsch hieß es: „Wenn wir dann auch aus dem Crantzio gemeldet/daß bey ihnen die christliche Religion gar wenig geachtet werde/und dieselbe/wann sie/nach ihrer Gewohnheit/unsere Länder durchstreiffen/gar offt denen Pfarrern ihre kleinen Kinder zur Taufe bringen pflegen/So wird denn nicht unbillich gezweifelt/ob man ihrem Bitten mit gutem unverletzten Gewissen soll Raum geben. (…) bey dem heiligen Sakrament der Tauffe zu erhalten/solche demüthig geberen/und nach dem sie es erhalten/diese an einem anderen Ort zu wiederholen.“[16]
Die Schmiede der Sinti und Roma galten als ausgewiesene Expert_innen für die Herstellung und Bearbeitung von Waffen und anderen Gebrauchsgütern. Aus diesem Grunde wurden diese vom einheimischen Adel geschätzt und mit Privilegien wie Steuervergünstigungen ausgestattet. Dies erregte den Neid der autochthonen Handwerkszünfte, die daraufhin das Gerücht in die Welt setzten, dass Sinti und Roma die Nägel für die Kreuzigung von Jesus Christus geschmiedet hätten.
Den Sinti und Roma wurde vorgeworfen, sie würden erzählen, dass sie zu ewiger Wanderschaft verflucht seien, da sie der Heiligen Familie auf ihrer Flucht nach Ägypten keine Nachtherberge zur Verfügung gestellt hatte.[17] Diese Geschichte wurde jedoch nicht von den Sinti und Roma in die Welt gesetzt, sondern von gebildeten Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, die Erklärungsmuster für die Gründe der Einwanderung seit dem 15. Jahrhundert suchten.[18] Fritsch stellt fest: (…) erdichten unverschämter Weise daß die Sünde ihrer Vorfahren/welche die Jungfrau Maria/die Gottes-Gebährerin/ mit ihrem/die Tyrannes des Herodes entfliehenden Kinde Jesu aufzunehmen und zu beherbergen verzaget/büssen müssten//und von ihren Göttern gezwungen würden/sieben ganzer Jahr aus ihrem Vaterlande im Elend zu schweben/wenn sie nicht allerley Unglück und Unfruchtbarkeit sich auf den Hals ziehen wollen.“[19] Dieses Motiv der verweigerten Herberge wurde jahrhundertelang unhinterfragt innerhalb der Mehrheitsgesellschaft weiter tradiert.
Neben Jüd_innen wurden auch Sinti und Roma eine Ähnlichkeit mit dem Teufel attestiert. Anlass und „Beweis“ war die Hautfarbe der Sinti und Roma, die von verschiedenen Autor_innen als „schwarz“ bezeichnet wurde. Die Farbe Schwarz war allgemein verbreitet die Farbe des Teufels. Die These, dass eine dunkle Hautfarbe Minderwertigkeit, Außermenschliches oder das Böse allgemein kennzeichnete, war in der christlichen Gedankenwelt weit verbreitet. Es herrschte ein Krieg zwischen Hell und Dunkel, was sich in weißen Engeln und schwarzen Teufeln personifizierte.[20]
Sinti und Roma wurden unterstellt, geheime Kontakte mit dem Teufel zu unterhalten und von diesem teuflische Fähigkeiten erworben zu haben. Dies waren zum Beispiel die angeblichen Begabungen der Vernichtung der Ernte der Bauern oder die Verbrennung ihrer Hütten und Scheunen. Die Versammlungsorte von Jüd_innen und „Zigeunerlager“ galten als Teufelsplätze. In dem Märchen von Friedrich Strauss „Warum Zigeuner teufelsfürchtig sind“ geht es darum, wie „Zigeuner“ den Sohn des Teufelskaisers einfingen. Dort war zu lesen: „obgleich sie schon von Natur aus schwarz waren, rußten sie sich immer noch mehr ein, so daß sie wie die leibhaftigen Teufel aussahen.“[21] Das Motiv der außermenschlichen, mit dem Teufel verbündeten Sinti und Roma hielt sich die gesamte Frühe Neuzeit und wurde erst von den Aufklärer_innen verworfen.
Das Bild der wahrsagenden Sinti und Roma ist auch ein Element des religiösen Antiziganismus. Martin Anton Delrio fragte rhetorisch: „Wenn Handleserei und die übrigen Schandtaten geduldet werden, richtet sich das nicht gegen die Autorität des göttlichen Gesetzes und der kirchlichen Canones?“[22]
Das Ressentiment des Nomadentums als unveränderliches Merkmal der Sinti und Roma findet sich in zahlreichen Werken von gebildeten Vertreter_innen der Mehrheitsgesellschaft. A. Fritsch stellte zum Beispiel fest: „(…) dies zusammen gelauffene Wahrsager brechen/den herzunahenden Sommer/gleich wie die Schwärme der Hummeln/aus denen hohen und zähen Klippen und Steinhölen/des Alpischen oder Schweizerischen und des Pyreneischen Gebürges herfür/und ziehen in andere weitere und reichere Länder. (…) Sie beharren nicht lang an einem Ort/nachdem sie die Weide abgeäket/so ziehen sie mit ihrem Vieh/Weibern und Kindern/welche sie auf Karren/Wagen und Pferden mit sich herum führen/anderswo hin/und achten es für eine schwere Unglücksseligkeit/lange an einem Ort zu bleiben.“[23]
Der Dreißigjährige Krieg, der von 1618 bis 1648 andauerte, war ein Konflikt um die Hegemonie im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und in Europa und zugleich ein Religionskrieg. In ihm entluden sich auf europäischer Ebene der habsburgisch-französische Gegensatz und auf Reichsebene derjenige zwischen Kaiser und Katholischer Liga einerseits und Protestantischer Union andererseits. Sinti waren als Soldat_innen sowohl in den Heeren der Union wie auch in der Liga zu finden. Sie kämpften in schwedischen und kaiserlichen Verbänden, auch unter Wallenstein. Einige von ihnen bekleideten sogar Offiziersränge.[24] In dem Werk der „Landstörtzerin Courasche“ spricht Grimmelshausen von einer „Ziegeunerische Rott von den königsmarckischen Völckern“, die sich der „schwedischen Hauptarmee“ angeschlossen haben.[25] Im Jahre 1642 befand sich im Amt Meinersen von Hannover eine „ganz und gar aus Tartaren und Zigeunern bestehende“ Kompanie unter dem Hauptmann Andreas Trems, die auf ein Engagement von der einen oder anderen Seite wartete. Dazu gehörten auch Frauen und Kinder der Soldat_innen.[26]
Dagegen wurde in der Forschung auch die These vertreten, dass Sinti und Roma keine Soldat_innen waren, sondern Teil der Nachhut bildeten, die von den Kämpfen profitierten. Herbert Langer bemerkte: Der familiäre Anhang der Soldaten und Offiziere, ihr Dienstpersonal, Marketender, untaugliche Soldaten, Deserteure von weither, Gaukler, feile Dirnen, Zigeuner, schachernde Juden – kurzum eine Masse, die von den täglichen Bedürfnissen, vom Spielgewinn, von der Beute und der Lebensgier der Soldaten lebte.“[27] Aufgrund der vielen voneinander unabhängigen Quellen kann jedoch festgehalten werden, dass die Mehrzahl der Sinti und Roma als Soldaten am Krieg teilnahmen und damit auch ein sozialer Prestigegewinn einherging.
Es existierte eine Vereinbarkeit zwischen der Lebensweise als Soldat(in) und als Angehöriger eines Familienverbandes. Eine Gruppe von Soldat_innen unter einem Anführer trat meistens als geschlossene Einheit in ein Regiment ein. Dort behielten sie ihren Charakter als eigenständige Größe. Deren Frauen und Kinder gingen entweder auch in das Regiment über oder hielten sich in der Nähe des Stationierungsortes auf.[28]
Nach dem Ende des 30jährigen Krieges übten manche Sinti und Roma den soldatischen Beruf weiter aus. Nach der Einverleibung Bremens an Schweden im Westfälischen Frieden entwickelte sich die Stadt zu einem schwedischen Anwerbeort, der auch Sinti und Roma anlockte.[29] Der Sinto Wilhelm Reinhard war Fähnrich in einem kaiserliche Leibregiment und Hauptmann in einer brandenburgischen Kompanie, die sich 1661 auflöste.
In der deutschsprachigen Literatur entstanden im Laufe der Jahrhunderte antiziganistische Stereotypen, die –je häufiger sie wiederholt wurden- sich im Gedächtnis der Mehrheitsbevölkerung festsetzten und schließlich als Wahrheit ausgegeben wurden. Wilhelm Solms und Daniel Strauß bemerkten zu Recht: „(…) gerade in der Literatur hat die Pflege des ‚Zigeunermythos‘ eine lange und unselige Tradition ausgebildet. (…) Ob in Märchen, Sagen, Schwänken, Volksliedern oder in der hohen Literatur – die Texte strotzten nur so von grotesken Klischees, die die eigenständige Erzähltradition der Sinti und Roma auf den Kopf stellen.“[30]
Der Theologe M.J. Thomasius warf in seiner Abhandlung „Curiöser Tractat von Zigeunern“ aus dem Jahre 1702 diesen Kindesraub, Diebstahl und Mord vor: „Man hat auch erfahren/daß sie als Menschen-Diebe kleine Kinder auffgefangen/und für sie die ihrigen aufferzogen haben. (…) als Diebe pfegten sie viel unverschämter als die Bettler/zu fordern: Alleine das Geld zu betteln/schämen sie sich es aber zu rauben aus dem Beutel heraus zu partiren/nehmen sie sich kein Gewissen. Ja sie geben auch zuweilen Räuber/Mörder und Vieh-Diebe ab. Daß sie sich erlaubten/die Stadt Juliobrigam die von der Pest gar ausgestorben war/zu überfallen und zu plündern. Kurz zu sagen/weil sie von Kindes-Beinen an zur Boßheit angewöhnt werden.“[31]
Der Justiziar Johann Benjamin Weissenbruch bezeichnete Sinti und Roma als „böse Nation“ und „böse Race“, „die weder durch geringe Straffe sich auf bessere Gedancken bringen läßt, noch, wenn man gleich aus der Jugend etwas Gutes ziehen will, die Zucht annimmt.“[32] Ein angeblicher Hang zum Diebstahl sei den „miserablen Creaturen“ „gleichsam angeboren“.[33]
Vor allem im 17. und 18. Jahrhundert sollten Sinti durch Ausnahmegesetze der jeweiligen Landesherren am Betreten ihres Territoriums gehindert werden. Staatliche Stellen stellten ikonographische Schilder an den Grenzen und vor Orten oder Städten auf, die speziell an Sinti und Roma adressiert waren.[34] Sie wurden „Zigeunerwarnungsstöcke“, „Heidenstöcke“ oder „Zigeunertafeln“ genannt. Wenn sie die jeweiligen Gebiete betreten würden, drohten ihnen Bestrafungen wie Stockschläge, Brandmarken, Landesverweis, Handabschlagen oder Ohrabschneiden. In den deutschen Staaten wurde in öffentlichen Verlautbarungen Belohnungen für die Ergreifung von Sinti und Roma ausgesetzt, egal ob tot oder lebendig. Gemäß einem Gesetz im Reichskreis Oberrhein aus dem Jahre 1711 wurden Bürger_innen bestimmte Geldbeträge für die Mithilfe bei einer erfolgreichen Festnahme in Aussicht gestellt.
Staatliche Stellen schreckten sogar vor systematischen Morden an Sinti nicht zurück. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden in Schwaben, Franken, Hessen und der Pfalz insgesamt mindestens 237 Sinti hingerichtet.[35] Im Jahre 1726 verordnete Kaiser Karl VI., alle männlichen Sinti hinzurichten und den Frauen sowie den Kindern unter 18 Jahren ein Ohr abzuschneiden. Der Stadtrat von Aachen erließ 1728 eine Verordnung, die Sinti zum Tode verurteilten. Darin hieß es: „Gefangene Zigeuner, ob sie sich wehren können oder nicht, sollen auf der Stelle getötet werden. Allerdings soll denjenigen, die nicht zu einem Gegenangriff ansetzen, nicht mehr als eine halbe Stunde gewährt werden, um niederzuknien und, wenn sie es wünschen, den allmächtigen Herrgott um Vergebung ihrer Sünden bitten und sich auf den Tod vorzubereiten.“[36] Der Annweiler Vogt Koch veranlasste 1760 eine „Zigeunerjagd“, wo Männer, Frauen und Kinder umgebracht, ihre Hütten geplündert und niedergebrannt wurden.[37]
Öffentliche Hinrichtungen von Sinti und Roma wurden bisweilen wie ein Event gefeiert, an dem sich normale Bürger_innen berauschten. Bei einer Enthauptung von vier Sinti und Roma in Nürnberg 1733 errichtete ein Nürnberger Bürger 200 Erntewagen als eine Art von Tribünen und verlangte für das Mitansehen der Hinrichtung Eintrittsgeld.[38]
Teile der Mehrheitsbevölkerung widersetzten sich aber auch gegen die Anordnungen der staatlichen Stellen und halfen verfolgten Sinti und Roma auch unter Gefährdung ihres eigenen Lebens.[39] Anhand von Taufurkunden lässt sich belegen, dass städtische Beamt_innen oder Bürgermeister_innen eines Dorfes als Paten fungierten. Zahlreiche Quellen berichten darüber, dass staatliche Stellen gegen Dortschultheiß_innen, Gastwirte und Händler_innen vorgingen, die Sinti und Roma Unterschlupf gewährten oder mit ihnen Handel trieben. Manche staatlichen Stellen sahen sich deshalb gezwungen, unter Strafandrohungen den Kontakt der eigenen Bevölkerung mit Sinti und Roma zu verbieten. In einer gemeinsamen Pönalsanktion des Oberrheinischen und des Kurrheinischen Kreises von 1748 hieß es: „Sollen diejenigen, welche diesem Räuber- und Zigeunergesindel entweder freywillig und ungedrungen einigen Unterschleiff gestatten (…) deren geraubte Sachen wissentlich verkauffen, verhandeln oder auch den Raub verkundschafften, dazu Anschläge geben und sonsten in andere Weege behülflich seynd und dan participieren, falls nur ein anderer gefährlicher Umstand noch dabey mit untergeloffen (…) gleichergestalten, wo nicht mit Galgenstraffe, wenigstens §4 zur offentlichen Arbeit angesetzten Straff, und zwar allenfalls auf ihre selbst eigene Kosten, wenn sie es im Vermögen haben, unterworffen seyn.“[40]
Neben negativ zugeschriebenen Eigenschaften entwickelte sich auch eine romantisierende Sichtweise auf die „Zigeuner“. Sie wurden als Gegenetwurf zur bürgerlichen Gesellschaft inszeniert und als „edle Wilde“[41] idealisiert. Dies zeigte sich besonders in Goethes Drama Götz von Berlichingen. Auf der Flucht rettet der „Zigeunerhauptmann“ den verwundeten Götz, schützte ihn vor den Verfolger_innen und verlor dabei sein Leben. Götz stellte in dieser Szene fest: „O Kaiser! Kaiser! Räuber beschützen deine Kinder. Die wilden Kerls, starr und treu.“[42]
Der preußische Aufklärer Christian Wilhelm von Dohm setzte sich für eine Aufhebung aller Gesetze ein, die Juden sowie Sinti und Roma diskriminierten. Dies sollte jedoch nicht sofort, sondern erst nach einem Erziehungsprozess geschehen, der die „bürgerliche Verbesserung“ der Minderheiten beinhaltete. Da es sich bei „den Zigeunern“ um „eine sehr verwilderte Nation“ handele, würde die „Verbesserung“ erst nach einer Generation greifen.[43] Von Dohm schrieb: „Die Erfahrung lehrt, daß es äußerst schwierig sey, sie an diesem festen Aufenthalt und bleibende Beschäftigung zu gewöhnen, und daß sie dem bequemen und ruhigen Leben das unsichere und beschwerliche Umherziehen vorziehen. Aber die Kinder der itzigen, zum Theil im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft geboren, werden gewiß schon besser in dieselbe einpassen. Sollten aber auch erst die Nachkommen der itzigen Zigeuner nach mehr als einem Jahrhundert glücklichere Menschen und gute Bürger werden, so wird doch dieses unstreitig die Regierung nicht abhalten, ihre weisen Bemühungen fortzusetzen.“[44]
Im Jahre 1782 war in einem Zeitungsartikel zu lesen, dass in Ungarn zahlreiche „Zigeuner“ hingerichtet wurden, da sie angeblich Menschen töteten und die Leichen danach aufaßen. Später kam heraus, dass sich diese Vorwürfe als haltlos erwiesen und einen Justizskandal provozierten. Trotzdem gehörte seitdem der Vorwurf des Kannibalismus zum Standardrepertoire antiziganistischer Ressentiments.[45]
Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann (1756-1804) wurde 1794 in Göttingen zum ordentlichen Professor ernannt. 1804 wechselte er an den Lehrstuhl für Statistik an die Universität Moskau, wo er kurz nach seinem Dienstantritt verstarb.
Grellmanns Werk „Die Zigeuner. Ein historischer Versuch über die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volkes, nebst ihrem Ursprunge“[46] aus dem Jahre 1783 ist als Beginn der „Zigeunerwissenschaft“ im deutschsprachigen Raum anzusehen. Während er die grundlegenden Motive des religiösen Antiziganismus als Legenden entlarvte, begründete er einen Antiziganismus auf rassistischer Grundlage. Wippermann stellt zu Recht fest: „Grellmann kann daher als Schöpfer des rassistischen Antiziganismus bezeichnet werden, den es schon vor dem Rassen-Antisemitismus gab und der die konkrete ‚Zigeunerpolitik‘ schon zu einem Zeitpunkt beeinflusste, als die ‚Judenfrage‘ noch unter mehr oder weniger rein religiösen und eben nicht rassistischen Aspekten diskutiert wurde.“[47] Die von Grellmann unterstellten Verhaltensdispositionen der „Zigeuner“ wurden von ihm nicht als individuelle Ausdrucksformen gesehen, sondern als feststehendes kulturelles Verhalten auf die gesamte Gruppe , die als „Volk“ bezeichnet wurde, übertragen. Dieses biologistische Deutungsmuster durchzieht das gesamte Buch. Dort heißt es zum Beispiel: „Oft schien ein Knabe (…) auf dem besten Wege zur Menschwerdung zu seyn, und plötzlich brach die rohe Natur wieder hervor, er gerieth in den Rückfall und wurde mit Haut und Haaren wieder Zigeuner“.[48]
Im Anschluss an andere Arbeiten vertrat Grellmann die These, dass die Sprache der „Zigeuner“ im Kern Sanskrit sei und sie ursprünglich aus Indien kämen. Daraus schloss er, dass sie von der untersten indischen Kaste, den „Sudern“ oder „Paria“ abstammen müssten.[49] So entstand das Bild von einem primitiven „orientalischen Nomadenvolk“, das sich auf der Vorstufe der so genannten Zivilisation befände. So schrieb Grellmann: „Die Zigeuner sind ein Volk des Orients und haben orientalische Denkart. Rohen Menschen überhaupt, vorzüglich aber den Morgenländern ist es eigen, fest an dem zu hängen, woran sie gewohnt sind. Jede Sitte (…) dauert unverändert fort und eine Neigung, die einmahl in den Gemüthern die Oberhand hat, ist sogar nach Jahrtausenden noch herrschend.“[50] Die „Zigeuner“ waren für Grellmann zwar primitive, aber dann doch menschliche Wesen, die aber erst zu einem späteren Zeitpunkt in den Genuss der „zivilisatorischen Vorzüge“ kommen würden. Dieser kulturelle Kolonisationsgedanke Grellmanns wurde auch von späteren „Zigeunerexperten“ übernommen und weiterentwickelt. Grellmann stellte die „Zigeuner“ als „Naturvolk“ dar, das im Gegensatz zu den weißen europäischen „Kulturvölkern“ stünde und diesen unterlegen sei: „Man denke nur, wie sehr sie von Europäern verschieden sind. Dieser ist weiß, der Zigeuner schwarz; der Europäer geht bekleidet, der Zigeuner halb nacket, jenem schaudert für Speise vor verrecktem Vieh, dieser bereitet sich davon Leckerbissen. Ueberdieß sind auch diese Menschen, seit ihrer ersten Erscheinung in Europa durch Raub, Diebstahl und Mordbrennen berüchtigt; der Europäer hegt also nicht nur Abscheu gegen sie, sondern auch Haß. Um aller dieser Ursachen willen wieß der gesittete Theil von jeher den Zigeuner von sich, (…) und nur der Einfältige machte bisweilen genauere Bekanntschaft mit ihnen, um Angelegenheiten des Aberglaubens abzuthun.“[51] Die Ausübung von Musik und Poesie seien charakteristische Merkmale ihrer Kultur: „Musik ist unter allen die einzige Kunst, an der dieses Volk wirklich einen beträchtlichen Anteil hat. Sie dichten zwar auch, und das nach Weise orientalistischer Völker, aus dem Stegreife; und sind in der Walachey sogar die einzigen Inhaber dieser Kunst, wo sie ihre Verse, gleich italiänischen Improvisatoren, immer mit Gesang und Musik begleiten.“[52]
Grellmann schrieb den „Zigeunern“ in homogenisierender Weise die Eigenschaften der Faulheit und des Müßiggangs zu: „Hier entdeckt sich zugleich der Grund, warum Armuth und Dürftigkeit ein so gemeines Los dieser Menschen ist. Es liegt in ihrer Faulheit und übermäßigen Neigung zur Gemächlichkeit. Sucht man Menschen, die im Schweiße ihres Angesichts ihr Brod essen, so wird man sie überall leichter, als unter dem Volke der Zigeuner finden. Jede Arbeit ist ihr Feind, wenn sie mühsam ist, und viele Anstrengungen erfordert.“[53]
Die von Grellmann behaupteten negativen Charakterzüge wie Müßiggang, Nomadentum, Unsittlichkeit oder Kriminalität, die ständige Konflikte mit den jeweiligen europäischen Mehrheitsgesellschaften zur Folge hätten, hielt er für angeboren.[54] Grellmann verstand sich selbst als Aufklärer und die „Zigeuner“ als erziehungsbedürftige Mängelwesen, die notfalls mit Gewalt und Zwang mit dem Ziel der völligen Assimilierung in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren seien. Er stellte dabei vor allen den ökonomischen Nutzen und das daraus resultierende staatliche Interesse an der Umerziehung der „Zigeuner“ in den Vordergrund.
In der Aufklärung nahm die Erziehung einen breiten Raum ein; sie sollte als Mittel dazu dienen, die angeblich noch im Naturzustand lebenden Gesellschaftsmitglieder zur Menschwerdung gelangen zu lassen. Immanuel Kant stellte fest: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“[55] Auf der philosophischen Abstraktheit wurde mit dem Menschen operiert. Das menschliche Zusammenleben sollte sich in der Vernunft aller Gesellschaftsmitglieder äußern. Der einzelne Mensch, die Menschheit qua Gattung und die Menschlichkeit wurden im 18. Jahrhundert nahe zusammengedacht.[56] Die großen Differenzen, aus denen sich die Realität des Menschlichen gestaltete, traten hingegen nur randständig in den Blick. Jaumann behauptete zu Recht, Aufklärung wurde als Teil des permanenten Prozesses auf dem Weg vom Naturzustand hin zu Kultur und Zivilisation zu einer stets aufsteigenden Menschheit verstanden. Stets war das Ziel jeder Entwicklung nicht etwa die Emanzipation der jeweiligen Minderheit als solcher, sondern die Aufhebung deren sozialer Existenz.“[57] Dazu gehört laut Grellmann die Aufgabe „Zigeuner“ oder auch „Jude“ zu sein.[58] Grellmann erklärte: „Mochten die Zigeuner bisher auch noch so vielen Nachtheil gestiftet haben; so war es doch an sich nichts Unmögliches, dass sie einmal aufhörten, so allgemein schädliche Geschöpfe zu seyn. (…) Aus dem Menschen kann alles werden, hätte man nur die gehörigen Mittel zu ihrer Besserung angewendet, so würde die Erfahrung bewiesen haben, dass sie nicht unverbesserlich wären.“[59] Er stellte die Forderung auf, die „Zigeuner“ im pädagogischen Sinne zu „brauchbaren Bürgern umzuschaffen.“[60] Diese Disziplinierung über die Erziehung beinhaltete zugleich deren Sesshaftmachung und die „Sorge für Aufklärung ihres Verstandes, und ein besseres Herz.“[61] Es sei „wenig wirtschaftlich“ die „Zigeuner als Schlacke weg zu werfen.“ In deren ersten Generation läge noch „die Wurzel des Verderbens“, aber „beim zweyten oder dritten Geschlecht“ würden sich die Anstrengungen ökonomisch auszahlen.[62]
Grellmanns Thesen bildeten bis ins 20. Jahrhundert hinein die Grundlage für spätere „Zigeunerforscher“, die die rassistischen Stereotype nicht überwanden, sondern tradierten und sie als allgemeingültige „Wahrheiten“ ausgaben.[63] Sie prägten auch fortan die staatliche „Zigeunerpolitik“: „Ökonomische Eingliederung und kulturelle Assimilation durch eine Erziehung ,zu brauchbaren Staatsbürgern und gesitteten Christenmenschen‘ galten in der einschlägigen Literatur (…) als Ziele der Zigeunerpolitik.“[64] Die einzige bekannte Kritik an Grellmanns Thesen äußerte der ostpreußische Pfarrer Johann Biester: „Hier wie an mehreren Orten möge man zweifeln, ob Hr. G. je Zigeuner gesehen hat; beobachtet und untersucht kann er sie wenigstens nicht haben.“[65] Grellmanns Werk besaß auch einen hohen Stellenwert im europäischen Ausland; 1787 wurde es ins Englische, später auch ins Französische übersetzt.
Der Faktor Arbeit bildete einen wichtigen Grundpfeiler in den Erziehungsvorstellungen der Aufklärung. In den Bildungsinstitutionen sollten Kinder und Jugendliche arbeiten lernen und diese nicht als Last empfinden, sondern als zur Identität eines jeden Menschen zugehörig. Dahinter verbarg sich das Postulat, dem Staat als nützliche und produktive Mitglieder zu dienen. Die protestantische Arbeitsethik ist gekennzeichnet durch die Vorstellung, dass bildet den Mittelpunkt des Lebens bildet, um den herum Freizeit gestaltet wird: „Arbeit muss als gottgewollter Lebenszweck betrachtet werden, sie muss so gut wie möglich verrichtet werden und Arbeit muss als Pflicht gelten, die man erledigt, weil sie erledigt werden muss" [66] Es wurde der Versuch unternommen, Arbeitslose und „Müßiggänger“ mit erzieherischen Einflüssen zur Arbeit zu bewegen. Erwachsene wurden in Dingen unterrichtet, die ihnen eine künftige selbständige Lebensbewältigung zu versprechen schienen. Mit der Verherrlichung der Arbeit hing die allgemein verbreitete Ablehnung des Almosenwesens zusammen, das vielen Menschen den Lebensunterhalt sicherte.[67] Die Auffassung von der Arbeit als eine allgemeine Tugend der Menschen breitete sich vor allen im bildungsaffinen Bürgertum rasch aus. Die Erfassung der Kinder und Jugendlichen durch die Schule unter pädagogischen Gesichtspunkten und ihre Betreuung durch behördliche Organe unter Bezugnahme auf wirtschaftliches Profitstreben war zukunftsweisend.
Trotz aller universalistisch klingenden Emphase ist die Realisierung des im Namen des Menschen artikulierten Bildungszieles damals noch nicht konkret auf die meisten Mitglieder der Gesellschaft ins Auge gefasst worden. Sie erstreckte sich auch nicht zentral so genannte „Außenseiter“ der Gesellschaft wie Menschen mit Behinderung, Bettler_innen oder Minderheiten wie Jüd_innen sowie Sinti und Roma.[68]
Die Vorstellung, dass Kriminalität eine angeborene anthropologische Konstante der „Zigeuner“ war, war bei Polizei- und Justizbeamt_innen weit verbreitet. Der württembergische Oberamtmann Georg Jakob Schäffer gab 1787/88 eine „Zigeuner-Liste“ heraus, in der zwischen „Zigeunern von Geburt an“ und „Deutschen“ unterschied. Für Schäffer waren „Zigeuner“ Menschen mit angeborenen negativen Eigenschaften, die separat erfasst und kontrolliert werden müssten.
Aufklärungsphilosophen wie Johann Gottfried Herder und Immanuel Kant sahen Sinti und Roma auf einer niedrigeren kulturellen Stufe als die deutsche Mehrheitsbevölkerung und machten aus ihrer Abneigung keinen Hehl. Herder beschrieb Sinti und Roma in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit als „eine verworfene indische Kaste, die vor allem, was sich göttlich, anständig und bürgerlich nennet, ihrer Geburt nach entfernt ist und dieser erniedrigenden Bestimmung noch nach Jahrtausenden treu bleibt, wozu taugte sie in Europa, als zur militärischen Zucht, die doch alles aufs schnellste discipliniret?“.[69]
Unter Bezugnahme auf Gobineaus Rassentheorie wollte Kant Sinti und Roma an der „indischen Hautfarbe“ oder „wahren Zigeunerfarbe“ erkennen. Laut Kant fehle ihnen der „Trieb zur Tätigkeit“.[70] Sie „haben niemals einen zu ansässigen Landbauern oder Handarbeitern tauglichen Schlag abgeben wollen“ und wären lediglich „Herumtreiber“.[71]
Das Motiv des Kinderraubes durch Sinti und Roma wurde wiederholt in der deutschen Literatur thematisiert und erlangte so in einer breiten Öffentlichkeit Popularität. In dem Lustspiel „Die Türkensklavin“ von Jakob Michael Reinhard Lenz stahl die „Zigeunerin“ Feyda die Sklavin Selima als Kind und verkaufte es an einen Bordellbesitzer.[72] In Clemens Bentanos drittem Rheinmärchen „Das Märchen vom Murmelthier“ wurde das Mädchen Murmelthier von ihrer Stiefmutter, einer „Zigeunerin“, als Baby aus dem königlichen Garten des Königshofes von Burgund gestohlen.
Erstmals wurde auch der Inzestvorwurf einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. In dem weit verbreiteten Meyers Konversationslexikon aus dem Jahre 1871 hieß es: „Ehen zwischen den jungen Leuten, gewöhnlich um 14 oder 15 Jahre, werden ohne Rücksicht auf Blutsverwandtschaft und fast nur durch gegenseitiges Uebereinkommen geschlossen.“[73]
Die Erziehung der „Zigeuner“ zu „brauchbaren Bürgern“ wurde im aufgeklärten Absolutismus in die Praxis umgesetzt. Kaiserin Maria Theresia von Österreich ließ Roma zwangsweise in Siedlungen im Burgenland ansiedeln, verbot Gewerbetätigkeit, Sprache und Pflege kultureller Traditionen und betrieb die Zerschlagung der familiären Strukturen durch Wegnahme der Kinder, um sie im christlichen Sinne erziehen zu lassen. Friedrich II. unterstützte ein ähnliches von christlichen Missionar_innen initiiertes Erziehungsprojekt In Friedrichslohra. Vor allem der staatliche Kinderraub ließ die Maßnahmen jedoch in Österreich wie in Preußen scheitern, da die Betroffenen sich zur Wehr setzten bzw. flüchteten. Dieses Scheitern wurde als Beweis dafür gewertet, dass ihre angeblich devianten Eigenschaften eine anthropologische Konstante darstellen. In Württemberg wurden Sinti seit 1828 auf einzelne Gemeinden verteilt, um ihre Assimilation in die Gesellschaft voranzutreiben. Seit 1856 wurden sie einer speziellen Polizeikontrolle unterstellt.[74]
Anfang des 19. Jahrhundert emigrierten viele Sinti und Roma nach Amerika, da sich für sie die Lebensbedingungen in Europa zunehmend verschlechterten. Im Zuge der Industrialisierung lohnten sich traditionelle Erwerbsformen nicht mehr. Außerdem erschwerten der Ausbau des Polizeiapparates, Aufenthaltsverbote und Grenzkontrollen das Wandergewerbe.
Der Schulmeister Theodor Tetzner beschimpfte Sinti und Roma als „Auswurf der Menschheit, die im Anfange des 15ten Jahrhunderts wie eine Strafe Gottes, gleich einem Heuschreckenschwarm, sich in unseren Gauen niederließ.“ Ebenso wie Menschen jüdischen Glaubens hielt Tetzner Sinti und Roma für nicht assimilierbar, weil die immer an ihren „Eigentümlichkeiten“ festhalten würden.[75] Der preußische Major Carl von Heister bezeichnete 1842 in seinem Werk „Ethnographische und geschichtliche Notizen über die Zigeuner“ diese als „malaische Race“. Aufgrund der Augen-, Haar- und Gesichtsfarbe wollte von Heister klassifizieren können, ob es sich bei Sinti und Roma um eine „reine Zigeuner-Abstammung“ handele.[76] Der Kriminalist Richard Liebich sprach Sinti und Roma unveränderliche Eigenschaften wie Nomadentum und Kriminalität zu und leistete damit einer Ethnisierung des Sozialen Vorschub: „Wenn der Richter sonst allenthalben zu individualisieren hat, d.h. das zu behandelnde Subject erst in seiner Eigenthümlichkeit erforschen und kennen lernen, und danach den Gang seines Verfahrens bestimmen muß, so darf der eingeweihte, mit dem Wesen der Zigeuner bekannte Inquirent bei diesen ohne alle Gefahr generalisieren und keinen Fehltritt zu thun besorgen, wenn er alle mit gleichem Maße mißt, in gleicher Weise behandelt; denn ein echter, wahrer Zigeuner ist der Typus aller anderen.“[77]
Die „Zigeunerpolitik“ im deutschen Kaiserreich war eindeutig rassistisch geprägt. Von Anfang an gab es eine Sortierung nach „aus- und inländischen Zigeunern“. Die Behandlung der „ausländischen Zigeuner“ war vor allem von Verboten und restriktiven Maßnahmen gekennzeichnet. Die Hintergründe dieser Politik lagen darin, dass der deutsche Nationalstaat auf völkischer Grundlage ausgerichtet worden war. Seit der Reichsgründung gewannen nationalistische Bestrebungen immer mehr die Oberhand, was sich besonders in der Etablierung des ius sanguinis widerspiegelte. Das ius sanguinis („Recht des Blutes“) bezeichnete das Prinzip, nach dem ein Staat seine Staatsbürgerschaft an Kinder verleiht, deren Eltern oder mindestens ein Elternteil selbst Staatsbürger dieses Staates sind. Nationale oder ethnische Minderheiten standen im Widerspruch zu dieser völkischen Staatsauffassung. 1870 wurde bestimmten Gruppen das Recht zur Einreise sowie das Aufenthalts- und Arbeitsrecht eingeschränkt oder völlig verboten. Der spätere Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck ordnete im November 1870 an, gegen „ungarische Drahtbinder-, Kesselflicker- und Zigeuner-Banden mit aller Strenge“ vorzugehen.[78] In den folgenden Jahren traten in allen deutschen Bundesstaaten Ausnahmeregelungen in Kraft, die die Zuwanderung von „Zigeunern“ unterbinden sollten, die keine Staatsangehörigkeit eines deutschen Landes nachweisen konnten. Im Hinblick auf die Verfassung waren von diesen Maßnahmen diejenigen Sinti und Roma ausgenommen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen. Dabei wurde aber vielen Sinti und Roma aus vorgeschobenen Gründen die Staatsbürgerschaft verwehrt, obwohl sie schon teilweise seit Jahrhunderten in Deutschland lebten. Sie wurden dann zu „ausländischen Zigeunern“ erklärt und ausgewiesen. Bei politischen Entscheidungsträger_innen herrschte der Konsens vor, dass Sinti und Roma „wirtschaftlich gänzlich unnütze, polizeilich aber gefährliche Landstreicher“ seien.[79] Sie wurden in einem homogenisierenden Sinne als unerwünschte nationale Minderheit wahrgenommen, denen unabhängig vom Individuum unveränderliche Wesenszüge zugeschrieben wurden.
Durch den Bundesratsbeschluss vom 31.10.1883 wurde die Vergabe von Gewerbescheine an „ausländische Zigeuner“ verboten. Diese besaßen nur dann die Erlaubnis, sich im deutschen Reich aufzuhalten, wenn sie Geld und Reisepapiere nachweisen konnten. Im Jahre 1886 kam es zu einer Verschärfung der reichsweiten „Zigeunerpolitik“. In einem Erlass vom 30.4.1886, der sich gegen „inländische Zigeuner“ richtete, hieß es: „Was sodann diejenigen Zigeuner betrifft, welche im Reichsgebiet ihren dauernden Aufenthaltsort genommen haben und unter zeitweisem Verlassen ihres regelmäßigen Wohnsitzes gemeinschaftlich in größerer Zahl in Deutschland umherzustreifen pflegen, so wird es auch gegen diese eines verschärften Vorgehens und zwar in der Richtung bedürfen, daß durch Ergreifung der gegen jeden einzelnen zulässigen Maßregeln auf eine Auflösung derartiger die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdeten Banden und ferner darauf hingewiesen wird, daß dieselben sich einer seßhaften Lebensweise zuwenden.“[80] „Seßhaftmachung“ bedeutete eine rücksichtslose Assimilierungspolitik und den Versuch der Ausrottung der kulturellen Elemente, die von der Mehrheitskultur abwichen. Die Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt viele „inländische“ Sinti und Roma schon längst „sesshaft“ geworden sind, blieb unbeachtet. Gleichzeitig wurde vom Innenminister eine „kreisweite“ Zählung der „inländischen Zigeuner“ an. Am 1.7.1886 verfügte Bismarck, dass lediglich diejenigen Sinti und Roma als Angehörige des deutschen Reiches anerkannt würden, die die Staatsangehörigkeit eines deutschen Landes zweifelsfrei nachweisen konnten. Antiziganistische Topoi wie den Vorwurf des Nomadentums und der damit einhergehenden Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dienten als Legitimierung der kriminalpräventiven Kontrolle der „inländischen Zigeuner“. Verfassungsrechtlich waren diese Maßnahmen mehr als bedenklich, da die „inländischen“ Sinti und Roma damit einem Sonderrecht unterstanden, das sie wegen ihrer ethnischen Herkunft als Bürger zweiter Klasse behandelte. Im Widerspruch zum allgemeinen Gleichheitsgrundsatz in der Verfassung kann so von einen rassistisch motivierten Sonderrecht gesprochen werden. Im Jahre 1896 wurde das 1883 angeordnete Gewerbeverbot „ausländischer Zigeuner“ wiederholt, sie durften sich nicht im Reichsgebiet aufhalten.
Der Italiener Cesare Lombroso (1835-1909), Begründer der anthropologisch ausgerichteten Positiven Schule der Kriminologie, vertrat in seinem 1876 veröffentlichten Werk „L’umo delinquente“ die These, dass Kriminalität eine vererbte Minderwertigkeit wäre, die an äußeren Merkmalen festgemacht werden könne. Eine bestimmte Schädelform oder zusammengewachsene Augenbrauen würden auf fest verwurzelte Anlagen zum Verbrecher hindeuten, die auch durch das Erlernen sozialer Verhaltensweisen nicht überdeckt werden könnten.[81] Um seine These vom „geborenen Verbrecher“ (delinquente nato) zu beweisen, führte er in seinem Institut Messungen an zahlreichen Schädeln durch. In seinem Werk gibt es ein längeres Kapitel über einen vorgeblichen genetisch bedingten kriminellen Charakter der Roma. Sie waren für Lombroso „das lebende Beispiel einer ganzen Rasse von Verbrechern“.[82] Schon bald nach der Übersetzung von „L’umo delinquente“ ins Deutsche fanden Lombrosos kriminalbiologische Thesen auch hierzulande vor allem in juristischen Kreisen eine breite Akzeptanz.[83] Viele deutsche Kriminolog_innen setzten ein delinquentes Verhalten mit einer biologischen Minderwertigkeit gleich. Verdächtigungen und Vorverurteilungen aufgrund von biologischen Merkmalen fanden weite Verbreitung.
Die Konsequenz der Aneignung der kriminalbiologischen Lehren Lombrosos war die Gründung der Münchener „Zigeunerzentrale“ im Jahre 1899.[84] Da die Innenminister_innen der Länder eine Verschärfung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung anordneten, befürworteten Exekutivbeamt_innen eine systematische Erfassung der „Zigeuner“. Die Münchener „Zigeunerzentrale“ legte ein „Zigeuner-Register“ an, das sonst nur für Verbrecher_innen üblich war. So wurden Sinti und Roma gemessen, fotografiert und ihre Fingerabdrücke archiviert, ohne dass sie strafrechtlich in Erscheinung getreten waren oder verdächtigt wurden. Diese polizeiliche Erfassung ohne Verstöße gegen das Gesetz war eine rassistische Sonderbehandlung gegenüber Sinti und Roma. Die Mitarbeiter_innen der Münchener „Zigeunerzentrale“ traten in Kontakt zu Justiz-. Standes- und Pfarrämtern in Deutschland und im Ausland, um möglichst umfassende Daten für vollständige Erfassung der Sinti und Roma zu bekommen. In dem Zeitraum von 1899 bis 1905 wurden 3.350 Namen und Daten von „aus- und inländischen Zigeunern“ und „nach Zigeunerart umherziehenden Personen“ gesammelt. Diese Sammlung wurde 1905 als Buch für den polizeilichen Gebrauch veröffentlicht, das von Alfred Dillmann, dem Leiter der „Zigeunerzentrale“, herausgegeben wurde. Die Veröffentlichung des Buches wurde mit der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch Sinti und Roma gerechtfertigt. Viele der darin erwähnten Personen hatten jedoch keine verbrecherische Handlung begangen, d.h. Sinti und Roma wurden dort nur wegen ihrer Ethnie erfasst, was als Rassismus zu werten ist. Dieses Buch stellte in den nächsten Jahren ein wichtiges auch international eingesetztes Hilfsmittel bei der Fahndung nach „Zigeunern“ dar.
