Zu den bestimmenden Merkmalen der kleinbürgerlichen Parteien gehört ihre Verachtung für die Geschichte. Ihnen ist bewusst, dass eine Analyse der großen historischen Erfahrungen ihrer opportunistischen und reaktionären Politik in die Quere kommen würde. Ohne tiefgehendes Wissen über die Geschichte des revolutionären Kampfes ist es jedoch unmöglich, die heutige Weltlage zu verstehen und eine Strategie der sozialistischen Weltrevolution für das 21. Jahrhundert zu entwickeln.
Das 20. Jahrhundert kann mit Recht als das Zeitalter der Permanenten Revolution bezeichnet werden – und dies in zweifacher Hinsicht: zum einen als Definition der objektiven sozialen Logik der großen revolutionären Aufstände des letzten Jahrhunderts und zum andern als die zentrale theoretische und strategische Frage, die allen politischen Auseinandersetzungen über revolutionäre Strategie in der internationalen Arbeiterbewegung zugrunde liegt. In einem Essay erinnerte der amerikanische Autor James T. Farrell an seine Treffen mit Trotzki im Jahre 1937 während der Anhörungen vor der Dewey-Kommission im mexikanischen Coyóacan. Er beschrieb diesen großen Revolutionär als „einen Mann der Geschichte, in dem Sinne, wie es die meisten von uns nicht sind und nicht sein können.“ Diese Beschreibung oder Bezeichnung Trotzkis enthält eine tiefe Erkenntnis.
In welchem Sinne war Trotzki ein Mann der Geschichte? Er spielte natürlich in vielen der größten Ereignisse des 20. Jahrhunderts eine große Rolle. Trotzki war der bedeutendste Stratege und Organisator der Oktoberrevolution von 1917, die die Bolschewiki an die Macht brachte und zur Gründung des ersten Arbeiterstaates der Welt führte. Er übernahm den Aufbau und die Leitung der Roten Armee, die er in einem drei Jahre währenden Bürgerkrieg gegen konterrevolutionäre Kräfte zum Sieg führte. Im Jahre 1923 initiierte Trotzki den innerparteilichen Kampf in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, der zur Herausbildung der Linken Opposition und später zur Gründung der Vierten Internationale führte. Ohne Frage war Trotzki also eine der herausragenden Persönlichkeiten der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich würde sogar sagen, er war die bedeutendste historische Persönlichkeit des letzten Jahrhunderts und hat den nachhaltigsten Einfluss auf die Geschichte genommen. Die neu entstehende sozialistische Massenbewegung des 21. Jahrhunderts wird sich in hohem Maße auf die theoretischen und politischen Konzeptionen Trotzkis gründen.
Wenn Farrell schreibt, Trotzki sei ein Mann der Geschichte gewesen, so meint er meiner Meinung nach allerdings mehr, als dass er eine bedeutende Persönlichkeit der Geschichte gewesen sei. Vielmehr verwies er auf die Beziehung der Geschichte zu Trotzki selbst, ihre Rolle in seinem Denken und Handeln und sogar in der Herausbildung seiner Persönlichkeit. Trotzki machte natürlich Geschichte; aber indem er dies tat, war er sich in hohem Maße bewusst über seinen Platz und die Bedeutung seines Handelns – ebenso wie des Handelns seiner Genossen und der revolutionären Arbeiterbewegung, der er sich vollständig gewidmet hatte – im großen geschichtlichen Prozess gesellschaftlicher Veränderung. So wie ein Astronom bei der Beobachtung eines Planeten am Abendhimmel weiß, dass dieser zu einer riesigen Galaxie gehört, war sich Trotzki bewusst, dass die Arbeit der revolutionären sozialistischen Bewegung in einem größeren geschichtlichen Zusammenhang stand, der sich über Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte hinweg erstreckte.
Die Geschichte lebte in Trotzki. Seine Schriften vermitteln das Gefühl, als wäre er im Paris der Jahre 1793, 1848 und 1871 selbst dabei gewesen. Sein Studium der Geschichte war nicht passiv. In seinen Gedanken debattierte er mit Danton and Robespierre, als wären sie seine Zeitgenossen. Lunatscharski bemerkte einst treffend, Trotzki verfolge sein eigenes Handeln im Spiegel der Geschichte. Dennoch gab es keine Spur von Subjektivismus oder Selbstgefälligkeit in seinem geschichtsorientierten Selbstbewusstsein. Voller Leidenschaft an den Kämpfen seiner Zeit beteiligt, setzte er die aktuellen Entwicklungen stets in Beziehung zu historischen Erfahrungen. Außerdem versuchte er zu verstehen, welche Auswirkung das politische Programm und die Politik, für die er eintrat, auf die künftige Entwicklung des revolutionären Kampfes haben würde. Zur Zeit der Gründung der Vierten Internationale erklärte er, ein Revolutionär trage auf seinen Schultern „einen kleinen Teil des Schicksals der Menschheit.“ Trotzkis Denken zeichnete eine kontinuierliche dynamische Durchdringung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft aus, und dies ist es, was ihn zum „Mann der Geschichte“ machte.
Aber man muss auch sagen, dass Trotzki zu der Generation von Revolutionären gehörte, für die die ständige Aufarbeitung der historischen Erfahrungen wesentlicher Bestandteil ihrer theoretischen und politischen Arbeit war. Die Veröffentlichung von Witnesses to Permanent Revolution, eine von den Historikern Richard Day und Daniel Gaido zusammengestellte und übersetzte Sammlung von Dokumenten, ermöglicht uns ein umfassenderes Verständnis der Evolution des revolutionären marxistischen Denkens, das in Trotzkis Analyse der Triebkräfte der Russischen Revolution gipfelte und ihm ein Jahrzehnt vor der Revolution von 1917 die Voraussage erlaubte, der Sieg über den russischen Zarismus würde mehr oder weniger direkt zur Machtergreifung der Arbeiterklasse in einer sozialistischen Revolution führen. Das Buch enthält bedeutende Texte nicht nur von Trotzki, sondern auch von Plechanow, Rjasanow, Mehring, Luxemburg, Parvus und Kautsky. Die Dokumente tragen zu einem tieferen Verständnis der Theorie der Permanenten Revolution bei, wie sie von Trotzki nach der Revolution von 1905 am weitestgehend und umfassendsten formuliert wurde.
Dabei fällt insbesondere ins Auge, dass die verschiedenen Texte die beginnende Russische Revolution Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts auf dem Hintergrund der vergangenen Revolutionen analysieren – der Großen Französischen Revolution von 1789-1794, der Revolutionen von 1848 und der Pariser Kommune von 1871.
Natürlich gehörten für die Generation, die das Jahr 1905 miterlebte, weder die Pariser Kommune, noch die Revolutionen von 1848 zur fernen Vergangenheit. Die Pariser Kommune lag für sie so weit zurück, wie für uns das Jahr 1977, in dem Tom Henehan ermordet wurde. Und sogar vom Jahr 1848 trennten sie nur 57 Jahre. Heute bedeutet diese Zeitspanne für uns lediglich einen Rückblick bis zur Zeit der Eisenhower-Regierung. In der sozialistischen Bewegung Europas um die Jahrhundertwende waren noch Veteranen von 1871 und sogar von 1848 aktiv. Wilhelm Liebknecht, Teilnehmer an den Kämpfen von 1848 und Mitbegründer der deutschen Sozialdemokratie an August Bebels Seite, lebte bis 1900. Adolf Sorge, Teilnehmer am badischen Aufstand und enger Freund von Marx und Engels, lebte bis 1906.
Die Veteranen der Großen Französischen Revolution von 1789 lebten natürlich nicht mehr, aber der wirtschaftliche, soziale, politische und ideologische Einfluss dieses Ereignisses war so groß, dass sein Schatten noch über Europa lag und heute noch liegt. In politischer Hinsicht wurde die moderne Welt in der Französischen Revolution geprägt. Die großen, leidenschaftlichen Kämpfe dieses gewaltigen Ereignisses bereiteten den Boden für die revolutionären Kämpfe der Zukunft. Sogar die Terminologie heutiger sozialer Kämpfe stammt im Wesentlichen aus jener Zeit. So saßen die Vertreter des grundlegenden sozialen Wandels, der so genannte „Berg“, links vom Präsidium der Generalversammlung, die Konservativen und Reaktionäre rechts. Aber außer den Begriffen “links” und “rechts” entstammt jener Zeit auch der Begriff “Permanente Revolution”. Richard Day und Daniel Gaido weisen in ihrer Einführung zu Witnesses to Permanent Revolution darauf hin, dass das Konzept der revolution en permanence auf den berühmten Ballhausschwur von Juni 1789 zurückgeht. Vertreter des Dritten Standes gelobten damals in einer Ballsporthalle in Versailles, die Nationalversammlung werde fortbestehen, wo immer sich ihre Vertreter versammeln und ungeachtet der Versuche des Monarchen sie aufzulösen. Mit anderen Worten, die Nationalversammlung des Dritten Standes erklärte ihre Permanenz!
Wichtiger als der Beitrag zur heutigen Terminologie ist natürlich, dass die Revolution die sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen des Feudalismus zerstörte und den Weg für die Errichtung eines bürgerlichen Staats und die Entwicklung des Kapitalismus frei machte, der unvermeidlich zur Entstehung der Arbeiterklasse und zur Herausbildung des Klassenkampfes in seiner modernen Form führte. Tatsächlich zeigte sich bereits nach dem Sturz der Jakobinerdiktatur im Juli 1794 die erste Vorahnung zukünftiger Revolutionen in der „Verschwörung der Gleichen“ unter Führung von Gracchus Babeuf, die den ersten historischen Versuch darstellt, durch bewusste revolutionäre Aktion soziale Gleichheit zu erreichen.
Auf diese Frage kann ich in dem Vortrag nicht weiter eingehen, aber man muss festhalten, dass die Revolution nicht nur zur sozioökonomischen Umgestaltung Frankreichs führte, sondern auch den Impuls für einen enormen Fortschritt im wissenschaftlichen Verständnis der objektiven Triebkräfte der historischen Entwicklung lieferte, aus dem letztendlich der Marxismus erwuchs. Nach der Französischen Revolution wurde den fortgeschrittenen Denkern die immense Bedeutung der materiellen Interessen, des Eigentums und der Klassenkonflikte im Hintergrund des politischen Lebens zunehmend klarer.
Die wirtschaftlichen Veränderungen, vor allem die Industrialisierung, führten zu neuen Formen des Klassenkampfes und die Vorahnungen weiterer Revolutionen konkretisierten sich. Bereits 1806 gab es in Paris einen Streik der Bauarbeiter. In Lyon streikten 1817 die Hutmacher gegen das Sinken ihrer Löhne. Zwischen 1825 und 1827 gab es in Paris bedeutende Streiks von Handwerkern und Manufakturarbeitern. Im Jahre 1830 führten Volksproteste in Paris zur Abdankung von Karl X., aber der Nutznießer dieser „Revolution“ war das Bankkapital. Die Lebensumstände der wachsenden Arbeiterklasse, besonders der Weber, verschlechterten sich. Die Besteuerung der unteren Volksschichten nahm zu, während die Löhne fielen. Die wachsende Wut führte im November 1831 zu einem bewaffneten Aufstand der Arbeiter Lyons. Für einige Tage mussten die Regierungstruppen die Stadt verlassen. Auch wenn die Regierung nach einigen Tagen die Kontrolle zurück gewann, war die Bourgeoisie durch das Aufkommen des offenen Klassenkampfes verwirrt und gelähmt. Der Widerstand des gerade erst entstandenen Proletariats bedrohte nun die Interessen des kapitalistischen Privateigentums.
In Frankreich herrschte zu diesem Zeitpunkt eine bürgerliche Monarchie unter Führung von Louis Philippe, der den offiziellen Titel „König der Franzosen“ trug – eine verschleierte Anerkennung der Tatsache, dass die Französische Revolution, die Hinrichtung Ludwig XVI. und die spätere Abdankung seines jüngeren Bruders, Karl X., nicht gänzlich sinnlos gewesen war. Louis Philippes Vater, der glücklose Philippe Egalité, war ein Cousin Ludwigs XVI. Er brach während der Revolution mit der königlichen Familie und stimmte sogar für die Hinrichtung Ludwigs. Aber dies schützte ihn nicht vor Verdächtigungen, ein Vertreter der Konterrevolution zu sein oder werden zu können. Philippe Egalité wurde im November 1793 mit der Guillotine hingerichtet. Schließlich stieg sein Sohn Louis Philippe zum Monarchen auf, wenn auch die sozialen und politischen Verhältnisse mit denen von vor 1793 kaum mehr vergleichbar waren.
Louis Philippe suchte den bürgerlichen Charakter seines Regimes zu betonen, indem er sich im Gehrock und mit Schirm zeigte. Sein Regime diente aber nur einem Teil der Bourgeoisie, der Finanzelite. Das weckte in anderen Teilen der Bourgeoisie, besonders der Manufaktur- und Industriebourgeoisie, Unzufriedenheit. Die Korruption der Finanzelite kannte keine Grenzen und untergrub die industrielle Entwicklung Frankreichs. Es gibt keine bessere Beschreibung der damaligen französischen Verhältnisse, als die Schrift Die Klassenkämpfe in Frankreich von Karl Marx: „Indem die Finanzaristokratie die Gesetze gab, die Staatsverwaltung leitete, über sämtliche organisierten öffentlichen Gewalten verfügte, die öffentliche Meinung durch die Tatsachen und durch die Presse beherrschte, wiederholte sich in allen Sphären, vom Hofe bis zum Café Borgne [Bezeichnung für verrufene Kaffeehäuser und Kneipen in Paris] dieselbe Prostitution, derselbe schamlose Betrug, dieselbe Sucht, sich zu bereichern, nicht durch die Produktion, sondern durch die Eskamotage schon vorhandenen fremden Reichtums, brach namentlich an den Spitzen der bürgerlichen Gesellschaft die schrankenlose, mit den bürgerlichen Gesetzen selbst jeden Augenblick kollidierende Geltendmachung der ungesunden und liederlichen Gelüste aus, worin der aus dem Spiele entspringende Reichtum naturgemäß seine Befriedigung sucht, wo der Genuß crapuleux [ausschweifend] wird, wo Geld, Schmutz und Blut zusammenfließen. Die Finanzaristokratie, in ihrer Erwerbsweise wie in ihren Genüssen, ist nichts als die Wiedergeburt des Lumpenproletariats auf den Höhen der bürgerlichen Gesellschaft.“ [in: MEW, Band 7, Berlin 1960, S. 14-15]
Aber der Widerstand, abseits von Hof und Börse, nahm stetig zu, und das nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa. Seit Napoleons endgültiger Niederlage im Jahre 1815 hatte sich die Reaktion in Europa ausgebreitet. Der Architekt dieses Systems der Reaktion war der österreichische Fürst Metternich. Ein Kritiker warf Metternich vor, sein einziges Mittel zur Sicherung des Status Quo bestehe „aus einem Wald von Bajonetten und dem starren Festhalten an den Dingen, wie sie sind. Meines Erachtens spielen wir auf diese Weise den Revolutionären in die Hände“. [M. Rapport, 1848: Year of Revolution, NY 2008. Aus dem Engl.] Fürst Metternich kannte allerdings keine anderen Mittel, um die untergehende soziale Ordnung zu verteidigen.
Im geschichtlichen Rückblick waren die Zeichen der heranziehenden Revolution überall zu sehen. Im Mai 1839 strebte die von August Blanqui and Armand Barbès geführte, etwa 900 Mitglieder zählende, „Gesellschaft der Jahreszeiten“ in Paris einen Aufstand an, besetzte das Rathaus und rief eine Provisorische Regierung aus. Aber die erhoffte Ausbreitung des Aufstands blieb aus. Stattdessen wurden seine führenden Köpfe gefangen genommen und ins Gefängnis gesteckt. Größere Nachwirkung als diese frühen Experimente direkter Aktion einiger engagierter Militanter hatte jedoch die Revolution in der Philosophie und in der ökonomischen Theorie. Beachtenswert ist hier vor allem Pierre-Joseph Proudhons 1840 erschienenes Buch mit dem Titel Was ist Eigentum?, eine Frage, die er selbst lapidar und provokativ beantwortet: „Eigentum ist Diebstahl“.
Eine andere bahnbrechende Arbeit war der umfangreiche Aufsatz Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie aus dem Jahre 1843, der mit den Worten begann: „Die Nationalökonomie entstand als eine natürliche Folge der Ausdehnung des Handels, und mit ihr trat an die Stelle des einfachen, unwissenschaftlichen Schachers ein ausgebildetes System des erlaubten Betrugs, eine komplette Bereicherungswissenschaft.“ [in: MEW, Band 1, Berlin, 1956, S.499] Autor dieses Dokuments war der 23-jährige Friedrich Engels, der bald darauf eine noch größere Arbeit veröffentlichen sollte: Die Lage der arbeitenden Klasse in England.
Aber zur bedeutendsten intellektuellen Entwicklung der 1840er Jahre kam es auf dem Gebiet der Philosophie, wo die Kritik der idealistischen Philosophie Hegels durch den jungen Karl Marx eine Revolution im Denken auslöste, die später die intellektuelle Grundlage für die Massenbewegung des internationalen Proletariats schaffen sollte. Aus den Schriften von Karl Marx kann der Leser erkennen, dass er sich schon auf einer sehr frühen Stufe seiner Arbeit der explosiven Bedeutung seiner theoretischen Arbeiten bewusst war. Anfang 1844 schrieb er in der Einleitung seiner Schrift Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“ [in: MEW, Band 1, Berlin 1956, S. 385] Einige Seiten später, am Schluss der Einleitung, heißt es: „Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat.“ [Ebd., S. 391]
Bis 1845 hatten Marx und Engels bereits die materialistische Konzeption der Geschichte entwickelt, der zufolge Revolutionen nicht das Produkt gut organisierter Verschwörungen seien, sondern das mit Notwendigkeit eintretende Ergebnis komplexer sozioökonomischer Prozesse, in denen die Produktivkräfte in unlösbaren Konflikt mit den bestehenden sozialen Verhältnissen geraten. Die Wurzel der Revolution fände sich nicht in der Entwicklung der Ideen, sondern in der sozioökonomischen Organisation der Gesellschaft, abhängig von einem bestimmten Niveau der Produktivkräfte. Der Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den existierenden sozialen Verhältnissen zeige sich im Klassenkampf, der in der heutigen Gesellschaft hauptsächlich die Form des Konflikts zwischen der Bourgeoisie, der Eigentümerin der Produktionsmittel, und der Arbeiterklasse annehme, die nur ihre Arbeitskraft besitzt.
1847 traten Marx und Engels dem Bund der Gerechten bei, der sich bald zum Bund der Kommunisten wandelte. Der Bund beauftragte sie Ende 1847 mit dem Verfassen eines Programms in Form eines Manifestes, welches, wie wir alle wissen, einen nicht geringen Einfluss auf den Lauf der Geschichte hatte.
Zur Zeit der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests stand Europa kurz vor einer politischen Explosion. Unabhängig von der Arbeit sozialistischer Theoretiker steckte der Kapitalismus mitten in einer großen Wirtschaftskrise, die verheerende Auswirkungen auf breite Schichten der arbeitenden Bevölkerung hatte. Die Jahre 1846 und 1847 brachten Leid über die Menschen wie keine andere Periode des bisherigen 19. Jahrhunderts. Die Wirtschaftskrise kam mit einer Missernte zusammen, die eine große Hungersnot auslöste. In Irland starben 21.000 Menschen den Hungertod. Hunderttausende wurden Opfer von Typhus und Cholera. In Belgien lebten 700.000 Menschen von der öffentlichen Wohlfahrt. In Berlin und Wien lösten die elenden Verhältnisse Zusammenstöße zwischen Volk und Militär aus. In Frankreich stiegen die Brotpreise dramatisch an, der Preis für Kartoffeln verdoppelte sich und die Zahl der Arbeitslosen explodierte.
Die Unruhen in Frankreich verstärkten den Konflikt zwischen der Regierung König Louis Philippes und der wachsenden Opposition aus verschiedenen bürgerlichen politischen Tendenzen, darunter den Liberalen, die sich gegen die Diktatur der Finanzinteressen und den Ausschluss der Industriebourgeoisie von der Macht wandten, und den demokratischeren Strömungen, die mit mehr oder weniger Nachdruck für die Gründung einer Republik eintraten. Zu den bekannteren und radikaleren Vertretern dieser Tendenzen gehörte Ledru-Rollin (1807-1874), der vor dem Jahr 1848 mit seinen heftigen verbalen Attacken auf das Regime Anklang unter französischen Arbeitern gefunden hatte. Er gründete die Zeitung La Réforme, die eine beträchtliche Leserschaft gewann. Auch Louis Blanc (1811-1882) hatte eine große Anhängerschaft im Volk. Er war als Sozialist bekannt — obgleich sich seine Vorstellung vom Sozialismus an das Denken der utopischen Sozialisten wie Robert Owen, Saint-Simon und Étienne Cabet anlehnte und er glaubte, der Fortschritt ergebe sich wie von selbst durch die Vervollkommnung der Menschen. Der Sozialismus werde nicht durch eine gewaltsame Revolution erreicht, die er ablehnte, sondern durch die bestechende Logik und Überzeugungskraft seiner Reden. Vor dem Ausbruch der Revolution traf sich Blanc gelegentlich mit Engels, dem es schwer fiel, ihn und seinen Ideen-Mischmasch ernst zu nehmen. In einem Brief an Marx vom März 1848 macht Engels zum Beispiel folgende Bemerkung über Blancs Geschichte der Französischen Revolution: „Ein tolles Gemisch richtiger Ahnungen und grenzenloser Verrücktheiten. Ich hab' erst die Hälfte des I. Bandes (…) gelesen. Ça fait un drole d'effet. [Sie macht einen seltsamen Eindruck] Kaum hat er einen durch eine nette Anschauung überrascht, so poltert er einem gleich den furchtbarsten Wahnsinn über den Kopf.“ [MEW, Bd. 27, Berlin 1963, S.81]
Im Herbst und Winter 1847/48 veranstalteten die bürgerlich-oppositionellen Tendenzen „Bankette“ – eine Art Vorläufer der „All You Can Eat“-Buffets zum Preis von 10 Dollar -- um Unterstützung im Volk zu erhalten. Der Radikale Ledru-Rollin und der Sozialist Louis Blanc organisierten ihre eigenen, gemeinsamen Bankette, um breitere Teile der Mittelklasse und der arbeitenden Klasse anzuziehen. Die reiche und konservative bürgerliche Opposition konnte sich mit der Bankett-Kampagne nicht wirklich anfreunden. Die Aussicht auf einen offenen Konflikt mit dem Regime Louis Philippes behagte ihr nicht und besonders fürchtete sie, die Bankette könnten ungewollt Massenkämpfe außerhalb der Kontrolle der besitzenden Klasse auslösen. Adolph Thiers, der schließlich als unerbittlicher Feind der Pariser Kommune von 1871 in die Geschichte einging, warnte, er sehe unter den Tischtüchern der Bankette die Rote Fahne der Revolution. Die Bourgeoisie drängte zwar auf einige demokratische Reformen, fürchtete aber das Eingreifen der arbeitenden Klasse in den politischen Kampf.
Diese Furcht war Ausdruck der tief greifenden Veränderungen in der Struktur der französischen und der gesamten europäischen gesellschaftlichen Verhältnisse seit der Revolution von 1789–1794. Als sich die Vertreter des Dritten Standes 1789 in Versailles versammelten, waren die Klassenwidersprüche innerhalb der Opposition gegen das alte, feudale Regime noch unentwickelt. In ihrem Kampf gegen das Regime Ludwigs XVI. musste die Bourgeoisie noch nicht mit dem Gespenst einer sozialistischen Opposition der Arbeiterklasse rechnen, die nicht allein das feudale Eigentum, sondern auch das kapitalistische Privateigentum bedrohen würde. Sie konnte daher in den 1790er Jahren noch entschlossener eine revolutionäre Haltung gegen das alte Regime einnehmen als nun, ein halbes Jahrhundert später. Allerdings muss man festhalten, dass die extreme Radikalität der Großen Revolution nicht von der Bourgeoisie selbst ausging, die generell eher dazu neigte, einen Kompromiss mit Ludwig XVI. zu finden, sondern von den Massen der städtischen Bevölkerung, den Sanscoulotten, die hinter den Jakobinerführern standen. Ihre wiederholten Aufstände trieben die Revolution immer weiter nach links.