Der Rassismus gegen Sinti und Roma kam meistens aus der Mitte der Gesellschaft. In Zeitungen und Zeitschriften wurden die Topoi der Kriminalität, Faulheit, der Primitivität und des Nomadentums transportiert. In den Straßburger Neuesten Nachrichten wurden sie zum Beispiel als „Blutsauger des Landvolkes (…), die sich so rasend schnell vermehren wie der Sand am Meer“ beleidigt.[85] Bei Sitzungen des Deutschen Reichstages waren es vor allem Abgeordnete des Zentrums, die die Auseinandersetzung mit der „Zigeunerfrage“ auf die Tagesordnung brachten. Matthias Erzberger verlangte im Februar 1905, das „Zigeunerunwesen“ stärker zu bekämpfen. Am 1.12.1909 stellte der Zentrumsvorsitzende Freiherr von Hertling die Anfrage, den „Herrn Reichskanzler zu ersuchen, einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen das bandenweise Umherziehen der Zigeuner verboten wird.“ Ein Abgeordneter von der Wirtschaftlichen Vereinigung forderte am 18.3.1912, dass „Zigeuner“ Zwangsarbeit leisten sollten.[86]
Auf der „Zigeunerkonferenz“ 1911 in München wurde die Forderung erhoben, sie aus dem öffentlichen Leben systematisch auszugrenzen. Sie sollten von der Benutzung öffentlicher Plätze, Eisenbahnen und Bodenseeschiffe ausgeschlossen werden. Der Vertreter des Landes Elsaß-Lothringen befürwortete sogar die Deportation von „heimatlosen Zigeunern“ in deutsche Kolonien. Die Ausübung eines Wandergewerbes wurde für „inländische Zigeuner“ verboten, um ihre „Seßhaftmachung“ zu forcieren.
Während des 1. Weltkrieges wurde den Sinti und Roma Spionage vorgeworfen und den Wehrdienst durch Täuschung und Betrug umgehen zu wollen. Das alte antiziganistische Topos der Auskundschaftung für den Feind wurde dabei wiederbelebt. Schon im 15. Jahrhundert wurde ihnen vorgeworfen, Spione der Türk_innen zu sein. Beamt_innen sprachen sich für ein Verbot des „Umherziehens“ der „Zigeuner“ aus; es sollte auch verhindert werden, dass sie sich in der Nähe von militärischen Stützpunkten aufhielten. Viele „inländische Zigeuner“ wurden zum Kriegsdienst eingezogen und kämpften für das Deutsche Reich. Ein Beschluss vom 17.1.1917 sah vor, dass alle „ausländischen Zigeuner“ aus gegnerischen Ländern in Zivilgefangenenlagern untergebracht werden, wo sie Zwangsarbeit leisten sollten. 1918 wurden in Bayern „umherziehende inländische Zigeuner“ in spezielle Lager gebracht, um dort einem Arbeitszwang unterworfen zu werden.
Die Politik in der Weimarer Republik gegenüber Sinti und Roma knüpfte in wesentlichen Punkten an die rassistische Sonderbehandlung des Kaiserreiches an. Im Jahre 1926 wurde das bayerische „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“ verabschiedet. Dieses Gesetz besagte, dass Sinti und Roma, die keiner regelmäßigen Arbeit nachgingen, für die Dauer von zwei Jahren in einer „Arbeitsanstalt“ untergebracht werden konnten.
Die schon im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik rassistisch motivierte Ausgrenzungspolitik gegenüber Sinti und Roma erlangte im Kontext der rassenideologischen Konzeption der Nationalsozialist_innen eine neue Dimension. Ihre Verfolgung aus rassistischen Gründen begann mit der Machtübernahme der NSDAP Anfang 1933 und war ein Bestandteil der allgemeinen Rassenpolitik des nationalsozialistischen Systems.[87] Romani Rose stellt zu Recht fest: „Letztlich zielten alle gegen Sinti und Roma gerichteten Verordnungen darauf ab, die gesamte Volksgruppe ebenso wie die jüdische Bevölkerung von der deutschen Gesellschaft ‚abzusondern‘ und die ‚Endlösung‘ propagandistisch und organisatorisch vorzubereiten.“[88] Den Nationalsozialist_innen war der Umstand bekannt, dass die Vorfahren der Sinti und Roma ursprünglich aus Indien stammten und das Romanes zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehörte. Die folgerichtige Schlussfolgerung, dass sie deshalb gemäß der rassenideologischen Vorstellungen der Nationalsozialisten als „Arier“ anzusehen seien und zur „Rassenelite“ gehören müssten, wurde unter den Teppich gekehrt.
Das „Berufsbeamtengesetz“ vom 7.4. 1933 betraf vor allem Jüd_innen sowie Sinti und Roma. Darin wurde festgelegt, dass Beamt_innen „nichtarischer Abstammung“ in den (vorzeitigen) Ruhestand zu versetzen seien.[89] Das im Juli 1933 verabschiedete „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde dazu benutzt, Sinti und Roma zwangsweise zu sterilisieren. Erklärungen der „freiwilligen Sterilisation“ wurden von den Betroffenen nur deshalb unterschrieben, weil sie von den Behörden durch Androhung schärferer Maßnahmen unter Druck gesetzt wurden. Seit 1934 wurden Sinti und Roma aus Berufsorganisationen ausgeschlossen, wenn sie keinen „Ariernachweis“ erbringen konnten. Damit verloren die meisten der erwerbsfähigen Arbeiter_innen oder Angestellte ihre materielle Existenzgrundlage. Arbeitsämter verhinderten systematisch, dass jugendliche Sinti und Roma nach ihrem Schulabschluss eine Lehre beginnen konnten. Im Herbst 1935 begann die „Reichstheaterkammer“ damit, „Nichtarier“ und somit auch Sinti und Roma auszuschließen. Im Winter 1937/1938 kam es zum systematischen Ausschluss von „Zigeunern“ aus der „Reichsmusikkammer“.[90] Der nationalsozialistische Staat erließ zahlreiche rassistische Sonderbestimmungen, die Sinti und Roma in ihrem Alltag immer weiter einschränkten und von der übrigen Bevölkerung absonderten.[91] Entweder wurden Kinder ganz vom Schulunterricht ausgeschlossen oder getrennt von ihren Altersgenossen in „Zigeunerklassen“ gesteckt. Letztere Variante wurde unter anderem in Köln und Gelsenkirchen praktiziert. Vermieter wurden von Behörden unter Druck gesetzt, keine Sinti und Roma als Mieter_innen mehr zuzulassen oder bereits bestehende Verträge zu annullieren. Die Benutzung von Straßenbahnen oder Zügen wurde ihnen verboten; Krankenhäuser wurden dazu angehalten, keine Sinti und Roma mehr zu behandeln. In einigen Städten durften Angehörige der Minderheit lediglich zu festlegten Zeiten in manchen ausgewählten Geschäften einkaufen. Der Besuch von Lokalen, Kinos oder Theatern wurden ihnen in vielen Städten und Gemeinden verboten. Der Aufenthalt auf öffentlichen Plätzen wurde ihnen in manchen Städten untersagt. In Minden zum Beispiel stellte die dortige Stadtverwaltung Schilder mit der Aufschrift „Zigeunern und Zigeunermischlingen ist das Betreten des Spielplatzes verboten.“ auf.
Auf dem siebten „Reichsparteitag“, der vom 10.9- 16.9.1935 in Nürnberg stattfand, ging es vor allem um die Verabschiedung des „Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ sowie das „Reichsbürgergesetz“.[92] Das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verbot die Eheschließung sowie den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Jüd_innen und Nichtjüd_innen. Verstöße gegen dieses Gesetz wurden als „Rassenschande“ bezeichnet und mit Gefängnis oder Zuchthaus bestraft. Im „Reichsbürgergesetz“ wurde festgelegt, dass nur „Staatsangehörige deutschen und artverwandten Blutes“ als „Reichsbürger“ anerkannt werden.[93] In der Folgezeit durften sowohl Jüd_innen als auch Sinti und Roma nicht an Wahlen teilnehmen. Am 7.12.1935 ordnete Reichsinnenminister Frick an, dass „in allen Fällen, in denen strafbare Handlungen von Juden begangen sind, dies auch besonders zum Ausdruck zu bringen“, was besonders Presseorgane, Funk und Fernsehen betraf. Diese Propaganda richtete sich auch gegen Sinti und Roma und lieferte den Vorwand für die staatlichen Verfolgungsmaßnahmen sowie letztlich auch die Endlösung. Ein Beispiel für diese antiziganistische Agitation ist der Esslinger Zeitung vom 24.9.1937 zu entnehmen, wo es hieß: „Es gibt eine Zigeunerfrage in Deutschland und es ist an der Zeit, daß diese Frage gelöst wird. Diese Feststellung trifft im öffentlichen Gesundheitsdienst Dr. Rotenberg, der Leiter der Abteilung für Erb- und Rassenpflege im Reichsausschuß für Volksgesundheit. Bei den Zigeunern handele es sich im einen biologischen Fremdkörper, auf dessen zerstörerischen Einfluß unser Blut- und rassemäßig harmonisch gestalteter Volkskörper zwangsläufig mit Entartung antworten müsse. (…) Er lebt, so fährt er fort, unter uns außer dem Juden noch ein anderes fremdrassiges Volk, das in seiner anlagebedingten Verhaltensweise eine soziologische und biologische Gefahr bedeutet, die nicht unterschätzt werden darf und die jedenfalls in rassenbiologischer Hinsicht nicht geringer einzuschätzen ist als die Gefahr, die uns durch die Vermischung von Juden drohte.“[94]
Am 6.6.1936 rief der Reichsinnenminister den „Erlaß zur Bekämpfung der Zigeunerplage“ ins Leben, der die einzelnen bisher geltenden „Zigeunergesetze“ der Länder zusammenfasste.[95] Dies bedeutete, dass alle deutschen Sinti und Roma einem Sonderrecht unterstellt wurden. Ab dem Jahre 1937 begann der Ausschluss der Sinti und Roma aus der Wehrmacht. Der im Dezember 1937 verabschiedete „Asozialenerlaß“ gab der Polizei ausdrücklich die Berechtigung, Sinti und Roma in Konzentrationslager einzuweisen.[96]
Eine Reihe von Städten trieb die Ausgrenzung von Sinti und Roma eigenmächtig voran und errichtete kommunale Lager meist am Stadtrand, wo „Zigeuner“ zwangsweise zusammengepfercht wie Vieh leben mussten.[97] Seit Mitte des Jahres 1935 begann die Stadt Köln damit, Sinti und Roma in einem umzäunten und bewachten Lager am Stadtrand zwangsumzusiedeln. Angelehnt an das „Vorbild“ Köln wurden 1936 in Berlin, Frankfurt/Main und Magdeburg und ein Jahr später in Düsseldorf, Essen, Kassel und Wiesbaden spezielle „Zigeunerlager“ errichtet. Brucker-Boroujerdi und Wippermann stellten zu Recht fest: „Die in der NS-Zeit errichteten ‚Zigeunerlager‘ dienten der Konzentration und Freiheitsberaubung, der Selektion nach rassenideologischen Kriterien, der Ausbeutung durch Zwangsarbeit und der unmittelbaren Vorbereitung der Deportation von Sinti und Roma.“[98] Bei der Zwangsarbeit wurden Sinti und Roma, darunter auch Frauen und Kinder, im Hoch- und Tiefbau, in Land- und Forstwirtschaft, in Rüstungsbetrieben oder in der Straßenausbesserung beschäftigt.
Vor der Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 wurde extra für die in Berlin lebenden Sinti und Roma ein Zwangslager errichtet. Berlin wollte sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit von seiner besten Seite präsentieren; Sinti und Roma wurden in diesem Zusammenhang als „störend“ empfunden. Ohne sich auf Gesetze oder staatliche Verordnungen berufen zu können, entstand so das „Zigeunerlager“ Berlin-Marzahn. Am 16.6.1936 wurden die ersten Berliner Sinti und Roma ohne Angabe von Gründen von der Polizei verhaftet und in das Lager eingewiesen.[99] Da die dort bereitgestellten Baracken und Bauwagen nicht mehr ausreichten, da sich das Lager immer mehr füllte, waren viele Sinti und Roma gezwungen, im Freien zu schlafen. In der Folgezeit verschlechterten sich die hygienischen Bedingungen immer mehr. Das Lager war ständig bewacht; nur zur Zwangsarbeit in Berliner Fabriken und im Straßenbau durfte es verlassen werden. Alle Lagerinsass_innen bekamen „Zigeunerpässe“, in denen ein großes Z als rassistisches Erkennungsmerkmal gestempelt war. Zutritt zum Lager hatten nur Mitarbeiter_innen der protestantischen „Zigeunermission“ und Angehörige der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ aus Berlin-Dahlem.
Die Rassenhygienische Forschungsstelle (RHS) beim Reichsgesundheitsamt spielte eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung, Planung und Durchführung der Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma im „Dritten Reich“.[100] Adolf Würth, Mitglied der RHS, bemerkte zur Arbeit des Instituts: „Die rassenbiologische Zigeunerforschung ist die unbedingte Voraussetzung für eine endgültige rassenhygienische Lösung der Zigeunerfrage. Diese Lösung dient dem großen Ziel, das Blut des deutschen Volkes vor dem Eindringen fremdrassigen Erbgutes zu schützen und zu verhindern, daß die weitverbreitete und gefährliche Mischlingspopulation sich immer stärker vermehrt.“[101]
Die RHS wurde finanziell durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt. Für ihren Leiter Robert Ritter waren Sinti und Roma „Schmarotzer“, die „ohne unsere Arbeit und unseren Fleiß und unsere Sittlichkeit in diesem Erdteil gar nicht leben könnten.“ Für ihn stellte sich „die Frage, ob wir die Zigeuner als sorglose, nomadisierende, nahrungssuchende Naturmenschen, als urtümliche Sammler und primitive Handwerker, die noch auf einer Kindheitsstufe der Menschheit stehen, oder ob sie insgesamt gewissermaßen nur eine mutativ entstandene entwicklungsunfähige Spielart der Gattung Mensch darstellen.“[102] Ritter sprach sich nachdrücklich für eine Einweisung von Sinti und Roma in Konzentrationslager aus: „Die Zigeunerfrage kann erst dann als gelöst betrachtet werden, wenn die Mehrzahl der asozialen und nutzlosen Zigeunermischlinge in großen Lagern zusammengefaßt und zur Arbeit angehalten wird, und die andauernde Fortpflanzung dieser Mischbevölkerung endgültig unterbunden ist. Erst dann werden die zukünftigen Generationen des Deutschen Volkes von dieser Bürde befreit sein.“[103]
Die Mitarbeiter_innen der RHF führten genealogische und anthropologische Untersuchungen an Sinti und Roma durch.[104] Diese Untersuchungen umfassten Vermessungen des Kopfes, der Ohren, der Hände, daktyloskopische Fragen, die Beschreibung des Körperbaus, der Haare und der Schambehaarung.[105] Neben diesen Untersuchungen wertete die RHF von staatlichen Behörden wie Polizei, Gesundheits- und Fürsorgeämter angeforderte Akten und Kirchenbücher aus.[106] Diese Informationen wurden im „Zigeunersippenarchiv“ im Reichsgesundheitsamt in Karteien zusammengefasst und zu „Sippentafeln“ kombiniert.[107] Fast alle der in Deutschland lebenden Sinti und Roma wurden erfasst und in die Kategorien „Vollzigeuner“, „Zigeuner-Mischling mit vorwiegend zigeunerischen Blutsanteil“, „Zigeuner-Mischling mit gleichem zigeunerischen und deutschen Blutsanteil“ sowie „Zigeuner-Mischling mit vorwiegend deutschem Blutsanteil“ kategorisiert. Die auf dieser Grundlage bis zum Ende des 2. Weltkrieges angefertigten 24.000 „Rassegutachten“ und Klassifikationskriterien waren eine entscheidende Grundlage für die Deportation von „Zigeunern“ und „Zigeunermischlingen“ in die Konzentrations- und Vernichtungslager.[108] Die RHS arbeitete mit „Forschungseinrichtungen“ wie dem Institut für Erb- und Rassenpflege der Universität Gießen unter der Ägide des „Asozialenforschers“ H.W. Kranz und dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin zusammen, die ebenfalls „Zigeunerforschung“ betrieben.[109]
Die Rassenhygienische Forschungsstelle (RHS) beim Reichsgesundheitsamt spielte eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung, Planung und Durchführung der Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma im „Dritten Reich“.[110] Adolf Würth, Mitglied der RHS, bemerkte zur Arbeit des Instituts: „Die rassenbiologische Zigeunerforschung ist die unbedingte Voraussetzung für eine endgültige rassenhygienische Lösung der Zigeunerfrage. Diese Lösung dient dem großen Ziel, das Blut des deutschen Volkes vor dem Eindringen fremdrassigen Erbgutes zu schützen und zu verhindern, daß die weitverbreitete und gefährliche Mischlingspopulation sich immer stärker vermehrt.“[111]
Die RHS wurde finanziell durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt. Für ihren Leiter Robert Ritter waren Sinti und Roma „Schmarotzer“, die „ohne unsere Arbeit und unseren Fleiß und unsere Sittlichkeit in diesem Erdteil gar nicht leben könnten.“ Für ihn stellte sich „die Frage, ob wir die Zigeuner als sorglose, nomadisierende, nahrungssuchende Naturmenschen, als urtümliche Sammler und primitive Handwerker, die noch auf einer Kindheitsstufe der Menschheit stehen, oder ob sie insgesamt gewissermaßen nur eine mutativ entstandene entwicklungsunfähige Spielart der Gattung Mensch darstellen.“[112] Ritter sprach sich nachdrücklich für eine Einweisung von Sinti und Roma in Konzentrationslager aus: „Die Zigeunerfrage kann erst dann als gelöst betrachtet werden, wenn die Mehrzahl der asozialen und nutzlosen Zigeunermischlinge in großen Lagern zusammengefaßt und zur Arbeit angehalten wird, und die andauernde Fortpflanzung dieser Mischbevölkerung endgültig unterbunden ist. Erst dann werden die zukünftigen Generationen des Deutschen Volkes von dieser Bürde befreit sein.“[113]
Die Mitarbeiter_innen der RHF führten genealogische und anthropologische Untersuchungen an Sinti und Roma durch.[114] Diese Untersuchungen umfassten Vermessungen des Kopfes, der Ohren, der Hände, daktyloskopische Fragen, die Beschreibung des Körperbaus, der Haare und der Schambehaarung.[115] Neben diesen Untersuchungen wertete die RHF von staatlichen Behörden wie Polizei, Gesundheits- und Fürsorgeämter angeforderte Akten und Kirchenbücher aus.[116] Diese Informationen wurden im „Zigeunersippenarchiv“ im Reichsgesundheitsamt in Karteien zusammengefasst und zu „Sippentafeln“ kombiniert.[117] Fast alle der in Deutschland lebenden Sinti und Roma wurden erfasst und in die Kategorien „Vollzigeuner“, „Zigeuner-Mischling mit vorwiegend zigeunerischen Blutsanteil“, „Zigeuner-Mischling mit gleichem zigeunerischen und deutschen Blutsanteil“ sowie „Zigeuner-Mischling mit vorwiegend deutschem Blutsanteil“ kategorisiert. Die auf dieser Grundlage bis zum Ende des 2. Weltkrieges angefertigten 24.000 „Rassegutachten“ und Klassifikationskriterien waren eine entscheidende Grundlage für die Deportation von „Zigeunern“ und „Zigeunermischlingen“ in die Konzentrations- und Vernichtungslager.[118] Die RHS arbeitete mit „Forschungseinrichtungen“ wie dem Institut für Erb- und Rassenpflege der Universität Gießen unter der Ägide des „Asozialenforschers“ H.W. Kranz und dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin zusammen, die ebenfalls „Zigeunerforschung“ betrieben.[119]
In den vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Gebieten in Osteuropa wurden zehntausende Roma Opfer rassistisch motivierter Morde.[120] Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS (SD) bekamen die Order, direkt hinter der Front alle „rassisch und politisch unerwünschten Elemente“ umzubringen. Diese Spezialeinheiten wurden jeder der vier Heeresgruppen der Wehrmacht und der Ordnungspolizei zugeordnet. Zwischen Juli 1941 und April 1942 töteten die Spezialeinheiten ca. 560.000 Menschen. Auch Einheiten der Wehrmacht und der Ordnungspolizei waren an Massenexekutionen beteiligt.
Ein geographischer Schwerpunkt der Massenmorde an Roma waren die besetzten Gebiete Jugoslawiens. Im deutsch besetzten Serbien kam es zu systematischen Morden an Roma oder an als solche identifizierten Personen, woran Einheiten der Wehrmacht maßgeblich beteiligt waren. Roma waren für die deutschen Besatzer „rassisch minderwertige“, „asoziale“ „Spione“ des „jüdisch-bolschewistischen“ Feindes.[121] Die deutsche Verwaltung registrierte alle Roma und verordnete, dass diese als „Zigeuner“ gelbe Armbinden zu tragen haben. Die Wehrmacht nahm im Herbst 1941 Jüd_innen und männliche Roma gefangen und ließ sie aus „Rache“ für gefallene deutsche Soldaten erschießen.[122] Der Leiter des Verwaltungsstabes der Militärverwaltung in Serbien, Harald Turner, meldete am 26.8.1942: „Im Interesse der Befriedung wurde durch deutsche Verwaltung (…) die Judenfrage ebenso wie die Zigeunerfrage völlig liquidiert (Serbien einziges Land, in dem Juden- und Zigeunerfrage gelöst)“.[123] Dies wurde damit begründet, dass Jüd_innen und „Zigeuner“ ein „Element der Unsicherheit und damit der Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ darstellen würden.[124] Der „Zigeuner“ könne „auf Grund seiner inneren und äußeren Konstitution kein brauchbares Mitglied der Volksgemeinschaft“ sein. Tausende Roma wurden als „Agenten des Widerstandes“ standrechtlich exekutiert. Hauptsächlich Frauen und Kinder wurden im Konzentrationslager Zemun von der SS vergast.
Als Hitler im April 1941 einen Teil des besetzten Jugoslawiens in einen kroatischen Satellitenstaat aufgehen ließ, übernahm dort die Ustascha, eine faschistische kroatische Organisation, die Macht. Innerhalb ihrer vierjährigen Herrschaft gab es eine systematische Ausrottungspolitik gegenüber Roma, Serb_innen und Jüd_innen.[125] Im Konzentrationslager Jasenovac waren bis zu 24.000, Serb_innen und Jüd_innen interniert. Insgesamt kamen die meisten der 28.000 kroatischen Roma durch die Völkermordpolitik der Ustascha ums Leben. In Rumänien starben ca. 36.000 Roma unter dem faschistischen Regime Antonescus; eine systematische Völkermordpolitik gegen Roma gab es auch in Bulgarien, Bosnien und der Slowakei.
Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion vom 22.6.1941 wurden vor allem Roma und Jüd_innen Opfer der Völkermordpolitik der Sicherheitspolizei und des SD. Die Morde besaßen dann systematischen Charakter, wenn diese Einheiten längere Zeit in einem Gebiet blieben und auf die direkte und indirekte Hilfe der Ordnungspolizei sowie der zivilen Besatzungsverwaltung rechnen konnten.[126] Die Tötung von Roma begründete die 339. Infantrie-Division im Herbst 1941 mit der Verschlechterung der „Verpflegungslage“, weshalb alle „Schädlinge und unnütze Esser auszumerzen“ seien.[127] Angehörige der Wehrmacht übergaben Roma in der Regel an die Einsatzgruppen. Es lassen sich zahlreiche solcher Fälle wie den folgenden, wo Wehrmachtseinheiten selbst Roma ermordeten, nachweisen. Im Bereich der 281. Sicherungsdivision im Heeresgebiet Nord ließ die Ortskommendantur Noworshew im Mai 1942 128 Roma exekutieren. Dies wurde damit begründet, dass Roma „keiner geregelten Arbeit nachgehen“ und ihren Lebensunterhalt „durch Betteln von Ort zu Ort“ bestreiten würden.[128]
Im Jahre 1938 spitzte sich die Situation für die im „Dritten Reich“ lebenden Sinti und Roma zu. In der Zeitschrift des Nationalsozialistischen Ärztebundes forderte Karl Hannemann: „Ratten, Wanzen und Flöhe sind auch Naturerscheinungen, ebenso wie die Juden und Zigeuner. (…) Alles Leben ist Kampf. Wir müssen deshalb alle diese Schädlinge allmählich ausmerzen.“[129] Adolf Würth, Mitarbeiter der RHF, bemerkte im August: „Die Zigeunerfrage ist für uns heute in erster Linie eine Rassenfrage. So wie der nationalsozialistische Staat die Judenfrage gelöst hat, so wird er auch die Zigeunerfrage grundsätzlich regeln müssen.“[130] Die bislang in München beheimatete „Zigeunerpolizeistelle“ wurde im Oktober 1938 nach Berlin verlegt. Dort wurde sie unter dem neuen Namen „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ zunächst dem „Reichskriminalpolizeiamt“ unterstellt. 1939 wurde sie dann dem Amt V des „Reichssicherheitshauptamtes" eingegliedert. Himmler ordnete am 8.12.1938 in einem Dekret an, „die Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse hinaus in Angriff zu nehmen.[131] Alle Sinti und Roma ab dem 6. Lebensjahr sollten erkennungsdienstlich behandelt und nach „rassenbiologischen“ Gesichtspunkten begutachten werden. Diese Aufgabe wurde der RHF übertragen. Aufgrund einer Verordnung zur besonderen Kennzeichnung von Sinti und Roma wurden ihnen ab März 1939 besondere „Rasseausweise“ ausgehändigt und ihre alten Ausweise abgenommen. Adolf Eichmann, der ab 1939 die „Endlösung der Judenfrage“ organisierte, plante ebenfalls die Deportationen der Sinti und Roma in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Eichmann und seine Helfershelfer arbeiteten dabei eng mit der RHS zusammen. Am 21.9.1939 wurde entschieden, dass alle im „Großdeutschen Reich“ lebenden Sinti und Roma in das „Generalgouvernement Polen“ gebracht werden sollten. Der kurz darauf folgende „Festschreibungserlass“ Himmlers besagte, dass Sinti und Roma ihre Heimatorte nicht verlassen dürften. Im Fall der Übertretung dieses Erlasses wurde mit Haft in einem Konzentrationslager gedroht.[132] Am 30.1.1940 wurde bei einem Treffen von Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), mit hohen SS-Führern die Deportation aller „Juden der neuen Ostgaue und 30.000 Zigeunern aus dem Reichsgebiet und der Ostmark als letzte Massenbewegung in das Generalgouvernement“ beschlossen.[133] Nachdem Himmler am 27.4.1940 die erste Deportation von Sinti und Roma aus dem westlichen und nordwestlichen Teilen des „Dritten Reiches“ in das neu entstandene „Generalgouvernement Polen“ angeordnet hatte, wurden ab Mai 1940 ca. 2.500 „Zigeuner“ per Bahn dorthin deportiert. Dies war der Auftakt für die geplante Zwangsumsiedlung aller Sinti und Roma sowie der Jüd_innen in das „Generalgouvernement Polen“ und anderen besetzten Gebiete im Osten. Das Vermögen der deportierten Sinti und Roma wurde vom nationalsozialistischen Staat eingezogen, was dazu führte, dass die wenigen Überlebenden nach Ende des 2. Weltkrieges völlig mittellos waren.[134] Im „Generalgouvernement Polen“ mussten die deportierten Sinti und Roma in Ghettos Zwangsarbeit leisten. Personen, die infolge der menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen erkrankten oder nicht mehr arbeiten konnten, wurden rücksichtslos erschossen. Vor allem ab 1942 wurden Sinti und Roma systematisch von der SS getötet. Ein überlebender Augenzeuge des Lagers Treblinka berichtete: „Nach ein paar Stunden traf die SS ein, trennte die Männer von den Frauen und Kindern. (…) In die Grube trieb man jeweils 100 Personen, auf die sie aus Maschinenpistolen feuerten. Die noch am Leben gebliebenen Zigeuner waren gezwungen, die Erschossenen, oft nur Verwundeten, einzuscharren, wonach man sie selber in den Graben stieß und erneutes Maschinengewehrgeknatter einem weiteren Hundert Menschen das Leben nahm. Die Ermordeten wurden mit einer dünnen Schicht Erde zugeschüttet. (…) In Gegenwart ihrer Mütter ergriffen sie die Säuglinge und töteten sie, indem sie sie mit dem Kopf gegen einen Baum schlugen. Mit Peitschen und Stöcken prügelten sie auf die Frauen ein, die wie rasend waren von dem Anblick. Sie warfen sich auf die Soldaten, zerrten an ihnen, um ihnen die Säuglinge zu entreißen, die man ihnen fortgenommen hatte. Dieser Szene setzten erst die dichten Salven der SS und der Soldaten ein Ende, die die Menge umzingelten. Die Leichen der Frauen und Kinder räumten herbeigerufene Häftlinge weg, die sie in die zuvor vorbereiteten Gruben im Wald trugen.“[135]
Sinti und Roma arbeiteten beim Flugzeug- und Straßenbau, in Munitionsfabriken und beim Bau von Konzentrationslagern. Dabei trugen sie Armbinden mit einem blauen „Z“ für „Zigeuner“. Wegen des Arbeitskräftemangels in der deutschen Kriegs- und Rüstungsindustrie wurde verstärkt auch auf Häftlinge in den Konzentrationslagern zurückgegriffen. Sinti und Roma mussten sowohl für SS-eigene Betrieben als auch für private Rüstungsbetriebe Zwangsarbeit leisten. Darunter waren Unternehmen wie Daimler-Benz, BMW, VW, Siemens, Henkel, AEG oder Krupp, die noch heute die Auseinandersetzung mit diesem dunklen Kapitel ihrer Firmengeschichte scheuen.[136]
Am 16.12.1942 gab Himmler den Befehl, dass ca. 23.000 Sinti und Roma aus ganz Europa, davon über 10.000 aus dem damaligen Reichsgebiet, familienweise in den als „Zigeunerlager“ bezeichneten Abschnitt des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, das auf Weisung Himmlers im Abschnitt B II errichtet worden war, deportiert werden sollten.[137] Dieses „Zigeunerlager“ wurde zum Zentrum des staatlich organisierten Völkermordes an Europas größter Minderheit.[138] Fast 90% der dortigen Insassen kamen durch die unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen, den Terror der Aufseher_innen oder in den Gaskammern ums Leben. Ab März 1943 wurden die über 10.000 Sinti und Roma aus dem damaligen Reichsgebiet nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Den Insass_innen des Lagers wurden eine Nummer und ein großes „Z“ als „Erkennungszeichen“ auf den Arm tätowiert. Die als „arbeitsfähig“ eingestuften Sinti und Roma wurden zur Zwangsarbeit herangezogen.[139] Dazu gehörten Erd- und Bauarbeiten wie das Ausheben von Entwässerungsgräben und Gleisverlegungsarbeiten zu den Krematorien. In einem Interview mit einem Zeitzeugen hieß es: „Bald nach der Ankunft wurde ich eingeteilt zur Zwangsarbeit im Kommando Kanalbau in Birkenau, das nur aus Sinti und Roma bestand. (…) Mit großen Stöcken wurden die abgemagerten Häftlinge bis zur völligen Erschöpfung vorangetrieben; jeden Tag mußten wir Tote heimtragen. Später mußte ich auch mithelfen, die Toten aus dem Krematorium herauszutragen. Ich habe dort die großen Fässer gesehen, die mit Goldzähnen, Frauenhaaren, Brillen usw. gefüllt waren – wer es nicht selbst miterlebt hat, kann es sich nicht vorstellen. Die Lagerstraße von Birkenau war übersät mit Toten. Nachts, wenn alles gefroren war, wurden die steifgefrorenen Leichen auf Lastwagen geworfen und weggefahren.“[140] Medizinische Experimente an Sinti und Roma waren ebenfalls in Auschwitz an der Tagesordnung. Typhus-, Senfgas- und Kälteschockversuche, Experimente zur Sterilisation und Kastration mit Röntgenstrahlen und Pflanzengift und Meerwasserversuche führten zu unvorstellbaren Qualen für die Opfer, die meist mit dem Tode endeten. Josef Mengele, der 1943 SS-Lagerarzt in Auschwitz wurde, benutzte für seine „Zwillingsforschung“ Juden- und Sintikinder. Auch in anderen Konzentrationslagern wurden medizinische Versuche an Sinti und Roma durchgeführt. Im KZ Ravensbrück führte Prof. Dr. Clauberg Experimente an Sinti und Roma zur Sterilisation durch.
Als am 16.5.1944 die SS versuchte, alle Häftlinge des „Zigeunerlagers“ in Auschwitz-Birkenau in Gaskammern zu ermorden, scheiterte dies am bewaffneten Widerstand der Insass_innen.[141] Kurz darauf schickte die SS alle „arbeitsfähigen“ Insass_innen als Zwangsarbeiter_innen in die Konzentrationslager Buchenwald, Mittelbau-Dora, Flossenbrück und Ravensburg. Die noch im Lager verbliebenen Sinti und Roma, darunter vor allem Greise, Frauen und Kinder, wurden in der Nacht auf den 3.8.1944 in den Gaskammern ermordet. Von den ca. 23.000 Sinti und Roma, die von den Nationalsozialisten ins „Zigeunerlager“ deportiert wurden, kamen insgesamt mehr als 18.000 ums Leben.[142] Die Zahl der in Europa bis zum Ende des 2. Weltkrieges getöteten Sinti und Roma wird auf eine halbe Million geschätzt. 25.000 der von den Nationalsozialisten erfassten 40.000 deutschen und österreichischen Sinti und Roma wurden ermordet.
Der Antiziganismus und die dazugehörigen Ressentiments lebten nach 1945 in der Gesellschaft und in den Behörden weiter und dienten zur Rechtfertigung weiterer Ausgrenzung der überlebenden Sinti und Roma. Die Überlebenden des Völkermordes waren von den Qualen des Lagerlebens traumatisiert und standen mittellos da. Fast alle Überlebenden hatten einen Großteil ihrer Angehörigen verloren. [143] Zahlreiche Sinti und Roma kamen zuerst in Lagern für Displaced Persons oder mussten in denjenigen städtischen Lagern wohnen, aus denen sie deportiert wurden. In der alten Heimat hofften sie auf eine bessere Zukunft, wurden dort aber wieder mit offener Ablehnung und alten Feindbildern konfrontiert. Die Städte und Kommunen sträubten sich gegen eine Rückkehr und Integration der überlebenden Sinti und Roma; in großen Teilen der Bevölkerung sah es nicht anders aus.[144] Das behördliche System der Verfolgung lebte wieder auf: Am 26.1.1946 verkündete die Kriminalpolizei in Hannover, dass die in der Region lebenden Sinti und Roma gemeinsam mit „asozialen“ und „arbeitsscheuen Elementen“ die auf dem Lande „herrschende Unsicherheit in steigendem Maße“ verstärken würden.[145] Im Juni 1946 verfügte der Alliierte Kontrollrat, dass Sinti und Roma unter dem Schutz der Militärregierung stünden und keinerlei besonderen Kontrollmaßnahmen unterworfen werden dürften. Diese Schutzmaßnahme wurde jedoch in der Praxis oft unterlaufen.
Viele deutsche Sinti und Roma bekamen nach 1945 ihren deutschen Pass nicht zurück, da sie als Überlebende keinerlei Papiere besaßen. Sie wurden dann für staatenlos erklärt. Auch wurden Sinti und Roma, die zur Zeit der Deportation einen deutschen Pass besaßen und nach 1945 diesen wieder bekamen, die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen, was laut Artikel 16 Absatz 1 des Grundgesetzes verboten war. Das vom NS-Regime geraubte Vermögen wurde nur in wenigen Fällen zurückerstattet.[146] Wegen der gesundheitlichen und psychologischen Folgen der Lagerzeit konnten viele der Überlebenden keine Arbeit mehr annehmen. Diejenigen, die dazu noch in der Lage waren, waren nach dem NS-Schulverbot ohne Abschluss und Ausbildung chancenlos auf dem Arbeitsmarkt.
Die Organisator_innen und Vollstrecker_innen des Genozids an den Sinti und Roma kamen meist ungestraft davon und bekamen nach 1945 wieder gesellschaftlich anerkannte Positionen. Einige der NS-Täter_innen wurden sehr spät vor Gericht gestellt und zur Rechenschaft gezogen. Ernst-August König, SS-Blockführer im „Zigeunerlager“ von Auschwitz, wurde in einem langwierigen Prozess von Mai 1987 bis Januar 1991 für drei Morde zu lebenslänglicher Haft verurteil. König beging in seiner Zelle wenig später Selbstmord. Franz Langmüller, Kommandant des österreichischen Lagers Lackenbach, erhielt wegen Folter und Mord jedoch nur ein Jahr Gefängnis.
Gegen zahlreiche Polizeibeamt_innen und Mitarbeiter_innen von Ritters Forschungsstelle wurde zwar pro forma ermittelt, es kam jedoch zu keiner Anklage. Aufgrund von zahlreichen Interventionen überlebender Sinti und Roma leitete die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main im Oktober 1948 gegen Ritter selbst eine Untersuchung ein. Nach zwei Jahren wurde diese abgeschlossen, da angeblich die Beweise für eine Anklage nicht ausreichten, was ein Schlag ins Gesicht der Opfer darstellte.
Ritter leitete bis zu seinem Tod 1951 die Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke in Frankfurt/Main. Seine ehemalige Mitarbeiterin Eva Justin war bis zu ihrem Tode 1966 als Psychologin im Gesundheits- und Jugendamt ebenfalls in Frankfurt/Main tätig. Paul Werner, der für die Organisation der Mai-Deportationen verantwortlich war, bekleidete den Posten eines Ministerialbeamten in Baden-Württemberg. Joseph Eichberger, der im RSHA für die „Zigeunertransporte“ zuständig war, wurde zum Chef der „Landfahrerzentrale“ in München ernannt. Gerade die letzte Personalie wurde von Vertreter_innen der Sinti und Roma als gewollte Kontinuität verstanden, was das Vertrauen in die neue demokratische Ordnung erschütterte. In Tübingen arbeitete die ehemalige Mitarbeiterin Ritters, Sophie Erhardt, finanziert aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) an dem Projekt „Erforschung des Handleitensystems der Zigeuner“, wobei sie auch Originalquellen aus der von Ritter geleiteten Forschungsstelle aus dem „Dritten Reich“ verwendete.[147]
Das System der lückenlosen behördlichen Erfassung, Ausgrenzung und Diskriminierung bestand nach dem Ende des Nationalsozialismus weiter und wurde im Laufe der Jahre immer weiter ausgeweitet. Zahlreiche Beamt_innen der „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ waren auch weiterhin für die polizeiliche Verfolgung von Sinti und Roma zuständig. [148] Dies ging sogar so weit, dass frühere Beamt_innen, die die Organisation des Genozids mit zu verantworten hatten, als Gutachter für potentielle Entschädigungsfragen herangezogen wurden.
Die Verstrickung von ehemaligen Nationalsozialisten in der deutschen Politik der Nachkriegszeit wird erst jetzt nach und nach von wissenschaftlichen Stellen aufgearbeitet. Lange weigerten sich deutsche Institutionen wie die Bundeswehr, das Auswärtige Amt mit der Herausgabe von Quellen, die belegen würden, dass dort ehemalige Nazis Karriere machen konnten und dort ihre Gesinnung in praktische Politik ummünzen konnten.[149]
Nun wurde endlich die Geschichte des Bundesinnenministeriums (BMI) von renommierten Historikern erforscht, deren vorläufiger Abschlussbericht schockiert: Es gab dort von 1949 bis Anfang der siebziger Jahre mehr ehemalige Nationalsozialisten in Führungspositionen als in anderen Ministerien wie dem Auswärtigen Amt und dem Justizministerium, in denen es ebenfalls von ehemaligen Nazis wimmelte.
Dies belegt der Abschlussbericht einer Vorstudie von Historikern, der am 29. Oktober erschienen ist. Bundesinnenminister Thomas de Maizière hatte im Dezember 2014 eine Projektgruppe unter Leitung der Professoren Frank Bösch (ZZF Potsdam) und Andreas Wirsching (IfZ München-Berlin) beauftragt, die NS-Belastung im Innenministerium zu untersuchen und dies auch für die ehemalige DDR zu tun.
Das Bundesinnenministerium hatte eine solche Aufarbeitung länger als die meisten anderen Ministerien und Behörden blockiert. Das überrascht nicht, denn es gab etwas zu verbergen! Nach dem bisherigen Ergebnis waren unmittelbar nach Gründung des BMI im Jahr 1949 die Hälfte aller neu eingestellten Referenten, Abteilungs- und Unterabteilungsleiter ehemalige Mitglieder der Nazi-Partei. Dieser Prozentsatz stieg in den Jahren 1956 und 1961 sogar auf 66 Prozent. Dieser Spitzenwert wurde nur noch vom Bundeskriminalamt (BKA) übertroffen, das dem Innenministerium unterstellt ist. Dort betrug der Nazi-Anteil 75 Prozent.
Unter den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern befanden sich zahlreiche Angehörige der SA. Ihr Anteil stieg von anfänglichen 17 Prozent auf 45 Prozent im Jahr 1961 und ging danach auf 25 Prozent zurück. Das heißt, dass zu Beginn der sechziger Jahre fast die Hälfte aller führenden BMI-Beamten und Anfang der siebziger Jahre immer noch jeder Vierte früher in der paramilitärischen Sturmabteilung der Nazis aktiv gewesen war, deren mörderische Schlägerbanden Hitler mit zur Macht verholfen hatten.
Selbst ehemalige SS-Mitglieder waren im BMI keine Seltenheit. Anfang der siebziger Jahre betrug der Anteil ehemaliger Mitglieder von Hitlers Elitetruppe, die unter anderem die KZs betrieben hatte, 7 bis 8 Prozent.
Auch in der DDR wurden mehr NS-Mitglieder in Staatspositionen übernommen, als in offiziellen DDR-Statistiken angegeben. Mit 14 Prozent war ihr Anteil aber deutlich niedriger als die 66 Prozent in der Bundesrepublik. Zudem verweist die Studie darauf, dass in der DDR nur rund 7 Prozent frühere NSDAP-Mitglieder bei den bewaffneten Organen des Ministeriums des Innern (MdI) tätig waren. In den als „unpolitisch“ geltenden zivilen Bereichen, wie Wissenschaft und Kultur, waren es rund 20 Prozent.
Das Gründungspersonal des Bundesinnenministeriums wurde nach 1949 von Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) persönlich zusammengestellt.[150] Er beauftragte Erich Keßler, einst Oberscharführer der SA und noch 1945 Ministerialdirigent im Reichsministerium des Inneren, die „Grundsätze einer neuen Beamtenpolitik“ vorzubereiten sowie „eventuell in Frage kommende Kandidaten für leitende Positionen der Bundesverwaltung“ zu suchen.[151]
Kessler stand Hans Globke zur Seite, der ab 1953 Adenauers Kanzleramt leitete. Globke war bis 1945 Ministerialrat im Reichsinnenministerium gewesen und hatte an den berüchtigten „Nürnberger Rassegesetzen“ mitgewirkt. Als ihn die DDR deshalb verklagte, trat er 1963 zurück.
Der Kreis um Globke und Keßler, zu dem auch der ehemalige Organisator der Olympischen Spiele von 1936, Ritter von Lex, gehörte, war für eine „großzügige Einstellungspolitik“ verantwortlich (Abschlussbericht, S. 26). Die anfängliche Zurückhaltung, besonders belastete NS-Beamte in exponierte Ämter zu bringen, ließen Globke und Kessler schnell fallen. Von 44 leitenden Beamten des BMI waren 24 ehemalige NSDAP-Mitglieder. 15 Prozent hatten der SA und 7 Prozent der SS angehört.
Globke und Kessler nutzten dabei Netzwerke ehemaliger Nazis. Eines dieser Netzwerke kam offensichtlich aus Ostpreußen, insbesondere der Rechtsfakultät der Universität Königsberg. Eine ganze Riege von Staatssekretären und Referenten, die teilweise aus ostpreußischen Junkerfamilien stammten, besetzten Posten der Leitungsebene und der Zentralabteilung des BMI. Neben Ritter von Lex gehörten dazu Keßler selbst, Sklode von Perbandt, Botho Bauch und Reinhard Dullien.
Die vordergründige Rechtfertigung für diese Einstellungspraxis lautete, man brauche nach dem Krieg die „Expertise“ der NS-Funktionäre beim Aufbau einer Verwaltung.[152] Allerdings zeigte sich schnell, dass es um mehr ging: Der Kalte Krieg hatte begonnen, und in der Frontstellung gegen die DDR brauchten die Adenauer-Regierung und die Westalliierten die alten antikommunistischen Eliten der Nazi-Zeit. Auf sie stützten sich das Außenministerium in seinen Vorstößen zur Wiederbewaffnung und das Innenministerium bei der Unterdrückung der KPD und anderen linken Organisationen.[153]
Die Autoren verweisen in diesem Zusammenhang auf Adenauers „Memorandum über die Sicherung des Bundesgebietes nach innen und außen“ vom 29. August 1950 sowie auf seinen Regierungserlass über die „Politische Betätigung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes gegen die demokratische Staatsordnung“. Adenauer beschwor darin ein doppeltes Bedrohungsszenario: Die Bundesrepublik sei sowohl durch die kasernierte Volkspolizei der DDR bedroht wie durch die KPD, die angeblich auf eine revolutionäre Erhebung hinarbeite (S. 61).
Während der Regierungserlass die Mitgliedschaft in der KPD, die von den Nazis verfolgt worden war und deren Mitglieder vielfach Widerstand geleistet hatten, und ihren Vorfeldorganisationen als „schwere Pflichtverletzung“ bezeichnete, zählte die frühere Mitgliedschaft in der NSDAP nicht mehr als Einstellungshindernis oder Entlassungsgrund. Für solche Beamte galt das „traditionsverhaftete Bild eines unpolitischen Verwaltungsexpertentums“.
Federführend beim Entwurf des Adenauererlasses war ein gewisser Karl Behnke. Er war Experte auf diesem Gebiet. Er hatte bereits als Beamter im Dritten Reich an der Verdrängung von NS-Gegnern aus dem Staatsdienst mitgewirkt.
Parallel zum Adenauererlass wurden Bemühungen publik, mit Hilfe der amerikanischen Besatzungsbehörde Deutschland wieder militärisch zu bewaffnen. Bundesinnenminister Gustav Heinemann trat darauf im Oktober 1950 zurück.[154] Unter seinen Nachfolgern Robert Lehr und Gerhard Schröder (beide CDU) wuchs die Zahl NS-belasteter Mitarbeiter in der Führungsebene der Ministeriums. Schröder war selbst NSDAP-Mitglied gewesen. Schon 1957 initiierte er die Debatte über die Notstandsgesetze, die dann 1968 von einer Großen Koalition verabschiedet wurden.
Unter Schröders Regie wurden 15 von insgesamt 17 Posten in der Leitungsebene und der Zentralabteilung des BMI mit ehemaligen NSDAP- und SA-Mitgliedern besetzt. Wesentliche Bereiche wie die Innere Sicherheit, das Ausländerreferat und die Presseabteilung lagen damit in der Hand von Spitzenbeamten der faschistischen Diktatur.
Im Gegensatz zur öffentlichen Verurteilung der Shoa und des Antisemitismus gab es kurz nach 1945 keine staatliche Anerkennung des Völkermordes oder anderer Verbrechen. Zur Wiedergutmachungspraxis bemerkte Romani Rose zutreffend: „Die Wiedergutmachungspraxis wurde für Sinti und Roma zu einer Art zweiten Verfolgung beziehungsweise zu einer Neuauflage der nationalsozialistischen Rassenideologie und zu deren behördlicher Rechtfertigung.“[155](…) Nicht nur der rassistische Charakter der Verfolgungen und Morde wurde von Politik und Behörden geleugnet, sondern auch die davon verursachten Gesundheitsschäden. Diese wurden als „anlagenbedingt“ bezeichnet und jeder Zusammenhang mit den Praktiken im „Dritten Reich“ bestritten. Den von Zwangssterilisationen und darauf beruhenden Traumata betroffenen Personen wurde jeglicher Anspruch auf Entschädigung verweigert.[156] Die Kontinuität ihrer Verfolgung und die stigmatisierende Behandlung bei den jeweiligen Ämtern für Wiedergutmachung entmutigten viele Betroffene, die aus diesem Grund auf Entschädigungsanträge verzichteten.[157] Fast allen ausländischen Roma wurde der Anspruch auf Entschädigung verweigert. Dies wurde damit begründet, dass sie weder im Gebiet des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 gelebt hätten noch zum „deutschen Sprach- und Kulturkreis“ gezählt hätten.[158]
Auch nach den für jede(n) sichtbaren Erkenntnissen aus den Auschwitzprozessen wurde die rassistische Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma im „Dritten Reich“ weiter geleugnet. Das Landesamt für Wiedergutmachung in Baden-Württemberg teilte in einem Erlass mit, dass Sinti und Roma „überwiegend nicht aus rassischen Gründen, sondern wegen seiner asozialen und kriminellen Haltung verfolgt und inhaftiert“ worden seien.“[159]
Der Bundesgerichtshof urteilte 1956, dass erst ab dem März 1943 Sinti und Roma rassistischer Verfolgung ausgesetzt gewesen seien. Vorher seien sie als „Asoziale“, „Saboteure“ und „Kriminelle“ in die Konzentrationslager deportiert worden. Die Deportation wurde als „Umsiedlung“ angesehen, die keine Inanspruchnahme des §1 des Bundesentschädigungsgesetzes rechtfertigte. Somit wurden durch dieses Urteil auch mögliche Entschädigungszahlungen unmöglich gemacht. Dass die Richter_innen selbst nicht frei von antiziganistischen Stereotypen waren, zeigt folgender Auszug aus dem Urteilsspruch: „Die Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe zur Achtung von fremden Eigentum, weil ihnen wie primitive Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist.“[160] Wolfgang Wippermann kritisierte zu Recht die damalige Rechtsprechung: „Die zuständigen Richter nach 1945 hätten nämlich nur den grundlegenden Erlass Himmlers vom 8.12.1938 heranziehen müssen, um zu erkennen, dass die Nationalsozialisten in der Tat eine ‚Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse‘ heraus angestrebt hatten.“[161] In der Forschung wurde dieses Urteil vereinzelt kritisiert. Hans Buchheim verfasste 1958 ein Gutachten über die Deportation der Sinti und Roma im Mai 1940, wobei er von einer rassistisch motivierten Verfolgung ausging und somit dem Urteil des Bundesgerichtshofes nicht folgte.[162] Der Frankfurter Senatspräsident Franz Calvelli-Adorno kam zu einer ähnlichen Einschätzung.[163]
Das Oberlandesgericht München bestritt in einem Urteil vom 1.3.1961 erneut, dass die Verfolgung der Sinti und Roma nach dem Auschwitzerlass Himmlers „rassische“ Gründe hatte.[164] Stattdessen sei die Internierung in verschiedenen Lagern aufgrund von militärischen Sicherheitsaspekten erfolgt. Wenn „Zigeuner auch von Polizei, SS oder Wehrmachtsdienststellen festgenommen und für kürzere und längere Zeit in Gefängnissen oder geschlossenen Lagern festgehalten“ worden seien, so hätte dies nicht den Hintergrund, „um sie aus den Gründen der Rasse zu verfolgen, sondern weil sie ziel- und planlos umherzogen, sich über ihre Person nicht ausweisen konnten oder für Spione gehalten wurden.“[165]
Am 18.12.1963 revidierte der Bundesgerichtshof das Urteil von 1956 zum Teil. Es wurde davon ausgegangen, dass rassistische Motive für Maßnahmen, die seit dem Himmler-Erlass 1938 getroffen wurden, „mitursächlich“ für die Verfolgung gewesen seien.[166] Das Bundesentschädigungsschlussgesetz von 1965 beinhaltete, dass diejenigen, deren Anspruch auf Entschädigung nach dem Urteil des Bundesgerichtshofes von 1956 rechtskräftig abgelehnt wurde, einen Antrag innerhalb eines Jahres zur Wiederaufnahme des Verfahrens stellten konnten. Bis diese Revision in die Praxis umgesetzt wurde, hatten zahlreiche Betroffene die Antragsfristen überschritten, viele waren gestorben.
Ausgelöst durch die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma und deren öffentlichkeitswirksamen Aktion wie 1980 der Hungerstreik im KZ Dachau verabschiedete der Bundestag ein Jahr später eine außergesetzliche Regelung von bis zu 5.000 DM für bisher noch nicht entschädigte und noch lebende Opfer des NS-Regimes.
Jahrzehntelang spielte der Völkermord im nationalsozialistisch besetzten Europa und besonders in der BRD sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Forschung kaum eine Rolle. Die Arbeit über den Nürnberger Ärzteprozess und den medizinischen Experimenten an Sinti und Roma aus dem Jahre 1948 von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke blieb eine Ausnahme.[167] Auch die neuerlichen Aspekte, die Mitte der 1960er Jahre vom Ausschwitz-Prozess in Frankfurt offen gelegt wurden, dienten nicht als Anregung für die wissenschaftliche Forschung, den Völkermord an den Sinti und Roma in der NS-Zeit aufzuarbeiten.[168] In Handbüchern oder Monographien zur Geschichte der NS-Zeit wurde der Völkermord nur am Rande erwähnt, manchmal sogar gar nicht. Auch in Dauerausstellungen in den Mahn- und Gedenkstätten war die „NS-Vernichtungspolitik gegenüber den Sinti und Roma –sofern sie überhaupt Erwähnung fand – lediglich als Anhängsel zum Holocaust an den europäischen Juden.“[169] In Schulbüchern für den Geschichtsunterricht wurde der Völkermord bis in die 1980er Jahre nicht erwähnt. Die Situation der Sinti und Roma in der SBZ/DDR und deren Behandlung durch das SED-Regime bleibt weiterhin eine Forschungslücke.
Innerhalb der Polizei war eine personelle und strukturell-organisatorische Kontinuität zur NS-Zeit zu verzeichnen. Nur weniger der Täter_innen, die beim Reichssicherheitshauptamt (RSHA) beschäftigt gewesen waren, wurden zur Rechenschaft gezogen oder verurteilt. Im Gegenteil, viele von ihnen wurden ohne Prüfung sogar weiter beschäftigt. So konnte es kaum verwundern, dass in dieser Behörde der Umgang mit Sinti und Roma sich nicht wesentlich von dem im „Dritten Reich“ unterschied. Zwei Mitarbeiter der Frankfurter „Zigeunerzentrale“ forderten eine Deportation der Sinti und Roma nach Helgoland. Greußing schrieb: „Die von KOK Böttcher vertretene und von KK Thiele gutgeheißene These, man müsse alle Zigeuner lediglich mit einigen Weizenvorräten auf Helgoland zusammenbringen, erinnert an die Anfänge der NS-Zeit, als der Transport der Juden nach Madagaskar geplant wurde.“[170] Hans Bollée, Leiter einer Sonderkommission in Düsseldorf bemerkte 1962 unter Heranziehung von rassistischen Kriterien: „Bei der zur Beobachtung zur Verfügung stehenden Personengruppe handelt es sich (…) um Zigeunermischlinge mit Elternteilen deutschblütiger, jüdischer, aber auch kombinierter Zusammensetzung, letztlich ein Mischvolk aus drei Blutstämmen, bei denen – biologisch unterstellbar – ein Konzentrat negativer Erbmasse zu verzeichnen sein dürfte (Verschlagenheit, Hinterhältigkeit, Brutalität, Trunksucht, Selbstmordneigung usw.).“[171]
Auch die neuerlichen Aspekte, die Mitte der 1960er Jahre vom Ausschwitz-Prozess in Frankfurt offen gelegt wurden, dienten nicht als Anregung für die wissenschaftliche Forschung, den Völkermord an den Sinti und Roma in der NS-Zeit aufzuarbeiten.[172] In Handbüchern oder Monographien zur Geschichte der NS-Zeit wurde der Völkermord nur am Rande erwähnt, manchmal sogar gar nicht. Auch in Dauerausstellungen in den Mahn- und Gedenkstätten war die „NS-Vernichtungspolitik gegenüber den Sinti und Roma –sofern sie überhaupt Erwähnung fand – lediglich als Anhängsel zum Holocaust an den europäischen Juden.“[173] In Schulbüchern für den Geschichtsunterricht wurde der Völkermord bis in die 1980er Jahre nicht erwähnt. Die Situation der Sinti und Roma in der SBZ/DDR und deren Behandlung durch das SED-Regime bleibt weiterhin eine Forschungslücke.
Innerhalb der Polizei war eine personelle und strukturell-organisatorische Kontinuität zur NS-Zeit zu verzeichnen. Nur weniger der Täter_innen, die beim Reichssicherheitshauptamt (RSHA) beschäftigt gewesen waren, wurden zur Rechenschaft gezogen oder verurteilt. Im Gegenteil, viele von ihnen wurden ohne Prüfung sogar weiter beschäftigt. So konnte es kaum verwundern, dass in dieser Behörde der Umgang mit Sinti und Roma sich nicht wesentlich von dem im „Dritten Reich“ unterschied. Zwei Mitarbeiter der Frankfurter „Zigeunerzentrale“ forderten eine Deportation der Sinti und Roma nach Helgoland. Greußing schrieb: „Die von KOK Böttcher vertretene und von KK Thiele gutgeheißene These, man müsse alle Zigeuner lediglich mit einigen Weizenvorräten auf Helgoland zusammenbringen, erinnert an die Anfänge der NS-Zeit, als der Transport der Juden nach Madagaskar geplant wurde.“[174] Hans Bollée, Leiter einer Sonderkommission in Düsseldorf bemerkte 1962 unter Heranziehung von rassistischen Kriterien: „Bei der zur Beobachtung zur Verfügung stehenden Personengruppe handelt es sich (…) um Zigeunermischlinge mit Elternteilen deutschblütiger, jüdischer, aber auch kombinierter Zusammensetzung, letztlich ein Mischvolk aus drei Blutstämmen, bei denen – biologisch unterstellbar – ein Konzentrat negativer Erbmasse zu verzeichnen sein dürfte (Verschlagenheit, Hinterhältigkeit, Brutalität, Trunksucht, Selbstmordneigung usw.).“[175]
Die Kriminalpolizei in Württemberg gab 1948 einen Leitfaden zur „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ als vorläufige Orientierung „bis zur endgültigen Lösung des Zigeunerproblems“ heraus.
Die amerikanische Militärregierung sorgte dafür, dass die bayerische Landesregierung das „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“ aus dem Jahre 1924 1947 aufheben musste. Im Dezember 1953 trat dann eine „Landfahrerordnung“ nach der Zustimmung des bayerischen Landtages in Kraft, die dem Gesetz von 1926 stark ähnelte. Es wurde bereits im Vorfeld eine Abteilung für „Zigeunerfragen“ installiert, die später in „Landfahrerzentrale“ umbenannt wurde. Diese Abteilung übernahm einen Teil des Personals der früheren Münchener „Zigeunerzentrale“ und benutzte auch deren Akten.[176] Die „Landfahrerordnung“ war ein Instrument zur kriminalistischen Kontrolle der Sinti und Roma, ohne dass sie straffällig gewesen sein mussten. Sie wurden nur aufgrund ihrer Eigenschaft als „Landfahrer“ dort aufgeführt. Insgesamt wurden in einer Kartei 4224 Personen registriert.[177] Auf offiziellen Formularen der bayerischen Polizei für Anhörungen zu Ordnungswidrigkeiten war eine spezielle Rubrik „Sinti/Roma“ aufgeführt. Sinti und Roma mussten einen speziellen Ausweis mit sich führen, sich regelmäßig bei den zuständigen Behörden melden und durften sich lediglich auf ausgewiesenen Plätzen innerhalb kurzer Fristen aufhalten. Erst im Jahre 1970 wurde die „Landfahrerordnung“ wegen Grundgesetzwidrigkeit wieder aufgehoben.
Auch das Landeskriminalamt Baden-Württemberg richtete im Sommer 1953 eine „Zentraldatei zur Bekämpfung von Zigeunerdelikten“ ein und sammelte Lichtbilder und Fingerabdrücke. Bis 1957 gab es in Hessen das „Gesetz zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“. Im Saarland galt zwischen 1948 und 1970 eine „Polizeiverordnung zur Bekämpfung der Zigeunerplage“.[178]
Sowohl der Jurist Hans-Joachim Döring als auch der „Wissenschaftler“ Hermann Arnold übernahmen kritiklos die Ergebnisse der rassistischen „Zigeunerforschung“ aus dem Nationalsozialismus und schufen damit eine ideologische Kontinuitätslinie hinein in die postfaschistische Nachkriegsgesellschaft.
Hans-Joachim Döring vertrat in seiner Dissertation „Die Zigeuner im nationalsozialistischen Staat“ die These, dass die Verfolgung der Sinti und Roma überwiegend aus „kriminalpräventiven“ Gründen und nicht aus rassistischen Motiven erfolgte.[179] Döring reproduzierte altbekannte Stereotype über Sinti und Roma: „Hat die bei vielen mehrjährige Haft in den Konzentrationslagern (…) zu einer Besserung ihres Verhaltens gegenüber der seßhaften Bevölkerung geführt, oder sind sie – für Jahre aus ihren arteigenen Gewohnheiten gerissen – nach wiedererlangter Freiheit zu Verbrechern geworden, die auch vor schweren Gewalttaten nicht zurückschrecken?“[180] Er hob eine wie auch immer geartete „rassische Eigenheit“ der Sinti und Roma hervor: „Sie versuchten immer wieder mit ihrer arteigenen Schlauheit im Auffinden von ‚Hintertüren‘ die zigeunerhafte Herkunft zu verschleiern, um allen weiteren Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. (…) Es ist nicht bekannt, ob diese Verschleierung auf den generationenlangen Erfahrungen mit den Behörden der Seßhaften oder dem beständigen Gefühl, irgend etwas getan zu haben, was die Seßhaften nicht verstehen, oder auf einer im Grunde rassischen Eigenart beruhte.“[181]
Hermann Arnold war laut Aussagen überlebender Sinti und Roma 1938 an anthropologischen Forschungen an Angehörige der Minderheit beteiligt gewesen. Er übernahm nach dem Krieg von Eva Justin den Ritterschen wissenschaftlichen Nachlass, dessen „Forschungsergebnisse“ er wertneutral ohne kritische Prüfung als „Wahrheit“ ausgab. Auf dieser Basis entwickelte sich Arnold in den 1960er Jahren zu einem der anerkanntesten „Zigeunerforscher“ der BRD. Er besaß großen Einfluss auf die freien Wohlfahrtsverbände und war Mitglied des „Sachverständigenrates für Zigeunerfragen“ des Bundesfamilienministeriums. Arnold bezeichnete in seinen Werken Sinti und Roma als „Bastarde“ und wollte ein erbbedingtes „Zigeuner-Gen“ nachweisen, das für die sozialen und charakterlichen Dispositionen der Sinti und Roma bestimmend sein sollte. Er schrieb: „Offenbar legen Erfahrung und Augenschein die Annahme nahe, dass die zigeunerischen Verhaltensweisen auf erbbedingten psychischen Dispositionen beruhen.“[182] Die „Zigeuner“ stellten für Arnold ein „Volk umstrittener Rassenzugehörigkeit“ dar, das von „indischen Wanderstämmen“ abstammen und sich diametral von den europäischen „Wirtsvölkern“ unterscheiden würde.[183] Arnold stellt Sinti und Roma im Vergleich mit mitteleuropäischen Menschen in negativer Hinsicht als „anders“ dar: „Daß Zigeuner anders sind als wir, daran besteht kein Zweifel.“[184] Sinti und Roma würden aus einer biologistischen Sichtweise heraus genau festgelegte Merkmale, Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen aufweisen. Er bediente sich dabei einem kulturellen Rassismus: „Ob wir die Zigeuner als urtümliche Sammler und primitive Handwerker betrachten, die wirtschaftlich noch auf einer Kindheitsstufe der Menschheit stehen, oder als eine mutativ entstandene entwicklungsfähige Spielart der Gattung Mensch, ist eine unerhebliche Alternativfrage.“[185] Er schrieb Sinti und Roma pauschal den Vorwurf der Ausnutzung der jeweiligen Dominanzgesellschaft zu: „Bisher konnte man ihn nicht schlechthin einen Schmarotzer heißen, da er nutzbare Dienstleistungen wenigstens anbot; nun aber besteht die Gefahr, daß seine Existenz ganz oder gar parasitär wird.“[186]
In den ersten Jahrzehnten nach dem Ende des NS-Regimes versuchten deutsche Städte und Kommunen, im Umgang mit Sinti und Roma an die Vertreibungspolitik des Kaiserreiches und der Weimarer Republik anzuknüpfen. In der Badischen Zeitung hieß es: „Wenn es im Dritten Reich gelungen sei, sie seßhaft zu machen, so müsse es jetzt wenigstens teilweise gelingen, sie dahin zu bringen, wo sie andere nicht mehr belästigen.“[187] Sinti und Roma machten immer wieder in ihrem Alltag Diskriminierungserfahrungen. Zahlreiche Campingplätze untersagten Angehörigen der Minderheit durch extra aufgebaute Schilder die Benutzung. Verschiedene Fälle wurden bekannt, dass Restaurantbesitzer_innen sie am Betreten ihrer Lokale hindern wollten.
Nach 1945 begann die Phase einer verstärkten eigenen Interessenvertretung vor allem institutioneller Art innerhalb der Minderheit. Die Brüder Oskar und Vinzenz Rose gründeten 1956 einen Verband rassisch Verfolgter nichtjüdischen Glaubens mit dem Ziel, den Völkermord an den Sinti und Roma in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Ab 1955 kamen viele Roma unter den türkischen, spanischen oder jugoslawischen „Gastarbeitern“ in die BRD, was die Anzahl der Sinti und Roma sprunghaft erhöhte. Am 8.4.1971 fand ein internationaler Kongress der Roma statt. Dort standen die Frage nach der eigenen Identität, die Ablehnung einer Assimilierung auf der Preisgabe kultureller Eigenarten und der Kampf gegen die gesellschaftliche Diskriminierung im Vordergrund.[188] In den früher 1980er Jahren gingen Verbände der Sinti und Roma mit verschiedenen Aktionen verstärkt in die Öffentlichkeit. Im April 1980 fand in der Gedenkstätte Dachau ein Hungerstreik statt, um gegen die verweigerte Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus und die ideologische Kontinuität insbesondere bei den Polizeibehörden zu protestieren. Im März 1981 fand der dritte internationale Roma-Weltkongress mit Repräsentant_innen aus 28 Staaten in Göttingen statt. Im ehemaligen KZ Bergen-Belsen wurde im Oktober 1981 eine Gedenkkundgebung mit der damaligen Präsidentin des europäischen Parlamentes, Simone Weil, zur Erinnerung an den Völkermord an den Sinti und Roma abgehalten. Im Februar 1982 schlossen sich die Landesverbände zum Zentralrat Deutscher Sinti und Roma mit Sitz in Heidelberg zusammen. Die ersten Eckpunkte seiner politischen Arbeit waren der Antiziganismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die Kriminalisierung innerhalb der Behörden sowie die Leugnung des Völkermordes im „Dritten Reich“.
Am 17.3.1982 empfing der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Delegation des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma unter Leitung des Vorsitzenden Romani Rose. Dabei erkannte Schmidt die gegenüber den Sinti und Roma begangenen nationalsozialistischen Verbrechen als Völkermord an, der auf Grundlage der „Rasse“ begangen wurde. Weiterhin folgte das Bekenntnis zu einer daraus resultierenden „moralischen Widergutmachung“. Diese Aussagen wurden im November 1985 durch seinen Nachfolger Helmut Kohl bestätigt.
Die meisten Sinti siedelten sich nach dem 2.Weltkrieg in der BRD an, nur wenige in der DDR.[189] Von dort aus migrierten viele in Richtung Westen, da die wirtschaftliche Umgestaltung in der DDR die Voraussetzungen für freie Gewerbe und reisende Erwerbsformen stark einschränkte. Die Zahl der auf dem Gebiet der DDR lebenden Sinti und Roma wurde auf 200-300 geschätzt.[190] Aufgrund des Paragraphen 249 des Strafgesetzbuches der DDR konnten Personen ohne geregelte Arbeit im Sinne des Gesetzgebers inhaftiert werden. Da Sinti und Roma nur selten die Voraussetzungen mitbrachten, eine Zulassung als Gewerbetreibende zu erhalten, mussten einige von ihnen bis zu fünf Jahren Haft verbüßen. Ihre Anerkennung als Verfolgte des NS-Regimes erfolgte erst Mitte der 1960er Jahre. Erst nach zähem Ringen wurden ihnen von der DDR-Regierung Renten zuerkannt. Ihre Verfolgungsgeschichte im Laufe der Jahrhunderte und der Völkermord wurde in der Öffentlichkeit und in den Gedenkstätten nur sehr selten thematisiert.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten in Osteuropa verschärfte sich die Situation der dort lebenden Roma dramatisch. Die Installierung des kapitalistischen Systems war für große Teile von ihnen mit Arbeitslosigkeit, Armut und Hoffnungslosigkeit verbunden. Neben den sozialen Problemen waren sie von verstärktem Rassismus in der jeweiligen Dominanzgesellschaft konfrontiert. Aus diesen Gründen flüchteten Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre Roma nach Westeuropa und auch in die BRD.[191]
Seit der so genannten „Wiedervereinigung“ versuchte das größer gewordene Deutschland, die durch die NS-Verbrechen begründete offizielle vor allem außenpolitische Zurückhaltung zu Gunsten eines neuen Nationalismus und damit verbundenen Großmachtsanspruches aufzugeben. Diese politische Haltung prägte maßgeblich die Debatte um die Asylanträge stellenden Flüchtlinge. Vor allem Sinti und Roma wurden von politischen Repräsentant_innen und in den Medien häufig als „Wirtschaftsflüchtlinge“ dargestellt, denen kein Recht auf Asyl zustehe, da sie nur vorgeben würden, politisch verfolgt zu sein. Ihre Integration in die Gesellschaft wurde aufgrund von alten antiziganistischen Stereotypen als unmöglich angesehen und ihnen pauschal eine grundsätzliche Inkompatibilität zur Dominanzgesellschaft unterstellt.
In Rostock-Lichtenhagen kam dann zur „deutschen Kristallnacht 1992“[192], von der auch Roma betroffen waren. Täglich neu erscheinende Asylbewerber_innen konnten aus Personalnot nicht registriert werden und warteten vor dem Gebäude tagelang darauf, bis zur Aufnahmeprozedur vorzudringen. Sie mussten monatelang vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber_innen (ZAST) leben, ohne hinreichenden Zugang zu sanitären Anlagen und Nahrungsmitteln zu besitzen. Die Behörden ignorierten die zahlreichen Beschwerden der Anwohner_innen und Bewohner_innen über die hygienischen Zustände und die menschenunwürdigen Bedingungen im Wohnhaus.[193] Die Anwohner_innen besaßen „besonders hohe Aggressionen“ gegen Roma, weil „für die sei der Abfalleimer das Fenster“.[194] Eckhardt Rehberg, damaliger CDU-Fraktionschef im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, unterstellten den Roma pauschal „kriminelle Energie“[195]
Vom 22.-26.8.1992 kam es dann zu einem tagelangen Pogrom von Neonazis gegen die dort lebenden Migrant_innen. Jugendliche extreme Rechte schleuderten unter dem Beifall der meist erwachsenen Zuschauer_innen. Benzinbomben in mehrere Häuser und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. In der Nacht zum 24.August warfen unter „Ausländer raus“-Rufen der umstehenden Schaulustigen Neonazis Molotowcocktails unter Rufen wie „Wir kriegen euch alle, jetzt werdet ihr geröstet“ in das Gebäude der ZAST. Wie durch ein Wunder gab es keine Toten.[196] Die Roma wurden nach den rassistischen Ausschreitungen in alten NVA-Kasernen im Stadtteil Hinrichshagen umquartiert.
Bürger_innen des brandenburgischen Dorfes Dolgenbrodt wehrten sich gegen die Aufnahme von Roma-Flüchtlingen.[197] Auf einer Versammlung drohten teilnehmende Bürger_innen der Landesregierung mit dem Satz „Muss es erst zu einem zweiten Rostock kommen?“ Kurz bevor die Roma in das vorgesehene Wohnheim einziehen sollten, wurde das Haus in Brand gesteckt. Nach Ermittlungen der Polizei stellte sich heraus, dass Bürger_innen des Ortes 2.000 DM gesammelt hatten, um einen Neonazi aus dem Nachbarort für die Brandstiftung zu bezahlen.
Ein Jahr später forderte die antiziganistische Stimmungsmache die ersten Toten. Bei einem Brandanschlag am 28.9.1994 in Herford kamen zwei Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien ums Leben. Im hessischen Limeshain verübten unbekannte Täter_innen einen Brandanschlag auf ein Wohnhaus. Das Gebäude wurde völlig zerstört, verletzt wurde niemand. Auf die Hauswände wurden die Begriffe „Zigeuner“ und „Auslender“ gesprüht. Im August 2000 beschimpften im sächsischen Döbeln drei Neonazis eine Gruppe Sinti als „Zigeuner“ und drohten ihnen mit Waffen. Die herbeigerufene Polizei konnte zwei Täter festnehmen.[198] 2004 bekam eine Roma-Familie in Pforzheim eine Morddrohung von Neonazis. Im Fasching 2005 trug ein Wagen in der Nähe von Ravensbrück die Aufschrift „Zick-Zack-Zigeunerpack“, was eine Anzeige wegen Volksverhetzung nach sich zog. Im bayerischen Uffing nahm 2009 an einem Faschingsumzug ein Wagen mit der Aufschrift „In Uffing sind die Hühnerställe voll, das finden wir Zigeuner toll“ teil.[199]
Angehörige einer Familie im sächsischen Klingenhain wurden über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder als „Zigeuner“ beschimpft und angegriffen. Am 26.12.2009 wurde ihr Wohnhaus zum Ziel eines Brandanschlags. Nur der Tatsache, dass niemand im Haus war, ist es zu verdanken, dass es keine Toten gab.[200] Im März 2010 entführten zwei Personen aus Nordfranken in mindestens drei Fällen Roma-Prostituierte aus dem tschechischen Grenzort As. Die Opfer wurden über Stunden schwer misshandelt und mit nationalsozialistischen Symbolen gedemütigt. Bei der Polizei gaben die beiden als Motiv Hass auf Roma an.[201] Am 11.7.2012 wurden parkende Autos und Wohnwagen von Sinti auf einem Parkplatz in der Nähe von Detmold mit Soft-Air-Waffen beschossen. Kurz vor der Tat wurden sie von Jugendlichen beschimpft.[202]
Jahrelang war für Pro Köln das Thema der „Klau-Kids“ von großer Bedeutung. Im Kommunalwahlkampf nahm das Motiv der „kriminellen Sinti und Roma“ neben der Ablehnung des Moscheebaus in Ehrenfeld und der Korruptionsverdacht einiger politischer Entscheidungsträger in Köln einen zentralen Platz ein. Ein weiteres Beispiel antiziganistischer Ressentiments war der Konflikt um ein Flüchtlingswohnheim in Köln-Poll, in dem ca. 160 Personen - überwiegend Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien- wohnten. Eine dubiose „Anwohnerinitiative“ machte die dort lebenden Roma für verschiedene Gewalt- und Eigentumsdelikte, Drogenhandel und Sachbeschädigungen verantwortlich und ging damit in die Öffentlichkeit.
Für Kurt Holl, Vorsitzender des Rom e.V., war die Flüchtlingspolitik der Stadt Köln für diese Situation verantwortlich, die die Ghettobildung der MigrantInnen fördere und so das friedliche Zusammenleben mit den deutschen NachbarInnen verhindere. Er äußerte in einem Flugblatt Verständnis für „den Frust, die Verärgerung, ja auch die Wut vieler Poller Bürgerinnen und Bürger“. Die Unterbringung von Flüchtlingen müsse dezentral erfolgen; die soziale Arbeit mit Jugendlichen in den Wohnheimen sei mangelhaft; die Unterbringung in überfüllten Heimen führe notwendig zu Aggressionen und beeinträchtige die Lebensqualität auch in der Nachbarschaft. Als Vermittlungsversuche des Rom e.V. scheiterten, beschloss die „Anwohnerinitiative“, mit einer Demonstration ihrem Ärger Luft zu machen. Pro Köln versuchte, die Auseinandersetzungen für ihre parteipolitischen Interessen auszunutzen. Auf ihrer Website hieß es:[203] „ Eine Sprecherin der Poller Bürger (…) stellte die jährlichen Millionen – Aufwendungen der öffentlichen Hand für die Unterbringung und Verpflegung von Asylbewerbern, die zu mehr als 90 Prozent Scheinasylanten– also keine politisch Verfolgten, sondern reine Wirtschaftsflüchtige- sind, den umfangreichen Sparplänen der Stadt Köln gegenüber. Schulen und Kindergärten sind von der Schließung bedroht, für öffentliche Bäder, Bibliotheken und andere Einrichtungen ist kein Geld mehr vorhanden - aber für die Multi-Kulti–Pläne der Klüngelpolitiker werden viele Millionen Euro ausgegeben. Eine solche Politik stößt mittlerweile bei der Mehrheit der Deutschen auf Widerspruch.“
Als Pro Köln ebenfalls Werbung für die geplante Demonstration betrieb, ging die „Anwohnerinitiative“ auf Distanz. Doch am Kundgebungstag zeigte sich deutlich, dass dies nur Lippenbekenntnisse waren. Die „Anwohnerinitiative“ akzeptierte die Teilnahme von Pro Köln an der Demonstration. Dort waren folgende antiziganistische und antisemitische Sprüche auf selbst gemachten Pappschildern zu lesen: „Poll ist voll!“, „’Lustig ist das Zigeunerleben’ absolut nicht für uns Poller!“, „Polizeischutz für Poller Bürger – nicht nur für Friedman & Co.“, „Kriminelle Ausländer abschieben!“ Die antifaschistische Kundgebung wurde mit Sprüchen wie „Nehmt euch die Zigeuner doch mit nach Hause!“ oder „Unterm Adolf wärt ihr vergast worden!“ konfrontiert.
Die Stadt Köln beschloss letztlich, das Flüchtlingsheim zu schließen, was Pro Köln als Erfolg der eigenen Politik bewertete. In der Folge versuchte Pro Köln mit derselben Strategie auch in anderen Stadtteilen zu punkten. Als ein großer Teil der BewohnerInnen aus Poll nach Weidenpesch umziehen sollte, wurde von Pro Köln eine „Anwohnerinitiative Pallenbergstraße“ ins Leben gerufen. Im April 2004 organisierte die „Anwohnerinitiative Pallenbergstraße“ in Weidenpesch eine Demonstration „gegen die geplante Einquartierung von Problempersonen aus dem ehemaligen Jugoslawien“ mit dem Transparent „Keine Klau-Kids nach Weidenpesch“. Im Rahmen einer Kundgebung wurde gefordert:[204] „Wer das deutsche Gastrecht mißbraucht und Straftaten begeht, muß in sein Heimatland abgeschoben werden. Eltern haften für ihre Kinder.“
Pro Köln stellte im Mai 2004 einen Antrag im Rat der Stadt Köln gegen die Errichtung eines Roma-Zentrums am Venloer Wall, der jedoch abgelehnt wurde. Die Einrichtung des Zentrums sei „nutzlos, zu teuer – die Kosten betragen mehr als 300.000 Euro jährlich - und für die Kölner unzumutbar.“ Es sei unverständlich, „warum städtische Mittel im Zusammenhang mit der Kriminalitätsbekämpfung stets nur für das Spektrum der Täter bereitgestellt würden, nicht aber für die Opfer.“[205]
Im Juli 2005 forderte Regina Wilden die Kürzung der Ausgaben der Stadt für Interkulturelle Zentren und des Interkulturellen Referates. In diesem Zusammenhang griff sie den Verein Rom e.V. vehement an:[206] „Dabei handelt es sich bei den angeblich förderungswürdigen Interkulturellen Zentren oft um sehr zweifelhafte Einrichtungen mit linksextremen Verbindungen und einer fragwürdigen Einstellung gegenüber legitimen behördlichen Verwaltungshandeln. Als Beispiel sei hier nur auf zwei Einrichtungen verwiesen, zum einen auf den Verein Rom e.V., der sich als Interessenvertretung der Sinti und Roma versteht. Im Zuge dieser Interessenvertretung hat Rom e.V. aber anscheinend jedes Augenmaß verloren. Denn als in der Vergangenheit die Ausländerbehörden endlich einmal straffällig gewordene Roma abgeschoben haben, hetzte der Verein auf seinen Internetseiten gegen die verantwortlichen Beamten und sprach von ‚Amoklauf’ und ‚lebensgefährlichen Aktionen’ der Verwaltung. Zum Dank für diese mangelhafte Rechtstreue gegenüber der öffentlichen Verwaltung fördert der Rat den Verein nun auch noch finanziell. Dies ist eines der merkwürdigen Kölner Phänomene.“
Im Jahre 2006 hetzte Pro Köln gegen Roma-Familien, die in einem Asylbewerberheim in Merkenich unter menschenunwürdigen Bedingungen lebten:[207] „Vor allem einige Zigeunerfamilien aus dem Merkenicher Asylantenheim machten den Merkenicher Bürgern seit Jahren das Leben schwer. Diebstähle, Wohnungseinbrüche, ja sogar Raubüberfälle und sexuelle Belästigungen von Kindern waren an der Tagesordnung.