1848 war durch das Auftreten der Arbeiterklasse der Konflikt zwischen der bürgerlichen Opposition und Louis Philippe weit komplizierter geworden. Diese Veränderung in der französischen und europäischen Gesellschaft sollte sich nun von entscheidender Bedeutung für die Revolution von 1848 erweisen. Die bürgerlichen Liberalen standen zwar in Opposition zum bestehenden Regime, aber die Tiefe ihrer Opposition und ihre demokratischen Überzeugungen wurden durch die viel größere Furcht vor den sozialistischen Bestrebungen der Arbeiterklasse überlagert. Die Widersprüche zwischen den demokratischen Forderungen der Bourgeoisie und ihren materiellen Interessen, zwischen ihrer Verteidigung des kapitalistischen Eigentums und einer eigentumslosen Arbeiterklasse, bestimmten den Ausgang der Revolutionen im Jahre 1848.
Die politische Krise des Regimes von Louis Philippe hatte sich bereits länger angebahnt. Schon im Januar 1848 hatte de Toqueville eine Revolution prognostiziert. Allerdings haben sich vermutlich nur wenige Menschen vorstellen können, dass nur drei Tage Aufstand genügten, um den ganzen verrotteten Regierungsapparat des Königs zu Fall zu bringen. Louis Philippe selbst hatte die Warnung de Tocquevilles mit einem Scherz beiseite gewischt: „‘Im Winter machen die Pariser keine Revolution.‘ Man stürmt, wenn es heiß ist: im Juli die Bastille, im Juni den Thron der Bourbonen. Aber nicht im Januar oder Februar.“ [zitiert in Boris Nicolaevsky und Otto Maenchen-Helfen: Karl Marx. Eine Biographie, Dietz-Verlag, Berlin-Bonn 1978 (4. Auflage), S. 143-144]
Die Unruhen begannen, als die Regierung ein Bankett der Opposition unterbinden wollte, das für den 22. Februar 1848 geplant war. Die Preise waren heruntergesetzt worden, um eine hohe Beteiligung zu erreichen. Die Regierung gab nach und ließ das Bankett der Opposition in einem wohlhabenden Bezirk nahe der Avenue des Champs-Elysées unter der Bedingung zu, dass die Versammlung unmittelbar danach aufgelöst werde. Viele bürgerliche Organisatoren waren bereit, diese demütigende Bedingung zu akzeptieren, nicht nur, weil sie das Regime des Königs fürchten, sondern auch, weil sie befürchteten, mit der Versammlung eine Massenaktion in Gang zu setzen. Ledru-Rollin und seine Anhänger in der Reform-Gruppe weigerten sich jedoch einzulenken. Sie veröffentlichten einen Aufruf an die Pariser und forderten sie auf, sich am Morgen des 22. Februar auf dem Place de la Madelaine einzufinden und gemeinsam die Champs-Elysées zum Ort des Banketts zu marschieren. Dieser Aufruf wurde von nahezu allen bürgerlich-oppositionellen Zeitungen boykottiert. Das ganze Vorhaben, so die Begründung des Boykotts, würde in einem Zusammenstoß mit dem Regime und mit einer blutigen Niederlage der Protestierenden enden.
Es kam zur Konfrontation. Aufgebrachte Menschenmengen stürzten Kutschen um und zerstörten Straßenlaternen. Die Polizei und die Nationalgarde schienen aber die Situation zu beherrschen. Am Abend des 22. Februar war Louis Philippe noch davon überzeugt, dass er die Lage unter Kontrolle hätte. Am nächsten Tag jedoch strömten noch größere Menschenmengen auf die Straßen. Zunehmend gab es auch Anzeichen für eine Meuterei in der Nationalgarde, besonders in den Regimentern aus den ärmeren Distrikten. Am Nachmittag des 23. Februar begann der Aufstand der Pariser Arbeiter. Sie trugen mehr als acht Millionen Pflastersteine zusammen und fällten 400.000 Bäume, und am Morgen des 24. Februar waren stadtweit etwa 1.500 Barrikaden errichtet. Louis Philippe hatte darauf gehofft, mit der Entlassung seines Premierministers Francois Guizot die Proteste eindämmen zu können. Aber diese Geste kam zu spät. In Anbetracht der Lage in Paris und eingedenk des Schicksals seiner erlauchten Familie, dankte der König ab und floh aus dem Land. Die Revolution hatte mit weniger als 500 Opfern gesiegt!
Die wirtschaftliche Situation in Russland verschlechterte sich wegen einer Rezession zusehends. Die Arbeitslosigkeit in den Industriezentren stieg rasch, da Staatsaufträge ausblieben, und es gab Schwierigkeiten in der Landwirtschaft, da die Exportmärkte zusammenbrachen. Die als Folge der Kriege und der wirtschaftlichen Krise schärfer zutage tretenden sozialen Missstände führten zu wachsendem Unmut in weiten Kreisen. Durch die Initiative des jungen orthodoxen Priesters Gapon wurde ein neuer Versuch einer staatlich geförderten Arbeiterorganisation in Petersburg Anfang 1904 unternommen. Diese radikalisierte sich im Gleichschritt mit der übrigen Opposition im Laufe des Jahres. Auch Gapon solidarisierte sich mit den in der Sache gewerkschaftlichen Forderungen der Arbeiter. Als Angehörige seiner Organisation um die Jahreswende von den Putilov-Werken, dem größten Rüstungsbetrieb der Hauptstadt entlassen wurden, gingen deren Arbeiter unter der Leitung des Priesters zum Streik über. Gapon entwarf eine Petition an dem Zaren Nikolaus II mit Ersuchen von ökonomischen und politischen Reformen. Ikonen, Fahnen mit christlichen Emblemen und sogar Bilder des Zaren und seiner Frau tragend, sangen die Arbeiter die Hymne „Gott behüte den Zaren“. Der Marsch der unbewaffneten Arbeiter auf das Winterpalais traf die Regierung nicht unvorbereitet. Diese deutete den verzweifelten Marsch der Arbeiter als nicht genehmigte Demonstration. Bereits vor dem Narwa-Tor wurden sie durch Soldaten aufgehalten, die auch auf die Menschenmenge schossen. Am Nachmittag kam es erneut zu Zusammenstößen rund um den Winterpalast, bei denen die Armee erneut auf die Bevölkerung schoss. Gapon konnte sich retten und exkommunizierte daraufhin den Zaren, musste dann aber außer Landes gehen, wo er Kontakte zu sozialistischen Exilgruppen aufnahm. Nach Erlass des Oktobermanifestes durch den Zaren kehrte er nach Russland zurück. Schätzungen von über 1.000 getöteten Arbeitern widersprach der Historiker Kevin O'Connor, der von ca. 130 Ermordeten ausging. An diesem „Petersburger Blutsonntag“ war die Bande zwischen dem Zaren und dem einfachen Volke endgültig zerrissen.
Nicht nur griffen die Streiks auf andere Teile des Reiches über, sondern in der Hauptstadt erklärten alle Schichten der Bevölkerung ihre Solidarität in einer großen Welle einhelligen Protestes. Der Klub der Kaufleute sperrte Gardeoffizieren den Zutritt zu seinen Räumen, weil sie an dem Massaker teilgenommen hätten. Mitglieder der Akademie der Wissenschaften sowie Professoren der Universität forderten die Übertragung der Gesetzgebungsgewalt an frei gewählte Volksvertreter und die Kontrolle der Verwaltung als Voraussetzung allgemeiner Volksbildung. Ihnen schlossen sich Wissenschaftler und Lehrer aus allen Teilen des Landes an. Noch gingen die Proteste stets in friedlichen Formen vor sich. Die allgemeine Unruhe brachte die unterschwellig brodelnden Nationalitätenprobleme an die Oberfläche. Nicht nur politisch mehr oder minder organisierte Nationalitäten –Polen, Letten, Georgier und Juden hatten ihre sozialistischen Parteien – meldeten ihre Forderungen an und entwarfen Autonomieprogramme. Unter den Petersburger Arbeitern hatte die Gruppe der Menschewiki 1905 eine gewisse Gefolgschaft, die der Anhängern Lenins (Bolschewiki) war wesentlich geringer.
Der Umschlag vom Protest zum politischen Aufbegehren nach dem „Petersburger Blutsonntag“ war im Wesentlichen Ergebnis falscher Politik der Herrschenden, nicht erfolgreiche Agitation revolutionärer Gruppen. Zwar versuchte der Zar mit den Petersburger Arbeitern ins Gespräch zu kommen, aber die Streiks gingen weiter. Erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1905 häuften sich die Übergriffe auf dem Lande und waren so gut koordiniert, dass man von einer organisierten Bauernrevolte sprechen konnte. Überall auf dem Lande begannen sich Verbände zu bilden, teils auf lokaler, teils berufsständischer Basis, die auf der Linie des „Bundes der Befreiung“ die Konstituante forderten und sich im Mai zum „Verbund der Verbände“ zusammenfanden. Das alte Misstrauen gegenüber dem liberalen Bürgertum hinderte die sozialrevolutionären Gruppen, sich in die gemeinsame Front einzureihen.
Im Laufe der Zeit wuchs die Streikwelle kontinuierlich auf 220.000 Menschen im Mai an; die erfolglose Meuterei des Panzerkreuzers Potemkin im Juni verunsicherte die Regierung weiterhin. Moskau war dem Zentrum des russischen Eisenbahnnetzes und als die Eisenbahner sich dem Streik anschlossen, wurden so weite Teile des öffentlichen Verkehrs lahmgelegt. Der Moskauer Streik breitete sich in alle Richtungen aus; den Eisenbahnern schlossen sich andere Arbeitern an, bevor der Generalstreik formal erklärt worden war. Inzwischen bildeten sich in den Städten lokale Streikkomitees, Räte (sovety) mit gewählten Vertretern aus den einzelnen Betrieben.
So wurde der Zar gezwungen, das „Oktobermanifest“ zu unterzeichnen. Hier wurden die staatsbürgerlichen Grundrechte etabliert, die Beschränkungen des Wahlrechts für die einzuberufende Duma im Wesentlichen aufgehoben und erklärt, dass kein Gesetz ohne Zustimmung der Duma erlassen werden konnte und die Volksvertretern die Legalität aller administrativen Maßnahmen effektiv kontrollieren können würden. Für die Duma wurde das allgemeine Wahlrecht allerdings lediglich für männliche Bürger in Aussicht gestellt. Das Manifest gewährte zudem bürgerliche Grundrechte: Persönlichkeitsrechte, Religions- und Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit. Das Oktobermanifest war damit Vorläufer der ersten russischen Verfassung. In den Augen des Bürgertums, aber auch vieler einfacher Leute, war mit den Zusagen des Manifests das Ziel der Auflehnung erreicht. In der praktischen Politik veränderte jedoch das Manifest des Zaren nicht viel. Er hatte weiterhin große Macht über die Duma und blockierte diese vielfach durch sein Veto.
Das 1905 vorgelegte Oktobermanifest des Zaren war ein taktisches Zugeständnis an die revolutionären Unruhen und Streikbewegungen, wurde aber von Anfang an von den bolschwistischen Kräften und anderen sozialistischen Organisationen im Land sehr kritisch gesehen, was sich später als traurige Realität herausstellte. Der Zar wollte vor allem eine innenpolitische Atempause erreichen. In dem Manifest hieß es: „Wir rufen alle treuen Söhne Rußlands auf, ihrer Pflicht gegen das Vaterland eingedenk zu sein, zur Beendigung der unerhörten Wirrsal zu helfen und mit Uns alle Kräfte zur Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung des Friedens auf dem Heimatboden anzuspannen.“
Es gab aber auch heftige Unruhen der Bauern mit zahlreichen Brandstiftungen und Morden an Gutsherrn vor allem in den baltischen Provinzen sowie Meutereien unter Matrosen und Soldaten. Die zaristische Regierung zerschlug diese Erhebungen mit äußerster Repression. Anfang Dezember wurde fast der gesamte Petersburger Arbeiterrat verhaftet. Zur gleichen Zeit kam es noch zu bewaffneten Aufständen in einigen Arbeitervorstädten Moskaus. Hier hatten Sozialisten Waffen heranschaffen können, doch auch diese Erhebung wurde brutal niedergeschlagen. Die zaristische Regierung hatte einen Pyrrhus-Sieg errungen, im Augenblick konnte sie den revolutionären Kampf noch unterdrücken, es schien aber nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wann die russische Monarchie zusammenbrechen würde.
Als sich der Zar seiner militärischen und politischen Macht wieder sicher zu sein schien, wurden die im Oktobermanifest erreichten Zugeständnisse wieder zurückgenommen. Mit der Auflösung der 2. Staatsduma und der Einführung eines neuen Wahlrechts durch Nikolaus II. im Juni 1907, wodurch die Vorherrschaft konservativer Kräfte im Parlament sichergestellt wurde, wurden die Reformen weitgehend wieder entkräftet.