Am 21.6.2000 gab es in Düsseldorf eine gemeinsame Veranstaltung von Pro Köln und „Nation Europa Freunde e.V.“ mit dem Herausgeber der extrem rechten Publikation „Nation und Europa“ und ehemaligem DLVH-Funktionär Harald Neubauer, an dem etwa 65 Personen teilnahmen. Harald Neubauer kandidierte bei der Bundestagswahl 2005 auf Platz 2 der sächsischen NPD-Liste und ist Vorstandmitglied in der völkischen Zeitschrift „Gesellschaft für freie Publizistik.“
Bei einer erneuten Kundgebung gegen den „Drogenstrich“ am 12.1.2002 waren ebenfalls Teilnehmer der NPD und den „Freien Kameradschaften“ anwesend. Zur Teilnahme an der Demonstration von Pro Köln am 9.3.2002 in Köln-Chorweiler unter dem Motto „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ hatten das neonazistische „Aktionsbüro Norddeutschland“ und das „Nationale Infotelefon Rheinland“ aufgerufen. Ein Großteil der dort anwesenden Demonstranten waren der militanten neonazistischen Szene zuzuordnen. Auf einer Rede warf Manfred Rouhs dem Verfassungsschutz vor, „seine Schergen“ wären für den Überfall auf Besucher der KZ-Gedenkstätte Kemna verantwortlich. Das frühere Mitglied des NPD-Landesvorstandes und des Bundesvorstandes der "Jungen Nationaldemokraten" (JN), Thorsten Crämer, hatte am 9. Juli 2000 gemeinsam mit weiteren 14 Neonazis einen Überfall auf Teilnehmer einer Mahnwache an der Gedenkstätte des ehemaligen KZ Kemna in Wuppertal-Beyenburg verübt. Bewaffnet mit Baseballschlägern und Reizgas hatten die Neonazis auf BesucherInnen des KZ-Denkmals eingeprügelt und sie mit Steinen beworfen. Im Januar 2001 wurde Crämer wegen gefährlicher Körperverletzung und Landfriedensbruch zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt.[208]
Im November 2002 nahmen Markus Beisicht und Judith Wolter als „Zeichen patriotischer Solidarität“ am Bundeskongress der JN teil. Wolter tönte damals in einer Rede unter dem Beifall der Teilnehmer:[209] „Notwendig sei keine Anbiederung an etablierte Positionen und Parteien, wie es Teile der Republikaner praktizierten, sondern eine konsequente Fundamentalopposition.“ In einem Interview mit dem Zentralorgan der NPD, „Deutsche Stimme“ (DS), warb Wolter für eine Zusammenarbeit zwischen Pro Köln und anderen extrem rechten Parteien:[210] „Pro Köln ist überparteilich. Jeder, der sich mit unseren Zielen identifiziert, kann bei uns mitarbeiten-unabhängig von seiner Parteizugehörigkeit. Wir bemühen uns stets um ein gutes Verhältnis zu anderen nationalen Organisationen und um konstruktive Zusammenarbeit.“
Am 25.4.2003 organisierte Pro Köln eine Demonstration vor der DITIP-Moschee in Köln-Ehrenfeld. An der islamophoben Veranstaltung nahmen der gerade wieder aus dem Gefängnis entlassene Thorsten Crämer und weitere Gesinnungsgenossen von der NPD teil.
Zur Kommunalwahl 2004 rief der „Hitler von Köln“[211], Axel Reitz, zur Wahl von Pro Köln auf. Der Neonazi Reitz ist wegen Volksverhetzung, Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole und Verstoß gegen das Uniformverbot auf einer Demonstration mehrfach vorbestraft. Reitz bekennt sich öffentlich zum Nationalsozialismus: [212] „Wir glauben, dass der Nationalsozialismus der allein seligmachende Glaube ist für unser Volk. Wir glauben, dass es einen Herrgott im Himmel gibt, der uns geschaffen hat (…). Und wir glauben, dass dieser Herrgott uns Adolf Hitler gesandt hat, damit Deutschland für alle Ewigkeit ein Fundament werde. Heil Hitler.“
Am 25.9. 2007 wurde in Straßburg die Resolution „Gemeinsam für ein Europa der Vaterländer“ verabschiedet, die die Ziele der Fraktion IST (Identität, Tradition, Souveränität) unterstützte. Die Fraktion ITS setzte sich aus extrem rechten Europaabgeordneten unterschiedlicher Länder zusammen. Neben Le Pen (FN), Gerhard Frey (DVU), Rolf Schlierer („Republikaner“), Udo Pastörs und Holger Apfel (NPD) unterschrieben auch Markus Beisicht und Markus Wiener von Pro Köln die Erklärung, die folgende Grundsätze beinhaltete:[213] „Anerkennung der nationalen Interessen, Souveränitäten, Identitäten und Unterschiedlichkeiten, Verpflichtung gegenüber christlichen Werten, dem Erbe der Kulturen und Traditionen der europäischen Zivilisationen, Verpflichtung gegenüber der traditionellen Familie als natürlicher Kernpunkt der Gesellschaft, Verpflichtungen gegenüber den Freiheiten und Grundrechten aller, Verpflichtungen gegenüber den Regeln des Rechtsstaates, Opposition in einem vereinheitlichen und bürokratischem Superstaat, Verpflichtung gegenüber der direkten Verantwortlichkeit der Regierenden gegenüber dem Volk und der Transparenz in der Verwaltung der öffentlichen Mittel.“
Diese Erklärung zur Bildung einer extrem rechten europäischen Fraktion steht im Widerspruch zu den verbalen Bekenntnissen von Pro Köln, sich von den „alten“ rechtsextremen Parteien in Deutschland zu distanzieren.
Am 22.6.2007 gab Judith Wolter der rechtsextremen „National-Zeitung“ ein Interview, in dem sie gegen die Einwanderungsgesellschaft hetzte:[214] „Es sind doch die etablierten Parteien von der CDU bis hin zur SED-PDS-Linkspartei, die seit Jahrzehnten die Masseneinwanderung nach Deutschland betreiben. Dabei nehmen sie nicht nur gravierende wirtschaftliche Belastungen für die einheimische Bevölkerung billigend in Kauf, sondern eben auch soziale Konflikte: In nahezu sämtlichen deutschen Großstädten haben sich geschlossene Parallelgesellschaften gebildet. Integration findet in den Ghettos längst nicht mehr statt. Die wenigen verbliebenen Deutschen in diesen Stadtteilen werden zunehmend zur Minderheit, während vor allem der islamische Fundamentalismus gedeiht.“
Einen Monat später erschien ein Interview von Markus Beisicht in der „Deutschen Stimme“ unter der Überschrift „Aufstand gegen die Islamisierung!“ Die Tatsache, dass die NPD Pro Köln in ihrer Zeitung eine Plattform für ihre islamophoben Thesen bot, widerspricht den Abgrenzungsversuchen von Pro Köln vollkommen. Die „Bürgerbewegung Pro Köln“ wurde als „nonkonforme kommunalpolitische Organisation, die 1996 entstand und nach Jahren des Aufbaus 2004 erfolgreich zur Kommunalwahl antrat“, bezeichnet. Beisicht stellte jedoch klar, dass es weder beim Thema Moscheebau noch bei anderen Themen eine politische Zusammenarbeit gebe:[215] „Wir nehmen deshalb für uns in Anspruch, in Köln alleine die Oppositionsrolle von rechts wahrzunehmen. (…) Die örtlichen alten Rechtsparteien haben zudem das Thema Moscheebau, wie so vieles andere auch, weitgehend verschlafen.“
Vor allem bei kommunalen Wahlen schaffte es Pro Köln mit dem Thema Antiziganismus zu punkten.
Gedenksteine oder Mahnmale, die an die Deportation und Ermordung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus erinnern sollen, wurden und werden regelmäßig geschändet. Eine 2009 von der Geschichtswerkstatt Merseburg aufgestellte Stele wurde bis zum Januar 2012 sieben Mal entweiht.[216]
Antiziganistische Diskriminierungen durch Angehörige der Mehrheitsgesellschaft oder Bedrohungen und Angriffe von Neonazis gehören für Sinti und Roma zum traurigen Alltag. Aus einer Umfrage des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma aus dem Jahre 2006 geht hervor, dass 34 der 309 teilnehmenden Personen von „Bedrohungen und Beleidigungen durch Mitbürger und Nachbarn“ berichteten. 26 Personen sprachen von „Angriffe(n) durch Neonazis“.[217] 70% der Befragten gaben an, bei der Arbeit, in Gaststätten oder an anderen Orten schon häufiger diskriminiert worden zu sein. Fast 46% der teilnehmenden Personen bejahten die Frage, ob bei Behörden und der Polizei ihre Zugehörigkeit zur Minderheit erfasst wurde.[218]
Der alltägliche unhinterfragte Antiziganismus findet sich auch bei gesellschaftlichen Repräsentant_innen der BRD und Mitarbeiter_innen bei Behörden besonders bei der Polizei oder Ordnungsamt. Außerhalb des institutionellen oder staatlichen Rassismus haben Sinti und Roma generell schlechtere Chancen bei der Vergabe von Wohnungen oder auf dem Arbeitsmarkt sowie im Bildungssektor. Die Praxis der Abschiebung in Sonderschulen nach der Grundschule ist nicht nur in Osteuropa üblich, sondern auch in der BRD. Diese tagtäglichen Diskriminierungserfahrungen führen dazu, dass viele Sinti und Roma sich in der Öffentlichkeit nicht zu ihrer Minderheitenzugehörigkeit bekennen wollen und sich stattdessen lieber als Deutsche, Türk_innen, Serb_innen usw. bezeichnen, um persönliche Nachteile zu vermeiden oder zu minimieren.
Trotz offizieller Distanzierung findet weiterhin eine polizeiliche Erfassung von Sinti und Roma in Deutschland statt. Laut Auskunft des Zentralrats handelt es sich dabei um „mobile ethnische Minderheit (MEM)“.[219] Das Prinzip des racial profiling bei Polizei und Ordnungsamt ist nach wie vor virulent. Sinti und Roma werden regelmäßig in den Innenstädten oder an anderen Orten mit viel Menschenandrang kontrolliert.
Ein Beispiel für institutionellen Rassismus stellte das Urteil des Amtsgerichtes Bochum aus dem Jahre 1995 dar. Darin entschied das Gericht, dass Vermieter_innen vorgeschlage Nachmieter_innen ablehnen können, wenn es sich dabei um „Zigeuner“ handele.[220] Begründet wurde dieses Skandalon damit, dass „diese Bevölkerungsgruppe traditionsgemäß überwiegend nicht sesshaft“ sei. Laut dem Richter würde sich ein(e) Mieter(in), die als Nachmieter_innen Sinti und Roma vorschlägt, nicht geeignet für eine weitere Nachmieter_innensuche sein. Auf einer Tagung in Köln 2012 wurden erste Ergebnisse einer laufenden Studie des kommunalen behördlichen Umgangs gegenüber Migrant_innen aus Bulgarien und Rumänien, die sich selbst der Minderheit der Roma zurechnen, vorgestellt.[221] Dabei kam heraus, dass Antiziganismus unter Mitarbeiter_innen von Polizei und Ordnungsämtern weit verbreitet ist und der institutionelle Rassismus insgesamt ein großes Problem darstelle.
Aus einer Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma, wo Daniel Strauss die Ergebnisse von 261 Interviews zusammenfasste, geht hervor, dass es eine weit verbreitete, über Generation fest verankerte Diskriminierung bei gleichzeitig fehlender Förderung gibt. Dabei besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Ausgrenzungserfahrungen und abgebrochenen Bildungswegen. Etwas weniger als ein Drittel der Befragten nannte diskriminierende oder demotivierende Erlebnisse durch Lehrer_innen oder Mitschüler_innen als früh für eine abgebrochene Schulausbildung.[222]
Laut dem Antiziganismusforscher Markus End können einige Handlungsweisen staatlicher Stellen „als diskriminierend oder zumindest als diskriminierungsfördernd“ bezeichnet werden.[223] Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung der Innenminister_innen von Bund und Ländern zur Rückkehrhilfe für Asylbewerber_innen aus Serbien und Mazedonien vom September 2010. Seit der Einführung der Visumsfreiheit für Serbien und Mazedonien Ende 2009 stieg die Zahl der Asylanträge von Menschen aus diesen beiden Ländern, darunter auch Roma, spürbar an. Als Reaktion darauf strich die Bundesregierung die Rückkehrhilfen, da „nicht auszuschließen war, dass die Beihilfe der eigentliche Grund für die Einreise war.“ Roma wurden dadurch wieder als „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „Sozialschmarotzer“ in der Öffentlichkeit bloßgestellt. Die BRD drohte Serbien und Mazedonien mit dem Entzug der Visumsfreiheit, wenn die beiden Länder nicht dafür sorgten, dass die Zahl der Asylanträge abnehme. Dies führte dazu, dass serbische und mazedonische Grenzbeamt_innen mithilfe des Prinzips des ethnic profiling an den Außengrenzen Kontrollen vornahmen und als „Roma“ identifizierten Personen die Ausreise verweigern konnten.
Antiziganistische Stereotype in den Medien sind noch immer allgegenwärtig. Dabei ist es anzunehmen, dass dies ohne Bewusstsein für den rassistischen Gehalt der Darstellung geschieht. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma kritisiert, dass bei Berichten über Straftaten oder Gewaltdelikte oft auf die Zugehörigkeit zur Minderheit hingewiesen wird, obwohl es keinen Zusammenhang zwischen der Straftat und der Herkunft der Täter_innen gibt.[224]
Im Jahre 1995 unterzeichnete die Bundesregierung in Straßburg die Rahmenkonventionen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten, was zwei Jahre später vom Bundestag ratifiziert wurde. Damit wurden Sinti und Roma als nationale Minderheiten anerkannt und ihnen zumindest offiziell Schutz vor Diskriminierung und die Förderung im Bereich der Bildung, der Kultur und den Medien zugesichert. Im selben Jahr wurde das Dokumentations- und Kulturzentrum deutscher Sinti und Roma in Heidelberg mit der weltweit ersten Dauerausstellung zur Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma im NS-Staat eröffnet. Um für Sinti und Roma die Möglichkeit zu schaffen, sich gegen Rassismus gerichtlich zu wehren, wurde die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) eingerichtet.
Im Jahre 2004 wurde das European Roma and Travellers Forum (ERTF) gegründet. Am 15.12.2007 kam es zu einem Partnerschaftsabkommen zwischen dem Europarat und dem ERTF, wo das ERTF als Vertretung der europäischen Roma im Namen des Europarates und seiner Mitgliedsstaaten anerkannt wurde und in Zukunft unterstützt werden sollte.[225]
Bei der letzten Überprüfung der Einhaltung der Rahmenkonventionen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten, die von der BRD unterschrieben wurden, im Jahre 2010 kritisierte die ausführende Behörde des Europarates, dass es zahlreiche Unzulänglichkeiten - neben einigen positiven Entwicklungen - bei der Umsetzung gebe. Dabei wurden folgende Punkte genannt:[226]
Im Jahr 1992 beschloss die damalige Bundesregierung nach jahrelangem Druck verschiedener Selbstorganisationen, ein „Denkmal für die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma“ zu errichten.[227]
Um den Text einer zunächst geplanten Widmung des Denkmals gab es zwischen den beiden von der Bundesregierung in die Vorbereitungen einbezogenen Opferverbänden Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und Sinti Allianz Deutschland sowie der Bundesregierung jahrelange einen unwürdigen Streit.[228] Die Bundesregierung hatte die stigmatisierende Bezeichnung der Mehrheitsgesellschaft „Zigeuner“ für den Denkmaltext vorgesehen, was der Zentralrat als unwürdig und unzumutbar ablehnte. Hier zeigte sich mindestens eine fehlende Sensibilisierung, die neues Vertrauen in die Lernfähigkeit des deutschen Staates zerstörte. Widerstand gegen den Bau des Denkmals gab es aus den Reihen der Berliner CDU. Der damalige Bürgermeister Eberhard Diepgen meinte, in der Stadt gebe es „keinen Platz für ein weiteres Mahnmal.“[229] Der damalige CDU-Fraktionschef Klaus Landowsky erklärte, „wir müssen noch erhobenen Hauptes durch die Stadt gehen können.“[230] Die durch die Meinungsverschiedenheiten verzögerten Bauarbeiten zum Denkmal begannen dann symbolisch am 19. Dezember 2008, dem offiziellen Gedenktag des Bundesrates für die Opfer des Völkermordes an den Sinti und Roma.
Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas wurde am 24. Oktober 2012 im Beisein der Bundeskanzlerin Angela Merkel und des Bundespräsidenten Joachim Gauck eingeweiht.[231] Es befindet sich in Berlin-Mitte etwas südlich des Reichstages. Der israelische Künstler Dani Karavan schuf ein kreisrundes Wasserbecken mit zwölf Metern Durchmesser mit schwarzem Grund. In die Beckenmitte platzierte der Künstler eine dreieckige steinerne Stele, die von oben gesehen an den Winkel auf der Kleidung der KZ-Häftlinge erinnert. Auf der Stele liegt eine frische Blume. Immer wenn sie verwelkt ist, versinkt der Stein in einen Raum unter dem Becken, wo eine neue Blume auf den Stein gelegt wird, um danach wieder hochzufahren und aus dem Wasserbecken emporzusteigen.
Seit der EU-Osterweiterung 2007 kam es zu einer verstärkten Zuwanderung von Menschen aus Bulgarien und Rumänien in die BRD. Da die Migrant_innen im Diskurs der Mehrheitsgesellschaft fälschlicherwiese meist als (Sinti und) Roma oder „Zigeuner“ identifiziert werden, wurden und werden sie aufgrund von antiziganistischen Stereotypen Opfer von gesellschaftlicher Ausgrenzung. Die Konstruktion der „Armutsmigration“ in die BRD wird in verstärktem Maße seit der vollen EU-Arbeitnehmer_innenfreizügigkeit ab dem 1.1.2014 für Menschen aus Bulgarien und Rumänien in der Öffentlichkeit verbreitet. Die Hetze gegen die Migrant_innen hat seinen Ursprung nicht am „rechtsextremen“ Rand, sondern in der sich demokratisch bezeichnenden „Mitte“ der Gesellschaft. Zahlreiche regionale und überregionale Medien sowie Politiker_innen vor allem aus den Reihen der beiden großen „Volksparteien“ beteiligen an der Stigmatisierung der Einwander_innen und dienen als Motoren und Multiplikatoren der Ethnisierung des Sozialen. Die extreme Rechte braucht nur noch die Debatte zuzuspitzen und sieht sich als eine Art „Vollstrecker“ der rassistischen Tendenzen in der Bevölkerung. Rassistische Mordaufrufe im Herbst 2013 in sozialen Netzwerken gegen ein meist von Zuwanderer_innen bewohntes Haus in Duisburg-Bergheim sind der vorläufige Höhepunkt der Hetze. Angesichts der aktuellen Entwicklung wären Pogrome gegen Zuwander_innen keine Überraschung und die letzte Konsequenz der gesellschaftlichen Stimmungslage.
Hegemoniale Medienvertreter_innen und gesellschaftliche Repräsentant_innen vor allem aus den „Volksparteien“ tragen die Verantwortung für eine rassistisch gefärbte Stimmungslage gegen Migrant_innen aus Rumänien und Bulgarien, die an jahrhundertealte antiziganistische Stereotype anknüpft. Die Situation erinnert fatal an die Stimmungsmache gegen „Asylbetrüger“ und andere Einwander_innen in den frühen 1990er Jahren, die letztlich eine ideologische Basis für die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen und zahllose Morde an „Ausländer_innen“ bildete. Dass die Einwanderung eine Reaktion auf die von der damaligen Bundesregierung und der EU rechtlich ermöglichten und gewollten Freizügigkeit darstellt und als europäisches Grundrecht gilt, wird schlichtweg ignoriert.
Der Deutsche Städtetag entwarf ein Bedrohungsszenario und äußerte sich besorgt, dass „die soziale Balance und der soziale Frieden in den Städten in höchstem Maße gefährdet sind.“[232]
Schon im Jahre 2013 hatte der damalige Innenminister Friedrich (CSU) bei einem Treffen der EU-Innenminister_innen einen härteren Kurs gegen „betrügerische Armutseinwanderer“ angekündigt: „Wer Sozialleistungen missbraucht, soll ausgewiesen werden.“ Zudem wolle er Ausgewiesenen, obwohl sie EU-Bürger_innen sind, „eine Einreisesperre für eine bestimmte Zeit auferlegen, damit sie am nächsten Tag nicht wiederkommen können.“[233] Diese Forderungen Friedrichs können nur als populistische Stimmungsmache verstanden werden. Ihm als damaligen Innenminister dürfte bekannt gewesen sein, dass Wiedereinreisesperren nach dem EU-Recht wegen des vorrangigen Werts der Freizügigkeit nur in sehr begrenzten Ausnahmefällen möglich sind, nämlich nur bei akuten Gefahren für die öffentliche Ordnung. Die vorhandenen rechtlichen Möglichkeiten, um Sozialmissbrauch oder nicht gerechtfertigten Ansprüchen auf Aufenthalt in der BRD zu begegnen, gibt es bereits und könnten – ob nun angebracht oder nicht – ausgeschöpft werden.[234]
Es geben mehrere Indizien, die dafür sprechen, dass die Thesen Friedrichs schon damals nicht der Realität entsprachen. Im März 2013 teilte die Europäische Kommission mit, dass es ihrer Meinung nach keine „Armutsmigration“ nach Deutschland gebe. Der EU-Sozialkommissar Laszlo Andor erklärte, dass es sich vielmehr „um ein Wahrnehmungsproblem in manchen Mitgliedstaaten, das keine Grundlage in der Wirklichkeit hat“, handele.[235] Das Bundesinnenministerium konnte nach einer parlamentarischen Anfrage Friedrichs Thesen nicht belegen. In einem amtlichen Schreiben hieß es: „Die Bundesregierung teilt die (…) Auffassung, dass es sich bei der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien nicht in erster Linie um sogenannte ‚Armutsmigration‘ handelt.“[236] Außerdem zeigte sich, dass Bulgar_innen und Rumän_innen arbeitsmarktpolitisch in der BRD gut integriert waren. So waren rund 110.000 Rumän_innen und Bulgar_innen 2012 sozialversicherungspflichtig oder geringfügig beschäftigt, was 29,4 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum waren.
Friedrichs Forderung fand immer mehr Anhänger_innen jenseits der Parteigrenzen. Die Sozialdezernentin der Stadt Dortmund, Birgit Zoerner (SPD), plädierte dafür, die Freizügigkeitsrichtlinie einzuschränken. Die geltende europaweite Freizügigkeit führe „in Zusammenhang mit der Armutswanderung zu ungeordneten Verhältnissen in den Kommunen. Die Menschen ziehen meist in die Quartiere, die ohnehin schon seit langem große soziale Herausforderungen bewältigen müssen.“ Der Duisburger CDU-Ratsfraktionschef Rainer Enzweiler sah in den Forderungen seines Parteifreundes Friedrich einen guten Ansatzpunkt, um den „Problemen“ jetzt „wirkungsvoller“ zu begegnen: „Endlich bewegt sich etwas. Der Bundesinnenminister tut gut daran, jetzt zügig entgegenzusteuern und die genannten Maßnahmen wie Ausweisung und Einreisesperre durchzusetzen. Nur so kann verhindert werden, dass die Ausgewiesenen am nächsten Tag direkt wiederkommen. Hoffentlich wird nun schnell gehandelt und nicht nur geredet. Denn die Menschen in den betroffenen Stadtvierteln wollen und brauchen Antworten der Politik auf ihre drängenden Fragen, wie die teilweise unhaltbaren Zustände vor Ort beseitigt werden. Wir brauchen Sanktionsinstrumente, die auch greifen. Wir dürfen auf keinen Fall den Eindruck entstehen lassen, es gebe in Deutschland oder in der EU in einigen Bereichen rechtsfreie Räume, in denen offensichtlichem Sozialbetrug tatenlos zugesehen wird.“[237] CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach forderte die EU auf, die Frage zu klären, „ob es auf Dauer dabei bleiben soll, dass unter Berufung auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit“, auch der freie Zugang „in die sozialen Sicherungssysteme anderer Staaten ermöglicht werden soll“.[238]
CDU-Fraktionschef Karl Josef Laumann wollte „ausgewiesenen Sozialbetrügern die Wiedereinreise verbieten“ und polemisierte: „Freizügigkeit für EU-Bürger heißt nicht, die Freiheit zu haben, nur wegen höherer Sozialleistungen nach Deutschland zu kommen.“[239] Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) erklärte, es gehe nicht darum, die EU-Arbeitnehmer_innenfreizügigkeit zu beschneiden, sondern „Sozialmissbrauch zu stoppen“.[240] Der CSU-Innenexperte Stephan Mayer sagte „Eine Zuwanderung von Fachkräften ist uns herzlich willkommen. Aber wir müssen darauf achten, dass es nicht zu verstärkter Zuwanderung von Ausländern kommt, die ausschließlich unsere Sozialleistungen in Anspruch nehmen wollen.“[241] Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link (SPD) forderte ein Wiedereinreiseverbot für Straftäter_innen.[242]
Der CDU-Politiker Elmar Brok, Chef des Auswärtigen Ausschusses des EU-Parlaments, forderte gar Fingerabdrücke für „Sozialbetrüger aus Osteuropa“: „Zuwanderer, die nur wegen Hartz IV, Kindergeld und Krankenversicherung nach Deutschland kommen, müssen schnell zurück in ihre Heimatländer geschickt werden. Um Mehrfacheinreisen zu verhindern, sollte man darüber nachdenken, Fingerabdrücke zu nehmen. Wir können die sozialen Probleme in Bulgarien und Rumänien nicht mit Hartz IV in Deutschland lösen.[243]
Zum Streit zwischen Bundesregierung und EU-Kommission um Hartz IV für Zuwanderer_innen aus Südosteuropa bemerkte der Fraktionschef der CDU, Volker Kauder: „Die Haltung der EU-Kommission ist völlig unakzeptabel. Würde sich ihre Ansicht durchsetzen, würde es vermutlich einen erheblichen Zustrom von Menschen geben, die allein wegen der Hartz-IV-Zahlungen nach Deutschland kommen würden.“[244]
Konservative Leitmedien entwarfen ein Schreckensszenario von einer „Masseneinwanderung“[245] ab 2014, wenn Arbeitnehmer_innen aus Bulgarien und Rumänien überall in der EU und somit auch in der BRD leben und arbeiten dürfen, das mit antiziganistischen Motiven angereichert wurde. Die „Rheinische Post“ schrieb: „Ab 1. Januar werden nach Expertenmeinung bis zu 15.000 Rumänen und Bulgaren in Duisburg leben. Obwohl sie dann hier berufstätig sein könnten, sind ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt eher schlecht. (…) Duisburg erwartet Flüchtlingswelle.“[246] In der „Welt“ hieß es: „Dass Zigeuner (sic) aus Südosteuropa ihre Geburtsländer immer weniger als Heimat begreifen, sondern als Wartesaal für eine Reise von der Peripherie in die Zentren der Europäischen Union, war seit 2010 nicht mehr zu übersehen.“[247] Unter dem Titel „Armutseinwanderung-Gefahr für den sozialen Frieden“ bemerkte die Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Die sozialen und kulturellen Konflikte, das Wohlstandsgefälle zwischen den Lebensverhältnissen in Osteuropa und einer deutschen Großstadt sind nun schon seit Jahren in nur wenige Quadratkilometer großen Stadtteilen Dortmunds, Offenbachs oder Mannheims zu besichtigen. Es beginnt beim fehlenden Impfschutz, dem vermehrten Auftreten von multiresistenten Tuberkulose-Infektionen und endet bei einem deutlichen Anstieg von Sozialausgaben und den Aufwendungen für die Krankenversorgung.“[248]
Dabei war schon zu diesem Zeitpunkt bekannt, dass die BRD kein bevorzugtes Ziel für Migrant_innen aus Bulgarien und Rumänien darstellte.[249] Nach Spanien und Italien wanderten mehr als eine Million aus; dies war dreimal so viel wie nach Deutschland (ca. 324.000), dem Land mit der größten Bevölkerung in Europa. Bei einem Blick auf die Statistik kann von einer „unkontrollierten Masseneinwanderung“ keine Rede sein. Wenn die Auswanderung und die Einwanderung von Menschen aus anderen EU-Staaten gegeneinander verrechnet werden, wanderten im Saldo insgesamt 286.000 Menschen im Jahre 2012 in die BRD ein. Aus Rumänien kamen 44.000 und aus Bulgarien 24.000 Menschen.[250] Dass nicht nur Angehörige der Roma-Minderheit sondern auch weiße Rumän_innen und Bulgar_innen einwanderten, dürfte bei einer seriösen Recherche deutlich werden. Das Angstszenario, dass Deutschland von „Einwanderungswellen“ überrannt werden wird, erinnert stark an die „Das Boot ist voll“-Metaphorik des Spiegels Anfang der 1990er Jahre, was synonym für die migrationsfeindliche Stimmung in der hegemonialen bürgerlichen Presse stand.
In der Bild-Zeitung wurde über das angebliche Sozialschmarotzertum der Migrant_innen und die „Einwanderung in die Sozialsysteme“ spekuliert. In einem Artikel stellt Bild selbst die Frage: Bekommen Roma Hartz IV? Die Frage wird verneint und auf die bald greifende Freizügigkeitsregelung ab dem 1.1.2014 verwiesen.[251] In einem anderen Artikel hieß es: „Politiker befürchten: Zehntausende kommen und kosten Millionen.“ Oder „Die Befürchtung: Zehntausende kommen nur wegen den Sozialleistungen.[252]
Martin Korol, damals noch Bürgerschaftsabgeordneter der Bremer SPD, hetzte in rassistischer Weise gegen Roma: „Sie kommen aus einer archaischen Welt. Väter haben keine Hemmungen, ihre Kinder zum Anschaffen oder Stehlen statt zur Schule zu schicken. Sie schlagen ihren Frauen die Zähne aus, gönnen sich selbst nur Stahlzähne. Viele jungen Roma Männer schmelzen sich mit Klebstoffdünsten das Gehirn weg.“[253] Der Berliner SPD- Politiker Heinz Buschkowsky sah die Einwander_innen gar als primitive „Müllmenschen“: „Wer auf Müllhalden aufwächst, und das tun viele dort tatsächlich, hat zur Mülltrennung vielleicht nicht so ein inniges Verhältnis.“[254] Der Bremer Sozialdemokrat Peter Nowack stellte im Oktober 2010 fest: „Die Methode Zuckerbrot und Peitsche klappt nicht mehr. Sagt ihnen, das Zuckerbrot ist alle. Ich habe die Nase voll davon, dass sich einige Großfamilien, meist Roma, alles vom Staat bezahlen lassen, aber die Straße als rechtfreien Raum betrachten. Auch sie müssen Disziplin üben, Regeln und Gesetze einhalten. Wer es nicht tut, darf auch nicht länger verhätschelt werden.“[255]
Auf sozialen Netzwerken wurde von Unbekannten in Baden-Württemberg eine antiziganistische Stimmungsmache betrieben. Es wurde vor „bulgarischen und rumänischen Kinderdieben“ gewarnt, die „mit Organhändlern in Verbindung stehen“.[256] Auf Facebook hieß es: „Diese Leute nehmen sogar Kinder aus Kinderwagen heraus.“[257] Über WhatsApp wurde verbreitet: „Haltet euch von weißen Transportern fern.“[258] Aufgrund dieser Gerüchte schickten Eltern in Mannheim, Sinsheim und Neckarbischofsheim ihre Kinder aus Angst nicht in den Kindergarten. Schließlich wies die Mannheimer Polizei diese Gerüchte als „Märchen“ zurück. Hier wurde an das alte antiziganistische Ressentiment, dass „Zigeuner“ Kinder entführen, angeknüpft und der Diskurs um eine angebliche „Organmafia“ erweitert.
In seinem Buch „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Lands aufs Spiel setzen.“[259] breitet das SPD-Mitglied Thilo Sarrazin verschiedene Argumentationsmuster und Konstruktionen aus, die die Grundlage für seine Hetze gegen Einwander_innen aus Bulgarien und Rumänien bilden.
Sarrazin geht es in seinem Buch unter anderem um „Gefährdungen und Fäulnisprozesse im Inneren der Gesellschaft“[260] und deren Überwindung. In den Bereichen der Migrations- und Integrationspolitik wird undifferenziert gegen Einwanderer_innen gehetzt, was die sachliche Diskussion und den sozialen Frieden in der BRD beeinträchtigt. Sarrazin huldigt anthropologisch einem radikalen Utilitarismus, die Sortierung von Menschen in „nützlich“ und „unnütz“ für die bundesrepublikanische Gesellschaft ist ein Fingerzeig für sein zweckrationales menschenverachtendes Weltbild.
Er geht davon aus, dass sich in den letzten Jahrzehnten eine Tendenz entwickelt hat, alles auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu schieben und so den Einzelnen moralisch von der Verantwortung für sich und sein Leben zu entlasten.[261] Mit Pauschalisierungen hetzt er gegen eine nicht näher definierte „Unterschicht“, die in einer „Wohlfahrtsdiktatur“[262] auf die Befriedigung kurzfristiger Bedürfnisse wie „Alkohol, Zigaretten, Medienkonsum und Fastfood“ konzentriert sei.[263] Die angeblich üppigen Sozialleistungen wären dafür verantwortlich, dass „Leistungsferne und mangelhaften Willen zur Selbsthilfe teilweise belohnt und damit zur Verfestigung einer transferabhängigen Unterschicht beiträgt.“[264] Sarrazin spricht abwertend von einer „Armut im Geiste“ vieler Vertreter_innen dieser „Unterschicht“. Dies sei eine „Kombination aus Bildungsferne, Sozialisationsdefiziten sowie Mangel an Gestaltungsehrgeiz und Lebensenergie.“[265] Seine „Änderungsvorschläge“ laufen auf eine heftige Kürzung der staatlichen Leistungen hinaus, „um mehr Anreize zur Arbeitsaufnahme zu schaffen.“ Weiterhin soll eine Art Arbeitspflicht eingeführt werden: „Erwerbsfähige Menschen unter der gesetzlichen Altersgrenze erhalten Leistungen der Grundsicherung nur noch gegen eine verpflichtende Gegenleistung.“[266]
Mit rassistischen Stereotypen heizt Sarrazin die Debatte um die Migrationspolitik weiter an: „Die deutsche Einwanderungspolitik der letzten Jahrzehnte hat nicht die Leistungsträger fremder Völker angelockt, sondern vornehmlich Landbewohner aus eher archaischen Gesellschaften, die in ihren Heimatländern am unteren Ende der Rangskala wie auch der Bildungsskala angesiedelt sind.“[267] Angeblich homogene Zuwanderungsgruppen werden ohne jeden Hinweis auf eine verwertbare Quelle mit dem Stigma des Sündenbocks belegt: „Belastbare empirisch-statistische Analysen, ob die Gastarbeiter und deren Familien überhaupt einen Beitrag zum Wohlstand erbracht haben oder erbringen werden, gibt es nicht. (…) Für Türken und Marokkaner wird man sie sicher verneinen können.“[268] Sarrazin plädiert dafür, die weitere Zuwanderung nach Deutschland mit Ausnahme „hoch qualifizierter Experten“ generell zu beenden. Vor allem muslimische Migrant_innen werden undifferenziert als Sündenböcke für eine seiner Ansicht nach verfehlte Migrationspolitik ausgemacht.[269]
Gleichzeitig entwirft Sarrazin das Angstszenario eines angeblichen „Aussterbens der Deutschen“: „Bleibt die Geburtenrate der Migranten dagegen dauerhaft höher als die der autochthonen Bevölkerung, so werden Staat und Gesellschaft im Laufe weniger Generationen von den Migranten übernommen.“[270] Er schürt bewusst das Phänomen der „Überfremdung“: „Für mich ist es wichtig, dass Europa seine kulturelle Identität als europäisches Abendland und Deutschland seine als Land mit deutscher Sprache wahrt. (…) Ich möchte, dass auch meine Urenkel in 100 Jahren noch in Deutschland leben können, wenn sie dies wollen. Ich möchte nicht, dass das Land meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch ist, dass dort über weite Strecken türkisch und arabisch gesprochen wird, die Frauen ein Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzine bestimmt wird. Wenn ich das erleben will, kann ich eine Urlaubsreise ins Morgenland buchen. (…) Ich möchte nicht, dass wir zu Fremden im eigenen Land werden.“[271]
Anfang des Jahres 2014 warnte Sarrazin in einem Gastbeitrag für das konservative Magazin „Focus“ vor einer „steigenden Armutseinwanderung“ in die BRD.[272] Die Überschrift „Hartz IV für die Welt?“ orientiert sich an der rassistische Parole „Deutschland ist nicht das Sozialamt der Welt“, die Anfang der 1990er Jahre in Deutschland Hochkonjunktur hatte. Das „Argument“ der „Einwanderung in die Sozialsysteme“ auf dem Rücken deutscher Beitragszahler_innen zieht sich durch seine Beweisführung. Sarrazin prognostizierte, dass innerhalb eines Jahres „unter den Zuwanderern auf jeden qualifizierten Ingenieur aus Spanien wohl 100 Armutseinwanderer aus Rumänien und Bulgarien kommen“. Daher sei „Freizügigkeit für EU-Bürger und Anspruch auf Sozialleistungen im frei gewählten Aufenthaltsland“ nicht miteinander vereinbar. Diese „Armutseinwanderer“ kämen auch nicht alleine, sondern würden ihre „ganze Großfamilie“ mitbringen. Dabei schürt er auch Ängste vor einer massenhaften Einwanderung von den „circa acht Millionen Roma auf dem Balkan“: „Wenn gar nichts mehr geht, wird ihnen der deutsche Sozialstaat helfen. Sie müssen es nur irgendwie über die deutsche Grenze schaffen, und ihnen ist (zur Not ganz ohne Arbeit) ein Lebensstandard sicher, der in ihren Heimatländern traumhaft wäre.“[273]
Die „Armutseinwanderung“ gehe zu Lasten „deutscher Steuerzahler“ und träfe auch die „wachsende Zahl deutscher Rentner“, die „dafür kürzertreten“ müssten. Hier wird der Versuch gestartet, Deutsche und Migrant_innen aus Rumänien und Bulgarien gegeneinander auszuspielen; die eine Seite (Migrant_innen) werde angeblich bevorzugt behandelt, was der anderen Seite (Deutsche) schade. Es kommen laut Sarrazin die Falschen: „Die Hoffnung auf deutsche Sozialleistungen lockt nicht jene positive Auslese (sic) jener qualifizierten und leistungsstarken Einwanderer an, die das alternde und geburtenarme Deutschland braucht, sondern das Gegenteil davon“[274]
Der „herrschende Denkstil“ sei geprägt von einer „von der Wirklichkeit abgewandte(n) Weltsicht“, die die „Folgen des eigenen Handelns nicht überschaut“ und „unbeirrt in die falsche Richtung“ gehe. In dieser so konstruierten Situation sucht Sarrazin nach einem/einer Retter(in) und stellt die suggestive Frage: „Wer aber rettet Deutschland - zunächst vor Illusionen und Selbstbetrug und später vor deren Folgen?“[275] Als „Gegensteuerung“ plädierte Sarrazin für eine „Reform der Hartz-IV-Gesetze für Ausländer“. Diese sollten in den ersten zehn Jahren ihres Aufenthalts in Deutschland lediglich die Mindestsicherung erhalten, die ihnen in ihren Heimatländern zusteht. Die weitere Abschottung der BRD steht ebenfalls auf der Agenda; die BRD benötige ein „wirksames Grenzregime, das illegale Zuwanderung verhindert.“
Hans Werner Sinn, Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung und einer der bundesrepublikanischen Nestoren einer marktradikalen Gesellschaftspolitik, betreibt weit entfernt von einer zumindest humanistischen Ideologiebasis betreibt er eine Menschensortierung in „nützliche Fachkräfte“ und „unnützen Sozialfällen“. Innerhalb seiner kapitalistischen Logik wendet er sich gegen einen angeblichen „Immigrationssturm, der an die Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung erinnert“, der zu einer „Erosion unseres Sozialstaates“ führen werde.[276] Führte schon die Arbeitnehmer_innenfreizügigkeit im Jahre 2011 „nach Öffnung der Tore (…) der aufgestaute Migrationsdruck“ dazu, dass „die Menschen in Scharen“ kommen und „dem Kapital folgen“, sollten auch nach dem Ende der Freizügigkeitsbeschränkungen für Migrant_innen aus Rumänien und Bulgarien „dringend benötigte Arbeitskräfte“, die „gut ausgebildet und integrationswillig“ sind, für eine Wachstumssteigerung der deutschen Volkswirtschaft sorgen. Davon scharf abzugrenzen sei die „Migration in den Sozialstaat“, die sowohl den „Steuerzahlern“ und den „anderen Empfängern von Sozialleistungen“ schade. Nicht nur nach Berlin-Neukölln würden „mittlerweile ganze rumänische Dörfer“ auswandern: „Viele Städte werden der ausufernden Sozialleistungen für die Immigranten nicht mehr Herr. Die Situation in einigen ohnehin stark belasteten Städten des Ruhrgebiets droht außer Kontrolle zu geraten.“[277]
Dieses Horrorszenario würde „unweigerlich zur Erosion des deutschen Sozialstaates führen, denn zum einen fehlt das Geld dafür, zum anderen werden die Länder versuchen, ihre Attraktivität für Armutswanderer zu verringern.“ Dieser „EU-Idee einer Inklusion der Bedürftigen nach den Regeln des Wohnsitzlandprinzips“ stellt er das „Heimatlandprinzip“ entgegen, das allein die „Fortexistenz des Sozialstaates alter Prägung“ sichern könnte. Dieses „Heimatlandprinzip“ soll folgendermaßen funktionieren: „Wer Sozialhilfe von einem EU-Land bezieht, kann sein Geld in jedem beliebigen EU-Land seiner Wahl ausgeben, und sei es auf Mallorca oder den Kanaren. Er hat aber nicht das Recht, die Hilfe von seinem Gastland zu verlangen, sondern muss sich an sein Heimatland wenden, das ja dem Sozialstaatsgebot der EU verpflichtet ist. Nur bei der reglementierten Zuwanderung aus Drittstaaten gelten andere Regeln.“[278]
Sinn konstruiert in seiner Argumentationskette einen Zusammenhang zwischen Einwanderung und einer angeblichen Sozialstaatskrise. Dass er als ordoliberaler Vordenker in der Rolle des Retters der Sozialstaatlichkeit fehl am Platze ist, steht außer Zweifel. Die in seinen Augen unkontrollierte Einwanderung von „Armutsmigranten“ schade dem „Standort Deutschland“ und wird zu einer nationalen Belastung und Gefahr heraufgeschworen. Diese Unterscheidung in „unnütze“ und „nützliche“ Menschen ist eine Steilvorlage für die extreme Rechte, die in der Regel Migrant_innen als Sündenböcke für gesellschaftliche Problemlagen missbrauchen.
Der Schriftsteller Rolf Bauerdick, der im Jahre 2012 den Preis des Europäischen Buches der Association Esprit d’Europe erhielt, bestätigte in seinem Buch „Zigeuner. Begegnungen mit einem ungeliebten Volk“[279] jahrhundertealte Vorurteile über Sinti und Roma innerhalb der deutschen Mehrheitsbevölkerung und dient gleichzeitig als Stichwortgeber für die extreme Rechte.
Die Benutzung des Begriffs „Zigeuner“ im Titel stellt schon „eine Provokation“[280] dar. Für Bauerdick ist der Terminus „Zigeuner“ ein „ehrenwerter Begriff“[281], der von ihm bekannten Roma selbst verwendet wird. Bauerdick schließt somit aus einigen Beispielen daraus, dass Roma insgesamt selbst „Zigeuner“ genannt werden wollen. Dass eine kleine Minderheit dies als Selbstbezeichnung wählt, ist unumstritten. Von der überwiegenden Mehrheit wird der Terminus jedoch als diskriminierendes Konstrukt der Dominanzgesellschaft zurückgewiesen. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, die Rom und Cinti Union aus Hamburg, die Roma-Union aus Frankfurt am Main, der Rom e.V. aus Köln und der Verband Amaro Drom aus Berlin lehnen die Fremdbezeichnung „Zigeuner“ als rassistisch ab und verweisen auf die Geschichte des Begriffs vor allem im Nationalsozialismus.
Der Hinweis auf seine jahrzehntelangen Begegnungen mit Roma verfolgt die Absicht, ihn als zuverlässigen Insider erscheinen zu lassen, um seine Glaubwürdigkeit zu stärken. Dabei ist sein Blickwinkel, wie er sich seiner zu untersuchenden Zielgruppe (Roma) annähert, höchst fragwürdig und unseriös. Bauerdick schafft es nicht, sich von den Normalitätsvorstellungen seiner eigenen westlichen Kultur zu distanzieren und Roma aus deren eigenen kulturellen und sozialen Kontext zu begreifen. Zuschreibungen, die das Eigene zum Maßstab zur Auseinandersetzung mit dem Anderen machen, durchdringen das gesamte Buch. Was Bauerdick als Realität bezeichnet, ist eine symbolische Ordnung, die von einem westlichen kulturellen Horizont geprägt ist.
Für Bauerdick sind die Bezeichnungen Sinti und Roma unter Rückgriff auf den „Roma-Experter Remmel“ lediglich „Kunstbegriffe der Political Correctness, welche die Bürgerrechtsbewegung deutscher Sinti und Roma durchgesetzt hat.“[282] Nicht näher genannte „Meinungsbildner in den Medien haben die Ächtung des Begriffs ,Zigeuner‘ durch den Zentralrat weitgehend zu ihrer eigenen Sache gemacht“ und „die Sichtweise der Funktionäre zur Norm erhoben“.[283] Er beschimpft die Mitglieder_innen des Zentralrats als „Kongreß-Roma“, die „die Diskriminierung ihres Volkes und das Elend in jenen Siedlungen beklagen, die sie selbst nur dann betreten, wenn sie von Reportern und Kameras begleitet werden.“[284] Dieser „selbstgerechte(n) Empörungsclique“ unterstellt Bauerdick sogar ernsthaft Rassismus: „Der subtile Rassismus der Sinti-und Roma-Freunde besteht darin, dass sie der Gesellschaft alles, den Zigeunern indes nichts abverlangen. So verhält man sich gewöhnlich gegenüber Menschen, denen man nichts zutraut.“[285]
Bauerdick versucht die These zu entkräften. dass die Mehrheitsgesellschaft immer nur die Täter_innen stelle und die Minderheit immer nur die Opfer sei. Aus einer essenzialistischen Sicht kritisiert er die angeblich fehlende Eigenverantwortung zur Verbesserung ihrer Situation und ruft damit ein seit Jahrhunderten in Deutschland bekanntes Ressentiment über „Zigeuner“ ab. Bauerdick schreibt: Nach ungezählten Begegnungen in über zwanzig Jahren erinnere ich kaum einen Rom, der für die Wurzel seiner Misere ein Stück Verantwortung bei sich selber gesucht, geschweige denn gefunden hatte.“[286] Er spricht von „selbstverlorenen Menschen“, die nicht fähig dazu seien, „den verhängnisvollen Teufelskreis aus Entwurzelung, Verwahrlosung und Abhängigkeit aus eigener Willenskraft zu unterbrechen.“[287] In ihrem „selbstmitleidigem Erstarren“[288] und ihrem „lethargischen Fatalismus“[289] sähen sie sich in der „Rolle des ewigen Opfers.“[290] Bauerdick bestätigt auch weitere antiziganistische Stereotype wie Primitivität, Faulheit und Kriminalität.
Er setzt sich auch mit der Zuwanderung aus Südosteuropa, darunter auch Roma, vor allem in deutsche Metropolen in einem kurzem Abschnitt auseinander. Dabei stellt er die Zuwanderung in einer Semantik der Gefahren dar, die mit einer angeblichen Belastung und Überforderung der betreffenden Städte einhergehen würden. Er wirft den Zuwander_innen vor, den deutschen Sozialstaat auszunutzen: „Die Anmeldung eines Gewerbes bei den Ordnungsämtern dient dazu, die Aufenthaltsbeschränkungen zu umgehen und für die Familien das Anrecht auf Zahlung von Kindergeld zu erwirken.“[291] In Dortmund „überschwemmten hunderte bulgarische Prostituierte den Straßenstrich“[292], wobei „nicht nur (…) Prostituierte, zu einer Belastung des sozialen Klimas (wurden), auch die Männer, die auf den Plätzen und Bürgersteigen rund um den Nordplatz den öffentlichen Raum in Beschlag nahmen.“[293] Durch die Zuwanderung wäre die Nordstadt, wo proportional viele Migrant_innen leben, „an eine Grenze gestoßen“.[294]
Insgesamt gesehen ist das Buch von Bauerdick eine weitere Bestätigung und moralische Entlastung für weite Teile der Mehrheitsgesellschaft, die jahrhundertelang tradierte Stereotype über „Zigeuner“ verinnerlicht haben und nicht bereit sind, jedes Individuum fern von einem essenzialistischem Kontext zu beurteilen. Das Buch fand nicht nur meist in hegemonialen bürgerlichen Medien zustimmende Rezensionen, es wurde auch in extrem rechten Organen gefeiert. In der extrem rechten Zeitschrift „Sezession“, die dem Institut für Staatspolitik nahe steht, bezeichnete Ellen Kositza[295] Bauerdicks Werk als „das Sachbuch des Jahres“[296]. Bauerdick durchbräche das „Schweigegebot“, dass „eine seriöse Debatte über die haarsträubenden Zustände in und rund um Zigeunersiedlungen, die mehr und mehr Raum einnehmen und längst in Deutschland um sich greifen, aus dem öffentlichen Raum verbannt“ werde. Bauerdick rede „Tacheles“ und nehme „kein Blatt vor den Mund“. Dem „großen, herzlichen Zigeunerfreund“ Bauerdick gehe es nicht „ums Schüren einer Angst vor den Zigeunern, er betont seine Angst um die Zigeuner.“ Es fehle der „Druck“ die „grassierende Apathie unter den Zigeunern“, die „sich am Riemen zu reißen“ hätten, zu beenden.
Nur vereinzelt wurde Kritik laut, was als Zeichen für eine ungenügende Sensibilität für antiziganistische Klischees zu werten ist. Herbert Heuß vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma warf Bauerdick einen „Amoklauf der politischen Unkorrektheit“ vor. Die Tatsache, dass „Bauerdick die Verbrechen Einzelner mit ihrer Ethnie in Verbindung bringt“, erinnere Heuß „an die Parolen rechtsradikaler Parteien“[297]
Andrè Lohse kritisiert Bauerdicks Buch dahingehend, dass Bauerdick seine „selektiven ‚Begegnungen‘ uminterpretiert“ und dabei die „altbewährten antiziganistisch-rassistischen Negativzuschreiben zu rehabilitieren versucht.“ Lohse bilanzierte: „Dem Buch scheint (…) die unterschwellige Strategie zugrunde zu liegen, mit persönlichen, selektiv geschilderten Erlebnissen gegen die kritische Wissenschaft zu Felde zu ziehen und fortwährend ethnische Zuschreibungen zu rehabilitieren, die zwar nicht als überwunden geglaubt werden können, die jedoch mittlerweile dank eines Antiziganismus-kritischen Diskurses ins Wanken geraten sind. (…) So wird die Berichterstattung des Autors zur perfiden Wissensproduktion, die pseudoanalytisch und etikettierend schließlich doch rassistischen Deutungsmustern den Vortritt vor der Kritik falscher gesellschaftlicher Zustände gewährt.“[298]
Dass die Hetze aus dem gesellschaftlichen Establishment auf fruchtbaren Boden innerhalb der bundesrepublikanischen Bevölkerung fiel, beweist eine Umfrage, die das Nachrichtenmagazin Focus im Herbst 2013 beim Meinungsforschungsinstitut TNS Emnid in Auftrag gegeben hatte. TNS-Emnid befragte für Focus Ende Februar 2013 1004 Personen. In der Umfrage sprachen sich 27 Prozent dafür aus, dass alle EU-Bürger_innen nach Deutschland einwandern dürfen. 28 Prozent wollen die Einwanderung aus bestimmten EU-Staaten begrenzen. 41 Prozent plädierten dafür, für Zuwanderer aus allen EU-Staaten Beschränkungen einzuführen.[299]
Die CSU steigerte im Vorfeld der vollen EU-Arbeitnehmer_innenfreizügigkeit ab dem 1.1.2014 für Menschen aus Bulgarien und Rumänien ihre Hetze gegen „die Armutseinwanderung“ aus diesen Ländern.
Die angebliche Befürchtung eines "fortgesetzten Missbrauch der europäischen Freizügigkeit durch Armutszuwanderung" schrieb in kollektivierender Weise der Gesamtheit der Migrant_innen deviante Eigenschaften zu.[300] Hans-Peter Uhl, innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, forderte, dass der „Missbrauch von Sozialleistungen verhindert werden“ müsse. Er regte „Gesetzesänderungen auf nationaler Ebene“ an. So dürfe Kindergeld nicht an Kinder ausgezahlt werden, die im Gegensatz zu ihren Eltern nicht in Deutschland leben. Beim Bezug von Sozialhilfe müsse es eine Sperrfrist für die ersten drei Monate des Deutschland-Aufenthalts geben. „Sozialhilfebetrügern“ sollten nach dem Motto „Wer betrügt, der fliegt“ künftig an der „Wiedereinreise nach Deutschland gehindert werden“.[301] Die Aussagen der CSU-Vertreter_innen sind als geplante Provokationen zu verstehen, um im Hinblick auf die Kommunalwahlen am 16.3.2014 in Bayern und die Europawahlen am 25.5.2014 zum wiederholten Mal auf dem Rücken von Einwander_innen Stimmengewinne zu verbuchen. Die Sorge des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma in einem Brief an Bundespräsident Gauck,, dass die Diskussionen über Kriminalität und „Armutsflüchtlinge“ aggressiv geführt würden und damit drohten, zum Wahlkampfthema zu werden, wurde ignoriert.
CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach, der in den Koalitionsverhandlungen für die CDU die Unterarbeitsgruppe zur „Armutsmigration“ vertrat, unterstützte die Positionen der CSU in diesem Diskurs. Für Bosbach müsse geklärt werden, inwieweit „das Recht zur Arbeitnehmerfreizügigkeit auch das Recht zur Inanspruchnahme von Sozialleistungen“ umfasse.[302] Dabei bediente er die Konstruktion von der angeblichen Einwanderung in die Sozialsysteme: „Betrug oder Missbrauch dürfen nicht geduldet werden. Der Begriff Arbeitnehmerfreizügigkeit darf nicht ausgeweitet werden zur freien Wahl des sozialen Sicherungssystems, in das man gerne einwandern möchte" Er verteidigte das kritisierte Motto der CSU „Wer betrügt, der fliegt“ mit dem Hinweis, dass die CSU „schon immer eine direkte Sprache gewählt“ hätte. Dieser Satz solle lediglich ausdrücken, „dass es keine Chance geben soll, unser Sozialrecht zu missbrauchen. Die Menschen erwarten von einer Regierung, dass sie nicht nur die Probleme benennt, sondern auch konkrete Lösungen bietet. " Dies würde „insbesondere die Länder überfordern, die wie Deutschland besonders hohe Sozialleistungen gewähren." Kanzlerin Angela Merkel betonte vor den Kommunal- und Europawahlen 2014 noch extra, die EU sei keine „Sozialunion“.[303]
In dieser Diskussion knüpften Vertreter der CDU/CSU an das Konstrukt der „Einwanderung in die Sozialsysteme“ an, das auf den damaligen Fraktionsvorsitzenden der CDU, Friedrich Merz, zurückgeht. Als die damalige rot-grüne Bundesregierung im März 2002 im Bundestag das neue Zuwanderungsgesetz verabschiedete, warnte Merz vor einer „weiteren Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme“.[304]
Um die Jahreswende 2013/2014 startete die Bild-Zeitung eine Kampagne gegen die neue Freizügigkeit von Bulgar_innen und Rumän_innen ab dem 1.1.2014. In populistischer Form wurden die schon hier lebenden Menschen aus den beiden Ländern und potentiell neue Einwander_innen homogenisiert und ihnen kollektive deviante Eigenschaften zugeschrieben. Zuwanderung wurde in einer Semantik der Gefahren dargestellt. Kurz nach der Bildung der Großen Koalition verkündete die Bild-Zeitung in dreister Manier ihren Leser_innen und der breiten Öffentlichkeit, dass das Springer-Blatt ab sofort die „Ausserparlamentarische Opposition (APO)“ der deutschen Bevölkerung sei. Woher die Bild-Zeitung ihre Legitimation bezog, für die gesamte Bevölkerung der BRD zu sprechen, wurde nicht erwähnt. Die jetzige Opposition bestehend aus Bündnis 90/Die Grünen und der Linkspartei wurde als „zu klein“ und „zu links“ diffamiert und ihre Handlungsfähigkeit in Zweifel gezogen. Da es an einer „bürgerliche Stimme“ im Parlament fehle, wollte die Bild-Zeitung nun diese angebliche „Lücke“ füllen.[305] Dort hieß es:“ Deshalb verspricht Bild. (…) Wir sind Eure Ausserparlamentarische Opposition (APO) (…) Wir schauen der Regierung jetzt ganz genau auf die Finger – und hauen notfalls kräftig drauf.“[306]
Kurze Zeit später kam es zur ersten „Einmischung“ der selbsternannten APO. Die volle EU-Arbeitnehmer_innenfreizügigkeit ab dem 1.1.2014 für Menschen aus Bulgarien und Rumänien sei angeblich „DAS Thema für Millionen Bundesbürger“.[307] Die Einwanderung aus Bulgarien und Rumänien wurde in einer Semantik der Gefahren als „wachsende Zahl von Armutsflüchtlingen aus Osteuropa“ umgedeutet, was „Sorgen“ innerhalb der Bevölkerung auslösen würde.[308] Dieses Thema, was „ganz Deutschland bewegt“, würde „von SPD und Union seit Monaten totgeschwiegen.“[309] Da die „Bild-APO“ aber die „Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen“[310] würde, wolle sie das Thema nicht „den Rechtspopulisten“ überlassen: „Wir sind überzeugt: Wer sich der Debatte nicht stellt, treibt den Rechtspopulisten die Wähler zu.“[311]
Die „BILD-APO“ wollte von der Regierung wissen, was für Folgen die Zuwanderung für die BRD bedeute. Am 30. Dezember reichte BILD bei der zuständigen Arbeitsministerin Andrea Nahles öffentlichkeitswirksam eine „Große Anfrage“ mit 10 Fragen ein.[312] Darunter waren auch Fragen wie „Welche konkreten Maßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen, um zu verhindern, dass es zu einer massen- und dauerhaften Armutszuwanderung in die deutschen Sozialsysteme kommt?“ oder „Wie hoch schätzt die Bundesregierung den Anstieg der Sozialausgaben für Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien ab dem 1. Januar 2014?“, die suggerieren sollen, dass es bei der Migration um eine „Einwanderung in die Sozialsysteme“ handele. Dieses populistische Diskursmuster tauchte immer wieder in der Berichterstattung auf und sollte durch die ständige Wiederholung Teil der Realität der Leser_innen werden.
Zuwander_innen aus Rumänien und Bulgarien bedeuteten laut Bild eine „Gefahr“ für die „Ausbeutung des Sozialsystems“. Suggestive Fragen wie „Wie viel kosten uns die neuen Zuwanderer?“[313] oder „Kommt es zum massenhaften Zuzug in die deutschen Sozialsysteme?“[314] finden sich häufig. In einem Bild-Interview bekräftigte Hans Peter Wollseifer, Vorsitzender des Handwerksverbandes ZDH, deren Agitation. Wollseifer bemerkte: „Wir suchen arbeitswillige Facharbeiter – selbstverständlich auch aus Osteuropa. Wir stellen gerne Lehrlinge aus Rumänien und Bulgarien ein. Wir wollen aber keinen Sozialsystem-Tourismus. Missbrauch muss konsequent verfolgt werden.“ [315] Die Zeitung forderte „Wiedereinreiseverbote für Sozialbetrüger aus Rumänien und Bulgarien“ und warb für die rechtliche Möglichkeit „Armutszuwanderern aus Bulgarien und Rumänien das Kindergeld“ zu streichen.[316]
Außerdem schürte Bild die Angst „vor neuer Billiglohnkonkurrenz“ und „Schwarzarbeit“: „Die illegale Unterwanderung der Tariflöhne bleibt eine große Gefahr. Und Tagelöhner, die an unseren Straßen stehen, sich für Mini-Löhne anbieten, können nicht die Lösung sein.“[317] Um dies zu unterbinden, müssten die zuständigen Kontrollbehörden weiteres Personal einstellen, um mehr Betriebsüberprüfungen durchzuführen.
Bild inszenierte ein Bedrohungsszenario einer „Masseneinwanderung“, ohne die Auswanderung zu berücksichtigen. In einem Artikel unter der Überschrift „Bis zu 180.000 Billigarbeiter werden pro Jahr erwartet“ hieß es: „Ab dem 1. Januar könnte der Zuwanderungsstrom noch mal rapide anschwellen. (…) Experten rechnen damit, dass bis zu 180.000 rumänische und bulgarische Arbeitskräfte im Jahr künftig auf den deutschen Arbeitsmarkt strömen, hiesige Arbeitnehmer verdrängen, Löhne drücken, Sozialhilfe und Kindergeld kassieren. Die CSU verlangt Abwehrmaßnahmen gegen Sozialbetrüger aus Südosteuropa. (…) Vor allem Sinti und Roma fliehen aus ihrer Heimat, suchen bei uns Jobs und Wohlstand. Und passen sich nur schwer deutscher Lebensart an.“[318]
Im Rahmen der Kolumnenreihe „Die außerparlamentarische Opposition“ im „Handelsblatt“ erhielt der Vorsitzende der AfD, Bernd Lucke, die Plattform, seine wohlstandschauvinistischen und hetzerischen Thesen in der Diskussion über die EU-Arbeitnehmer_innenfreizügigkeit einem breiteren Publikum zu präsentieren. Die volle Freizügigkeit für Menschen aus Bulgarien und Rumänien weckten laut Lucke „Ängste vor einer Armutsmigration, angelockt von unseren um das Fünffache höheren Sozialleistungen.“[319] Anstatt die Armut selbst als Problem zu thematisieren, werden „Armutsmigranten“ aus diesen beiden Ländern zu einer Gefahr für die bundesrepublikanische Gesellschaft heraufbeschworen: „Das Problem sind diejenigen Zuwanderer, oft Roma und Sinti, die schon in Rumänien und Bulgarien am Rande der Gesellschaft lebten. Die schon dort unterqualifiziert und kaum integriert waren. Die Gelegenheitsarbeiten als einen Normalzustand empfinden. Die bittere Armut gewohnt sind, und Mittel und Wege suchen, um sich die soziale Unterstützung in Deutschland dauerhaft zu sichern. (…) Und wenn die Rumänen und Bulgaren nun dennoch kommen? Wenn sie kommen, mit acht Kindern, obwohl es kein Kindergeld gibt, und unter den Brücken schlafen, weil es kein Wohngeld gibt? Und der kümmerliche Lohn kaum fürs Essen reicht? Dann müssen wir das anwenden, was die Gesetze schon für nicht erwerbstätige EU-Ausländer bestimmen: Wer seine Existenz bei uns nicht sichern kann, verliert sein Aufenthaltsrecht und muss in seine Heimat zurückkehren.“[320] Das Bild der armen auf kärgliche Sozialleistungen spekulierenden Migrant_innen wurde noch um das Konstrukt der Kriminalität ergänzt. Lucke bemerkte: „Viele Sorgen, Ängste und Ressentiments ranken sich um Kriminalität durch Armutsmigranten. Auch dies wird regierungsseitig gerne relativiert und bagatellisiert. Doch jeder weiß, dass Armut auch Kriminalität bringt. Unsere Gesetze erlauben Abschiebung nur bei schwerer Kriminalität. Das ist falsche Rücksichtnahme. Auch Kleinkriminelle haben bei uns nichts zu suchen. Wer zu uns kommt, muss redlich sein.“[321] Die AfD sieht auch andere uniformiert dargestellte Einwander_innengruppen als Bedrohung für die BRD an. Sie transportiert in ihrer Zuwanderungspolitik einen kaum verhüllten antimuslimischen Rassismus und postuliert eine kulturalistische Differenz zwischen islamischen Einwander_innen und der autochthonen Bevölkerung: „Die falsche Annahme, Zuwanderer aus islamischen Ländern würden ihre Gewohnheiten und Kulturen, ihre Familienclans und Moscheen nicht in das Aufnahmeland mitbringen, hat bis heute große Verunsicherungen in der Gesellschaft und eklatanten Schaden angerichtet, ja einen stillen Bürgerkrieg verursacht. Bei der Auswahl von Zuwanderern muss folglich differenziert vorgegangen werden und neben den fachlichen Qualifikationen auch darauf geachtet werden, welche Einwanderergruppen in den Wertekanon des Aufnahmelandes passen. An den Opferzahlen der durch Migranten verübten Verbrechen an der einheimischen Bevölkerung ist ebenso zu messen, welche rechtlichen Maßnahmen die Integrationspolitik flankieren müssen, wie an der durch Studien belegte Tatsache, dass jeder vierte junge Muslim Integration ablehnt und aktuell 46% der Migranten auf eine muslimische Bevölkerungsmehrheit hoffen.“[322]
Die FDP sah im Zuge des Vorstoßes der CSU nach ihrem Scheitern bei der Bundestagswahl die Chance, verlorene Wähler_innen vor allem an die AfD zurückzugewinnen. Unter der Bezugnahme auf alte nationalliberale Traditionen forderte der neue Vorsitzende der FDP, Christian Lindner, die „Rückführung nicht integrierbarer Zuwanderer“ und eine Unterbindung der „Zuwanderung in die Sozialsysteme“. Dabei machte er die radikalutilitaristische Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“ Zuwander_innen: „Der Mehrheit der ehrlichen und fleißigen Zuwanderer hilft es nicht, Probleme mit einer Minderheit zu verschweigen.“[323]
Die besonders von Vertreter_innen der CSU und der Springer-Presse angeheizte Diskussion um „Armutsmigration“ und die damit verbundene „Einwanderung in die Sozialsysteme“ zeigte Wirkung.[324] Das Thema Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien belegte im ZDF Politbarometer Anfang 2013 bei der Frage nach dem wichtigsten Problem in Deutschland den ersten Platz. Im Vergleich zum Dezember 2013 (10%) erhöhte sich die Zustimmung um 12% auf insgesamt 22%. Die Konstruktion der „Einwanderung in die Sozialsysteme“ fiel bei 62% der Befragten auf fruchtbaren Boden. 32% der Befragten gingen davon aus, dass dies nur in wenigen Fällen zuträfe, während 6% keine Angaben machten. Mehr als die Hälfte der Befragten (56%) stimmte der Behauptung zu, dass die BRD generell aufgrund des demographischen Faktors und des Fachkräftemangels Einwanderung benötige, während sich 38% gegen eine Zuwanderung wandte. Speziell bei der Einwanderung aus Bulgarien und Rumänien gingen 51% der Befragten eher von Nachteilen für die Aufnahmegesellschaft aus. 10% der Befragten sahen Vorteile durch die Einwanderung und 35% schätzten, dass sich Vor- und Nachteile ausgleichen würden.
Der Vorsitzende des Zentralrats der deutschen Sinti und Roma, Romani Rose, bezeichnete die Zuwanderungsdebatte als „unerträgliche“ und „beschämende“ Diskussion: „Das ist Populismus. Dass man einerseits Ängste bei der Bevölkerung weckt, und dass man sich dann andererseits als jemanden aufspielt, der dieses Problem in den Griff bekommt. Wie wir wissen, nützt so etwas im Endeffekt den rechtsextremen Parteien, die dann mit Parolen kommen wie ‚Die Rente für die Oma und nicht für Sinti und Roma‘. Wir werden bei der Europawahl sehen, wer die Nutznießer dieser Debatte sind.“[325]
Das Fachmagazin „Migazin“ stellte zu Recht fest: „Außer Frage dürfte jedenfalls stehen, dass die CSU mit ihrer Politik gegen Bulgaren und Rumänen der vielfach geforderten Willkommenskultur großen Schaden zugefügt hat, ebenso dem Bemühen Deutschlands, Fachkräfte aus dem Ausland anzuziehen. Dabei waren Ausgrenzung, Benachteiligung oder gar Gewalt gegen Ausländer auch schon vor dem CSU-Slogan ein großes Problem, dass nach dem CSU-Slogan sicher nicht kleiner geworden ist.“[326]
Der Vorsitzender der Linkspartei, Bernd Riexinger, ging noch einen Schritt weiter: „Wenn eine Regierungspartei gegen Ausländer hetzt, darf man sich nicht wundern, wenn braune Gewaltbanden Taten folgen lassen.“[327]
Die extreme Rechte brauchte nur noch die oben beschriebenen Steilvorlagen aus den etablierten Parteien aufzunehmen und zuzuspitzen. Folgen europaweiter Migrationsprozesse und die Festigung multikultureller Gegebenheiten werden in einer Semantik der Bedrohung dargestellt. Die extreme Rechte nutzte zur Erhöhung der Aufmerksamkeit ähnliche Dramatisierungs- und Skandalisierungsstrategien, um die Bekämpfung von Migration und auch interkultureller Gesellschaft in der BRD als zwingend darzustellen. Dabei standen besonders zwei Argumentationsstränge im Vordergrund: die „Ausländerkriminalität“ und die „Einwanderung in die Sozialsysteme“ bzw. „Deutschland als Sozialamt der Welt“. Die Themen werden dabei abhängig von den einzelnen Gruppierungen oder Organisationen in einen antiegalitären und völkisch-nationalistischen Deutungsrahmen überführt, wo eine unüberwindbare Bipolarität zwischen „Ausländern“ und Deutschen suggeriert wird. Ohne eindeutig darauf hinzuweisen, wird Migration als Bedrohung einer homogenen deutschen „Volksgemeinschaft“ verstanden.[328] Dass die extreme Rechte in ihrer Ablehnung von Zuwanderung an die im hegemonialen Diskurs vertretenen diskriminierenden Positionen anknüpfte, ist eine Konstante in den letzten Jahrzehnten.[329] Zerrbilder und Argumentationsmuster des völkischen Nationalismus im Zusammenhang mit Migration und Inklusion erzeugen dabei rassistische Stereotype, die die Grundlage für Gewalttaten und Morde militanter Neonazis bilden.
Die NPD erkannte schnell die Zeichen der Zeit und machte die öffentliche Diskussion über die Zuwanderung von Menschen aus Bulgarien und Rumänien auch im Hinblick auf die Europawahlen und die anstehenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg zu einem Kernthema. In der Argumentation der NPD tauchen drei Motive immer wieder auf: Erstens die „Masseneinwanderer in den Sozialstaat“, zweitens „Lohndumping“ zu Lasten der deutschen Arbeitnehmer_innen und drittens die „Überfremdung“ Deutschlands. Die Partei hetzte gegen die „Welle von Sozialtouristen und Wohlstandsschnorrern“ und den damit einhergehenden „mißbräuchlichen Zugriff auf die Sozialsysteme zulasten der deutschen Steuerzahler und einheimischen Hilfsbedürftigen“.[330] In der Deutschen Stimme (DS), dem Leitorgan der NPD, hieß es: „(…) einerseits droht der Sozialstaat unter der Überbeanspruchung durch Einwanderer zu kollabieren, andererseits wird das durch Masseneinwanderung vergrößerte Arbeitskräftereservoir das Lohnniveau gedrückt, was sich wiederum in steigendem Bedarf an Lohnaufstockung und Sozialleistungen negativ auf das Sozialsystem auswirkt.“[331] Auf die in der DS selbst gestellten Frage „Die Flut kommt-wer hält sie auf?“ wird geantwortet, die NPD sei „die einzige authentische Anti-Überfremdungspartei“, die sich diesen „Zukunftsfragen“ stelle, die „für das Überleben des deutschen Volkes von herausragender Bedeutung sind.“[332]
Ronny Zasowk, Mitglied des Parteivorstandes der NPD, erklärte: „Durch die nun einsetzende EU-Freizügigkeit für Rumänien und Bulgarien und den sich systematisch ausweitenden Asylmißbrauch ist künftig mit Steigerungen um bis zu 500.000 Ausländern pro Jahr zu rechnen. (…) Daher sagt die NPD klar und deutliche: das Boot ist voll. Wir wollen keine weitere Einwanderung! Masseneinwanderung bringt Ausländerkriminalität, Asylmißbrauch, den Kollaps des deutschen Sozialsystems und Islamisierung mit sich.“[333]
Die „drohende Roma-Schwemme der inländerfeindlichen Armutszuwandung“ stelle. einen exemplarischen Fall der „Sozialstaats-Ausplünderung durch Ausländer“ dar.[334]
Die neonazistische Partei warnte vor dem „Kollaps des deutschen Sozialsystems“ verursacht durch Einwanderung: „Von den Medien soll uns Bürgern suggeriert werden, daß die Stichwörter ‚Armutszuwanderung‘ und ‚Sozialtourismus‘ Mythen von Überfremdungsgegnern seien. Doch muß man angesichts öffentlich zugänglicher Zahlen zur Kenntnis nehmen, daß diese Stichwörter längst die Realität beschreiben. Vor allem Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien landen zunehmend im deutschen Sozialsystem. Die NPD lehnt die zunehmende Einwanderung in den Sozialstaat ab. Das Problem, vor dem mittlerweile nahezu alle west-, mittel- und nordeuropäischen Staaten stehen, muß schnellstmöglich angegangen werden, wenn man massive Erhöhungen der Sozialbeiträge verhindern will. Kommen weitere Dauerarbeitslose aus aller Welt, droht ohne spürbare Erhöhungen von Steuern
sowie von Beiträgen zur Sozialversicherung der Kollaps des deutschen Sozialsystems.“[335]
Da „unser Land nicht das Sozialamt Europas ist“, plädierte die NPD für eine Verlängerung der Freizügigkeit für Bulgar_innen und Rumän_innen sowie Zugangsbeschränkungen für den deutschen Arbeitsmarkt[336]. Dass diese Forderungen in der Realität gar nicht umgesetzt werden können, ohne internationale Konflikte zu riskieren, ist für die Partei dabei nur von untergeordneter Bedeutung. Um bei den Wahlen in den nächsten Monaten eine realistische Chance zu haben, wird wie immer ein Feindbild benötigt. Die NPD „findet es außerordentlich erfreulich, daß die CSU zu Beginn des Superwahljahres 2014 mit dem Kampf gegen ,Armutsmigration‘ ein NPD-Kernthema salonfähig macht, bei dem die Wähler der NPD ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit und Problemlösungskompetenz zusprechen. Die NPD sieht dank der CSU-Initiative in der Tat massiven Rückenwind für ihren Europawahlkampf sowie die Landtagswahlkämpfe in Sachsen, Thüringen und Brandenburg.“
Der Renegat Jürgen Elsässer fabulierte über eine „wilde Einwanderungsflut“, die die „deutschen Städte“ bedrohen würde. Dabei betonte er die angebliche Primitivität der Einwander_innen: „Ganze Roma-Dörfer kommen mit Sack und Pack und lassen sich in Elendsquartieren im Ruhrpott, in Mannheim und in anderen Städten nieder. (…) Wenn Massen von Leuten aus kaum zivilisierten Gegenden zu uns kommen – egal aus dem muslimischen Anatolien oder aus dem christlichen Transsilvanien oder dem hintersten Afrika (…)“.[337] Für die Arbeitnehmer_innenfreizügigkeit ab 2014 konstruierte er die „zerstörerische Armutsimmigration in unsere Sozialsysteme“ und fügte an: „Und ab 1.Januar 2014 wird alles nochmal schlimmer: Dann fallen die letzten Barrieren für Rumänen und Bulgaren und sie erhalten nicht nur Niederlassungsfreiheit, kostenlose Schul- und Medizinversorgung in Deutschland – sondern auch den vollen Zugang zu unseren Sozialsystemen.“[338]
Auf dem neonazistischen Internetportal Altermedia wird in kaum verhüllter Weise gegen das „wachsende Zigeunerproblem“ gehetzt.[339] Angelockt vom deutschen Sozialsystem wird das Bedrohungsszenario einer „Masseneinwanderung“ konstruiert: „Der Zuwanderungsdruck aus Bulgarien und Rumänien wächst. Allein in Bulgarien wohnen 800.000 Roma, die auf eine bessere Zukunft hoffen. Viele wählen den einfachen Weg und machen sich Richtung Deutschland auf den Weg. Längst hat es sich herumgesprochen, dass dort die Sozialtöpfe für Zuwanderer immer noch prall gefüllt sind.“[340]
In den Kommentaren wird für die Wiederholung des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen 1992 geworben: „1992 in Rostock-Lichtenhagen hat man ja gesehen, wie überaus friedvoll, harmonisch und bereichernd ein enges Zusammenleben mit Zigeunern sein kann.“[341] Außerdem wird die Liquidierung von Politiker_innen befürwortet, die für die Einwanderung aus Rumänien und Bulgarien positionieren: „Massive Drittwelt Einwanderung muss als Hochverrat an der deutschen Rasse gesehen werden und auch entsprechend geahndet werden – Es gibt genug Laternen und Bäume für die politischen Eliten, die dieses produziert haben.“[342]
Die rechte Zeitung Junge Freiheit (JF) aus Berlin, die wöchentlich erscheint, hat sich zu einem Vorzeigeprojekt der Neuen Rechten entwickelt.[343] Laut ihrem Herausgeber Dieter Stein fehle in der Bundesrepublik eine rechte parlamentarisch orientierte Alternative, die die Leerstelle im deutschen Parteiensystem rechts von der CDU/CSU besetze. Die Aufgabe der JF liege darin, an der Bildung einer solchen Alternative mit publizistischen Mitteln mitzuwirken.[344] Die JF bezieht sich nachdrücklich auf antidemokratische Ideologen der Konservativen Revolution[345] wie den Staatsrechtler Carl Schmitt[346]. Die Zeitung kennzeichnet ein völkischer Nationalismus, der eine wie auch immer ausgerichtete „nationale Identität“ glorifiziert.[347] Weitere Merkmale sind Elitedenken, Kritik am Parlamentarismus, Hetze gegen Migranten und ein ausgeprägter Etatismus. Im Jahre 2000 wurden im Umfeld der JF das Institut für Staatspolitik (IfS) und der Verlag Edition Antaios gegründet. Das IfS ist ein politischer Elitezirkel in der Tradition des jungkonservativen Politischen Kollegs, das in den Sparten Wissenschaft, Fortbildung und Nachwuchsförderung ideologischer Vorreiter sein soll. Einer der Vordenker der JF, Karlheinz Weißmann, bemerkte zu den Zielen des IfS: „Uns geht es um geistigen Einfluss, nicht die intellektuelle Lufthoheit über Stammtische, sondern über Hörsäle und Seminarräume interessiert uns, es geht um Einfluß auf die Köpfe, und wenn die Köpfe auf den Schultern von Macht- und Mandatsträgern sitzen, um so besser.“[348] Die Edition Antaios ist für die Publikation der „Arbeitsergebnisse“ des IfS verantwortlich und soll gleichzeitig auch ein Ansprechpartner für rechte Publizisten vor allem im geisteswissenschaftlichen Bereich darstellen.
Die JF vertritt einen ausgeprägten antimuslimischen Rassismus. Nach der Freund-Feind-Schema von Carl Schmitt wird suggeriert, die christlichen europäischen Gesellschaften müssten sich gegen einen immer als fundamentalistisch und monolithisch verstandenen Islam wehren. Dies dient dazu, religiöse Konkurrenzangst zu nationalisieren bzw. zu ethnisieren.[349] Ständig wird versucht, die Unvereinbarkeit des Islams mit den Prinzipien des Grundgesetzes zu belegen. Der Islam wird als existenzbedrohend für die deutsche Gesellschaft und seine „nationale Identität“ dargestellt. Der totalitäre Islam in seinem Streben nach Weltherrschaft stelle eine Bedrohung für das freie christlich-abendländische Deutschland und Europa dar.
Das Thema Migration verknüpft sie mit dem Demographie-, dem Kriminalitäts- und dem Sozialstaatsdiskurs. Die JF stellt die Zuwander_innen aus Rumänien und Bulgarien homogenisierend als „Zigeuner“ dar, die als „Sozialschmarotzer“ den deutschen Sozialstaat belasten würden. In wohlstandchauvinistischer Manier wird die Zuwanderung in einer Semantik der Gefahren gesehen. Die „Armutseinwanderung“ der „Zigeuner vom Volk der Roma“ wäre eine „tickende Zeitbombe“, die nur aufgrund der Sozialleistungen in die Bundesrepublik kämen, was „Wohlstandseinbußen auch für die eigenen Bürger“ bedeuten würden.[350] Die JF will eine „Debatte um die Grenzen der Solidargemeinschaft“ anstoßen und die „Realität ungesteuerter Masseneinwanderung in die Sozialsysteme“ verhindern. Die JF macht die „kommunalen Funktionäre“ für die „Wanderungswellen“ verantwortlich: „Sie scheinen als gottgegebenes Schicksal hinzunehmen, daß sich Hunderttausende ohne jede Rechtfertigung aus abgelegenen Winkeln Europas aufmachen, um ihnen auf der Tasche zu liegen.“ Die volle Freizügigkeit für Arbeitnehmer_innen aus Rumänien und Bulgarien ab Beginn des Jahres 2014 wird als Bedrohungsszenario dargestellt, da „man vom kommenden Jahr an mit Pro-forma-Arbeitsverhältnissen für die dreimonatige Mindestdauer erst recht den Schlüssel zur Sozial-Bonanza finden“ würde. Rassistische und wohlstandschauvinistische Äußerungen von Anwohner_innen werden relativiert: „Und schon steht der autochthone Nachbar, der unter der ungefragt aufgezwungenen Konfrontation mit Chaos, Vermüllung, Kriminalität und anderen Kehrseiten eines wieder mal einfach so zugelassenen Kulturimports leidet und sich womöglich sogar beschwert, in der Schmuddelecke und verstummt lieber.“
In der seit 2009 erscheinenden rechten Monatszeitschrift „ZUERST! – Deutsches Nachrichtenmagazin“ gehört die Ablehnung von Zuwanderung und einer multikulturellen Gesellschaft zu den wichtigsten politischen Themen. Unter Bezugnahme auf die populistischen Parolen der CSU und der FDP radikalisiert „Zuerst“ das Bedrohungsszenario noch und malt das Zerrbild einer „Masseneinwanderung“ von „Armutsflüchtlingen“ aus Rumänien und Bulgarien, bei denen „es sich zum allergrößten Teil um Angehörige der Roma- und Sinti-Minderheit handelt, also: Zigeuner“ handele: „Experten erwarten bis zu 180.000 Menschen aus dem europäischen Südosten, die entweder auf gepackten Koffern sitzen oder sich schon auf den Weg nach Deutschland gemacht haben, wo üppiges Kindergeld, Gratis-Wohnungen und ein wahres Füllhorn an weiteren Vergünstigungen aus dem Sozialhaushalt winken. In den nächsten Jahren (…) könnten sogar 2,34 Millionen Neu-Bundesbürger aus Rumänien und Bulgarien unser Land ‚bereichern‘.“[351] Zur Beseitigung dieser „klammheimliche(n) Völkerwanderung“ wären keine Lösungen aus der etablierten Politik zu erwarten, lediglich die extreme Rechte würde sich dieses „Problems“ annehmen.