Die Revolution von 1905 (noch näher schildern) brachte auch für den Bildungsbereich wesentliche Veränderungen mit sich. Einerseits fand eine konservative Wende statt, die sich in der Rücknahme der Abschaffung der Schüleruniformen für Gymnasiasten, die Abschaffung gewählter Elternausschüsse oder Aufhebung der Zulassung von Studentenvereinigungen widerspiegelte. Andererseits bewirkte der revolutionäre Umschwung eine rege Organisationstätigkeit sowohl unter russischen Lehrern und Wissenschaftlern als auch in der pädagogisch interessierten Öffentlichkeit. Schon im Frühjahr 1905 wurde der Allrussische Lehrerverband gegründet, dem vor allem Volksschullehrer und führende Köpfe der demokratischen Volksbildungsbewegung wie V. P. Vachterov (1853-1924) und N. V. Tschechov (1865-1947) angehörten. Eine weitere Neugründung war der Allrussische Verband der Mittelschullehrer an Gymnasien und Realschulen, es folgten weitere Organisationen auf gesamtstaatlicher oder lokaler Ebene mit gewerkschaftlichen und pädagogisch-fachlichen Zielsetzungen. Eine dieser Zusammenschlüsse die „Liga für Bildung“ entfachte eine Kampagne für ein Gesetz der Schulpflicht, das in die Beratungen der Duma einfloss.
Die aus der Revolution von 1905 hervorgegangenen Lehrerverbände mit reformerischer Zielsetzung mussten zwar seit Beginn der Restauration im Jahre 1907 in vielen Fällen ihre Tätigkeit einstellen, aber als sich in den Jahren vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges wiederum die Möglichkeit für ein öffentliches Auftreten bot, kamen die progressiven Pädagogen auf den wichtigsten Bildungskongressen (Allgemeiner Zemstso-Kongress über Volksbildung im August 1911, 1. Allrussischer Kongress über Familienerziehung in den Winterferien 1912/1913, 1. Allrussischer Kongress für Volksbildung in den Winterferien 1913/1914) wieder zu Wort. Die wichtigsten Forderungen der reformorientierten Pädagogen lauteten:
Ein Kennzeichen für den inneren Zusammenhang der schulpolitisch-volksbildnerischen Bewegung mit den reformpädagogischen Bestrebungen aus dem wissenschaftlichen Bereich lag darin, dass in dem Jahrzehnt zwischen 1906 und 1916 fünf Allrussische Kongresse für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik stattfanden, die für die Entwicklung der Psychologie und Pädagogik über das Revolutionsjahr 1917 hinaus grundlegende Bedeutung besaßen. Die pädagogische Publizistik vor der Oktoberrevolution zeigte ebenfalls eine große reformerische Bereitschaft. Der „Erziehungsbote“, „Freie Erziehung“ und „Die russische Schule“ spiegelten die Vielfalt des freien Bildungsgeschehens im Gegensatz zu der stagnierenden Bildungspolitik der zaristischen Regierung wider.
Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi zählte zu den bedeutendsten libertären Reformpädagogen, die antiautoritäre Strömungen in der Erziehung wie die Summerhill-Pädagogik weltweit im 20. Jahrhundert beeinflusst haben. Für ihn existierte ein Zusammenhang zwischen Bildung, Freiheit und Erfahrung, was er als Einheit verstand. Seine Pädagogik wurde durch die Verarmung der Bauern und durch den despotischen Charakter der zaristischen Regimes geprägt. Die russisch-orthodoxe Kirche war eine weitere autoritäre Institution, deren Erziehungspraxis Tolstoi für die kinderfeindliche Erziehung verantwortlich machte.
Ein großer Teil der russischen Bauern lebte Mitte des 19. Jahrhunderts in Armut. Die Bevölkerung hatte sich vermehrt, die Höfe wurden geteilt, damit sanken Betriebsgröße und Ausstattung mit Betriebsmitteln. Seit dem gescheiterten Dekabristen-Aufstand nahm der Reformdruck im Reiche immer mehr zu Die Forderung nach Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft war nicht nur in der Intelligenzia populär, sondern auch unter Staatsbeamt_innen und Aristokrat_innen. Nach der Niederlage im Krim-Krieg waren die Reformen unaufschiebbar geworden. Nach fünf Jahren Beratungen wurde das Manifest über die Aufhebung der Leibeigenschaft am 2. März 1861 unterzeichnet.
Dem Manifest folgte ein Gesetz, das die Landzuteilung an die Bauern regelte. Die Landanteile waren zu klein und wurden mit übergroßen Lasten belegt, da die Bauern die Entschädigung, die der Staat den Grundbesitzer_innen gezahlt hatte, innerhalb von 49 Jahren an ihn zurückzahlen mussten. Ergebnis der Bauernbefreiung von 1861 war also, dass sich die Lage der Bauern eher verschärfte. Der entstehende Bevölkerungsüberschuss konnte nirgends anders aufgefangen werden, die Landwirtschaft arbeitete weiter am Rand der Existenzkrise, was sich in den immer wiederkehrenden Hungersnöten zeigt. Die alte Abhängigkeit der Bauern von den Grundbesitzern wandelte sich in eine neue Abhängigkeit durch drückende Schulden.
Aus diesen Gründen setzte sich die Verelendung bei den Bauern weiter fort. Rosenstock-Huessy stellte fest:„ Die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 in Rußland imitiert die Zerstörung des Feudalstaates von 1789. Der Zarbefreier hat damit nicht den Feudalstaat zerstört, sondern nur die französische Revolution verhaßt gemacht. Denn diese Idee von 1789 sah in Rußland so aus, daß die Bauern persönlich frei wurden, ohne zu wissen wohin. Auch wenn man sie viele Jahre beim Militär hielt, so war das doch noch kein genügender Abfluß. (...) Den Bauern hat der Zarbefreier begehrlich, haltlos, landgierig, böse gemacht. Die Aufhebung der Leibeigenschaft von 1861 war eine Mißhandlung des Bauern (...) Die Bauern haben seit 1861 hartnäckig darauf gewartet, daß der Zar ihnen das Land geben werde. Viele kauften durch Jahre keine Parzelle, weil sie darauf warteten. Der Zar mußte wiederholt erklären lassen, dergleichen sei nicht zu erwarten. Ein Minister, der das erklärte, beging wenig später Selbstmord. Die Bauern behaupteten, der Zorn des Zaren habe ihn getroffen. Der Bauer ist also seit der `Freiheit` in Gärung. Die Freiheit ist der Fluch dieses Bauern. Also wird er gegen diese Freiheit Revolution machen. Er wird nach Ordnung verlangen. Wirtschaftsordnung, Gesellschaftsordnung lautet der Ruf der russischen Revolution, weil 'Freiheit' für ihn nur Unordnung war."
Verschärfend wirkten die Missernten und Hungersnöte der Jahre 1891-1893; sie haben die Unfähigkeit der Regierung bewiesen, katastrophale Situationen zu meistern. Die Bauern lebten in einem autonomen Rechtsbereich; in der Praxis fungierte nur die Landgendarmerie als mehr oder minder dubioses Kontrollorgan. Das Proletariat erwuchs aus der Freisetzung bäuerlicher Untertanen, ähnlich wie in anderen westeuropäischen Ländern auch. 1902/03 kam es infolge von Hungersnöten zu Bauernaufständen. Im Zusammenhang mit der ersten russischen Revolution von 1905 kam es dann erneut zu Bauernaufständen und Plünderungen des adligen Besitzes. Die Notwendigkeit einer Reform der Agrarverhältnisse, die eine tatsächliche Entwicklung des Kapitalismus ermöglichte, wurde unübersehbar. Der damalige Ministerpräsident Stolypin legte Pläne für diese Reform vor, dessen Ziel es war, eine Schicht kapitalistischer Bauern herauszubilden.
Der russische Staat konnte aus Mangel an Alternativen den wirtschaftlichen Rückstand nur dadurch überwinden, dass er selber eine kapitalistische Industriewirtschaft aufbaute, indem er von oben in das Wirtschaftsleben eingriff. Neben subventionierten Staatsbetrieben beteiligte er sich selbst an den Unternehmen oder gewährte Großbetrieben im Hüttenwesen sowie Maschinenbau Geldmittel und sorgte für den Absatz ihrer Produkte. Durch hohe Importzölle versuchte der Staat einheimische Unternehmer_innen vor der Konkurrenz des Auslandes zu schützen. Die russische Regierung gründete staatliche Banken, um damit westliches Kapital anzulocken.
In den 1870er Jahren begannen die Planungen für eine Eisenbahn durch ganz Sibirien. Nachdem die russische Eisenbahn 1886 den Ostrand des Ural erreichte, wurden verschiedene Trassenführungen erwogen. Verkehrsminister Sergei Juljewitsch Witte warb bei Zar Alexander III. für eine durchgehende Bahnstrecke, die Transsibirischen Eisenbahn.
Die Überzeugung der Regierung von dieser Notwendigkeit einer Eisenbahnlinie, die bis Wladiwostok an der Ostküste Asiens reichen sollte, war ein schwieriges Unterfangen. Es gab Kritiker_innen in der Regierung, die an dem wirtschaftlichen Nutzen und der Finanzierung der Eisenbahn zweifelten. Außerdem war es sich schwer, in der Bevölkerung die Ideologie der Transsibirischen Eisenbahn zu vermitteln.
Witte argumentierte, dass Russland durch die Transsibirischen Eisenbahn einen leichteren Zugang zum chinesischen Markt hätte, so dass auch der europäische Handel mit China zum Teil auf diesen Weg verlagert werden könnte, vor allem der wiederbelebte chinesischen Teehandel. Ebenso würde eine Eisenbahn die Möglichkeit eröffnen, sibirisches Getreide in den europäischen Teil Russlands und nach Russisch-Mittelasien zu transportieren. Weiterhin schürte Witte die Erwartung, dass die Bahn die sibirische Wirtschaft ankurbeln und ausländische Investitionen anlocken würde.
Neben der Schaffung neuer Rohstoffquellen und Märkte in China warb Witte mit der verstärkten Erschließung Sibiriens, dessen reiche Bodenschätze durch den Bau der Eisenbahn den Reichtum des russischen Staates vermehren könnten. Der aus dem Bau der Eisenbahnlinie resultierende ökonomische Aufschwung in Russischen Reich sollte die Armut beheben und die eigene wirtschaftliche Rückständigkeit im Vergleich zu den westlichen Staaten überwinden.
Um mit den anderen industriell höher entwickelten imperialistischen Staaten konkurrieren zu können, sollte Russland als erste Großmacht in China eine Einflusszone gesichert und diese in wirtschaftliche Abhängigkeit gedrängt werden. Diese Expansionspolitik nach Ostasien wäre mit dem Bau der Eisenbahn strategisch machbar: „Das russische Unternehmen im Fernen Osten gegen Ende des 19. Jahrhunderts war ohne Eisenbahnen unmöglich“. Von Anfang an strebte Witte eine „friedliche Durchdringung“ („pénétration pacifique“) Nordchinas an, indem das Gebiet allmählich wirtschaftlich abhängig gemacht und dem russischen Einfluss unterwerft werden sollte. Russland sollte als imperialistische Macht eine bedeutende Rolle in der Beziehung zwischen Europa und Asien spielen. Mit diesen Argumenten konnte Witte die russische Regierung überzeugen und der Bau der Transsibirischen Eisenbahn 1891 durchsetzen.
Dieses von Witte geleitete Projekt übertraf in seiner Größe alles Bisherige und spielte in der Ostasienpolitik Russlands eine tragende Rolle. Witte wurde zum Finanzminister ernannt und war von nun an der prägende Kopf der russischen Politik. Der Bau der Transsibirischen Eisenbahn gewann durch Investitionen aus dem Ausland zunehmend an internationaler Bedeutung und war gleichzeitig „Motor und Gleitschiene der Industrialisierung“ in Russland. Insgesamt umfasste das Projekt schließlich eine Strecke von 25.300 Kilometern und verschlang 39 Prozent der russischen Roheisenerzeugungen.
Die russische Eisenbahn verband Mitte der 1880er und 1890er Jahre die entstehenden Industriezentren mit den Eisen- und Kohlerevieren sowie mit den zentralen Agrarregionen und den Ausfuhrhäfen an der Ostsee und am Schwarzen Meer. Vom Eisenbahnbau profitierten gleichzeitig die Schwerindustrie und der Maschinenbau, die zu zentralen Bereichen der Industrialisierung wurden.