Für die Pro-Bewegung gehört im Gegensatz zu anderen extrem rechten Parteien oder Organisationen antiziganistische Stimmungsmache und Hetze schon seit Jahrzehnten zum festen Bestandteil ihres politischen Programms. Dort wird ein rassistischer Dualismus zwischen „Einheimischen“ und Migrant_innen vertreten und eine angebliche Bevorzugung von Migrant_innen gegenüber der „inländischen Bevölkerung“ konstruiert. Für Pro Köln war jahrelang das Thema der „Klau-Kids“ von großer Bedeutung. Der von lokalen Medien hochgespielte angeblich strategisch organisierte Diebstahl von Kindern aus Roma-Familien unter 14 Jahren in Köln und Umgebung wurde von Pro Köln benutzt, um das Motiv der „kriminellen Sinti und Roma“ im Kommunalwahlkampf als Stimmenfang zu nutzen.[352] Die in einem Flüchtlingswohnheim in Köln-Poll untergebrachten Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien wurden als „Scheinasylanten“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ beschimpft. Auf einer Demonstration gegen die Roma-Flüchtlinge, an der auch Vertreter_innen von Pro Köln teilnahmen, wurden Gegendemonstrat_innen mit Sprüchen wie „Nehmt euch doch die Zigeuner mit nach Hause!!“ oder „Unterm Adolf wärt ihr vergast worden!“ konfrontiert.[353] Pro Köln stellte im Mai 2004 einen Antrag im Rat der Stadt Köln gegen die Errichtung eines Roma-Zentrums am Venloer Wall. Im Jahre 2006 hetzte Pro Köln gegen Roma-Familien, die in einem Asylbewerber_innenheim in Merkenich unter menschenunwürdigen Bedingungen lebten. In Bezug auf (Sinti-) und Roma spricht die Pro-Bewegung häufiger von einer „mobilen ethnischen Minderheit“, was aus der Polizeisprache entnommen wurde. Dort schimmert das alte Klischee der Nichtsesshaftigkeit durch, was allerdings längst widerlegt ist, da die meisten Sinti und Roma einen festen Wohnsitz in der BRD haben.[354]
Pro NRW sprach sich schon im Jahre 2008 gegen die Aufhebung der Zuzugsbeschränkungen für Arbeitnehmer_innen aus den osteuropäischen EU-Ländern aus, da deutsche Arbeitnehmer_innen aus diesem Grunde Wohlstandeinbußen und Einkommensverlust hinnehmen müssten: „Die soziale Lage in unserem Land verschärft sich zusehends und entwickelt sich immer mehr in Richtung so genannter ‚amerikanischer Verhältnisse‘. Der Druck auf die Löhne wird sich noch einmal ganz dramatisch verschärfen, wenn die volle Freizügigkeit von Arbeitnehmern aus den osteuropäischen Beitrittsstaaten gilt.“[355]
Die Einwanderung aus Rumänien und Bulgarien ist für Pro NRW in den letzten Jahren zu einem Kernthema geworden. Die Einwander_innen werden pauschal als „Roma“ oder auch als „Zigeuner“ dargestellt, obwohl die nicht zutrifft. Wie viele Einwander_innen wirklich zur Minderheit der Roma gehören, lässt sich nur schwer feststellen; Prognosen oder Zahlen in diesem Zusammenhang zu nennen, ist daher höchst unseriös.
In Kampagnen von Pro NRW wie etwa „Nein zum Asylmissbrauch“ wird asylsuchenden Roma aus Südosteuropa die „Einwanderung in das Sozialsystem“ und „Scheinasylantentum“ vorgeworfen. Die antiziganistisch aufgeladene Hetze gegen Asylsuchende aus Südosteuropa ist direkt mit der „Armutseinwanderung, hauptsächlich von Zigeunern“[356] verknüpft. Es wird ein Gegensatz zwischen der „Wir-Gruppe“ der anständigen gesetzestreuen Deutschen und den Roma, denen alle möglichen devianten Eigenschaften vorgeworfen werden, aufgebaut. Die „nordrhein-westfälische Grundgesetzpartei“[357] Pro NRW macht Roma für sozioökonomische Konfliktlagen vor allem in den beiden Ruhrgebietsstädten Duisburg und Dortmund verantwortlich und ruft dabei über Jahrhunderte in der Dominanzgesellschaft verbreitete Stereotype ab.
Der stellvertretende Pro-NRW-Vorsitzende Jörg Uckermann brachte die Roma mit Kriminalität in Verbindung: „Es sind keine Bagatellen, die unseren sozialen Frieden stören. Wenn beispielsweise ein Asylpfarrer in Baden-Württemberg öffentlich erklärt, er halte die Kriminalität bei den Roma und Sinti, um im Jargon der Etablierten zu bleiben, für ein Kulturphänomen, dann muß man dem entgegen halten, daß wir eine solche Form der Kulturbereicherung nicht wollen. Und da kann ich wohl für die breite Mehrheit der Deutschen sprechen. Es kann nicht sein, daß Kriminelle sich der Reise- und Arbeitnehmerfreizügigkeit bedienen, um auf deutschem Boden Raubzüge und sonstige Straftaten zu begehen. Wir von PRO NRW fordern ein hartes Vorgehen gegen solche Kriminelle. Die Sicherheit geht vor, in jedem Falle! Man muß im Bedarfsfall auch bereit sein, diese Personenkreise umgehend auszuweisen!“[358]
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma erstattete Strafanzeige und -antrag gegen Verantwortliche von Pro NRW wegen ihres Wahlwerbespots zur Europawahl erstattet. In einem Werbespot sei nach Ansicht des Zentralrats pauschal rassistische Hetze gegen Sinti und Roma betrieben worden sei.[359]
Der hauptsächlich antimuslimischen Rassismus transportierende Blog Politically Incorrect (PI) hat auch das neue Feindbild „Zigeuner“ für sich entdeckt. Der Journalist Stefan Niggemeier urteilte zu Recht über PI: „Es ist ein unverhohlen rassistischer Mob, der sich im Kommentarbereich von Politically Incorrect täglich versammelt.“[360] Ende 2011 wurde geschätzt, dass bis zu 60.000 User_innen pro Tag den Blog anklicken.[361] Damit gehört PI zu den wichtigsten Transportmitteln rechter Ideologie im deutschsprachigen Raum.[362] In der Tat findet sich auf dem Blog offener Antiziganismus, wo Roma als „Problem“ wahrgenommen und jahrhundertealte Ressentiments innerhalb der Mehrheitsgesellschaft zum Vorschein kommen. Es würde nur eine „unbequeme Wahrheit“ wie die „Gewohnheit des Klauens“ und das Sozialschmarotzertum ausgesprochen, was sich zu einer zunehmenden „Belastung“ für die Dominanzgesellschaft entwickeln würde. Dort ist zu lesen: „Das Problem sind nicht nur Müllberge, Exkremente in Treppenhäusern, mit Kot um sich schmeißende Bewohner, es ist nicht nur die hohe Zahl von Roma-Migranten, die sich hier ansiedeln, um ihr mittlerweile verbrieftes Anrecht auf deutsche Sozialleistungen wahrzunehmen. Allein das würde bereits ausreichen, um unsere Städte in den Ruin zu treiben. Zusätzliche Belastungen sind die Kosten, die direkt und indirekt durch eine um sich greifende Kriminalität entstehen, von den menschlichen Tragödien ganz zu schweigen, die sich hinter jedem Einbruch, Diebstahl oder Überfall verbergen.“[363]
Die „Republikaner“ setzen vor allem die „Einwanderung in die Sozialsysteme“ und „Lohndumping“ zum Vorteil der „Wirtschaftslobby“ mit der Einwanderung aus Rumänien und Bulgarien gleich. Die Arbeitnehmer_innenfreizügigkeit böte „Folgekosten“ für den deutschen Sozialstaat, die noch nicht absehbar seien. Der Bundesvorsitzende der „Republikaner“, Rolf Schlierer, konstatierte: „Während die Wirtschaftslobby sich über das vergrößerte Arbeitskräfteangebot und entsprechend niedrigere Löhne und bessere Profite freut, zeichnet sich eine Entwicklung ab, die unsere sozialen Sicherungssysteme auf Dauer überlasten wird. Die Unternehmen müssten deshalb über eine Einwanderungsabgabe an den sozialen Folgelasten der von ihnen gewünschten Arbeitsmigration beteiligt werden.“[364]
In Duisburg, wo sich viele der Zuwander_innen niedergelassen haben und ein neues Leben aufbauen wollen, heizte der neonazistische „Nationale Widerstand Duisburg“ die Stimmung gegen die von ihm als „Zigeuner“ konnotierten Menschen weiter an: „Polizeieinsätze am von Zigeunern bewohnten Problemhaus, sowie kriminelle Handlungen durch Zigeuner, die etwa alten Frauen beim Bankautomaten auflauern oder Kindern ihr Fahrrad stehlen, reißen nicht ab. Da diesen Zuständen weder durch Stadt noch Polizei Einhalt geboten wird, sind die zwingenden Konsequenzen Bürger, die ihren Zorn über besagte Zustände Luft machen. Um eine feindschaftliche Stimmung gegen die in Duisburg herrschenden Zustände zu entwickeln, bedarf es keiner demagogischen Maßnahmen seitens politischer Gruppen. Die angeheizte Stimmung ist Resultat verachtenswerter und untragbarer Zustände. Eine Abneigung gegen diese ist verständlich und natürlich. (…) Kriminellen und Fremden, die weder in unserer Stadt, noch in irgendeiner anderen Ecke Deutschlands etwas zu suchen haben.“[365]
Vertreter_innen der beiden „Volksparteien“ sprachen sich vehement gegen die Pläne der EU-Kommission, Neuzuwander_innen aus Rumänien und Bulgarien die gesetzliche Grundsicherung zuzubilligen, aus. Die Konstruktion von der „Einwanderung in die Sozialsysteme“ wurde immer wieder benutzt und damit wieder einmal die Einwanderung in einer Semantik der Gefahren dargestellt. Duisburg SPD-Oberbürgermeister Sören Link sagte in diesem Zusammenhang: „Es würde auch die Integrationsfähigkeit der Stadt auf eine harte Probe stellen, wenn Armutszuwanderer allein wegen Zugang zu Sozialleistungen kämen.“[366]
Dagegen forderte ein breiter gesellschaftlicher Zusammenschluss einen offenen Zugang zur Grundsicherung für Zuwanderer_innen aus Rumänien und Bulgarien. So bemerkte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes: „Die Verweigerung von Hartz-IV-Leistungen führt häufig zu einer Spirale der Verelendung und zieht für die Betroffenen Probleme bei Krankenversicherungsschutz, Bildung oder auch der Wohnungssuche nach sich. Statt junge Familien in Notunterkünfte und Armut zu drängen, sind Politik und Gesellschaft gefordert, sie bestmöglich bei der Integration in den Arbeitsmarkt zu unterstützen. Wer hier ist und in Not, hat Anspruch auf Hilfe. Statt Panikmache und Pauschalverdächtigungen brauchen wir pragmatische Hilfen für diejenigen Kommunen, die durch die Zuwanderung vor besondere Integrationsherausforderungen gestellt werden.“[367]
Der Antiziganismusforscher Markus End kritisierte zu Recht, dass alte antiziganistische Motive und Stereotypen die Debatte um die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien maßgeblich mitprägen: „Mir stößt übel auf, dass diese Debatte antiziganistisch geführt wird. Seit Mitte 2012 wurde der Begriff ,Armutszuwanderer‘ in der Öffentlichkeit gleichgesetzt mit dem Begriff ,Roma‘. Dadurch wurden Roma die Eigenschaften zugeschrieben, die man den sogenannten Armutszuwanderern zuschrieb: Sie wurden pauschal als faul und als Sozialschmarotzer bezeichnet. Es hieß, sie würden Müll und Lärm produzieren oder zur Kriminalität neigen. Auch wenn das Wort ,Zigeuner‘ selbst öffentlich kaum noch verwendet wird, die antiziganistischen Bilder haben die Debatte um die Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien sehr stark geprägt. Hochqualifizierte Roma, die es selbstverständlich auch gibt, kennt die Debatte nicht, weil sie nicht ins Bild passen.“[368] Er beklagt weiterhin einen weit verbreiteten Antiziganismus in den Medien, wo aufgrund geringer Sensibilität etablierte Bilder und Ressentiments eine immer weiter fortschreitende Reproduktion erfahren.[369]
In der Debatte wird oft verschwiegen, dass es im Zuge der Arbeitnehmer_innenfreizügigkeit für Menschen aus Polen, Tschechien, der Slowakei und anderen osteuropäischen Ländern im Jahre 2011 auch von Vertreter_innen der bürgerlichen Mitte „Warnungen“ vor einem „Zusammenbruch des deutschen Sozialsystems“ und „Lohndumping“ gab, die in keinem Verhältnis zur Wirklichkeit standen. Der Journalist und Buchautor Norbert Mappes-Niediek kritisierte zu Recht: „Wer die Grenzen schließt, verursacht eine Schlepperindustrie, und wer den Zuwanderern das Freizügigkeitsrecht entzieht, bekommt die gleiche Zahl an Illegalen. (…) Dass dann ‚alle kommen‘ ist bloß Propaganda – ebenso wie die Rede von den ‚ganzen Landstrichen‘, die schon ‚entvölkert‘ seien, weil alle jetzt im Ruhrgebiet leben würden. Die Ärmsten der Armen, die in Rumänien überwiegend auf dem Lande leben, migrieren so gut wie überhaupt nicht.“[370]
Ein kritischer Impuls war die Ernennung des Begriffs „Sozialtourismus“ zum Unwort des Jahres 2013, die mit der Aufforderung zu mehr Sachlichkeit und Differenzierung innerhalb der Debatte verbunden war. Der Mainzer Soziologe Stefan Hradil bezeichnete das Wort „Sozialtourismus“ als populistischen Begriff, der eine vermeintliche Gefahr heraufbeschwören soll: „Je mehr rechtsradikale Parteien in Schwierigkeiten kommen und Leute eine andere Parteiorientierung suchen, desto hilfreicher werden solche populistischen Redensarten.“[371]
Der Begriff der „Armutsmigration“ kennzeichnet in weiten Teilen die Debatte um die Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD wurde explizit festgehalten, dass die Bundesregierung dem illegalen Zugang zur Sozialhilfe von „Armutszuwanderung“ entschieden entgegenwirken wird. Dagegen wandte sich der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma in einer Pressemitteilung und hob hervor, dass demokratische Parteien mit solchen Kampagnen „rechtsextremistische Positionen salonfähig machen und Fremdenfeindlichkeit bestärken.“[372] Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) sprach von „(…) Problemen (…), vor denen einige Großstädte durch Armutszuwanderung stehen.“[373]
In einer offiziellen Pressemitteilung des Deutschen Städtetages Anfang 2013 wurden Bund, Länder und die EU dazu aufgerufen, den Kommunen stärker bei der Bewältigung der Probleme zu unterstützen, die durch die „Armutszuwanderung“[374] aus Bulgarien und Rumänien entstünden. Zahlreiche Fakten beweisen aber, dass die These von der „Armutszuwanderung“ nicht haltbar ist.
Insgesamt gesehen profitiert die BRD von der Einwanderung aus Bulgarien und Rumänien.[375] Im Vergleich mit anderen Zuwander_innengruppen sind Menschen aus Bulgarien und Rumänien ökonomisch weitgehend gut integriert. Die Arbeitslosigkeit lag Ende des Jahres 2012 bei 9,6%, etwas über dem gesamtdeutschen Schnitt von 7,4%. So haben 9,3 Prozent der Bulgaren und Rumänen ganz oder teilweise Hartz IV oder andere Sozialleistungen erhalten, was die „Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme“ ad absurdum führt.[376] Es gibt aber sehr starke regionale Differenzen: Die Arbeitslosenquoten der Bulgar_innen und Rumän_innen reichen von 5,6 Prozent in Stuttgart und 6,7 Prozent in München bis zu knapp 27 Prozent in Duisburg und knapp 25 Prozent in Berlin. Der Anteil der Hartz-Empfänger_innen unter den Bulgar_innen und Rumän_innen beläuft sich in Stuttgart und München auf 5,2 und 5,6 Prozent, in Berlin auf knapp 20 Prozent und in Köln auf 15 Prozent.[377] Vor allem die deutsche Rentenversicherung profitiert von der Einwanderung aus Rumänien und Bulgarien, was an der Altersstruktur der Zuwander_innen zwischen 25 und 45 Jahren liegt. Die Zahl der Rentenbezieher_innen ist sehr gering, so dass die Zuwander_innen insgesamt mehr einzahlen als sie später an Rentenansprüchen herausbekommen. Allein ihr Beitrag zur Rentenversicherung übersteigt die vor allem durch die Kommunen geleisteten Ausgaben für soziale Hilfen. Herbert Brückner, Leiter des Forschungsbereiches „Internationale Vergleiche und Europäische Integration“ des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, konstatiert: „Die Erträge und Lasten sind vielmehr ungleich verteilt. Die Kommunen gehören eher zu den Verlierern, da sie für die Grundsicherung aufkommen. Die Rentenversicherung gehört demgegenüber zu den Gewinnern. Insgesamt gilt jedoch: Wir müssen das herrschende Bild, bei der Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien handele es sich überwiegend um eine Armutszuwanderung, korrigieren. Eine solche Korrektur ist auch deshalb notwendig, um die Bevölkerung aus diesen Ländern nicht ungerechtfertigt zu stigmatisieren. Damit werden die Integrationsprobleme nicht kleiner, sondern größer.“[378]
Eine Expertise des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) aus Köln beweist, dass die Einwanderung aus Rumänien und Bulgarien von ökonomischem und sozialem Nutzen ist.[379] Die Zuwanderung treibt die für ein Industrieland äußerst niedrige Quote von 19% der Bevölkerung mit Hoch- oder Fachhochschulabschluss in die Höhe. 25% der erwachsenen Einwander_innen besitzen einen akademischen Abschluss. Darunter besitzen ca. 8% der erwachsenen Zuwander_innen einen Abschluss in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) und können damit den in diesen Brachen herrschenden Fachkräftemangel etwas abmildern. Prof. Michael Hüther, Direktor der IW, bilanzierte: „Durch die neu hinzugekommenen Arbeitskräfte steigt die Wirtschaftskraft Deutschlands, was sich wiederum positiv auf die öffentlichen Haushalte und die Kommunen auswirkt. Insofern habe Einwanderung nicht nur positive Auswirkungen auf die Sozialversicherungen, sondern verbessere auch die Lage der öffentlichen Haushalte insgesamt.“[380]
Weitere Vorteile der Einwanderung aus Rumänien und Bulgarien für die BRD liegen auf der Hand: Der weitgehende Verzicht von Bildungsleistungen, die meist in den Herkunftsländern erbracht werden, wird in der Diskussion meist ignoriert. Die Auswanderung nach Deutschland schwächt dagegen hauptsächlich die Herkunftsländer, wenn dringend benötigte Fachkräfte auswandern. So schätzen rumänische Gewerkschaften, dass seit 1989 etwa 20.000 Krankenschwestern und 30.000 Ärzte in die BRD ausgewandert sind.
80% der zwischen 2007 und 2011 zugewanderten Bulgar_innen und Rumän_innen sind sozialversicherungspflichtig auf dem Arbeitsmarkt beschäftigt.[381] Im Jahre 2012 bezogen 38.000 Personen aus Bulgarien und Rumänien soziale Hilfen. Der Anteil von rumänischen und bulgarischen Einwander_innen bezogen auf alle Hartz-IV-Empfänger_innen betrug nur 0,6 Prozent. EU-Justizkommissarin Viviane Reding erklärte zur angeblichen Ausnutzung des deutschen Sozialsystems durch Rumän_innen und Bulgar_innen: „Wir sehen, dass wir sehr niedrige Zahlen von EU-Bürgern haben, die nach Deutschland kommen und im sozialen Bereich etwas empfangen. Die meisten zahlen ein und bekommen nichts heraus.“[382] Auch die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström bezeichnete die Klagen über Sozialmissbrauch als „hoch übertrieben“.[383]
Im Jahresgutachten 2012 des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration wird deutlich gemacht, dass 72% der Zuwander_innen aus diesen beiden Ländern zwischen 25 und 44 Jahren, die nach 2007 in die BRD kamen, einer Erwerbstätigkeit nachgehen.[384] Der nordrhein-westfälische Integrationsminister Guntram Schneider (SPD) betonte, dass sich unter den Zuwander_innen ein hoher Anteil an Student_innen und qualifizierten Fachkräften befindet. Der Städtetagspräsident Ulrich Maly (SPD) wandte sich gegen den pauschalen Vorwurf der „Armutsmigration“ und erklärte: Wir haben unterdurchschnittlich viele Bulgaren, Rumänen, und die meisten von denen sind entweder Studierende oder arbeiten sozialversicherungspflichtig, wie die meisten anderen EU-Europäer auch, die zu uns kommen.“[385]
Die vom Duisburger Sozialdezernenten Reinhold Spaniel vorgelegten Zahlen zu Neuzuwander_innen aus Bulgarien und Rumänien im März 2014 zeigen, dass das Ressentiment von der „Einwanderung in die Sozialsysteme“ nicht haltbar ist. Lediglich 668 Bulgar_innen und 170 Rumän_innen hatten in Duisburg im Dezember 2013 Anrecht auf Grundsicherungsleistungen.[386]
Der Migrationsforscher Klaus J. Bade übte scharfe Kritik an dem Begriff der angeblichen „Armutsmigration“ Allein den Terminus »Armutsmigration« bezeichnete er als „semantisches Schandmal“ und „die damit verbundene gruppenfeindliche Agitation gegen Bulgaren und Rumänen und insbesondere die Roma unter ihnen (…) eines der beschämendsten Kapitel in der Geschichte der deutschen und europäischen Ausländerdiskussionen“.[387]
Es gibt auch eine direkte Anwerbung von qualifiziertem Personal in Rumänien durch die deutsche Wirtschaft. Seit geraumer Zeit versuchen deutsche Unternehmen den Fachkräftemangel dadurch aufzufangen, dass sie gezielt IT-Ingenieur_innen, Ärzt_innen, Pflegekräfte, Schweißer_innen und Dreher_innen direkt in Rumänien anwerben.
Die in diesem Zusammenhang herrschende utilitaristische Logik gibt auch Anlass zur Kritik. Die teleologischen Prinzipien der Unterscheidung zwischen „nützlichen Fachkräften“ und „unnützen Armutsmigrant_innen“ haben leider nicht nur in der Bundesrepublik eine lange Tradition. Das reine Nützlichkeitsdenken ist Teil einer kapitalistischen Logik, wo nur Leistung zählt und die Würde des Menschen nur eine bescheidene Nebenrolle spielt.
Die Gründe für die Auswanderung der meisten Roma in Bulgarien vor allem in westliche Staaten der EU liegen einerseits in der Hoffnung auf bessere ökonomische Perspektiven in den Aufnahmestaaten. Andererseits ist es der manifeste Rassismus der (weißen) Bevölkerungsmehrheit, der letztendlich für die Emigration verantwortlich ist.
Das Ende der sozialistischen Herrschaft und der Übergang zur kapitalistischen Wirtschaftsweise bedeuteten für die Roma in Bulgarien einen Einschnitt in negativer Art. Von allen sozialen Gruppen waren die Roma von Entlassungen am stärksten betroffen. Der Journalist Norbert Mappes-Niediek stellte mit Recht fest: „Wo die Hälfte der Arbeitsplätze wegfiel, braucht es nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, warum unter den vielen Betroffenen auch so gut wie alle Roma zu finden waren. Sie hatten die schlechtesten Jobs und die schwächste Stellung bei den Betriebsführungen. Sie waren noch immer am schlechtesten ausgebildet. Als die Wirtschaft sich langsam wieder zu erholen begann, tat sie es ohne die Roma. Sie hatten schon vor dem Kommunismus nichts besessen und gingen bei der Rückerstattung von Grund und Boden ebenso wie bei Privatisierungen entsprechend leer aus. Bildung war in der Marktwirtschaft noch wichtiger als im Sozialismus. Was die meisten Roma davon mitbekommen hatten, reichte nicht aus.“[388]
Die Folgen sind unübersehbar: Wie in allen anderen osteuropäischen Ländern sind die Roma in Bulgarien die Bevölkerungsgruppe mit der höchsten Analphabetenquote, der bittersten Armut, kürzesten Lebenserwartung und höchsten Kindersterblichkeit, allenfalls geduldet am Rande der Gesellschaft, verfolgt, gedemütigt, vogelfrei.
Neben den Roma gibt es in Bulgarien zwei große Minderheiten: türkischstämmige Bulgar_innen und „ethnische“ Bulgar_innen muslimischen Glaubens (Pomak_innen). Die Zahl der in Bulgarien lebenden Roma ist schwer zu fassen. Laut den Angaben der letzten Volkszählung aus dem Jahre 2011 gibt es offiziell 325.000 Roma, was knapp fünf Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Da aber davon auszugehen ist, dass die Befragten aus Angst vor Diskriminierung ihre eigene Identität häufig leugnen, ist von einer deutlich höheren Zahl auszugehen. Spekulationen darüber, dass die Roma ca. 10%[389] oder sogar 15%[390] der Gesamtbevölkerung Bulgariens ausmachen, sind nicht seriös. Das Bild der in Vorstadtslums wohnenden Roma ist seit der Migration von Bulgar_innen nach Dortmund verbreitet, von denen viele aus den Stadtteilen Stolipinovo in Plovdiv und Fakulteta in Sofia stammten.[391] Diese Siedlungen besitzen in weiten Teilen kein Frisch- und Abwassersystem sowie keine ausreichende Versorgung mit Elektrizität. Nach genauerer Betrachtung muss jedoch festgestellt werden, dass 55 Prozent der Roma in den Städten und 45 Prozent auf dem Land leben. Die Roma leben in allen Provinzen Bulgariens, ihr höchster Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt in der Provinz Montana (12,5%) und der Provinz Sliwen (12,3%).
Roma in Bulgarien sind nicht als monolithisches Gebilde im Bereich der Kultur und Glaubens anzusehen. Die am weitesten verbreitete Gruppe der Roma in dem Land sind die yerlii oder die „lokalen Roma“, die wiederum in die bulgarischen (daskane roma) und türkischen Roma (horahane roma) unterteilt sind. Erstere sind vor allem orthodoxe und protestantische Christ_innen, während die letzteren Muslim_innen sind. Insgesamt gesehen sind Roma in Bulgarien überwiegend muslimischen Glaubens. Die kulturelle Emanzipation und der Gebrauch des Romanes in Erziehung, Massenmedien, Verlagen etc. stecken immer noch in den Anfängen.
Die sozioökonomischen Verhältnisse sind in Bulgarien wesentlich schlechter als in anderen EU-Mitgliedsstaaten. Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt bei ca. 10%, in Wahrheit ist sie wesentlich höher. 19,5% der 15-24jährigen sind arbeitslos und ohne Ausbildung. Die Zahl der langzeitarbeitslosen Menschen liegt bei 46%.[392] Von diesen Verhältnissen sind besonders Roma betroffen. Im Jahre 1997 lebten 84% der bulgarischen Roma unter der nationalen Armutsgrenze, im Jahre 2007 waren es fast 90%. Die Arbeitslosenquote unter Roma ist extrem hoch, Schätzungen liegen bei 70% der erwerbsfähigen Menschen. Diejenigen, die eine Arbeit finden, sind zumeist im Niedriglohnsektor beschäftigt und können davon nicht sich selbst und eventuell andere Familienmitglieder ernähren.[393] 62 Prozent der Roma über 15 Jahren gehen keiner Berufstätigkeit nach, 33% der Männer und 40% der Frauen sind aufgrund von Krankheiten arbeitsunfähig. 40% der Roma besitzen keinen Frischwasseranschluss, 60% keine Kanalisation. 80% haben kein Bad. Die Lebenserwartung liegt deutlich unter dem Landesdurchschnitt, der Zugang zu guter medizinischer Versorgung ist fast unmöglich. Laut der Statistik besitzen weiße Bulgar_innen 23qm Wohnraum, Roma aber nur 10qm.[394] Diese Verhältnisse sind der Grund für eine massenhafte Auswanderung in Richtung Westeuropa. In Bulgarien ist die Emigration als gesellschaftliches Phänomen so bedeutsam, dass das Land 2009 ein Ministerium für die im Ausland lebenden Bulgaren einrichtete.[395]
Vor allem in der Bildungspolitik manifestiert sich die Benachteiligung der Roma in Bulgarien. Es existiert eine Politik der Absonderung von Roma-Kindern im nationalen Bildungssystem. Roma-Kinder und Jugendliche besuchen de facto getrennte „Roma-Schulen“ in der Mehrheit der Roma-Vierteln und Dörfern. Diese „Roma-Schulen“ bieten minderwertige Qualität der Ausbildung, viele haben keine gute personelle Ausstattung und es fehlen Ihnen die notwendigen Einrichtungen wie Computer. Roma-Kinder werden auch oft in Sonderschulen für Kinder mit geistigen Behinderungen oder Internatsschulen für Kinder mit „abweichendes Verhalten“ abgeschoben. Ein Bericht der Open Society aus dem Jahre 2001 bemerkte: “A monitoring report by the Open Society Institute found that Roma children and teenagers are less likely to enroll in both primary and secondary schools than the majority population, and less likely to complete their education if they do. Between 60-77% of Roma children enroll in primary education (age 6-15), compared to 90-94% of ethnic Bulgarians. Only 6-12% of Roma teenagers enroll in secondary education (age 16-19). The drop-out rate is significant, but hard to measure, as many are formally enrolled but rarely attend classes. The report also indicates that Roma children and teenagers attend de-facto segregated "Roma schools" in majority-Roma neighbourhoods and villages. These ‘Roma schools’ offer inferior quality education; many are in a bad physical condition and lack necessary facilities such as computers. As a result, Roma literacy rates, already below those for ethnic Bulgarians, are much lower still for Roma who have attended segregated schools.”[396]
19% der erwachsenen Roma sind Analphabet_innen, die Quote liegt bei den Frauen dreimal so hoch wie bei den Männern. Bei einem Vergleichswert von 1% bei den weißen Bulgar_innen bleiben 22% der Roma ohne Bildungsabschluss. Die Hochschulreife schaffen 9% der Roma, aber 52% der „weißen Bulgar_innen. Während 25,6% der weißen Bulgar_innen über einen Hochschulabschluss verfügen, sind es bei den Roma gerade mal 0,5%.
Rassismus gegen Roma hat eine jahrhundertealte Tradition, der je nach historischen Begebenheiten mal stärker und mal schwächer ausgeprägt war. Vor allem nach dem Ende des kommunistischen Regimes in Bulgarien sehen sich die Roma in Bulgarien durch gewalttätige rassistische Ausschreitungen bedroht. Rassismus wegen ihrer Hautfarbe, Sprache und Kultur gehört für die Roma in Bulgarien, die gemeinsam mit den bulgarischen Türken landesweit die größte Minderheit stellten, genauso wie diskriminierende Behandlungen durch Behörden, Polizei und Justiz zum Alltag. Rassistische Übergriffe werden oft von den Strafverfolgungsbehörden als Kavalierdelikte behandelt.[397]
Die Rechtsbeihilfe für Roma (Human Rights Project/Legal Defense of the Gypsies) mahnt eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen an. Darin ist immer wieder von unverhältnismäßigen und brutalen Reaktionen der Polizei bei Bagatellvergehen von Roma die Rede. In der Nacht vom 19.6.2003 wurden mehrere Roma in einer Bar von Dobrich von Polizeibeamt_innen, die dort die Personalien überprüften, brutal zusammengeschlagen. Einige Roma erlitten Rippenbrüche, einer Frau wurde eine Pistole in den Mund geschoben.
Ein Fall von institutionellem Rassismus schaffte es 2010 in die internationalen Schlagzeilen. Im März 2010 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass Bulgarien das Diskriminierungsverbot und das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren verletzt habe.[398] Es wurde argumentiert, dass in diesem Fall „eine unterschiedliche Behandlung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit“ vorläge. Ein Bezirksgericht hatte 2005 gegen eine Romni, die wegen Betrugs schuldig gesprochen worden war, eine Freiheitsstrafe verhängt, obwohl die Staatsanwaltschaft eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe empfohlen hatte. Das Bezirksgericht hatte argumentiert, dass eine Bewährungsstrafe insbesondere von Angehörigen von Minderheitsgruppen nicht als Strafe angesehen werde. Es ist davon auszugehen, dass die Zahl solcher Fälle, die es nicht in die Öffentlichkeit schaffen und als solche geahndet werden, sehr hoch ist. Der Alltagsrassismus, wenn er als solcher überhaupt problematisiert wird, durchdringt die gesamte bulgarische Gesellschaft und führt bei den Betroffenen zu Resignation, Frust und Selbstabwertung.
In Sofia und anderen Städten bildeten sich dem Ende des Sozialismus militante rassistische Gruppen zumeist von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, die Jagd auf Roma machten. Am 29.10.1991 attackierte eine Gruppe von Student_innen der Lovech-Sportschule drei Roma in einer Diskothek. Drei Tage später starb ein Rom an einer durch die Schläge verursachten Gehirnblutung. Am 31.10.1993 wurde der Roma-Club in Varna überfallen und das Mobiliar zerstört. Im Winter 1992/93 wurden mehrfach bettelnde Roma-Straßenkinder von Student_innen einer Elite-Hochschule systematisch verprügelt.
Im Spätsommer 2007 wurde bei einer Schlägerei zwischen Roma und weißen Bulgar_innen in der Kleinstadt Samokow ein 17-jähriger Rom zu Tode geprügelt, was die örtlichen Behörden als normale Schlägerei zwischen Jugendlichen ohne jeglichen rassistischen Hintergrund herunterspielten.[399]
Kurz vor den bulgarischen Präsidentschaftswahlen 2011 kam es zu den schlimmsten rassistischen Ausschreitungen gegen die Minderheit der Roma seit Jahrzehnten. Nachdem ein Rom in der Stadt Katuniza, 160 Kilometer östlich von Sofia, für den Tod eines 19-Jährigen Jugendlichen verantwortlich gemacht worden war, kam es zu pogromartigen Ausschreitungen durch rechten Gewalttäter_innen.[400] Mehrere Häuser und Autos des Beschuldigten wurden in Brand gesetzt. Fußballhooligans aus dem benachbarten Plovdiv schlossen sich den gewaltsamen Ausschreitungen an. Bei Auseinandersetzungen mit den angerückten Sicherheitskräften starb ein 16-jähriger Junge angeblich an Herzversagen, fünf Menschen wurden verletzt. Die Polizei nahm seitdem rund 400 Randalierer_innen fest. Zudem wurde der Rom selbst festgenommen. Ihm wurde vorgeworfen, den Jugendlichen absichtlich überfahren zu haben. Verschiedene Roma-Organisationen machten der Polizei den Vorwurf, erst zu spät gegen die Randalierer_innen eingegriffen zu haben. Tatsächlich verstanden die Rechten die zögerliche Haltung der staatlichen Ordnungskräfte als Freibrief für weitere rassistische Ausschreitungen gegen Roma und andere Minderheiten. In der Folgezeit weiteten sich die Ausschreitungen gegen Roma auf ganz Bulgarien aus.
Vor allem die extrem rechte Partei Ataka organisierte die Proteste in der Hoffnung, bei den anstehenden Präsidentschafts- und Kommunalwahlen am 23.10.2011 Stimmengewinne verbuchen zu können. Rund 2.200 Menschen gingen in insgesamt 14 Städten auf die Straße, in den Nächten weiteten sich die Proteste dann zu Gewaltexzessen aus. Nach Zusammenstößen mit der Polizei wurden in Blagoewgrad zum wiederholten Male Dutzende von Randalierer_innen festgenommen. Zuvor hatten rechte Skinheads Jugendliche im Roma-Viertel angegriffen. In den Tagen nach den Ausschreitungen in Katuniza demonstrierten in der Hauptstadt Sofia bis zu 2.000 Menschen.[401] Vor allem Jugendliche zogen wiederholt mit rassistischen und nationalistischen Parolen wie „Zigeuner zu Seife“ oder „Alle Zigeuner raus“ durch die Straßen und liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei.[402] In Plovdiv bewarfen rechte Skinheads ein von Roma bewohnten Haus mit Steinen und Knallkörpern und wurden erst durch die Polizei daran gehindert, das Gebäude zu stürmen. In Varna verletzte ein jugendlicher Rechter eine Roma am Kopf, die ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Die landesweiten Unruhen in Bulgarien führten zu massenhaften Festnahmen in mehr als einem Dutzend Städten. Beamt_innen internierten mehr als 160 Menschen und konfiszierten kleine Sprengsätze, Messer und Schlagstöcke. Die jüngsten Auseinandersetzungen gelten in dem ärmsten Land der Europäischen Union als die schwersten Krawalle seit 1997. Damals löste eine Wirtschaftskrise mit folgender Hyperinflation Unruhen aus. Die Proteste wurden erstmals in den sozialen Netzen im Internet organisiert. Die bulgarische Polizei beobachteten mehrere Facebook-Gruppen. So wurden etwa im Internet vorsätzlich Mitteilungen über angeblich durch Roma begangene Verbrechen verbreitet, die es in Wirklichkeit nie gegeben hat.
Der Vorsitzende von Ataka, Volen Siderov, bezeichnete in einer Rede vor dem Präsidentenpalast die „Islamisierung“ und die „Zigeunerisierung“ als die eigentlichen Probleme Bulgariens. Weiterhin verlangte er den Abriss der Roma-Siedlungen in den Städten und die Wiedereinführung der Todesstrafe. Die regierende konservative GERB wies wider besseren Wissens Einschätzungen zurück, es habe sich bei den jüngsten Ausschreitungen um Gewalt zwischen „ethnischen Volksgruppen“ gehandelt und verwies jeden rassistischen Hintergrund in das Reich der Spekulation. Der Präsidentschaftskandidat der GERB, Rosen Plevneliev, stellte fest: „Das waren rein kriminelle Taten und keine ethischen Spannungen“[403]
Für diese aggressive Stimmung gegen Roma und die türkische Minderheit sind vor allem die rassistische Partei Ataka und der Bulgarische Nationalbund (BNS) verantwortlich. Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft in Bulgarien orientierten sich die geistigen Eliten des Landes vor allem an nationalistischen Denkschemata aus der Vergangenheit. Fast 500 Jahre lang war Bulgarien eine Provinz des Osmanischen Reiches.[404] Für Bulgarien begann ihre Geschichte der Neuzeit erst mit der „Nationalen Wiedergeburt“ und dem Beginn des bewaffneten Widerstandes gegen die Osman_innen 1876. Dieser Aufstand endete mit dem Massaker von Batak; die Osman_innen liquidierten dort tausende aufständische Bulgar_innen sowie Teile der Zivilbevölkerung. Das Massaker von Batak wurde zu einem nationalistischen Gründungsmythos des bulgarischen Staates, auf das sich rechte Parteien und Organisationen immer wieder beziehen.