Roheisenproduktion und Kohleförderung verzehnfachten sich bis 1900, das Erdölgebiet um Baku übertraf 1901 die Förderung in den USA. Die Industrie konzentrierte sich besonders in Sankt Petersburg und Moskau, in der Ukraine und in den Ölgebieten Transkaukasiens. Seit der zweiten Hälfte der 1880er Jahre erfolgte ein rascher industrieller Aufschwung. Die durchschnittlichen Wachstumsraten lagen bei sechs Prozent, in den 1890er Jahren bei acht Prozent. Trotz der fortschreitenden Industrialisierung blieb Russland ein Agrarland. Um 1900 trug die Landwirtschaft mit 53 Prozent zum Nationaleinkommen, die Industrie mit 21 Prozent bei. Industrieprodukte trugen mit weniger als 10 Prozent zum russischen Export bei.
Seit den Reformen Peters des Großen wurde das Russland von einer aufgeblähten Bürokratie mit Unterstützung der Kirche mit dem Zaren an der Spitze verwaltet. Dabei war die Hierarchie des Staatsdienstes wichtiger als die Hierarchie der Geburt. Der Adel war verpflichtet, als Beamt_innen oder Soldat_innen dem Staat zu dienen, Landverteilung und Titel waren an die jeweilige Funktion im Staatsapparat verknüpft. Einfache Beamt_innen bekamen so wenig Lohn, so dass sie auf Bestechungsgelder angewiesen waren. Korruption war an der Tagesordnung, was besonders in der armen Bevölkerung das Vertrauen in den Staat im Laufe der Zeit erschütterte.
Die Geschwindigkeit der industriellen Entwicklung ab den 1890er Jahren führte zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen. Als Motoren der Industrialisierung galten neben dem Bau der Sibirischen Eisenbahn, die Kapitalbildung über ein Bank- und Kreditwesen, Kapital aus dem Ausland sowie eine protektionistische Außenpolitik. In den Städten St. Petersburg und Moskau sowie im Ural und der südlichen Ukraine entstanden Industriezentren. Diese Modernisierung des Russischen Reiches und Anpassung an westeuropäische Entwicklungen, die mit wachsender Mobilität einherging, stand die sich nur langsam ändernde sozio-ethnische Struktur des Vielvölkerreichs gegenüber. Die sozialen und nationalen Fragen trugen zur Instabilität des Reiches bei. Es gelang dem Zaren nicht, die Wurzel der aufkommenden Nationalkonflikte und der Unzufriedenheit der breiten Bevölkerungsmasse zu bekämpfen. Er hielt immer noch an einem auf die orthodoxe Kirche gestütztes Reich, das militärische Stärke gegenüber dem Ausland und seinen imperialen Gebieten demonstrieren sollte, fest und ignorierte die realen offenen Problemfelder.
Mit der Wendung der russischen Gesellschaft zur kapitalistischen Ordnung wurde die Reform der inneren Verhältnisse noch dringlicher. Eine wirtschaftende Mittelschicht war am Entstehen, die ihren Anteil an der Verfügung über die Staatseinnahmen und die Mitverantwortung für die öffentlichen Angelegenheiten erstrebte. Dieses neue Bürgertum hatte sich verhältnismäßig rasch entwickelt, war aber nur zu einem geringen Teil aus einem Stande selbständiger Handwerker mit eigenen Traditionen der Selbstverwaltung erwachsen. Diese Mittelschichten waren zwar noch nicht in ein gemeinsames politisches Bewusstsein integriert, aber die Intelligenzia hat ihnen die Forderungen des Tages vermittelt. Politische Freiheit war für den wirtschaftenden Stand weder ein abstraktes noch moralisches Ziel, sondern meinte konkret Freiheit der materiellen Entfaltung und Besteuerung. Waren diese Ansprüche erfüllt, so konnte der Mittelstand durchaus als stabilisierender Faktor des öffentlichen Lebens wirken. Zarenhof und die höhere Beamt_innenschaft haben nicht verstanden, dass der Industrialisierung als staatlicher Politik eine neue politische Struktur entsprechen musste.
Aber wie nun weiter nach der Entthronung des Monarchen? Die Bourgeoisie und besser gestellte Teile der Mittelschicht waren sich gar nicht so sicher, ob sie den Sieg feiern sollten. Die bürgerliche Opposition hatte Druck auf Louis Philippe ausüben wollen, um ihn zu zwingen, einer Wahlrechtsreform zuzustimmen. Nun aber steckten sie mitten in einer Revolution und waren mit den Erwartungen der vom Sieg über Louis Philippe begeisterten Arbeitermassen konfrontiert. Die etablierten Vertreter der liberalen bürgerlichen Opposition waren durch die schnelle Wende der Ereignisse geschockt und verwirrt. Einer der wenigen, die den Kopf nicht verloren und ihr politisches Gleichgewicht behielten, war Alphonse de Lamartine, ein bekannter romantischer Schriftsteller, der seine schriftstellerischen Fähigkeiten nutzte, um mit exaltierter Rhetorik die prosaischen und egoistischen Bestrebungen der französischen Bourgeoisie zu formulieren. In den Anfängen einer jeden Revolution finden sich solche plötzlich aufsteigenden Figuren, Meister der hochtrabenden Rhetorik, die irgendwelchen Banalitäten einen Hauch von Tiefe zu geben versuchen. Siebzig Jahre später spielte Kerenski diese Rolle in der Russischen Revolution. Unmittelbar nach der Abdankung Louis Philippes, mitten in der allgemeinen Verwirrung und unter dem enormem Druck des einfachen Volkes, verkündete Lamartine vom Balkon des Hôtel de Ville die Errichtung der Zweiten Republik. Lamartine selbst war in Wirklichkeit gegen seine eigene Proklamation. Aber die Massen der Hauptstadt, die sich noch gut an den folgenlosen Sturz Karls X. im Jahre 1830 erinnerten, waren entschlossen, sich dieses Mal nicht um die Früchte ihres Sieges betrügen zu lassen.
Die neue Provisorische Regierung, die bis zu den Wahlen die Macht ausüben sollte, bestand vollständig aus konservativen Vertretern der Bourgeoisie. Die einzige Persönlichkeit mit einer radikalen Identität war Alexandre Ledru-Rollin. Louis Blanc forderte daher, Ledru-Rollin in die Regierung aufzunehmen, erreichte aber nur seine eigene Ernennung und die eines Arbeiters mit dem Namen Albert zu Sekretären der Provisorischen Regierung.
Für die Bourgeoisie war die neue Republik eine politische Herrschaftsform, mit der sie ihre Klasseninteressen zu verteidigen gedachte. Aber die Arbeiterklasse forderte eine soziale Republik im Interesse der arbeitenden Menschen. Zunächst schürte die Provisorische Regierung Illusionen. sie strebe danach, die Lage der arbeitenden Klasse zu verbessern. Am 25. Februar versprach die neue Regierung, menschenwürdige Löhne zu garantieren. Sie versprach auch eine Garantie des Rechts auf Arbeit. Diese Ankündigung wurde mit Begeisterung begrüßt. Proudhon schrieb: “Wie wirst Du genannt, Revolution von 1848?” Die Antwort? “Mein Name ist das Recht auf Arbeit.” Eine Woche später, am 2. März, verabschiedete die Regierung ein Gesetz, das den 10-Stunden-Arbeitstag für Paris und den 11-Stunden-Tag für den Rest des Landes festlegte. Ein weiteres Gesetz verbot die „sweated labor“ (Arbeit in ‚Schwitzbuden’), eine verbreitete Praxis von Vertragsunternehmern, die aus der befristeten Anheuerung von billigen Arbeitskräften hohe Profite zogen. Wie man sieht, ist die heute, 175 Jahre später, weit verbreitete Praxis von profitablen Leiharbeitsfirmen schon damals als nicht tolerabel betrachtet worden.
Diese Gesetze waren sehr populär, aber wie sich bald zeigte, unternahm die Provisorische Regierung keine wirksamen Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung. Louis Blanc hatte ursprünglich die Einrichtung eines Ministeriums für Arbeit und Fortschritt gefordert. Die Provisorische Regierung lehnte dies ab. Stattdessen richtete sie, als Kompromiss, eine Kommission für Arbeit unter der Leitung von Louis Blanc ein, die im Palais du Luxembourg ihren Sitz hatte – daher ihre allgemein bekannte Bezeichnung als Luxembourg-Kommission. Sie hatte nur das Recht, die Arbeitsbedingungen zu untersuchen und beratend tätig zu werden. Nach einigen Wochen nahm die Frustration der Arbeiter über die Machtlosigkeit der Kommission zu.
Im Zentrum des Konflikts zwischen der Provisorischen Regierung und den Arbeitern stand die Frage der Arbeitsplätze. Louis Blanc hatte auf die Einrichtung „sozialer Werkstätten“ gedrängt, die er als eine Art kooperative Organisation verstand, in der sinnvoll gearbeitet werden sollte. Tatsächlich boten diese Nationalen Arbeitsstätten jedoch nichts anderes als sinnlose Arbeiten um der bloßen Beschäftigung willen. Sie zahlten einen Minimallohn von 2 Franc pro Tag, wenn es Arbeit gab, und 1,50 Franc, wenn es keine gab. Während dieses Arbeitsprogramm die Arbeiter nicht zufriedenstellte, war es außerhalb von Paris sehr unpopulär, besonders bei der großen ländlichen Bevölkerung, die zu der Überzeugung kam, dass sie mit ihren Steuern den Müßiggang der Pariser Arbeiter finanzierten. Nach einigen Wochen spielte dies den reaktionären bürgerlichen Politikern in die Hände, denen es sehr gelegen kam, die bäuerliche Bevölkerung des Landes gegen die Arbeiter der Hauptstadt aufzustacheln.
Als sich die erste Euphorie zu legen begann, drehte sich die politische Stimmung immer mehr gegen die Arbeiter. Lamartine und andere bürgerliche Politiker, im Februar aufgeschreckt durch die gesellschaftlichen Kräfte der Revolution, intrigierten nun permanent gegen die Arbeiter. Ein Historiker schrieb: „Der bürgerliche Führer Lamartine hatte sich mit einer Mischung aus Zuversicht und Dilettantismus in die erste Schlacht gestürzt. Nicht lange dauerte es, bis er das elende und arme Proletariat als ernsten Gegner zu sehen begann und sich mehr darauf verlegte, es zu umschmeicheln als zu überzeugen… Die Massen jagten ihm Schrecken ein.“ [Georges Duveau: 1848: The Making of a Revolution, New York 1967, S. 85 (aus dem Engl.)]
Ursprünglich sahen die Arbeiter in den kommenden Wahlen ein Mittel, eine Vertretung in der Nationalversammlung zu erhalten. Bald erkannten sie aber, dass der Ausgang der Wahlen für sie sehr nachteilig ausfallen könnte, wenn diese zu früh, noch bevor die Revolution sich auch im Bewusstsein der Landbevölkerung verankern konnte, abgehalten würden. Die Bourgeoisie rechnete ebenfalls mit dieser Tatsache und vertrat daher den Standpunkt, die Wahlen sollten so bald als möglich stattfinden. Am 17. März organisierten die Arbeiter eine Massendemonstration, um die Regierung zur Verschiebung der Wahlen zu zwingen, erreichten aber nur eine Verzögerung von zwei Wochen. Das Wahlergebnis ergab schließlich, wie von den Arbeitern befürchtet, eine überwältigende konservative Mehrheit. Die Massen der Bauern hatten am 23. April weitgehend so gewählt, wie es ihnen die lokalen Würdenträger und Priester auf dem Land vorgegeben hatten. Das politische Klima drehte sich scharf nach rechts. Die Stimmung der Bourgeoisie, in Rage über die Forderungen der Arbeiter und ihre sozialistischen Parolen, wurde in Gustave Flauberts Roman Die Erziehung der Gefühle festgehalten. „Arnoux versuchte darzulegen, dass es zwei Arten von Sozialismus gäbe, einen guten und einen schlechten. Der Industrielle sah da keinen Unterschied, da er bei dem Wort Eigentum den Kopf verlor. ‚Das ist ein in der Natur verankertes Recht! Die Kinder hängen an ihrem Spielzeug; sämtliche Völker, alle Tiere sind meiner Meinung; selbst der Löwe würde sich, wenn er sprechen könnte, zum Eigentümer erklären! So habe ich, meine Herren, mit einem Kapital von fünfzehntausend Francs angefangen! Dreißig Jahre lang, müssen Sie wissen, bin ich jeden Morgen um vier Uhr aufgestanden! Ich habe mich verteufelt abgerackert, um mein Vermögen zu bilden! Und nun will man mir sagen, ich sei nicht Herr darüber, mein Geld sei nicht mein Geld, kurz, Eigentum sei Diebstahl!’ ‚Aber Proudhon …’ ‚Lasst mich mit eurem Proudhon in Ruhe! Wenn er hier wäre, würde ich ihn, glaube ich, erwürgen.’ Er hätte ihn erwürgt. Vor allem nach den Likören war Fumichon völlig außer sich; und sein Schlagflussgesicht war kurz davor, wie eine Granate zu explodieren.“ [Gustave Flaubert: Die Erziehung der Gefühle, aus dem Französischen von Cornelia Hasting, Piper, München 2001, S. 466
Die neu gewählte Nationalversammlung provozierte die Arbeiter weiter mit immer neuen, feindlichen Maßnahmen. Die Nationalen Werkstätten gerieten in den Fokus der rechten Agitation. Alle wirtschaftlichen Probleme Frankreichs, bemühte man sich der Öffentlichkeit weiszumachen, würden durch die Nationalwerkstätten und durch die Nachgiebigkeit gegenüber den Arbeitern verursacht. Die Parole „Das kann so nicht weitergehen“ trugen im Juni zahllose Kapitalisten und Kleinbürger auf den Lippen. Die Regierung bereitete sich auf die entscheidende Kraftprobe mit den Arbeitern vor. Lamartines Überzeugung, mit den Arbeitern fertig werden zu können, wurde durch die Zusage Ledru-Rollins gefestigt, er würde im Falle einer Konfrontation mit der Arbeiterklasse auf Seiten der Regierung stehen.
Am 21. Juni gab die Regierung bekannt, dass in den Nationalwerkstätten beschäftigte Arbeiter im Alter zwischen 18 und 25 Jahren zum Militär eingezogen würden. Arbeiter, die weniger als sechs Monate in Paris wohnhaft und in den Werkstätten beschäftigt waren, würden in ihre Heimatorte zurückgeschickt. Diese Maßnahmen bedrohten die Arbeiter mit Hunger. Am 23. Juni entlud sich die Wut in offene Feindseligkeiten. In ganz Paris wurden Barrikaden errichtet und die Arbeiter erkämpften die Kontrolle über einen großen Teil der Stadt. Ihnen fehlte jedoch eine klare sozialistische Perspektive. Sie wurden durch ihre verzweifelte Lebenslage zum Kampf getrieben. Der Aufstand währte vier Tage. Die aus allen Teilen Frankreichs zusammengezogene Nationalgarde stand unter dem Kommando des Generals Cavaignac, einem Befürworter der Republik, der sich selbst nicht als reaktionär verstand. Aber er zögerte nicht, die Kanonen auf die Barrikaden richten zu lassen. Etwa 500 Aufständische kamen in den Kämpfen ums Leben. Nicht weniger als 1.000 Nationalgardisten fielen in der Schlacht. Aber das Schlimmste kam nach der Unterdrückung des Aufstandes, als die Jagd auf die Aufständischen begann und etwa 3.000 Menschen kaltblütig abgeschlachtet wurden. Weitere 12.000 Menschen kamen ins Gefängnis und viele von ihnen wurden in algerische Arbeitslager deportiert.
Alexander Herzen, einer der ersten russischen Sozialisten, verfolgte das Massaker in Paris und schrieb darüber: „Man muss wissen, dass der Mord in jenen Tagen zur heiligen Pflicht wurde und dass derjenige, dessen Hände nicht vom Proletarierblut troffen, den Bourgeois verdächtig erschien.“ [Alexander Herzen: Vom anderen Ufer, aus dem russischen Manuskript, Hamburg 1850, S. 119 (Rechtschreibung angepasst)] Dann setzte er hinzu: „Für solche Minuten hasst man jahrelang; man rächt sich sein ganzes Leben. Wehe jenen Menschen, welche solche Augenblicke verzeihen können!“ [Ebd. S. 113]
Der Schrecken der Junitage hatte den wahren Charakter der sozialen Beziehungen in der Ära des Kapitalismus und den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat entlarvt. Die Ereignisse im Frankreich des Jahres 1848 enthüllten die brutale Realität des Klassenkonfliktes, die hinter den edlen bürgerlichen Phrasen von Demokratie, Freiheit und Republik verborgen ist. Herzen schrieb 1849 über die Sozialpsychologie der bürgerlichen Liberalen: „Die Liberalen haben lange mit der Idee der Revolution schön getan und gespielt, sie haben endlich ihren 24. Februar herausgespielt. Da wurde es etwas ernster. Der Volksorkan führte sie auf die Spitze eines Turmes und zeigte ihnen, wohin sie gingen und wohin sie die Andern führten. Als sie von dieser Höhe die zu ihren Füßen gähnende Kluft wahrnahmen, erblassten sie, denn sie sahen, dass nicht nur das hineinfällt, was sie für ein Vorurteil hielten, sondern auch alles das, was ihnen als ewig und wahr erschien. Voller Angst klammerten sich die Einen an die fallenden Wände, warfen sich die Andern mitten im Wege auf die Knie und beteuerten, dass sie mit dem Geschehenden nichts gemein hätten. So kam es, dass Menschen, welche die Republik proklamiert hatten, zu Scharfrichtern der Freiheit wurden; so kam es, dass die liberalen Namen, die [zwei] Jahrzehnte lang in unsern Ohren freudig widerklangen, jetzt [als reaktionäre Abgeordnete, Verräter, Inquisitoren erschienen]. Der Geist, den sie heraufbeschworen haben, hat ihre Seele (…) mit Angst erfüllt, sie wollten Freiheit, sie wollten Republik, aber in einem kleinen beschränkten literarisch-parlamentarischen Kreise.“ [Ebd. S. 127 (mit russischer Ausgabe [1986] “Die [Liberalen] aller Länder, besonders seit der Restauration, riefen im Namen der Freiheit, im Namen der Leiden der Unterdrückten, im Namen des Hungers der Armen beständig alle Völker zur Zerstörung der feudalen Monarchie; sie freuten sich der Parforcejagden gegen die Minister, von denen sie Unmögliches forderten, sie freuten sich, als eine feudale Stütze nach der anderen fiel; doch als erst die Kuppel zu wackeln anfing, da erstarrten sie vor Entsetzen, und sahen, dass sie viel weiter gekommen waren, als sie gewünscht hatten. Die Ereignisse gaben ihnen gleich die erwünschte Gelegenheit, stehen zu bleiben, denn sie sahen jetzt nicht in Büchern, nicht in parlamentarischen Plaudereien, nicht in philanthropischen Sentimentalitäten, sondern in der Wirklichkeit den Proletarier sich hinter den eingefallenen Mauern emporrichten. Nun da war er, der unglückliche arme ‘Bruder’, über dessen Los sie vorher so geweint hatten, da war er mit seinen rußigen Händen, in seiner zerrissenen Bluse. Er wollte sich bei den ‘Brüdern’ erkundigen, worin sein Anteil an dem Errungenen, worin denn seine Freiheit und seine Gleichheit bestehe. Als die Liberalen diese freche Undankbarkeit sahen, verloren sie den Kopf und griffen zu den Waffen. [Nachdem sie die Straßen von Paris im Sturm genommen und mit Leichen übersät hatten], verbargen sie sich vor den ‘unglücklichen Brüdern’ hinter den Bajonetten des Belagerungszustandes, die Zivilisation und Ordnung rettend.“ [Ebd. S. 128 (mit russischer Ausgabe [1986] abgeglichen und Rechtschreibung angepasst)]
Marx maß der Niederschlagung des Pariser Proletariats weltgeschichtliche Bedeutung zu. Diese Konfrontation zwischen den beiden großen Klassen der modernen Gesellschaft erwuchs aus dem unvereinbaren Charakter ihrer objektiven sozialen Interessen. Die soziale Republik war eine Illusion. „Mit den Waffen in der Hand musste die Bourgeoisie die Forderungen des Proletariats widerlegen“, schrieb Marx und stellte fest: „Die wirkliche Geburtsstätte der bürgerlichen Republik, es ist nicht der Februarsieg, es ist die Juniniederlage“. [Karl Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850, in: MEW, Band 7, Berlin 1960, S. 30] „Indem das Proletariat seine Leichenstätte zur Geburtsstätte der bürgerlichen Republik machte“, bemerkte Marx, „zwang es sie sogleich, in ihrer reinen Gestalt herauszutretenals der Staat, dessen eingestandener Zweck ist, die Herrschaft desKapitals, die Sklaverei der Arbeit zu verewigen. Im steten Hinblicke auf dennarbenvollen, unversöhnbaren, unbesiegbaren Feind - unbesiegbar, weil seineExistenz die Bedingung ihres eigenen Lebens ist - musste die von allen Fesselnbefreite Bourgeoisherrschaft sofort in den Bourgeoisterrorismus umschlagen.“ [Ebd. S. 33]
Die Ereignisse in Frankreich stellten einen großen historischen Wendepunkt dar. Vor dem Februar 1848 bedeutete das Wort Revolution so viel wie den Sieg über eine Regierungsform. Aber nach dem Juni, so Marx, bedeutete Revolution so viel wie „Sturz der bürgerlichen Gesellschaft“.
Die Revolution in Frankreich wäre schon unter normalen Umständen dramatisch genug gewesen. Aber die Umstände waren 1848 alles andere als normal. Die Februarrevolution elektrisierte die unruhige Bevölkerung ganz Europas und es kam zu beispiellosen Massenkämpfen in Italien, Deutschland, Österreich und Ungarn. Größere Unruhen gab es auch in der Schweiz, Dänemark, Rumänien, Polen und Irland. Selbst in England, der Bastion bürgerlicher Macht, erreichte zu jener Zeit die radikale Bewegung der Chartisten ihren Höhepunkt.
Alle diese Kämpfe waren von großer historischer Bedeutung und ihr Ausgang hatte weit reichende Konsequenzen für die politische und soziale Evolution Europas. Aber vom Standpunkt der Entwicklung und der Wurzeln der Theorie der permanenten Revolution hatten die Ereignisse in Deutschland die größte Bedeutung.
Aus Zeitgründen möchte ich nur in Umrissen die deutsche Revolution skizzieren. Die Februarrevolution in Paris bot zweifellos den politischen und moralischen Impuls für den Märzaufstand in Berlin, welcher sich, das sei kurz angemerkt, nur einige Tage nach dem Aufstand in Wien ereignete. Die Dynastie der Hohenzollern in Preußen wurde tief erschüttert. Wären die Ereignisse dem Muster der Französischen Revolution von 1789-94 gefolgt, so hätte die deutsche Bourgeoisie den Kampf gegen die Dynastie geführt, um die wesentlichen Aufgaben ihrer bürgerlichen Revolution durchzuführen: den Sieg über die Monarchie und über alle politischen Reste des Feudalismus, die Beseitigung der alten Fürstentümer und die Schaffung eines einheitlichen Nationalstaates und die Errichtung einer demokratischen Republik.
Wie sich herausstellte, erwies sich die Bourgeoisie jedoch als unwillig und unfähig, irgendeine dieser Aufgaben zu lösen. In Deutschland wurde 1848 die bürgerliche Revolution von der deutschen Bourgeoisie verraten. Was war die Grundlage dieses Verrates? Ein bekannter Historiker, William Langer, schreibt darüber: „Marx und Engels fragten sich angesichts der Lage in Deutschland 1848, ob die Bourgeoisie irgendeines anderen Landes jemals in einer besseren Ausgangslage gewesen sei, um den Kampf gegen die bestehende Regierung zu führen. Sie meinten damit natürlich die weit verbreitete Not und Unzufriedenheit und das Versagen der Liberalen, die Gunst der Stunde für sich zu nutzen. Aber diese Liberalen, progressive Beamte, die oberen Schichten der Intellektuellen und insbesondere die neue Unternehmerklasse—zögerten in Deutschland ebenso, die Revolution heraufzubeschwören, wie überall sonst. Sie erinnerten sich an die Exzesse des Jakobinerterrors im Jahre 1793 in Frankreich, und fürchteten ebenso wie die Fürsten und Aristokraten einen großen Aufstand.“ [William L. Langer: The Rise of Modern Europe. Political and Social Upheaval, 1832-1852, New York 1969, S. 387 (aus dem Englischen)]
Es war nicht allein das Beispiel der französischen Ereignisse von 1793/94, welches die Bourgeoisie in Schrecken versetzte. Auch die aktuellen Ereignisse in Frankreich beschworen allzu deutlich das Gespenst einer sozialistischen Revolution herauf, die die Grundlagen des kapitalistischen Privateigentums und der bürgerlichen Herrschaft bedrohte. Das Handeln der politischen Repräsentanten der deutschen Bourgeoisie und der radikaleren Vertreter des Kleinbürgertums war bestimmt durch die Furcht vor dem Proletariat. Ein entschiedener Kampf gegen die Reste des Feudalismus in der wirtschaftlichen und politischen Struktur Deutschlands, mit dem Ziel der Schaffung eines einheitlichen und demokratischen Nationalstaates, hätte die Mobilisierung des Proletariats und der Bauern durch die Bourgeoisie erfordert. Aber im zurückliegenden halben Jahrhundert hatte sich im Gleichlauf mit der kapitalistischen Entwicklung die industrielle Arbeiterklasse herausgebildet und damit wurde die Mobilisierung der Massen zu einer zu großen Gefahr für die bürgerlichen Klasseninteressen selbst. Die Bourgeoisie zog es daher vor, auf Kosten des Proletariats einen Kompromiss mit der Aristokratie zu finden.