Die rassistische Partei Ataka verbreitet Hetze vor allem gegen bulgarische Türken und Roma. Ataka wurde im April 2005 gegründet und erreichte bei den Parlamentswahlen zwei Monate später bereits 8,8% der Stimmen. Bei der Europawahl 2007 erhielt die Partei 14,2% und entsandte 3 Abgeordnete ins Europäische Parlament. Die Partei gewann 7,3 % der Stimmen bei den Parlamentswahlen 2013 und stellte mit 23 Abgeordneten die viertstärkste Fraktion. Die Wähler_innen von Ataka sind zum größten Teil die Verlierer_innen des Transformationsprozesses nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Regimes. Roma werden als Konkurrent_innen um die kärglich bemessenen sozialen Leistungen begriffen und eignen sich daher wunderbar als Sündenböcke für die eigene Situation. Dass in Bulgarien seit Jahrzehnten eine neoliberalistische Wirtschaftspolitik betrieben wird, die mit zur Verelendung innerhalb der Bevölkerung beiträgt, wird nur in Ansätzen kritisiert. Dagegen sind führende Mitglieder von Ataka Student_innen, Facharbeiter_innen oder auch Unternehmer_innen, die mit Demokratie, Menschenrechten oder kulturellem Pluralismus nicht viel anfangen können und stattdessen von einem autoritären völkischen Staat träumen. In ihrem nationalistischen Pathos berufen sie sich ideologisch auf den Beginn des bewaffneten Widerstandes gegen die Osmanen im Jahr 1876, der mit Massakern der Osman_innen gegen die bulgarische Bevölkerung endete.[405] Aus dieser historischen Begebenheit erklärt sich auch ein tief sitzender Hass gegen die türkische Minderheit und den Islam im Allgemeinen, die noch immer kollektiv für die Verbrechen von 1876 verantwortlich gemacht werden. Seit 2011 betreibt die Partei einen eigenen Fernsehkanal (alfa). Ihr Vorsitzender Volen Siderov bezeichnete den Schweizer Rechtspopulisten Christoph Blocher als Vorbild.[406] Ataka möchte die türkischsprachigen Fernsehprogramme in Bulgarien verbieten und den orthodoxen Glauben als Staatsreligion verankern. Damit wird eine imaginäre kulturell-religiöse Trennungslinie durch die bulgarische Gesellschaft gezogen und festgestellt, wer dazu gehört und wer nicht.[407]
In programmatischer Hinsicht setzte Siderov ganz auf die rassistische Karte: er versprach, „Bulgarien an die Bulgaren zurückzugeben“ und „die Zigeuner dorthin zu stecken, wo sie hingehören – in Lager“. Kurz nach der erfolgreichen Wahl war auf einem Forum auf der Homepage von Ataka eine Liste mit den Namen von 1.500 bulgarischen Jüd_innen zu sehen, die als „eine von der Pest verseuchte, gefährliche Rasse“ dargestellt wurden.[408] Im Jahre 1999 nahm Siderov an einer internationalen Konferenz von Holocaust-Leugner_innen in Moskau teil. In Kommentaren wurden Jüd_innen als „Mitglieder einer gefährlichen Rasse“ beschimpft, die „es verdienen, vernichtet zu werden.“[409] Bei den Parlamentswahlen 2009 konnte Ataka das Ergebnis von 2005 noch steigern und kam auf 9,3% der Stimmen. Am 20. Mai 2011 kam es vor der Banja-Baschi-Moschee in Sofia zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern von Ataka und Moscheebesucher_innen. Fünf Menschen, darunter zwei Mitglieder der Partei wurden dabei verhaftet. Führende Politiker_innen des Landes sprachen von einer „beunruhigenden Eskalation der Fremdenfeindlichkeit und des religiösen Hasses“.[410]
Der 2001 gegründete Bulgarische Nationalbund (BNS), unter ihrem Anführer Bojan Rasate verbreitet nationalistische Hetze gegen die türkische Minderheit, Roma, die Europäische Union und den „Zionismus“. Die Jugendorganisation der BNS, die „Bulgarische Nationale Garde“ tritt in der Öffentlichkeit in schwarzen Hosen, braunen Hemden, schwarzen Hosenträgern und schwarzen Baretten auf; die Anlehnung an die Uniformen der SS ist gewollt. Die meisten ihrer Mitglieder kamen aus der Skinhead-Szene der frühen 1990er Jahre und orientierten sich an deutschen Neonazis. Sie wurde 2007 angeblich zum „Schutz vor Zigeunerübergriffen“ gegründet. Der letzte Auslöser der Gründung des BNS soll der Umstand gewesen sein, als hunderte jugendliche Roma im Sommer 2007 randalierend durch ein Viertel von Sofia zogen, nachdem sie von rechten Skinheads angegriffen worden waren. Rasate bemerkte: „Bereits seit 17 Jahren ist die bulgarische Bevölkerung in ihrer Heimat systematischen Beschränkungen und unkontrollierten Ausschreitungen vonseiten der Minderheit der Roma ausgesetzt, und der Staat sieht teilnahmslos zu. Die Zigeuner prügeln, stehlen, vergewaltigen und töten ohne eine adäquate Antwort seitens der Macht."[411]
Die „Bulgarische Nationale Garde“ griff eine Schwulen- und Lesbenparade in Sofia im Juni 2008 mit Steinen und Molotowcocktails an.[412] Am 7.2.2009 marschierte Rasate mit mehreren hundert Gesinnungsgenossen am Todestag des bulgarischen Generals Hristo Lukov, der 1938 den faschistischen „Bund der bulgarischen nationalen Legionen“ (SBNL) gegründet hatte, mit Fahnen und Transparenten durch Sofia und skandierten „Bulgaren, erwacht!“[413] Rasate steht in Kontakt mit der NPD und der rumänischen extrem rechten „Nua Dreapta“, die ähnlich wie die BNS in Rumänien eine Pogromstimmung gegen die dort ansässigen Roma schürt. Er ist auch „Landesleiter“ oder „Vertreter Bulgariens“ der neofaschistischen „Europäischen Aktion“ (EA), die von Bernhard Schaub und anderen Schweizer Neonazis ins Leben gerufen wurde. Auf einer Zusammenkunft der EA im September 2911 drückte Rasate seine Solidarität mit bekannten Holocaustleugnern aus.[414]
Mit antiziganistischen Hetzparolen versucht die BNS Stimmung zu machen. Rasate sagte in einem Interview: Zu Beginn muss ich betonen, dass wir im Gegensatz zu anderen patriotischen Organisationen die Zigeuner nicht als Teil des bulgarischen Volkes betrachten. Von fremder Kultur rede ich bewusst nicht, weil sie keine Kultur haben. (…) Wir können heute nicht daran denken, die Zigeuner einfach umzubringen. Die Zeiten sind andere. Aber derzeit werden die Zigeuner gegenüber den Bulgaren bevorzugt. Das Gesetz gilt nicht für alle. (…) Für eine Zigeunerfamilie bedeuten mehr Kinder: mehr Sozialhilfe und mehr Arbeitskräfte, als Bettler, Diebe, Prostituierte. Die Einnahmen fließen in die Haushaltskasse.“[415]Weiterhin sprach sich Rasate für einen „Ariernachweis“ aus, da „die Menschen unterschiedlich geschaffen“ wurden. Er definierte die „bulgarische Rasse“ als „weiß mit europäischen Gesichtszügen“.[416] Vertreter_innen von Ataka und des BNS nahmen am „Fest der Völker“ in Jena, der neofaschistischen Demonstration zum „Antikriegstag“ in Dortmund sowie an den Dresdener Kundgebungen anlässlich der alliierten Bombardierungen teil.[417]
Ähnlich wie in Bulgarien sind die sehr schlechte wirtschaftliche Perspektive und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft sowie der offene manifeste Rassismus die Gründe für die Emigration vor allem nach Westeuropa. Die Zahl der im Ausland lebenden Rumän_innen wird auf zwei Millionen geschätzt, was einem Bevölkerungsanteil von ca. 10% entspricht.[418] Vom European Roma Rights Center wird die soziale und wirtschaftliche Situation der Roma in Rumänien weiterhin als „sehr dürftig“ eingeschätzt.[419] Rassismus gegen Roma und andere Minderheiten findet sich in allen Schichten der Gesellschaft, nicht nur am rechten Rand. Institutioneller Rassismus bei Behörden, Justiz oder Polizei ist die Regel und nicht die Ausnahme. Besonders in Teilen der Polizei existieren rassistische Praxen gegen Roma oder andere Minderheiten.[420] Sie reichen von selektiven Kontrollen, körperlicher und psychischer Gewalt bis hin zu Morddrohung und Folter. Die Wahrnehmung rassistischer Polizeigewalt in der Öffentlichkeit ist weitgehend gering. Jan Adam geht sogar von staatlichem Rassismus aus: „Teile des Staatsapparates, insbesondere des Geheimdienstes sind in rechtsextreme Netzwerken involviert. Der Staat selbst betreibt eine teilweise rassistische Politik gegenüber den Roma und der ungarischen Minderheit.“[421]
Die Anzahl der rumänischen Roma kann nur geschätzt werden. Offizielle Zahlen aus dem Jahre 2011 gehen von knapp 620.000 Roma aus.[422] Da aber viele Roma sich aus Angst vor rassistischen Stereotypen nicht als solche zu erkennen geben wollen, ist von einer höheren Zahl auszugehen.
Die Minderheit der Roma ist kein homogenes Gebilde, wie es in Teilen der Dominanzgesellschaft im biologistischen Sinne gerne dargestellt wird. Nach regionalen und historischen Gesichtspunkten lassen sich die Roma in zwei große Gruppen unterteilen: Dies sind zum einen diejenigen Roma, die gemäß ihrer Herkunft und ihrem Wohnort nach als transilvanische oder siebenbürgische Roma bezeichnet. Die zweite Gruppe bilden diejenigen Roma, die aus den Gebieten Moldau und Walachei stammen. Innerhalb dieser beiden Gruppen gibt es noch ca. dreißig Untergruppierungen, die sich nach ihrer jeweiligen Profession unterscheiden, die die jeweilige Eigenständigkeit betonen.[423]
In den rumänischen Gebieten Moldau und Walachei hatten bis 1855/56 die Roma den Status als Sklav_innen und Leibeigene inne.[424] Ehen zwischen Roma und Nicht-Roma waren verboten, ebenso Ehen zwischen Roma verschiedener „Besitzer_innen“. Ihre jeweiligen „Besitzer_innen“, darunter auch die rumänisch-orthodoxe Kirche, betrachteten Roma als „minderwertig“ und beuteten ihre Arbeitskraft ungehemmt aus. Nach dem offiziellen Ende der Sklaverei flüchteten die meisten Roma aus Angst vor neuer Leibeigenschaft in andere Länder. Dagegen waren zahlreiche der in den ehemals ungarischen Gebieten Siebenbürgen und Banat lebenden Roma als selbständige Handwerker_innen oder Händler_innen tätig.
Die mit dem nationalsozialistischen Regime verbündete faschistische Militärregierung unter Ion Antonescu (1940-1944) sorgte für das dunkelste Kapitel der rumänischen Romapolitik.[425] Mindestens 25.000 Roma wurden nach Transnistrien deportiert, wo ca. die Hälfte an Krankheiten, Unterernährung oder fehlender medizinischer Versorgung starben. Hunderttausende rumänische und ukrainische Jüd_innen wurden ebenfalls nach Transnistrien deportiert; die meisten starben durch die von der rumänischen Armee verübten rassistisch motivierten Massakern.[426] Diese Verbrechen unter dem faschistischen Regime werden heute noch verleugnet, verharmlost und sogar glorifiziert.[427] Eine gründliche Aufarbeitung steht trotz voranschreitender Bemühungen noch aus, es gibt noch keine offizielle Anerkennung für die Opfer von Antonescus Schreckensherrschaft.[428] Nach der Etablierung des Kapitalismus wurden Straßen und Plätze nach Antonescu benannt und ihm Denkmäler gesetzt. Eine Umfrage im Jahre 1995 ergab, dass 62% der Befragten ein positives Bild von Antonescu hatten und ihn als historische Leitfigur anerkannten. Im Jahre 1999 ehrte das rumänische Parlament parteiübergreifend Antonescu in einer Feierstunde.
Unter der kommunistischen Herrschaft erlebten viele Roma einen persönlichen Aufschwung in wirtschaftlicher Hinsicht.[429] Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung wurden neue sichere Arbeitsplätze geschaffen, von denen zahlreiche Roma und ihre Familien profitierten. Roma wurden bevorzugt in der Bauindustrie, dem Bergbau und der Straßenreinigung eingesetzt. Diese körperlich schweren Arbeiten wurden jedoch insgesamt gesehen schlecht bezahlt, boten wenige Aufstiegsmöglichkeiten und hatten frühe gesundheitliche Einschränkungen zur Folge. Die von dem kommunistischen Regime beabsichtigte Integration der Roma entpuppte sich zum Teil als repressive Assimilation vor allem in kultureller Hinsicht. Es wurde ihnen verboten, ihre traditionelle Kleidung zu tragen und ihre überlieferten Feste zu feiern und Zusammenkünfte vor allem an religiösen Feiertagen zu organisieren.[430] Weiterhin wurde ihnen jede Form der Selbstorganisation verweigert. Das 1970 von Ceausescu verordnete „Dekret 153“ richtete sich gegen „soziale Parasiten“. Damit wurden Menschen im erwerbsfähigen Alter bezeichnet, die kein festes Arbeitsverhältnis oder einen festen Wohnsitz nachweisen konnten. So konnten angebliche die Gemeinschaft schädigende Personen willkürlich verhaftet und über Jahre im Gefängnis gehalten werden. Dies betraf hauptsächlich Roma.
Nach dem Sturz von Ceausescu 1989 hat sich die wirtschaftliche und soziale Lage der Roma dramatisch verschlechtert.[431] Viele Roma verloren ihre Arbeitsplätze im Zuge der Auflösung und Privatisierung der Staatsbetriebe. Von der allgemeinen Wohnungsnot und der hohen Arbeitslosigkeit waren Roma am meisten betroffen. Diejenigen Roma, die in einem festen Beschäftigungsverhältnis stehen, sind unterbezahlt und können von ihrem Lohn nur schwer leben und eine Familie versorgen. Heute leben viele in bitterster Armut und führen einen Kampf ums Überleben. Obwohl sie wahrscheinlich am meisten von den Nachteilen des einsetzenden Kapitalismus betroffen waren, dienten die Roma als Sündenbock für Teile der Mehrheitsbevölkerung. Die neu gegründete neofaschistische Organisation „Vatra Romanescu“ forderte in einem im ganzen Land verteilten Aufruf die Vertreibung der Roma und der Ungarn aus Rumänien: „Siebenbürgen, war, ist und wird immer unser sein! Leider wird dieser heilige rumänische Boden immer noch von asiatischen Hunnenfüßen, Zigeunern und anderem Abschaum verdreckt. Einigt Euch, um sie aus dem Land zu verjagen. Raus mit den Hunnen (Ungarn, M.L.) und raus mit den Zigeunern, die für unser Land eine Schande sind. Wir wollen ein reines und großes Rumänien. Wir wollen alle uns geraubten Gebiete zurück! Jetzt oder nie!“[432] Viele Roma flüchteten aufgrund dieses Bedrohungsszenarios aus Rumänien nach Westeuropa, darunter auch in die BRD.
Die Benachteiligung der Roma zeigt sich vor allem in der Bildung. Um die Jahrtausendwende waren 44 % der Männer und 59 % der Frauen Analphabeten.[433] In den Grundschulen gibt es in vielen Fällen de facto eine Separierung; Roma werden in eigenen Klassen getrennt von den Kindern aus der weißen Mehrheitsbevölkerung unterrichtet. Ein Grund dafür ist die Weigerung von Eltern aus der Dominanzgesellschaft, ihre Kinder zusammen mit Roma-Kindern in dieselben Klassen zu schicken. Nach der Grundschule werden viele Roma-Kinder auch aus rassistischer Motivation in Sonderschulen abgeschoben, die Chancen zu einer weiterführenden Schullaufbahn werden ihnen damit verwehrt.
Die in der jahrhundertelangen Sklaverei verinnerlichte „Minderwertigkeit“ der Roma wirkt im 21. Jahrhundert innerhalb der Mehrheitsgesellschaft unhinterfragt immer noch nach. Es wird vom einzelnen Menschen abstrahiert und die (negativen) Eigenschaften werden der Gruppe der Roma biologistisch zugeordnet. Der Rassismus gegen Roma ist keine Spezialität der extremen Rechten, sondern wird auch und vor allem in der „Mitte“ der Gesellschaft postuliert. A.K. Pfeifer führt aus: „Oft werden Roma als das ‚Andere‘ kategorisiert, von der Kategorie ‚Rumäne‘ werden sie per se ausgeschlossen. (…) sie als Fremde, als Nichtmitbürger, als Andere abzustempeln. Der in Rumänien herrschende vorurteilsbeladene und diskriminierende Diskurs gegen Roma kommt nicht nur von politischen Extremisten, sondern aus dem gesamten politischen und gesellschaftlichen Spektrum.“[434] In einer wissenschaftlichen Expertise, die die Einstellungen von jungen rumänischen Wissenschaftler_innen zu Roma untersuchte, bemerkte der Theologiestudent Vlad: „Ja, wenn Du in das Gesicht eines Rumänen blickst, wenn er einen Zigeuner trifft, kannst Du aus seinem Gesicht die Wut lesen. Er denkt dann: Das ist mein Platz. Warum kommst Du hierher? Ich kann nicht atmen.“[435] Der Dichter und Sprecher des Literaturmuseums, Calin Cuibotari, erklärte: „Als Rumäne in meinem Land darf ich nicht laut und deutlich in der Öffentlichkeit sagen, dass mir schlecht wird, dass ich ein Würgegefühl habe, wenn an der Bushaltestelle Padurea diese dreckigen, schmierigen Weiber mit ihren vielen in die Hosen scheißenden Zigeunerbalgen und mit nach billigem, infizierten Schnaps riechenden Männern einsteigen; es sind eklige Kreaturen, die ihre Zigeunerbalgen in die Trams zum Betteln schicken, während sie im Hintergrund das gute Gelingen der Aktion überwachen. Ich, Rumäne in meinem Land – ohne Extremist oder Nationalist zu sein – darf meine Wut gegenüber einer Minderheit nicht herausschreien, die uns durch ihren Lebensstil in ganz Europa und anderswo beschämt, unsere Städte infiziert, uns mit dem schrecklichen Mangel an Zivilisation trübt und uns zu jeder Stunde, in jedem Augenblick zeigt, dass Darwin Recht hatte.“[436]
Vor allen in den ersten Jahren nach dem Sturz Ceaucescus wurden Roma als „Agenten“ des Regimes und der Securitate diffamiert. Auch der unhinterfragte Mythos, dass Ceaucescu „Zigeuner“ war, ist Teil der Hetze gegen die Minderheit. Die Verweigerung des Zutritts in Kinos, Gaststätten oder Diskotheken für Roma oder als Roma identifizierte Personen ist weit verbreitet.[437] Der Gesetzgeber stellt dies zwar offiziell unter Strafe, ändert aber an der weiterhin vorkommenden Ungleichbehandlung wenig.[438]
Laut einer statistischen Erhebung aus dem Jahre 2001 S. 41 ordnen die weiße Mehrheitsbevölkerung den Roma vor allem die Eigenschaften dreckig (50%), diebisch (44%), faul (38%), zerstritten (24%), rückständig (22%) und nachlässig (12%) zu.[439]
Forderungen wie Zwangsarbeit für „kriminelle“ und „arbeitsscheue“ Roma sind in der Dominanzgesellschaft weit verbreitet.[440] Nach dem Vorbild der Apartheid in Südafrika wird die Errichtung von „Reservaten“ plädiert. In einer Umfrage im Jahre 2001 waren 36% der Befragten der Meinung, dass Roma am besten am Rande der Gesellschaft leben sollten.[441] Die Segregation von der Mehrheitsgesellschaft wird mit angeblichen kulturellen Eigenschaften der Roma begründet, die unvereinbar mit der der weißen Mehrheitsgesellschaft wären. In der oben erwähnten Umfrage sprach sich die Hälfte der befragten Personen für eine obligatorische, staatlich kontrollierte Geburtenbeschränkung aus.[442]
Nach Angaben der International Helsinki Federation For Human Rights wurden in Rumänien zwischen Dezember 1990 und Mai 1991 in 24 Dörfern die Roma-Viertel überfallen, die Häuser abgebrannt und die Bewohner verprügelt und vertrieben.[443] Gewalttätige Übergriffe und Pogrome fanden beispielsweise zwischen dem 13.-15. Juni 1990 in Bukarest in den Roma-Vierteln Ferentari, Tei, Rahova, Panteli-mon und Sulea statt sowie im Oktober 1990 im Dorf Mihai Kogalniceanu, wo zahlreiche Häuser der Roma niedergebrannt und die Familien aus dem Dorf gejagt wurden. Meist war es ein rassistischer Mob von einigen hundert oder tausend Menschen, die in kollektiver Lynchjustiz vorgebliche Straftaten einzelner Roma rächen wollten. Die lokalen Behörden und die Polizei waren entweder nicht in der Lage oder nicht willens, dagegen einzuschreiten. Die Pogrome wurden nur halbherzig oder gar nicht strafrechtlich verfolgt.
Ein Fall von institutionellem Rassismus machte international Schlagzeilen. Im September 1993 waren in dem siebenbürgischen Dorf Hadareni mit polizeilicher Duldung drei Roma gelyncht und dreizehn Häuser von Roma in Brand gesteckt worden.[444] Anlass des Pogroms war ein gewalttätiger Streit zwischen Dorfbewohner_innen, bei dem ein Rom seinen rumänischen Nachbarn erstochen hatte. Zwei Roma wurden daraufhin in der Anwesenheit von Polizist_innen von einem rassistischen Mob zu Tode geprügelt, einer wurde in seinem Haus verbrannt. Die damalige rumänische Regierung setzte zunächst widerwillig einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ein. In dessen Abschlussbericht wurde in antiziganistischer Weise die Lynchjustiz als „spontane Reaktion von Dorfbewohnern gegen das Verhalten der Roma“ gerechtfertigt, denen eine „aggressive, kriminelle und desintegrative Lebensweise“ zugeschrieben wurde. Die Strafanzeigen der Roma wurden jahrelang nicht bearbeitet und somit eine Aufklärungsarbeit erschwert. Auch mit internationaler Hilfe wurde der Fall im Jahre 2005 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verhandelt. Dieser verurteilte den rumänischen Staat, weil er „Lynchjustiz gegen Roma Vorschub leistete“, zur Zahlung von 238.000 Euro Schmerzensgeld an die betroffenen Roma.
Der damalige rumänische Außenminister Adrian Cioroianu schlug im November 2007 vor, ein Teil der ägyptischen Wüste zu erwerben und alle kriminellen rumänischen Roma dorthin zu deportieren. Im Anschluss an diese Deportationsphantasien spendete ein großer Teil der Bevölkerung Beifall, Proteste zeigten sich selten.
Im Jahre sprach 2009 sich eine Kampagne für ein Gesetz zur Wiedereinführung von țigani („Zigeuner“) und zur Beseitigung von roma aus.[445] Im Ausland bestünde eine Verwechslungsgefahr zwischen den Begriffen „Roma“ und „Romani“ („Rumäne“), die dem Ansehen der Rumän_innen in der Welt angeblich einen ungeheuren Schaden zufüge. Ausgangspunkt der jüngsten Umbenennungskampagne waren einige kriminelle Vorkommnisse in Italien, in die rumänische Staatsbürger_innen verwickelt waren, die angeblich der Minderheit der Roma angehören. Diese Kampagne fand nicht nur in weiten Teilen der rumänischen Mehrheitsbevölkerung Zustimmung, sondern auch in höchsten Kreisen der Politik. Der damalige rumänische Präsident Traian Basescu bezeichnete die Änderung der Bezeichnung „Zigeuner“ in „Roma“ als „großen politischen Fehler“.[446] Internationale Antidiskriminierungsinstitutionen und nationalen Minderheitenorganisationen sowie ein Teil der rumänischen Politik und Gesellschaft kritisierte die Kampagne und deren Protagonist_innen scharf. Dies führte letztlich dazu, dass der rumänische Senat die offizielle Umbenennung in țigani 2011 ablehnte.[447]
Die extreme Rechte in Rumänien besteht vor allem aus drei Parteien und Organisationen. Erstens ist die „Großrumänienpartei“(PRM) mit ihrem bis Mitte 2013 amtierenden Vorsitzenden Corneliu Vadim Tudor zu nennen, die bei Wahlen sehr erfolgreich und in Teilen der rumänischen Bevölkerung fest verankert ist.[448] Bei den Parlamentswahlen 2004 erhielt die PRM 13% der Stimmen. Tudor bekam bei den Präsidentschaftswahlen sogar 32%. Er bezeichnete sich selbst als „Tribun“; „tribuni“ werden in der rumänischen Geschichte Kämpfer_innen für die Selbstverteidigung der rumänischen Gemeinden in Siebenbürgen gegen die Revolutionsregierung in Ungarn 1848 genannt. Der PRM-Abgeordnete und NS-Apologet Dumitru Dragomir stellte die Forderung auf, „Juden zu Seife zu verarbeiten".[449] Dragomir ist Herausgeber des neonazistischen Magazins „Atac a la persona" mit der regelmäßigen Rubrik „Zvastika".
Die PRM betreibt eine systematische Hetze gegen Roma und Ungar_innen, die größten Minderheiten des Landes. Sie agitiert gegen die EU, die fortschreitende Globalisierung und äußert sich antisemitisch. Die Partei fordert die „Wiederangliederung“ der ukrainischen Bukowina, des südlichen Bessarabiens und des Gebietes Moldawiens in Form eines „Großrumäniens“ nach dem historischen Vorbild bis zur russischen Besetzung 1812. Im EU-Parlament war die PRM war Mitglied der rechten ITS-Fraktion („Identität, Tradition, Souveränität")[450]
Die Noua Dreapta („Neue Rechte“, ND) wurde 1999 in Bukarest gegründet und hat in größeren Städten Rumäniens mehrere Ortsgruppen.[451] Ihr ideologisches Vorbild ist Corneliu Zelea Codreanu, der Gründer der Legionärsbewegung „Schwert des Erzengels Michael“. Das Symbol der ND ist das keltische Kreuz in der Regel auf einem grünen Hintergrund, was an die Insignien der Eisernen Garde Codreanus erinnert. Jedes Jahr am 30. 11 organisiert die ND in der Nähe des Dorfes Tancabesti bei Bukarest einen Marsch zu Ehren Codreanus, der dort 1938 mit anderen Legionären auf Befehl des damaligen Königs umgebracht wurde. In der ND sind viele Student_innen mit gefestigtem nationalistischem und rassistischem Weltbild aktiv, was eine Intellektualisierung der Organisation zur Folge hat. Die ND gibt eigene Zeitschriften wie „Militant“ und „Student“ raus, in denen Vergangenheitsmythen beschworen und Hetze gegen Andersdenkende und Minderheiten betrieben wird.
Programmatisch geht rumänisch-orthodoxe Religionsmystik bei der ND einher mit Rassismus vor allem gegen Roma und die ungarische Minderheit, Homophobie und Antiglobalisierung. Eine der zentralen Forderungen der ND ist die Zwangsabtreibung für Romni und die Schaffung von „Reservaten“, in denen Roma getrennt von der übrigen Bevölkerung wie während der Apartheid in Südafrika leben sollten. Eine EU-Mitgliedschaft Rumäniens wird vehement abgelehnt. Die Ortsgruppe in Timisoara veranstaltete im September 2006 ein Symposium gegen den EU-Beitritt Rumäniens ab 2007. Die ND will ein „Großrumänien“ nach dem historischen Vorbild bis zur russischen Besetzung 1812 auf rassistischer Grundlage schaffen. Das System der parlamentarischen Demokratie wird abgelehnt, stattdessen soll eine autokratische Regierung geschaffen werden. Einige Angehörige der ND bevorzugen sogar eine Neuauflage der Monarchie.
Die ND ist nicht als politische Partei registriert und kann daher nicht in Wahlen teilnehmen. Es gibt keine registrierte Mitgliedschaft, es wird von 1.000-2.000 aktiven Mitglieder_innen ausgegangen. Die ND ist Teil der Europäischen Nationalen Front, einer Dachorganisation von extrem rechten Organisationen in ganz Europa. Es existieren intensive Kontakte zur neonazistischen NPD. Sowohl beim „Fest der Völker“ in Jena 2005 als auch auf einer NPD-Kundgebung am 8.5. 2005 in Berlin durfte der ND-Generalsekretär Claudiu Mihutiu eine Rede halten.
Im Juni 2006 fand in Bukarest eine Gaypride-Parade statt, gegen die Mitglieder der ND vor Gericht zogen, um ein Verbot der Veranstaltung zu erwirken.[452] Als dies misslang, organisierte die Organisation einen Aufmarsch unter dem Motto „Marsch für Normalität und gegen Homosexualität“ organisierten, an dem ca. 900 Menschen teilnahmen, darunter viele rumänisch-orthodoxe Gläubige mit Kreuzen. Am Ende des Marsches wurden Teilnehmer_innen der Gaypride-Parade angegriffen und verletzt. Am 15. März 2008, dem ungarischen Nationalfeiertag, organisierte die ND eine antiungarische Kundgebung in Cluj-Napoca gegen die Feierlichkeiten der ungarischen Minderheit. Dabei kam es zu Übergriffen von Mitglieder_innen auf Angehörige der ungarischen Minderheit. Nach diesem Vorfall forderten zwei ungarische Mitglieder des rumänischen Parlaments ein Verbot der ND.
Der „Partei der nationalen Vereinigung Rumäniens“ (PUNR) geht es vor allem um die Errichtung eines „Großrumäniens“ und die hegemoniale Stellung des Landes in Südosteuropa. Die PUNR ist eher als nationalistische Splitterpartei zu betrachten, da sie nicht die Akzeptanz der ND oder der PRM in Teilen der Bevölkerung besitzt.
Organisierte neonazistische Gruppen außerhalb der oben beschriebenen Parteien wie zum Beispiel in der BRD die „Freien Kameradschaften“ oder rechte Skinheads spielen zwar zahlenmäßig eine geringe Rolle, sind aber immer ein Bedrohungsszenario für Roma oder andere Minderheiten. Ende Juli 1993 gründete sich in der südrumänischen Stadt Ploiesti die „Organisation für den Kampf gegen die Zigeuner“ (OLIT). Ihr „Präsident“ erklärte: „Alle verschiedener Delikte schuldige Zigeuner, die das Gesetz nicht bestraft, werden wir hart bestrafen, und zwar gemäß ihren Taten. Die Rumänen werden von Zigeunern zusammengeschlagen, ausgeraubt und abgestochen. Und was macht die Polizei? Hält sich raus! Wir müssen die Ordnung im Lande wiederherstellen.“[453] In unregelmäßigen Abständen gibt es auch Übergriffe von rassistischen Hooligans in und außerhalb der Fußballstadien.
In der Ruhrgebietsmetropole Dortmund, in der ca. 580.000 Einwohner_innen leben, regiert mit Ullrich Sierau ein sozialdemokratischer Oberbürgermeister. Die SPD nimmt seit Jahrzehnten eine hegemoniale Stellung im politischen Geschehen der Stadt ein. Seit der Nachkriegszeit stellt sie ununterbrochen den Oberbürgermeister, bis 1999 auch die absolute Mehrheit im Rat. Sämtliche direkt gewählten Abgeordneten auf Landes- und Bundesebene erzielen bis heute Wahlergebnisse von 50 % und mehr, was bundesweit nur mit den Ergebnissen der CSU in Bayern vergleichbar ist. Bei der letzten Kommunalwahl erreichte die SPD 43,7 % der Stimmen (38 Sitze), die CDU 27,2 % (23 Sitze), die Grünen 17,2 % (15 Sitze), die Linke 3,5 % (3 Sitze), die FDP 2,6 % (2 Sitze), die Bürgerliste 1,9 % (2 Sitze), die NPD 1,9 % (2 Sitze) und die Freie Bürger-Initiative 1,2 % (1 Sitz).[454]
Durch das Aufblühen der Montanindustrie und ihrer Zuliefererbetriebe seit den 1950er entwickelte sich Dortmund zu einer der wirtschaftlichen Zentren der neu entstandenen BRD. Die Nachfrage nach Arbeitskräften stieg an und die Arbeitslosenquote war verschwindend gering. Nach dem allmählichen Niedergang der Montanindustrie entwickelte sich die Stadt von einer Industriemetropole zu einem bedeutenden Dienstleistungs- und Technologiestandort. In der Zeit von 1960 bis 1994 verringerte sich die Zahl der Industriebeschäftigten von 127.000 auf 37.000 Personen. Der tertiäre Sektor (Dienstleistungen) bildet heute den mit Abstand größten Anteil in der Dortmunder Wirtschaft. Der Strukturwandel brachte Neuansiedlungen und Existenzgründungen bevorzugt in den Bereichen Logistik, Informations- und Mikrosystemtechnik mit sich. Außerdem haben sich im Umfeld der Universität viele moderne IT- und Dienstleistungsunternehmen etabliert, die für Beschäftigung sorgen. Trotz des weitgehend vollzogenen Strukturwandels weist die Stadt eine der höchsten Arbeitslosenquoten in Westdeutschland auf. 2013 lag die Arbeitslosenquote bei insgesamt 13,2%, die Zahl der auf staatliche Transferzahlungen und Hilfsangebote angewiesenen Menschen ist vergleichsweise hoch.[455]
Die Geschichte der Stadt Dortmund war schon immer mit Einwanderung und der Begegnung unterschiedlicher Kulturen, die einen wechselseitigen Austausch pflegten, geprägt.[456] Schon im Mittelalter lassen sich verschiedene Einwanderungsbewegungen nachweisen. Im 18. Jahrhundert ließen sich einige hugenottische Glaubensflüchtlinge aus Frankreich auch in Dortmund nieder, die für eine Belebung der regionalen Wirtschaft sorgten und sich im Laufe der Zeit assimilierten. Mit dem Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert stieg zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs der Zuzug von Migrant_innen enorm an. Ausländische Investor_innen brachten ihre eigenen Fachkräfte und zum Teil auch deren Familien mit. So kamen Italiener_innen, Ir_innen, Belgier_innen und Französ_innen nach Dortmund. Neben Menschen aus dem unmittelbaren ländlichen Umfeld zogen auch Menschen aus ferner gelegenen Regionen zu, um in der Industrie zu arbeiten. Darunter waren viele aus den Ostprovinzen Preußens, so dass auch unter den inländischen Zuwander_innen in die industriellen Ballungszentren viele Menschen waren, die polnisch sprachen und sich als Pol_innen fühlten. Diese Einwanderer_innen wurden als „Ruhrpolen“[457] bezeichnet. Ab 1880 verstärkte sich die Ost-West-Wanderung aus dem preußischen Osten ins Ruhrgebiet. Die Arbeiter_innen aus dem deutschen, österreich-ungarischen und russischen Polen sowie aus Masuren und Oberschlesien gewannen immer mehr an Attraktivität für Industrie und Landwirtschaft. Polnischsprachige Saisonarbeiter_innen waren in der Industrie, vor allem in Bergbau, Hüttenwesen, Baugewerbe und Ziegelherstellung beschäftigt.
Weitere gezielte Anwerbungen von „Gastarbeitern“ vor allem aus der Türkei, dem früheren Jugoslawien, Griechenland und Spanien gab es vor allem in den 1960er Jahren, um den Arbeitskräftebedarf in der Montanindustrie zu decken. Im Raum Dortmund/Lünen/Castrop-Rauxel waren im Jahre 1962 bereits rund 6000 „Gastarbeiter“ beschäftigt. Mit 1635 Arbeitslosen war in Dortmund der niedrigste Stand der Nachkriegszeit erreicht worden. Auf jede(n) Arbeitssuchende(n) kamen mehr als fünf offene Stellen. In der Eisen- und Metallindustrie, besonders im Waggon- und Fahrzeugbau, fehlten die nötigen Arbeitskräfte, auch die Bauwirtschaft war die Wirtschaft auf „Gastarbeiter“ angewiesen. Unter den Migrant_innen aus dem früheren Jugoslawien waren auch Roma, die jedoch auch aus Angst vor Diskriminierung ihre eigentliche Identität verschwiegen und ihre Kultur nur im vertrauten Kreis lebten. Nach dem Ende der sozialistischen Herrschaft in Osteuropa kamen viele „Spätaussiedler“ ins Ruhrgebiet und somit auch nach Dortmund. 2009 lebten in Dortmund ca. 92.778 Menschen aus 140 verschiedenen Staaten.[458]
Die Nordstadt wurde zwischen 1858 und 1913 als Arbeiter_innenviertel errichtet und wird heute im Vergleich zu anderen Stadtteilen Dortmunds überproportional von Einwanderer_innen bewohnt.[459] Ca. 53.000 Menschen unterschiedlicher Nationalitäten leben in der Nordstadt im interkulturellen Austausch miteinander. Soziale Probleme und Armut kennzeichnen den Stadtteil, so lag die Arbeitslosenquote 2011 bei ca. 27, %. In den letzten Jahren entstand die Kulturmeile Nordstadt, viele Künstler_innen siedelten sich an.In der lokalen und bundesweiten Öffentlichkeit geht der Stadtteil als „Problembezirk“ durch.[460] Dies trägt zu einem negativen Bild und zu einer pauschalen Stigmatisierung der Bewohner_innen bei.
Seit 2007 hat ein vermehrter Zuzug von Menschen aus Südosteuropa in die westeuropäischen Metropolen zunächst Tschechiens und Polens, dann Italiens, Spaniens und Frankreichs und jetzt zunehmend nach Deutschland und auch nach Dortmund stattgefunden.
Seit dem ersten Halbjahr des Jahres 2011 entwickelte sich in der Dortmunder Lokalpolitik und später auch in überregionalen Medien eine Auseinandersetzung, die sich in ihrer Ausprägung meist auf die Dortmunder Nordstadt konzentrierte.[461] Die Bezeichnung „Nordstadtdebatte“ setzte sich in der Öffentlichkeit durch; dort ging es zumeist um die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien. Die Zuwanderer_innen wurden zunächst als „aus Bulgarien und Rumänien stammende Personen“ identifiziert. Mit der Zeit setzte sich allerdings die Bezeichnung „Roma“ oder auch „Zigeuner“ durch, obwohl dies nicht zutraf, da sich nicht alle Zuwander_innen selbst als „Roma“ und schon gar nicht als „Zigeuner“ kategorisierten. Nach einiger Zeit fokussierte sich die Debatte auf den bis dahin legalen Straßenstrich an der Ravensburger Straße.
Migrant_innen aus Bulgarien und Rumänien wurden in Dortmund meist nicht mit offenen Armen empfangen und pauschal zu „Problemträgern“ erklärt: „Selbst einwanderungsbasierte Stadtgesellschaften, wie sie für den Rhein-Ruhr-Raum typisch sind, tun sich schwer, mit der Einwanderung konstruktiv umzugehen, was wohl auch mit dem bislang unabgeschlossenen Strukturwandel des Ruhrraumes zu tun hat, der schnell zu Verteilungskämpfen verführt.“[462] Der Dortmunder Oberbürgermeister Sierau (SPD) bezeichnete die Migranten pauschal als „Problemgruppen“.[463]
Der Diskurs über die Migration aus Bulgarien und Rumänien ist von Beginn an Teil des Sicherheitsdiskurses in der Nordstadt. Verschiedene Akteure wie Teile der städtischen Verwaltung, Medien, Politiker_innen oder die Polizei schrieben den Zuwander_innen pauschal Kriminalität zu. Lokale wie auch überregionale Medien berichteten in regelmäßigen Abständen über die Migration in Bulgarien und Rumänien in Dortmund. Dies geschah fast ausschließlich aus der Sicht der Mehrheitsgesellschaft, Migrant_innen kamen fast gar nicht zu Wort.
Empathie für ihre Probleme spielten im Diskurs eine Nebenrolle: „Über die vorhandenen sozialen Probleme der Einwanderer wurde zwar berichtet, jedoch der Versuch einer Aufklärung über die Ursachen und Entstehungsbedingungen dieser sozialen Probleme blieb aus.“[464]
Mit einem möglichst repressiven Vorgehen gegen die Migrant_innen verband sich die Hoffnung, dass diese mehrheitlich Dortmund verlassen und andere mögliche Zuwanderer_innen abgeschreckt werden.
Die Migration aus Bulgarien und Rumänien wurde in der Dortmunder Nordstadt erstmalig im Jahre 2008 wahrgenommen und als ein sicherheits- und ordnungspolitisches Problem gedeutet. Die pauschale Zuschreibung von Kriminalität wurde in der Folgezeit zu einem zentralen Element des Diskurses um die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien.
Den Zuwander_innen wird organisierte Kriminalität mit der Dortmunder Nordstadt als Schaltzentrale unterstellt: „Hier wohnen in rund 40 Altbauten Neubürger aus Bulgarien und Rumänien, die nicht willkommen sind (sic). Bulgarische Banden verunsichern das Ruhrgebiet. Sie operieren aus verwahrlosten Häusern der Dortmunder Nordstadt und fallen der Polizei zunehmend durch Prostitution sowie Taschen- und Ladendiebstahl im ganzen Revier auf.“[465]
Das aus der Vergangenheit wohlbekannte Bild der „kriminellen Ausländer“ wurde abgerufen und verstetigt. Der damalige Polizeipräsident Hans Schulze sagte: „Wir müssen den Zuzug aus Osteuropa stoppen. Wenn uns das nicht gelingt, werden wir eine Entwicklung in der Nordstadt haben, die alles andere als erfreulich ist.“[466]
Die Westfälische Rundschau leistete einer Ethnisierung der Kriminalität in der Nordstadt Vorschub: „Die WR hatte berichtet, dass das Viertel zu kippen drohe, Anwohner wegziehen und dafür immer neue Prostituierte, Drogendealer und sonstige Kriminelle aus Bulgarien und Rumänien in Richtung des Schleswiger Platzes ziehen, um dort ihren ‚Geschäften‘ nachzugehen.“[467]
Die häufigen Kontrollen durch die Polizei sind als racial profiling und als pauschale Kriminalisierung aller Zuwander_innen zu werten. In einem Interview stellte ein Migrant fest: „Wir Bulgaren haben hier keine Menschenrechte. Weder in Bulgarien noch hier bekommen wir Respekt. Weil fünf Leute kriminell sind, werden wir alle schlecht behandelt und von der Polizei kontrolliert.“[468]
Aufgrund eines Anstiegs von Straftaten von den in Dortmund gemeldeten Bulgar_innen und Rumän_innen gründete die Stadtverwaltung eine „Sicherheitskonferenz“ mit der Sozialdezernentin Birgit Zoerner (SPD) als Vorsitzende. Zoerner, die beim Städtetag den Arbeitskreis „Zuwanderung von Menschen aus Rumänien und Bulgarien“ leitet, wurde bundesweit bekannt, da sie sich den Forderungen des damaligen Innenministers Friedrich anschloss, die Freizügigkeitsrichtlinie einzuschränken. Sie warf der EU in den Beitrittsverhandlungen „schwere Fehler“ vor. Die EU habe „die bekannte soziale Situation mit ethnischer Diskriminierung und Korruption in Bulgarien und Rumänien nicht berücksichtigt“. Die Kommunen müssten nun diese Versäumnisse ausbaden. Künftig müsse die Lösung sozialer Probleme eine Vorbedingung für den EU-Beitritt eines Landes sein. Die geltende europaweite Freizügigkeit führe „in Zusammenhang mit der Armutswanderung zu ungeordneten Verhältnissen in den Kommunen. Die Menschen ziehen meist in die Quartiere, die ohnehin schon seit langem große soziale Herausforderungen bewältigen müssen.“[469]
Ein weiterer Diskursstrang war die öffentlich geführte Auseinandersetzung um den „Straßenstrich“ an der Ravensburger Straße und dessen Schließung.
In Dortmund wurde im Jahr 2000 ein legaler „Straßenstrich“ mit Sicherheitsboxen eingerichtet, um den Frauen sichere Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Seit der EU-Osterweiterung 2007 arbeiteten dort vermehrt auch Frauen aus Bulgarien und Rumänien. Die legale Prostitution wurde in der Folgezeit immer wieder mit Kriminalität in Verbindung gebracht: „Bis zu 700 bulgarische Prostituierte arbeiten in Dortmund, und mit ihnen kamen weit über 1.000 Landsleute. Die Kriminalitätsrate sei laut Polizei deutlich gestiegen – ein Problem, das von Dortmund aus auf ganz NRW ausstrahlt.“[470] Die Vorsitzende der Nordstadt-SPD, Marita Hetmeier, schürte noch zusätzliche Ängste vor einer angeblichen Masseneinwanderung: „Wenn man den Straßenstrich nicht schließt, haben wir hier in zwei Jahren 15.000 bis 20.000 bulgarische Kriminelle.“[471]
Ab Juli 2009 gründete sich die Bürgerinitiative „Nordstadt-Eltern“. An diesem Zusammenschluss beteiligten sich Schulpflegschaften der Nordstadtschulen, Moscheen, Elternräten der Kindergärten und Tageseinrichtungen für Kinder. Sie forderten eine Schließung des „Straßenstrichs“, da diese Einrichtung „uns und den hier lebenden Kindern und Jugendlichen ‚normale‘ Lebensbedingungen erschwert oder gar unmöglich macht.“[472] Mit der Existenz des „Straßenstrichs“ wurden auch andere Probleme wie Drogenkonsum in der Öffentlichkeit verbunden.[473] Sie versandten Postkarten an Dortmunder Lokalpolitiker_innen im Juli 2009 und organisierten „Sternmärsche“ im Dezember 2009 und Oktober 2010, an dem jeweils mehrere tausend Menschen unter dem Motto „Weg mit dem Straßenstrich“, der von „bulgarischen Menschenhändlern“ kontrolliert werde, teilnahmen.[474] Die „Nordstadt-Eltern“ koppelten ihre Argumente an die Präsenz der Zuwander_innen aus Bulgarien und Rumänien und nahmen damit eine Ethnisierung des Sozialen vor. Eine Projektion der zuvor schon vorhandenen Probleme in der Nordstadt auf die Neueinwander_innen nahmen auch Bewohner_innen und Einzelhändler_innen vor, indem sie indirekt mit einem Weggang aus der Nordstadt drohten und die Stadt zu mehr Polizeipräsenz aufforderten.[475]
Zur Interessensvertretung schlossen sich Prostituierte aus der Nordstadt zusammen, um gemeinsam gegen die Schließung zu demonstrieren. „Wir sind nicht kriminell. Wir haben Angst, wieder ohne Sicherheitsanlagen in abgelegenen Gebieten arbeiten zu müssen, gewaltbereiten Kunden wieder schutzlos ausgeliefert zu sein.“[476]
Nach dem Entschluss der Stadt Dortmund, den „Straßenstrich“ zu schließen, erließ die Bezirksregierung Arnsberg eine Sperrverordnung. Die Schließung wurde zunächst von offizieller Seite mit dem Jugendschutz begründet. Dass die Schließung in Wahrheit als eine Möglichkeit gesehen wurde, die Neuzuwander_innen aus der Stadt zu vertreiben und weitere Migration zu minimieren, geht aus einem Statement des Ordnungsamtsleiters Ingo Moldenhauer hervor. Moldenhauer sagte: „Es sollte ein Signal bis nach Bulgarien gehen, dass man hier mit dem Straßenstrich kein Geld mehr verdienen kann."[477]
Die Schließung des „Straßenstrichs“ hatte zur Folge, dass viele der dort beschäftigten Frauen in illegalen Wohnungsbordellen auf Kund_innen angewiesen waren, die ihnen von Zuhälter_innen zugeführt wurden. Eine Bulgarin, die vorher auf dem „Straßenstrich“ gearbeitet hatte, wurde von einem Freier aus dem Fenster ihrer Wohnung gestoßen und lebensgefährlich verletzt.
In den Medien wurde die angebliche Primitivität der Zuwander_innen immer wieder hervorgehoben und ihnen indirekt die kulturelle Eignung für eine Integration abgesprochen. Der Westen berichtete: „Es ist eine andere Welt. Die übersiedelt. Denn die Menschen aus Stolipinovo wollen aus der Armut raus. Sie setzen auf Dortmund. Und schaffen hier Probleme.“[478] Zerrbilder der Asozialität wurden auch gezeichnet: „Vermüllte Wohnungen und Flure, eingetretene Türen, aggressive, mit Drogen vollgepumpte Rumänen und Bulgaren. Mitten drin eine Frau mit ihrer siebenjährigen, geistig zurückgebliebenen Tochter mit körperlichen Behinderungen. Mit einem Mädchen, das nicht zur Schule geht, sondern eher vor sich hin vegetiert.“[479]
Die Vorsitzende der Nordstadt-SPD, Marita Hetmeier, zeichnete das Ressentiment von der „Einwanderung in die Sozialsysteme: „Aktuell brauchen wir Ingenieure und Informatiker. Analphabeten und Menschen ohne Schulabschluss können nicht zum Wohlstand unseres Landes beitragen und werden auf Dauer nur unsere Sozialsysteme belasten.“[480] Hetmeier bezeichnete die Zuwander_innen pauschal als Integrationsverweiger_innen: „Für die übrigen Bewohner der Nordstadt ist es schwer zu verkraften, dass eine Gruppe so schnell in so großer Zahl zuziehe und sich der Integration vollkommen verweigere“.[481]
Die CDU Dortmund diskutierte die Zuwanderung als Sicherheitsproblem und entwarf das Bild von „kriminellen Armutseinwander_innen“. Die ordnungspolitische Sprecherin der CDU, Christiane Krause, bemerkte: „(…) Es muss einen Leitfaden geben, damit uns ab 01.01.2014 nicht eine Welle von Armutswanderung aus Südosteuropa überrollt, die die uns unlösbare Probleme stellt. (…) Die von der Armutswanderung betroffenen Kommunen brauchen eher ein Mehr an Polizeikräften. (…) Die Schließung des Straßenstrichs an der Ravensberger Straße war nur eine von vielen Maßnahmen, um der Armutswanderung entgegenzuwirken.“[482] Zuwander_innen sollten insbesondere im Hinblick auf eine gültige Krankenversicherung und „Scheinselbständigkeit“ schärfer kontrolliert werden. Der damalige CDU-Ratsfraktionsvorsitzende Hengstenberg forderte mehr Repression und Kontrolle durch eine „Stadtpolizei“ für die Nordstadt. Thomas Bahr, Fraktionsvorsitzender der CDU-Bezirksvertretung Innenstadt Nord, hetzte in rassistischer Weise gegen die Zuwander_innen: „Dortmund und die Nordstadt als lebenswertes Quartier mit großem Entwicklungspotential hätten es nicht verdient, Sammelbecken und Auffangstation für kriminelle Elemente und menschenverachtenden Lebensformen von Randexistenzen aus ganz Europa zu werden.“[483]
In einem Artikel des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ wurde darauf hingewiesen, dass die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien angeblich die Situation deutscher Obdachloser verschärfen würde.[484] Hier wurde eine scharfe Trennungslinie gezogen zwischen deutschen Opfern und migrantischen Täter_innen, die die Verteilungskämpfe um kärgliche Hilfsleitungen zuspitzen würden. Dass die Situation von Obdachlosen eine Folge der nicht ausreichenden staatlichen Sozialpolitik ist, wurde nicht thematisiert. Es wurden, im Gegenteil, arme Menschen in ethnischen Kategorien gegeneinander ausgespielt und in ein Konkurrenzverhältnis gesetzt.
Es gab inmitten der aufgeheizten Diskussion und der Stimmungsmache gegen die Zuwander_innen wenige kritische Stimmen, die ein Interesse an einer konstruktiven Debatte zeigten. Die Dortmunder Grünen wiesen immer wieder auf die problematische Situation in den Herkunftsländern Bulgarien und Rumänien hin, forderten eine Versachlichung der Diskussion über den Zuzug in die Nordstadt und entwickelten Integrationsperspektiven.[485]
Auch aufgrund den durch verantwortlichen Politiker_innen, Medien und Behörden transportierte Antiziganismus wurden die oft als „Zigeuner“ identifizierten Personen von der Mehrzahl der autochthonen Mehrheitsbevölkerung ausgegrenzt. Frank Merkel vom Fachbereich Migration und Integration der Dortmunder Caritas stellte fest: „Ich mache schon lange Integrationsarbeit, aber ich kenne keine Gruppe, gegenüber der es so viele Vorbehalte gibt wie den Roma“.[486]
Eine Rumänin sprach in einem Interview davon, dass sie aufgrund ihrer Kleidung als „Zigeunerin“ identifiziert wurde und von Kund_innen und Verkäufer_innen angefeindet und eingeschüchtert wurde. Hinter dieser Begebenheit steckt das antiziganistische Motiv des organisierten Laden- oder Trickdiebstahls. „Roma-Frauen“ sollen beim Einkaufen „Klauschürzen“ unter weiten Röcken tragen, in denen Diebesgut versteckt werden könnte.[487]
Eine autochthone Anwohnerin in der Nordstadt erklärte: (…) Es sind zu viele, die meisten von denen sind Zigeuner. Die stehen da hinten rum, die Männer und auch die Frauen. Die sind halt sichtbar und erkennbar. Wenn das besser verteilt wäre auf Dortmund, wäre das vielleicht anders, aber so.“[488]
Ein autochthoner Gastwirt bemerkte über die Neuzuwanderer_innen: „Meiner Meinung nach sollen die alle hier ausgeschafft werden. Die Stadt Dortmund soll sich erst mal um die Deutschen kümmern. Die deutschen Rentner kümmern. Die deutschen Rentner müssen verhungern und die kommen hierher, melden ein Gewerbe als Putzfrau oder Bügelhilfe an, arbeiten drei Monate und haben dann Anrecht auf Hartz IV. Wir haben selbst genug Arbeitslose. Einsperren-Ausschaffen. Einsperren und dann abschieben. Auf ein Schiff und wenn die nicht freiwillig gehen, dann ins Meer werfen.“[489]
Anfang März 2011 wurden vor zwei Häusern, in denen Zuwander_innen aus Bulgarien und Rumänien lebten, abgetrennte Pferdebeine aus einem Schlachtbetrieb hingelegt.[490] Die Pferdebeine können als Drohsymbol und Einschüchterungsversuch gewertet werden. Laut einem Bericht in den Ruhr Nachrichten hat „eine Frau die Beine dort abgelegt, nachdem ihr erzählt worden war, dass das ein probates Mittel sei, um abergläubische Osteuropäer zu vertreiben oder sie einzuschüchtern. In den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts habe man mit diesem Mittel schon einmal Erfolg gehabt, sei der Frau erzählt worden.“[491]
1997 ereignete sich ein ähnlicher Fall in der nahe bei Hamburg gelegenen Kleinstadt Stade. Von einem „Rossschlachter“ in der Nähe hatten die Stader Wirte einen Ratschlag bekommen, „wie sie die Zigeuner loswerden“ könnten.[492] In fast allen Stader Gaststätten wurden Schilder mit der Aufschrift „Pferdewurst“ aufgehängt. Dies hatte tatsächlich Erfolg, weil die in Stade seit Jahrzehnten lebenden Sinti Lokale meiden, wo Pferde serviert werden.[493]
Die Mieter_inneninteressengemeinschaft der Fürst-Hardenberg-Siedlung (MIG) sah wegen des Zuzugs von Zuwander_innen die traditionelle Kleingartenkultur (sic) im Stadtbezirk bedroht. Ältere Menschen sollen von „Roma“ belästigt worden sein: „Die Roma-Frauen klingeln, nehmen ihre Halstücher ab, tanzen vor den Nachbarn herum und fordern dann Geld. Die Angst geht um.“[494] In vielen Gartenanlagen werden den Zuwander_innen Diebstähle und Vandalismusschäden in Gartenanlagen zugeschrieben. Die MIG forderte deshalb Polizei und Ordnungsbehörden auf, verstärkt in dieser Gegend zu kontrollieren. Der Vorsitzende der MIG, Peter Beuchel, erklärte: „Nicht jeder Bulgare oder Rumäne ist kriminell, trotzdem zählt hier jeder Tag. Die Zahl der Diebstähle und Einbrüche steigt, die Verdrängung aus der Nordstadt ist bereits in vollem Gange, und die Prostitution ist angekommen, bevor überhaupt von der Schließung des Straßenstrichs die Rede war“[495].
Dortmund gilt seit Jahrzehnten als neonazistische Hochburg in der BRD. Aufgrund ihrer Militanz stellen neonazistische Gewalttäter_innen jederzeit eine Bedrohung auch für Zuwander_innen aus Bulgarien und Rumänien dar.
Siegfried Borchardt, der mit der Partei „DIE RECHTE“ (DR) bei der Kommunalwahl 2014 in den Dortmunder Stadtrat eingezogen ist, ist seit Jahrzehnten in der neonazistischen Bewegung aktiv. Borchardt gründete 1982 die rechte Hooligangruppe “Borussenfront”.[496] Er wurde „Kameradschaftsführer“ bei der „Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten“ (ANS/NA) und auch „Kreisleiter“ beim „Komitee zur Vorbereitung der Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag Adolf Hitlers“ (KAH). Nach dem Verbot dieser Gruppen baute er den nordrhein-westfälischen Landesverband der „Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei“ (FAP) auf, für die er 1984 bei der Kommunalwahl und 1985 als Spitzenkandidat zur Landtagswahl antrat.[497]
In den letzten Jahren starben fünf Menschen durch die Gewalt von Neonazis. Im Jahr 2000 erschoss der Neonazi Michael Berger aus seinem Auto heraus drei Polizisten und dann sich selbst. Die „Kameradschaft Dortmund“ druckte danach zynische Aufkleber mit dem Slogan „3:1 für Deutschland – Berger war ein Freund von uns“. 2005 wurde der Punk Thomas Schulz durch den rechten Skinhead Sven Kahlin erstochen. Am 4. April 2006 tötete der „Nationalsozialistische Untergrund” (NSU) den Dortmunder Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık.
Die jährlich im September stattfindenden Kundgebungen zum „Nationale(n) Antikriegstag” unter der zynischen Motto „Nie wieder Krieg nach unserem Sieg” gehören mit zu den bedeutendsten Demonstrationen der Neonaziszene in der BRD. Am 1. Mai 2009 überfielen unerwartet 300 bis 400 Neonazis bewaffnet mit Fahnenstangen und Böllern eine Veranstaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes im Stadtzentrum von Dortmund.
Der „Nationale Widerstand Dortmund“ (NWDO) war bis zu seinem Verbot im August 2012 durch das nordrhein-westfälische Innenministerium ein Sammelbecken für Neonazis auch aus der näheren Umgebung und bekannt durch militante Aktionen gegen Migrant_innen, Andersdenkende und die Polizei. Bei einer Razzia im „Nationalen Zentrum“, dem logistischen Stützpunkt des NWDO beschlagnahmte die Polizei eigenes Propagandamaterial und das der NPD, NS-Devotionalien und Waffen.[498] Als Reaktion darauf wurde mit der Gründung eines Landes- und diverser Kreisverbände der DR in NRW bereits einen Monat später eine Ersatzorganisation geschaffen.
Die DR wurde am 27.5.2012 hauptsächlich von Mitglieder_innen der aufgelösten DVU gegründet. Ihr Vorsitzender ist Christian Worch, einer der führenden Figuren in der deutschen Neonaziszene. Nach Eigenangaben hat die DR ca. 260 Mitglieder. Die Partei wurde „auf den Trümmern“ der DVU aufgebaut, deshalb wurde auch deren Programm übernommen, das sprachlich und inhaltlich modifiziert werden soll. Sie sieht sich als Alternative zu bestehenden extrem rechten Parteien in Deutschland, denen verkrustete Strukturen und Intransparenz vorgeworfen werden.[499] Ihre Position innerhalb der extremen Rechten wird folgendermaßen beschrieben: „Die Rechte ist weniger radikal als die NPD, gleichviel, ob die NPD ihre Radikalität nun für seriös erklärt oder nicht. Und sie ist radikaler als die REPS und die Pro-Bewegung oder ein theoretisch möglicher, aber eher unwahrscheinlicher Zusammenschluss von beiden als REPRO.“[500] Es existieren Landesverbände in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Brandenburg und Niedersachsen. Der Landesvorsitzende Dennis Giemsch ist ein ehemaliges Mitglied des NWDO und überzeugter Neonazi. Unter dem Deckmantel einer vom Namen her unverdächtig klingenden Partei wollen die neonazistischen Kader ihre Aktivitäten ungehindert fortsetzen. Neben einigen kleineren Aktionen führte die DR am 1.5.2013 eine Demonstration unter dem Motto „Heraus zum ersten Mai!“ in Dortmund durch.
Die Verbreitung und Verstetigung von antiziganistischen Ressentiments in der „Mitte“ der Gesellschaft brauchte die extreme Rechte in Dortmund in ihrer Agitation nur noch zuzuspitzen. Besonders die DR hetzte in ihrem Organ „Dortmund-Echo“ regelmäßig gegen die Zuwander_innen und verstand sich als Anwalt der angeblich unter der Migration leidenden deutschen Mehrheitsbevölkerung.
Der Zuwanderungsdiskurs wird zu einem Abwehrdiskurs und in einer Semantik der Gefahren präsentiert: „Gerade die Stadt Dortmund ist hiervon besonders betroffen – in den kommenden Monaten (und insbesondere ab Beginn des Jahres 2014) droht aber erneut eine dramatische Verschärfung dieser Situation. (…) Mit der Einführung der sogenannten ‚Arbeitnehmerfreizügigkeit‘ (…) wird ein weiterer Zuwanderungsanreiz geschaffen, die ‚Heimat‘ zu verlassen und sich im vermeintlich reichen Westen niederzulassen.“[501] Es wird suggeriert, dass die Zuwander_innen der Sanierung des städtischen Haushalts im Wege stehen würden: „(…) bei einer nicht unrealistischen Zahl von 10.000 oder mehr Einwanderern, die im nächsten Jahr ihren Wohnsitz in Dortmund angeben oder bereits angegeben haben, sind dies Beträge im dreistelligen Millionenbereich. Damit ließe sich nicht nur das städtische Haushaltsloch vollständig schließen, sondern in einer relativ überschaubaren Zeitspanne sogar die gesamte städtische Verschuldung tilgen.“[502]
Die binäre Konstruktion „Inländer-Ausländer“ findet sich immer wieder, wenn argumentiert wird, dass die Zuwanderung eine angebliche Gefährdung der Jobs von „deutschen Arbeitern“ darstellt: „Doch nicht nur die Sozialausgaben drohen zu explodieren: Auch der Arbeitsmarkt wird durch die Einwanderungswellen aus Osteuropa einen schweren Schlag erleiden und insbesondere ohnehin schon angeschlagene, mittelständische Betriebe in die Insolvenz getrieben. Wenn weiterhin Arbeitsbeschränkungen fallen, droht das Entstehen von osteuropäischen Billiglohn-Firmen, die das Lohniveau drücken und einen Konkurrenzkampf entfachen, bei dem der deutsche Arbeiter (gerade im Handwerk) am Ende der Verlierer sein wird.“[503]
Die DR sieht sich selbst als Speerspitze des „Widerstandes“ gegen die Zuwanderung. Ihr „Pressesprecher“ Stefan Reuters erklärte: „Wir werden den Widerstand gegen die neue Überfremdungswelle anführen und den Protest in Bahnen lenken. Durch weitere Masseneinwanderung aus Osteuropa droht die ohnehin schon problematische Lage im Nordstadtghetto weiter anzuschwellen.“[504]
Es wird das Bedrohungsszenario eines „überfremdeten Deutschland“ entworfen und die kosmopolitane Alltagsrealität geleugnet. Die Nation versteht das Neonaziorgan als biologistisch-völkische Einheit, deren Existenzgrundlage Zuwanderung und interkultureller Austausch zerstören: „Unter den Augen von Polizei, Stadt und Lokalpolitik wachsen tickende Zeitbomben heran, die sich früher oder später in sozialen, politischen und ethnischen Konflikten als solche zu erkennen geben werden. Verschließen wir nicht die Augen, sondern dämmen wir die Überfremdung ein, ehe es zu spät ist.“[505]
In ihrer Propaganda stützt sich das Dortmund-Echo auf die im öffentlichen Diskurs vertretene Exklusion und Stigmatisierung der Zuwander_innen. Sie übernimmt den in der Öffentlichkeit negativ konnotierten Begriff „Ekelhäuser“ und knüpft daran ihre Propaganda an. So hieß es: „Ekelhäuser dürfte es offiziell nicht mehr geben, aber selbst die Presse beziffert deren Zahl auf über 120 Gebäude, hinzu kommen zahlreiche weitere Immobilien, die noch nicht offiziell registriert sind. Es verwundert daher auch wenig, dass in den Ekelhäusern katastrophale Zustände vorherrschten, verschimmelte Kühlschränke und weggeworfene Drogenspritzen gehörten noch zu den harmloseren Funden. In einem Innenhof am Nordmarkt konnte die Polizei eine riesige, illegale Mülldeponie entdecken, deren Abtransport nun durch die Stadt Dortmund auf Kosten der Steuerzahler durchgeführt wird.“[506]
Die Berichterstattung über Bulgar_innen und Rumän_innen wird systematisch mit Straftaten in Verbindung gebracht. Es wird suggeriert, dass die Polizei mit der angeblich durch die Zuwanderer_innen verursachten „Ausländerkriminalität“ nicht fertig wird und dies auch noch von der städtischen Politik verharmlost wird: „Erschreckend, aber leider mittlerweile Normalität, ist insbesondere das junge Alter der Täter, die augenscheinlich ausschließlich zur Begehung von Straftaten nach Deutschland gereist sind. Erstaunlicherweise sah es die Polizei nicht als notwendig an, die Täter – trotz klar erkennbarer Flucht- und Wiederholungsgefahr – einem Haftrichter vorzuführen, so dass diese bereits jetzt wieder auf Dortmunds Straßen anzutreffen sind und es nur eine Frage von Stunden oder Tagen ist, bis der nächste Überfall folgt. Ein nachhaltiges Vorgehen gegen osteuropäische Bandenkriminalität sieht wahrlich anders aus.“[507]
Wenig überraschend lehnt das Dortmund-Echo den „völlig verfehlten Wunsch nach einer Integration“ ab. Um keine „weiteren Probleme zu schaffen“, sondern „bestehende Probleme schrittweise zu lösen“, werden ein „repressives Vorgehen gegen kriminelle Ausländerbanden“, Grenzkontrollen, Einreiseverbote und „Ausländerrückführung“ genannt.[508] Stefan Reuters ergänzte: „Es wird Zeit, endlich eine Politik zu betreiben, die den Nährboden für Zustände, wie wir sie in der Nordstadt vorfinden, entzieht. Hierzu zählt auch die Forderung nach einem Austritt aus dem Schengener Abkommen, das die unkontrollierte Einwanderung ermöglicht, sowie aus der Europäischen Union.“[509]
Die antiziganistische Hetze fiel auf fruchtbaren Boden: Der Gedenkstein zur Erinnerung an die von den Nationalsozialisten ermordeten Sinti und Roma wurde von Neonazis mehrmals verunstaltet und sogar im Vorfeld der Gedenkveranstaltung 2013 der Deportation von Sinti und Roma vom Dortmunder Ostbahnhof in das Vernichtungslager Auschwitz mit einem Hakenkreuz beschmiert.
Im Vorfeld der Kommunalwahl 2014 startete die DR den Versuch, bei den Wähler_innen vor allem mit Stimmungsmache gegen die Zuwander_innen aus Bulgarien und Rumänien verbunden mit antiziganistischen Ressentiments zu punkten.
In ihrem Programm wandte sich die DR gegen eine „Überfremdung Dortmunds“. „Wir Deutschen wollen nicht zur Minderheit im eigenen Land werden. Schützt unsere Stadt vor der Invasion aus Osteuropa! Kein weiterer Zuzug aus Bulgarien und Rumänien - für die sofortige Abschiebung krimineller Ausländer!“[510]
Bei den Kommunalwahlen erreichte die DR 1,0% und die NPD 0,9%, beide Parteien bekamen damit jeweils ein Mandat. Bei der Wahl des/r Oberbürgermeisters/in erhielt Axel Thieme (NPD) 1,7 %.[511] Nach der Kommunalwahl wollten Angehörige der DR, darunter auch ihr Spitzenkandidat Borchardt, und andere Neonazis an den Feierlichkeiten im Rathaus teilnehmen.[512] Als ihnen der Zutritt verweigert wurde und ihnen sich demokratische Politiker_innen in den Weg stellten, wollten die Neonazis mit Gewalt ins Rathaus stürmen. Dabei skandierten sie „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus” und attackierten ihre Gegner_innen mit Glasflaschen und Pfefferspray, zehn Menschen wurden verletzt. Fast alle Angreifer_innen trugen am Sonntag einheitliche T-Shirts mit dem Aufdruck „Weg mit dem NWDO-Verbot“, was auf eine koordinierte Aktion hindeutet.[513]
In der Folgezeit kam es zu Protesten gegen Neonazis in Dortmund. Vor Beginn der konstituierenden Sitzung des Stadtrates am 18.6.2014 demonstrierten mehrere hundert Menschen mit einem Flashmob gegen die extremen Rechten.[514]
Viele der Zuwander_innen gingen bevorzugt in Städte, in denen sich Verwandte, Freund_innen oder frühere Nachbar_innen angesiedelt haben und wo sie eine erste Anlaufstelle besaßen.[515] Dies trifft auch auf die Situation in Dortmund zu. Die meisten Zuwander_innen stammen aus der Stadt Plowdiw, deren Stadtteil Stolipinowo mit mehr als 45.000 Einwohnern eines der größten Roma-Viertel auf dem Balkan ist. Um die Reise in die BRD zu finanzieren, mussten viele jahrelang sparen oder einen Kredit aufnehmen. Für Familien unter den Zuwanderer_innen spielt bei der Migration die Bildungsperspektive für ihre Kinder eine entscheidende Rolle.[516] Die meisten möchten aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Situation nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Viele der Zuwander_innen aus Bulgarien sprechen Türkisch und können sie sich deshalb dort gut verständigen.
Viele der Migrant_innen haben keine Wohnung oder sind gezwungen, in menschenunwürdigen Wohnungen in heruntergekommenen Häusern zu Wuchermieten zu leben. Ein kleiner Teil der Zuwander_innen wohnt in besetzten Häusern, aus denen sie jederzeit wieder vertrieben werden können.
In dem Diskurs um problematische Wohnverhältnisse wurden gesellschaftliche Problemlagen in der Nordstadt vorrangig Migrant_innen aus Bulgarien und Rumänien zugeschrieben. Dass die Zuwander_innen in Stadtviertel ziehen, die von Migration geprägt sind, hängt sowohl mit den niedrigen Mieten als auch mit der Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt zusammen. Die Probleme, die es in den Häusern gab, wurden ethnisiert und somit antiziganistische Stereotype reproduziert. Vorurteile wie Primitivität, mangelnde Hygiene und Asozialität sind Kennzeichen des Diskurses. Wolf-Dieter Bukow bemerkte zu Recht, dass es ist eine Verdrehung von Ursache und Wirkung sei, wenn die Folgen des Zerfalls der Wohnhäuser den Neuzuwanderern zugeschrieben werden.[517] Die Eigentümer_innen der Häuser werden nur am Rande für die Zustände verantwortlich gemacht. Die Überbelegung der Wohnungen führt in kürzester Zeit zu Vermüllung und unhaltbaren hygienischen Zuständen. In der Regel haben die Hauseigentümer zu geringe Müllbehälter für die große Anzahl der Bewohner_innen bestellt. Der Dortmunder Mieterverein stellte im Juni 2011 fest, dass die renovierungsbedürftigen Häuser bereits seit mindestens einem Jahrzehnt in sehr schlechtem Zustand waren, also lange bevor die Zuwanderer_innen aus Rumänien und Bulgarien dort wohnten.[518]
Die prekären Wohnverhältnisse werden nicht als Folge von Armut gesehen, sondern als Bedrohung der öffentlichen Ordnung. Die Möglichkeit, darüber zu diskutieren, warum Migrant_innen aus Bulgarien und Rumänien auf diesen Wohnraum zurückgreifen müssen, fand in weiten Teilen nicht statt.[519] Das faktische Arbeitsverbot für die Zuwander_innen bis zum 1.1.2014 und die daraus resultierenden Folgeprobleme wie höchst eingeschränktem Zugang zum Wohnungsmarkt wird in den seltensten Fällen thematisiert. Viele der Zuwander_innen müssen den Hauseigentümer_innen für eine Schlafstelle, oft nur ein Matratzenlager in einer überfüllten Wohnung, 30 Euro die Nacht zahlen. Sanitäre Einrichtungen oder Kochgelegenheiten sind oft kaputt oder für die Vielzahl der in den Häusern lebenden Menschen völlig unzureichend. Weitere Kennzeichen der dort herrschenden Bedingungen sind nicht abtransportierter Müll und defekte oder überbrückte Stromleitungen.
Die Begleitung der Zuwander_innen durch Multiplikator_innen bei Wohnungsbesichtigungen und bei der Unterschreibung des Mietvertrages wird von den Vermieter_innen nicht gerne gesehen, wobei es auch zu verbalen Drohungen kommt. Einigen Zuwander_innen ist es auch nicht möglich, aufgrund der unsicheren Arbeitsverhältnisse, die länger die Miete zu bezahlen, so dass sie von Kündigungen der Mietsverhältnisse betroffen sind. Um der Obdachlosigkeit zu entgegen, kommen sie bei Freunden oder Verwandten, die ein Mietsverhältnis besitzen, unter. Dies führt dann zu Überbelegungen der Wohnungen.[520]
Eine autochthone Insiderin berichtet, dass die Menschen trotz der schlechten und unhygienischen Verhältnisse in den Häusern bzw. Wohnungen aus Angst vor Mietkündigungen keine Beschwerde einlegen oder das Ordnungsamt anrufen würden: „(…) manche Wohnungen hier sind verwahrlost. (…) Kakerlaken, Ratten. Die Leute können sich nicht wehren. Wenn sie das dem Vermieter sagen, sagt der: Wenn dir das nicht passt, dann müsst ihr raus.“[521]
Ende Januar 2011 sowie Anfang Februar 2011 wurden in der Nordstadt aufgrund gesundheitsgefährdender hygienischer Zustände zwei Häuser von Sicherheitsdiensten geräumt, die von Zuwander_innen aus Bulgarien und Rumänien bewohnt wurden. In der Öffentlichkeit setzten sich die Begriffe „Ekelhäuser“ und „Problemhäuser“ durch. Als Konsequenz kündigte Dortmunds Oberbürgemeister Sierau (SPD) an, „man wolle in der Nordstadt aufräumen.“[522] In diesem Zusammenkamen kamen Diskurse über Müll und Vermüllung auf.
Die Stadtverwaltung gründet als Reaktion auf die prekäre Wohnsituation den „Arbeitskreis Problemhäuser“. Dies ist ein Zusammenschluss von Teilen der städtischen Verwaltung oder gemeinschaftliche Einrichtungen wie Ordnungsamt, Sozialamt, Wohnungsamt, Stadtamt für Planung und Bauordnung, Polizei usw. Mit unangemeldeten Kontrollen sollte der Problematik entgegengewirkt werden, Hausbesitzer_innen sollen von der Stadt zu Sanierungen und Renovierungsarbeiten verpflichtet werden. Das Dortmunder kommunale Wohnungsunternehmen DOGEWO hat sieben dieser Häuser aufgekauft und saniert jetzt 65 Wohnungen.
Der Zuzug aus Bulgarien und Rumänien wird für den Niedergang der Nordstadt verantwortlich gemacht. Dabei stand neben dem Straßenstrich die Wohnsituation der Migrant_innen im Mittelpunkt: Im Focus hieß es: „Die Dortmunder Nordstadt, das einstige Wohnviertel einer stolzen Arbeiterschaft, verkommt, Straßenzüge veröden, die bisherigen Einwohner flüchten vor dem neuen Elend. Die verwaisten Quartiere besetzen Roma-Familien. In den Wohnungen drängen sich bis zu 30 Menschen. Da die Polizei nicht einschreitet, engagieren manche Hauseigentümer private Wachdienste, die Unbefugten den Zutritt verweigern. Türkische Geschäftemacher vermieten Matratzen-Schlafplätze pro Nacht für je 20 Euro.“[523]
Das Ausweichen der Migrant_innen in andere Dortmunder Stadtteile wie Eving, Lindenhorst und Oestrich ist das Ergebnis der wohnungspolitischen Verdrängungspolitik aus der Nordstadt. In den dortigen Häusern herrschen vergleichbare prekäre Wohnverhältnisse wie in der Nordstadt, dort gab es ebenfalls Beschwerden der Anwohner_innen über Müll und Dreck. Ein Haus wurde auf Verlangen des dortigen Verwalters wegen Überbelegung geräumt.
Belegt mit einem faktischen offiziellen Arbeitsverbot waren die Migrant_innen darauf angewiesen, als Tagelöhner_innen schlecht bezahlte Arbeiten anzunehmen. Diese kriminalisierten Arbeitstätigkeiten und dem damit verbundenen Warten an öffentlichen Plätzen in der Nordstadt wurden immer mehr zum öffentlichen Thema. Im Laufe der Diskussion setzte sich die Bezeichnung „Arbeiterstrich“ durch.[524] Die Notlage der Migrant_innen wurde von Arbeitgeber_innen schamlos ausgenutzt. Ihre schweren handwerklichen Tätigkeiten bis zu 12 Stunden am Tag wurden lediglich mit 20 bis 30 Euro honoriert. Viele Migrant_innen berichteten, dass sie in vielen Fällen gar keinen Lohn bekamen. Die soziale Notlage der Migrant_innen und ihre Ausbeutung durch Arbeitgeber_innen wurde in der Öffentlichkeit selten thematisiert. Die Migrant_innen selbst wurden als Problem gesehen, das immer mehr ethnisiert wurde.
Soziale Unterstützungs- bzw. Integrationsangeboten für die Zuwander_innen gab es insgesamt in einem nicht ausreichenden Umfang, repressive und ordnungspolitische Maßnahmen bestimmten den Umgang mit der in vielen Fällen unerwünschten Zuwanderung. Die Wohnsituation, die gesundheitliche Befindlichkeit, die beruflichen Möglichkeiten, die Lage der Kinder und Jugendlichen sowie ihre Bildungssituation sind als sehr problematisch anzusehen. Selbst auf Leistungen der Tafeln oder Suppenküchen hatten meisten Zuwander_innen keinen Anspruch, weil sie dazu einen Ausweis vorlegen müssten, dass sie Sozialleistungen beziehen.
Dortmund und auch die benachbarte Stadt Duisburg sind Träger eines KOMM-IN-Projektes „Interkommunale Kooperation zur Entwicklung eines Handlungsrahmens ,Zuwanderung aus Südosteuropa‘“, das vom Land Nordrhein-Westfalen gefördert wird. Dort wird ein wechselseitiger Austausch der beiden Städte in Fragen der Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien angestrebt. Anfang 2011 wurde unter dem Namen „Roma-Netzwerk“ eine interdisziplinäre und interkommunale Arbeitsgruppe gegründet, in der Mitarbeiter_innen von Beratungsstellen aus den Quartieren, die Caritas Dortmund, die Diakonie Duisburg, die RAA, das Jugendamt Dortmund sowie eine Vertreterin des Sozialdezernats der Stadt Dortmund vertreten sind.
Sowohl die freien Träger als auch die Fachbereiche der Verwaltungen passten in Fragen der konkreten Hilfe für Zuwander_innen ihre Strukturen den konkreten Problemlagen an. Die schon vorhandenen Maßnahmen wurden weiterentwickelt.[525] Folgende Angebote bildeten den Schwerpunkt:
Die Notfallversorgungssprechstunden des Gesundheitsamtes sowie die öffentlichen Sprechstunden in Beratungsstellen für Prostituierte stellen wichtige Anlaufstellen für Neuzuwanderer_innen dar, die nicht in einer gesetzlichen Krankenkasse versichert sind und nicht über die finanziellen Mittel verfügen, die Arztrechnungen privat zu begleichen.[526]
Weiterhin wurden niedrigschwellige Anlaufstellen für die Menschen, in der sie über ihre Rechte und Pflichten, Möglichkeiten und Chancen aufgeklärt werden, geschaffen. Bestehende Netzwerke unter ihnen sollten gefördert werden, um eine Selbstorganisation zu ermöglichen. Ein Beispiel ist das vom Integrationsprojekt Dortmund initiierte Nachbarschaftsforum in der Dortmunder Nordstadt, das zur „Verstetigung des kleinräumlichen interkulturellen Dialogs“ beitragen will.[527] Das Forum will Möglichkeiten für Migrant_innen schaffen, sich mit ihren Anliegen selbstorganisiert in Diskussionsprozesse einzubringen und ihre Interessen zu vertreten.
Im „freundeskreis nEUbürger und roma“ haben sich 27 Vereine/Institutionen und Privatpersonen zusammengeschlossen, um die Zuwanderer_innen zu unterstützen und sich für ihre Belange einzusetzen.[528] Der Freundeskreis will Kontakte vermitteln, um Verständnis für die schwierige Situation der Zuwanderer_innen zu werben und Rassismus im Umgang mit ihnen entgegenzutreten. Es wurde ein viersprachiger Infoflyer erstellt, der auf Deutsch, Türkisch, Rumänisch und Bulgarisch Versorgungs- und Beratungsangebote, die Zuwander_innen offenstehen, bündelt.
Die Stadt Dortmund und die dortige Fachhochschule planen die Einführung eines Studienganges „Migration/Armutsmigration“ (sic) zum Wintersemester 2014. Dadurch soll die Sozialarbeit für Migrant_innen aus Bulgarien und Rumänien professioneller werden.
Die Zuwander_innen aus Rumänien und Bulgarien können als innereuropäische Flüchtlinge gesehen werden, die trotz der Minderheitenschutzbestimmungen in ihren Herkunftsländern einen teilweise militanten Rassismus ausgesetzt sind. Die Zuschreibung von prinzipieller Andersartigkeit und die Konstruktion einer generellen Bedrohung sowie die damit verbundene Ausgrenzung der Zuwander_innen gehen in die falsche Richtung. Eine andere pragmatischere Sichtweise der Zuwanderung muss etabliert werden, die die Chancen der Binnenmigration betont. Wolf Dieter Bukow stellt zu Recht fest: „Es ist ja gerade eines der Ziele der EU, solche Binnenmigration nicht nur zuzulassen, sondern sogar im allseitigen Interesse zu fördern und für eine rechtliche Absicherung solcher Prozesse zu sorgen. Die Menschen nehmen ihre Rechte als EU-Bürger lediglich wahr.“[529]
Angesichts der ungünstigen demographischen Entwicklung und dem drohenden Fachkräftemangel wäre eine erfolgreiche Integration der Zuwander_innen für die Stadt Dortmund ein Gewinn.
Fußnoten