Die Verkörperung der bürgerlich-liberalen Feigheit wurde die in der Paulskirche tagende Frankfurter Nationalversammlung. Ihre Vertreter, zahllose Professoren und Advokaten, redeten endlos und erreichten so gut wie nichts von Bedeutung. Bereitwillig überließ das Parlament die Initiative der preußischen Aristokratie und wies die Anwendung revolutionärer Mittel zur Erreichung der deutschen Einheit zurück. Es überließ diese Aufgabe dem reaktionären preußischen Regime, welches diese Aufgabe später unter Bismarcks Führung löste.
Bei der Untersuchung des Verrats der Bourgeoisie an der „eigenen“ Revolution geißelten Marx und Engels auch die Rolle der links schwätzenden kleinbürgerlichen Radikalen, die sich an jedem kritischen Punkt des Kampfes gegen das Proletariat stellten. Engels charakterisierte ihre Rolle in den Ereignissen von 1848/49 mit schonungsloser Genauigkeit: „Die Geschichte aller politischen Bewegungen seit 1830 in Deutschland wie in Frankreich und England zeigt uns diese Klasse stets großprahlerisch, hochbeteuernd und stellenweise selbst extrem in der Phrase, solange sie keine Gefahr sieht; furchtsam, zurückhaltend und abwiegend, sobald die geringste Gefahr herannaht; erstaunt, besorgt, schwankend, sobald die von ihr angeregte Bewegung von andern Klassen aufgegriffen und ernsthaft genommen wird; um ihrer kleinbürgerlichen Existenz willen die ganze Bewegung verratend, sobald es zum Kampfe mit den Waffen in der Hand kommt - und schließlich infolge ihrer Unentschlossenheit stets vorzugsweise geprellt und misshandelt, sobald die reaktionäre Partei gesiegt hat.“ [Friedrich Engels: Die deutsche Reichsverfassungskampagne (1850), in MEW, Band 7, Berlin 1960, S. 112]
Im März 1850 fassten Marx und Engels die politischen Lehren der 1848er Revolution in der Adresse an den Generalrat des Bundes zusammen. Dieses außergewöhnliche Dokument versuchte auf der Grundlage der revolutionären Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre, die unabhängigen Interessen und die historische Rolle des Proletariats in der demokratischen Revolution herauszuarbeiten. Marx und Engels hielten fest, das Proletariat müsse unbedingt, unter allen Bedingungen, seine politische Unabhängigkeit von allen bürgerlichen Parteien und von allen Parteien und Organisationen der kleinbürgerlichen Demokratie bewahren. Sie hoben den zugrunde liegenden sozialen Konflikt hervor, in dem die Arbeiterklasse mit der Mittelklasse steht. „Weit davon entfernt, die ganze Gesellschaft zugunsten des revolutionären Proletariats umzugestalten, strebt die demokratische Kleinbourgeoisie danach, Veränderungen in den sozialen Verhältnissen zu erreichen, die die gegebene Gesellschaftsform so akzeptabel und komfortabel wie möglich für sie selbst macht …
Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, dass die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und dass wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind.“ [Karl Marx/Friedrich Engels: Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, in: MEW, Band 7, Berlin 1960, S.247-248] Marx und Engels beendeten ihre Adresse mit der Erklärung, der Schlachtruf des Proletariats müsse „die Revolution in Permanenz“ sein.
Mehr als ein halbes Jahrhundert später wurden die Erfahrungen und Lektionen des Jahres 1848 von den großen Theoretikern der Russischen Sozialdemokratischen Partei und der Zweiten Internationale analysiert und überarbeitet, als sie sich darum bemühten, die politischen Triebkräfte und die historischen Aufgaben der Russischen Revolution zu verstehen.
Die tiefste Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren wirft heute alle ungelösten Fragen der Vergangenheit wieder auf. Das kapitalistische Weltsystem krankt an denselben unlösbaren Widersprüchen, die zwei Weltkriege, zahlreiche regionale militärische Konflikte, den Faschismus und andere brutale Diktaturen hervorgebracht haben - an der Unvereinbarkeit von Weltwirtschaft und Nationalstaat und dem Gegensatz von Privateigentum und gesellschaftlicher Produktion. Es gibt keinen Ausweg aus dieser Krise auf kapitalistischer Grundlage. Wie im vorigen Jahrhundert stellt sie die Menschheit vor die Alternative: Sozialismus oder Barbarei.
Im Mittelpunkt der Krise steht der Niedergang der USA, deren wirtschaftliche Macht 1945 - nach zwei Weltkriegen und hundert Millionen Kriegstoten - als Fundament für einen neuen kapitalistischen Aufschwung diente. Die USA kompensieren den Verlust ihrer wirtschaftlichen Hegemonie seit langem, indem sie ihre militärische Übermacht einsetzen und den Finanzsektor auf Kosten der Industrieproduktion ausdehnen. Das ist der Hintergrund der gegenwärtigen Krise, aus der es keinen friedlichen Ausweg gibt. Die herrschende Klasse der USA ist ebenso wenig bereit, freiwillig auf ihre Macht und ihren Reichtum zu verzichten, wie jede andere herrschende Klasse in der Geschichte. Ihr Bemühen, die Kosten der Krise auf die Abeiterklasse und ihre internationalen Rivalen abzuwälzen, und die Reaktion ihrer Rivalen in Europa und Asien, rufen heftige Klassenkämpfe und internationale Konflikte hervor.
Die globale Entwicklung der Produktivkräfte hat nicht nur die Krise des Kapitalismus vertieft, sie hat auch die gesellschaftliche Macht der Arbeiterklasse gestärkt und die objektiven Voraussetzungen für den Sturz des Kapitalismus und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft geschaffen. Bahnbrechende Fortschritte der Informations- und Kommunikationstechnologie haben zu einer nie da gewesenen Integration der Weltwirtschaft geführt, die Arbeiterklasse kontinentübergreifend verbunden und zahlenmäßig gestärkt. Nie zuvor lebte ein derart hoher Prozentsatz der Menschheit in Städten und war direkt in den globalen Produktionsprozess eingebunden. Länder wie China, die vor hundert Jahren noch vorwiegend ländlich geprägt waren, zählen heute zu den wichtigsten Industrieregionen der Welt. Die PSG stellt sich die Aufgabe, die Arbeiterklasse politisch und theoretisch auf die kommenden Klassenkämpfe vorzubereiten und sie mit einem sozialistischen Programm zu bewaffnen, das auf die Lehren vergangener Kämpfe aufbaut. Als Mitglied des Internationalen Komitees der Vierten Internationale ist sie die deutsche Sektion der 1938 von Leo Trotzki gegründeten Weltpartei der sozialistischen Revolution.
Vier Jahrzehnte nachdem Marx und Engels das Kommunistische Manifest veröffentlicht und den Sozialismus auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt hatten, entwickelte sich die deutsche Sozialdemokratie unter dem Einfluss des Marxismus zur weltweit ersten Massenpartei der Arbeiterklasse. Sie leistete eine historische Pionierarbeit, deren Ergebnisse jahrzehntelang nachwirken sollten, auch nachdem sich die SPD selbst längst vom Marxismus abgewandt hatte. Sie formte die Arbeiterklasse zu einer politisch bewussten Klasse und entwickelte in der Arbeiterklasse eine breite, alle Lebensbereiche umfassende sozialistische Kultur. Sowohl die Kommunistischen Parteien wie die Vierte Internationale stützten sich auf diese Vorarbeit der SPD.
Die Notwendigkeit einer selbständigen Arbeiterpartei ergab sich aus der Niederlage der demokratischen Revolution von 1848, die den unversöhnlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat und die politische Ohnmacht des demokratischen Kleinbürgertums zeigte. Die bürgerlich-demokratische Revolution fand in Deutschland mit Verspätung statt, weil die bis ins 19. Jahrhundert bestehende Kleinstaaterei die Entfaltung von Handel und Industrie gebremst hatte. Als die Revolution 1848 schließlich ausbrach, war der Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat bereits derart tief, dass ein gemeinsames Vorgehen gegen den preußischen Absolutismus nicht mehr möglich war. Insbesondere nach der ersten großen Schlacht zwischen Proletariat und Bourgeoisie, die im Juli 1848 in Paris entbrannte, fürchtete das liberale Bürgertum die Bedrohung seines Eigentums durch die Revolution weit mehr als die politische Rechtlosigkeit unter preußischer Herrschaft und fiel der Revolution in den Rücken. Das demokratische Kleinbürgertum - die aus Handwerkern, Kleinhändlern und Bauern bestehende Masse der Nation - erwies sich unfähig, eine eigenständige politische Rolle zu spielen und versagte kläglich. Die erste frei gewählte Nationalversammlung, die in der Frankfurter Paulskirche zusammentrat, hatte - in den Worten von Engels - "vom ersten Tag ihres Bestehens mehr Angst vor der geringsten Volksbewegung als vor sämtlichen reaktionären Komplotten sämtlicher deutscher Regierungen zusammengenommen".
In ihrer Analyse der Revolution von 1848 betonten Marx und Engels, dass sich die Arbeiterklasse unabhängig vom demokratischen Flügel der Bourgeoisie organisieren müsse. Selbst unter Verhältnissen, "wo die demokratischen Kleinbürger überall unterdrückt sind", wo sie "dem Proletariat Einigung und Versöhnung predigen" und "nach der Herstellung einer großen Oppositionspartei" streben, müsse eine Vereinigung mit ihnen "auf das entschiedenste zurückgewiesen werden", schrieben sie. Die demokratischen Kleinbürger strebten danach, "die Arbeiter in eine Parteiorganisation zu verwickeln, in der die allgemein sozial-demokratischen Phrasen vorherrschend sind, hinter welchen ihre besonderen Interessen sich verstecken, und in der die bestimmten Forderungen des Proletariats um des lieben Friedens willen nicht vorgebracht werden dürfen. Eine solche Vereinigung würde allein zu ihrem Vorteile und ganz zum Nachteile des Proletariats ausfallen. Das Proletariat würde seine ganze selbständige, mühsam erkaufte Stellung verlieren und wieder zum Anhängsel der offiziellen bürgerlichen Demokratie herabsinken." Sie forderten eine selbständige Organisation der Arbeiterpartei, in der "die Stellung und Interessen des Proletariats unabhängig von bürgerlichen Einflüssen diskutiert werden".
In einer weiteren Passage, auf die sich Leo Trotzki später bei der Ausarbeitung der Theorie der permanenten Revolution stützen sollte, erklärten Marx und Engels: "Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, dass die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und dass wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind. Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen."
Die Niederlage der Revolution von 1848 drängte die Arbeiterklasse zeitweilig in den Hintergrund. Staatliche Unterdrückungsmaßnahmen, die 1852 im Kölner Prozess gegen den Bund der Kommunisten gipfelten, behinderten ihre politische Organisation. Die Jahre der politischen Reaktion waren jedoch vom Siegeszug der industriellen Revolution und einem raschen Anwachsen der Arbeiterklasse geprägt. Bankwesen, Industrie, Bergbau, Schienenverkehr, Schifffahrt und Überseehandel erlebten einen gewaltigen Aufschwung. In den 1860er Jahren entstanden mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) Ferdinand Lassalles und dem Verband Deutscher Arbeitervereine (VDAV) August Bebels eigenständige politische Arbeiterorganisationen. Sie schlossen sich 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) zusammen, die sich im Jahre 1890 in SPD umbenannte.
Innerhalb der SAP trat der Marxismus dann seinen eigentlichen Siegeszug an. Bebels Fraktion, die mit dem Marxismus identifiziert wurde, gewann zunehmend an Autorität. Obwohl die Partei zwischen 1878 und 1890 durch Bismarcks Sozialistengesetze verboten war, politisch verfolgt wurde und nur zu Reichs- und Landtagswahlen legal antreten durfte, entwickelte sie sich zu einer mächtigen gesellschaftlichen Kraft. Ihre Wahlerfolge und ein Massenstreik, der 1889/90 Deutschland erschütterte, führten schließlich zum Rücktritt Bismarcks und zum Fall der Sozialistengesetze. Nun entwickelte sich die SPD zur größten Partei Deutschlands. Sie erzog die Arbeiterklasse im Sinne des Marxismus und wurde für Hunderttausende Arbeiter zum Mittelpunkt ihres gesamten Lebens. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht publizierte sie über 70 Tageszeitungen und zahlreiche wöchentliche Publikationen, die von sechs Millionen Menschen gelesen wurden. Ihre Verlage brachten in hohen Auflagen Bücher zur Geschichte, Politik und Kultur heraus. Sie verfügte über eine eigene Parteischule und 1.100 Bibliotheken. Sie koordinierte ein riesiges Netz von Freizeitaktivitäten vom Turn- bis zum Gesangsverein.
Die SPD verteidigte nicht nur die sozialen Belange der Arbeiter, sie war auch die einzige Partei Deutschlands, die konsequent für demokratische Rechte eintrat und sich scharf gegen den Antisemitismus wandte. Das Kleinbürgertum und die bürgerliche Intelligenz waren 1848 der demokratischen Revolution in den Rücken gefallen und stellten sich nach der Einigung des Reichs durch "Blut und Eisen" mehrheitlich hinter Bismarck und den wilhelminischen Staat. Im Unterschied zu England, Frankreich und den USA gibt es in Deutschland keine bürgerlich demokratische Tradition. Der Kampf für demokratische Rechte war von Anfang an untrennbar mit der Arbeiterbewegung verbunden. Die Arbeiterklasse stand einem starken, feindlichen Staat gegenüber. Das bloße Eintreten für soziale Rechte setzte den Kampf für politische Rechte voraus. Daher ging in Deutschland die Gründung der Arbeiterpartei dem Aufbau der Gewerkschaften voraus. Einflussreiche Gewerkschaften entstanden erst anschließend, auf Initiative und unter Führung der SPD.
Die SPD war nie eine homogene Partei. 1875 machte der Vereinigungsparteitag von Gotha zahlreiche Zugeständnisse an die Anhänger des 1864 verstorbenen Ferdinand Lassalle. Marx übte scharfe Kritik am Gothaer Programm, dem er vorwarf, es sei "durch und durch vom Untertanenglauben der Lassalleschen Sekte an den Staat verpestet". Lassalle wollte den Sozialismus mit Hilfe des preußischen Staats errichten, den er als über den Klassen stehende Institution betrachtete. Er hatte sich sogar heimlich mit Bismarck getroffen, um dessen Konflikte mit der Bourgeoisie im Interesse der Arbeiterklasse auszunutzen. Er rechtfertigte diese opportunistische "Allianz mit den absolutistischen und feudalen Gegnern wider die Bourgeoisie" (Marx) damit, dass gegenüber der Arbeiterklasse "alle andren Klassen nur eine reaktionäre Masse" seien. Diese ultralinke Phrase verwischte den Unterschied zwischen demokratischem Kleinbürgertum, liberaler Bourgeoisie und feudaler Reaktion. Sie fand sich auch im Gothaer Programm wieder und wurde von Marx empört zurückgewiesen.
Nach Gotha gerieten Lassalles Anhänger in die Defensive und der Marxismus setzte sich als offizielle Doktrin der Partei durch. Doch nach der Aufhebung der Sozialistengesetze erhielt Lassalles Perspektive, unter den Fittichen des preußischen Despotismus eine Art nationalen Sozialismus zu verwirklichen, neuen Auftrieb. Im Juni 1891 hielt der bayrische Sozialdemokrat Georg von Vollmar im Münchner Eldorado-Palast zwei viel beachtete Reden, in denen er die Partei aufforderte, die Schlagworte der Vergangenheit fallen zu lassen und zu einer praxisorientierten demokratischen Reformbewegung zu werden. Der Partei sei am besten gedient durch Bemühungen, "auf der Grundlage der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung Verbesserungen wirtschaftlicher und politischer Art herbeizuführen". Vollmar wandte sich ausdrücklich gegen den Internationalismus der SPD. Wer kein Träumer sei, müsse anerkennen, "dass die Verschiedenheiten des Volkstums und der Gemeinwesen tief begründet" seien, sagte er und warnte vor "einer widersinnigen Verneinung eines berechtigten, gesunden nationalen Lebens und der daraus auch für uns erwachsenden Pflichten". Er lobte den Dreibund, das imperialistische Bündnis zwischen Deutschland, Österreich und Italien, als eine dem Frieden dienende Kraft und drohte, jede Macht, die den Frieden durch einen Angriff auf deutschen Boden breche, werde sich der Streitmacht der deutschen Arbeiterklasse gegenüber sehen.
Vollmars Eldorado-Reden wurden zum Manifest des Revisionismus, den Eduard Bernstein sieben Jahre später in seinem Buch Die Voraussetzungen des Sozialismus theoretisch untermauerte. Bernstein behauptete, die Entwicklung des Kapitalismus habe die ökonomische Analyse von Marx widerlegt, und verspottete dessen Prognose, der Kapitalismus werde aufgrund seiner inneren Widersprüche in eine tiefe Krise geraten, als "sozialistische Katastrophitis". Der Kapitalismus habe "Anpassungsmittel" entwickelt, mit denen er periodische Krisen dämpfen und überwinden könne. Der Sozialismus sei keine historische Notwendigkeit, sondern das Endresultat allmählicher Reformen im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft. Er sei kein Ergebnis des Klassenkampfs, sondern das Produkt moralischer und humanistischer, mit Kants kategorischem Imperativ begründeter Grundsätze.
Damit wies Bernstein die sozialistische Perspektive selbst zurück. Wie Rosa Luxemburg in ihrer Antwort auf Bernstein zeigte, führt die Ablehnung der marxistischen Krisentheorie zwangsläufig zur Preisgabe des Sozialismus. Luxemburg schrieb, entweder folge die sozialistische Umgestaltung aus den objektiven Widersprüchen der kapitalistischen Ordnung oder "es sind die ‚Anpassungsmittel’ wirklich solche, die einem Zusammenbruch des kapitalistischen Systems vorbeugen, also den Kapitalismus existenzfähig machen, also seine Widersprüche aufheben, dann hört aber der Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein, und er ist dann alles, was man will, nur nicht ein Ergebnis der materiellen Entwicklung der Gesellschaft." Wenn Bernstein in Bezug auf den Gang der kapitalistischen Entwicklung Recht habe, verwandle "sich die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in eine Utopie".
Bernsteins Thesen wurden zwar auf Parteikongressen regelmäßig zurückgewiesen, doch in der Praxis gewannen sie zunehmend an Gewicht. Nach der Jahrhundertwende mehrten sich die Fälle, in denen die SPD-Führung oder Teile davon zu wichtigen politischen Fragen rechte Standpunkte einnahmen oder einer klaren Stellungnahme auswichen. In der Partei tat sich eine tiefe Kluft auf, deren Extreme auf der Linken Rosa Luxemburg und auf der Rechten die Gewerkschaftsführer bildeten. Letztere erachteten die revolutionäre Theorie der Partei als Gefahr für ihre organisatorischen Erfolge und mühsam erkämpften sozialen Verbesserungen. Die Schriften Rosa Luxemburgs, die einen systematischen Kampf gegen den wachsenden Opportunismus führte, lesen sich wie eine Chronologie der schleichenden Rechtsentwicklung der Partei.
Als die russische Revolution von 1905 die Frage des politischen Massenstreiks aufwarf, lehnten ihn die Gewerkschaftsführer mit den Worten "Generalstreik ist Generalunsinn" ab und entfachten eine Hetzkampagne gegen Luxemburg, die den Massenstreik befürwortete. Der Kölner Gewerkschaftskongress stand 1905 unter der Devise "Die Gewerkschaften brauchen vor allem Ruhe", selbst die Diskussion der Massenstreikfrage wurde als gefährliches und sinnloses Spiel mit dem Feuer verdammt. Die Gewerkschaftsführer "fürchteten, ihre taktische Unabhängigkeit von der Partei zu verlieren, fürchteten die Aufzehrung des großen Kriegsschatzes, den sie angesammelt hatten, fürchteten sogar die Vernichtung ihrer Organisation durch die Staatsgewalt bei einer solchen Machtprobe. Im übrigen waren sie überhaupt gegen ‚Experimente’, die ihr sehr kunstvolles System des täglichen Kleinkrieges mit dem Unternehmertum stören konnten."
Weitere Konflikte entbrannten über die Budgetbewilligung durch sozialdemokratische Abgeordnete in Süddeutschland und die Anpassung der SPD an den deutschen Imperialismus, die sich in der Haltung zur deutschen Kolonialpolitik und der passiven Reaktion der Partei auf die militärische Aufrüstung äußerte.
Die Parteiführung um August Bebel und Karl Kautsky rückte mit dem Herannahen des Weltkriegs immer deutlicher von Rosa Luxemburg ab und wich einem Konflikt mit den Gewerkschaftsführern aus. Als dann der Krieg 1914 ausbrach, hatten die opportunistischen Elemente in der Partei die Oberhand. Sie hatten den Krieg - in Trotzkis Worten "der größte Zusammenbruch eines an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehenden ökonomischen Systems, den die Geschichte kennt" - nicht vorhergesehen und reagierten, indem sie vor dem deutschen Imperialismus kapitulierten. Nachdem die SPD noch kurz vorher auf internationalen Kongressen die internationale Solidarität beschworen hatte, bekannte sie sich nun zur Vaterlandsvereidigung und verschob den Sozialismus in eine ferne Zukunft. Sie votierte im Reichstag für die Kriegskredite und stellte ihren gesamten Apparat in den Dienst der imperialistischen Kriegspropaganda.
Auch alle anderen sozialdemokratischen Parteien - mit Ausnahme der serbischen Partei und der russischen Bolschewiki - bekannten sich zur Vaterlandsverteidigung. Das besiegelte den Zusammenbruch der Zweiten Internationale. Ihr Übergang ins Lager der herrschenden Klasse war vollständig und unwiderruflich. Als bei Kriegsende revolutionäre Kämpfe aufflammten, verteidigten die sozialdemokratischen Parteien die bürgerliche Ordnung mit allen Mitteln. In Deutschland ließ die SPD auf aufständische Arbeiter schießen. Sie verbündete sich mit der Obersten Heeresleitung, um die Revolution zu unterdrücken und ihre Führer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu ermorden. Das sozialdemokratische Zentralorgan Vorwärts warb für die Freikorps, die paramilitärischen Mörderbanden, aus denen sich später Hitlers SA rekrutierte. Als die Weimarer Republik später in die Krise geriet, unterstützte die SPD Brünings Notverordnungen, wählte Hindenburg zum Reichspräsidenten und half so, Hitler den Weg an die Macht zu bahnen.
Dieser historische Verrat, dessen Folgen den weiteren Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts maßgeblich bestimmen sollte, hatte objektive Ursachen in den historischen Bedingungen der vorangegangenen Epoche. Der Aufstieg der SPD hatte sich vor dem Hintergrund einer lang anhaltenden Phase der kapitalistischen Expansion vollzogen. Theoretisch marschierte sie zwar unter dem Banner des Marxismus, doch ihre Praxis war ganz auf die täglichen Bedürfnisse der Arbeiter und die Entwicklung der eigenen Kräfte ausgerichtet - die Erhöhung der Mitgliederzahl, die Füllung der Kassen und die Entwicklung der Presse. Obwohl der Revisionismus im theoretischen Streit unterlag, lebte er in der Partei fort und nährte sich von ihrer Praxis und Psychologie. "Die kritische Widerlegung des Revisionismus als einer Theorie bedeutete durchaus nicht seine taktische und psychologische Überwindung", schrieb Trotzki. "Die Parlamentarier, Gewerkschaftler und Genossenschaftler fuhren fort zu leben und zu wirken in der Atmosphäre allseitigen Possibilismus, praktischer Spezialisierung und nationaler Beschränktheit."
Die Katastrophe von 1914 war aber nicht unausweichlich. Die objektive Lage vor dem Weltkrieg förderte nicht nur den Opportunismus, sondern befruchtete auch die Entstehung revolutionärer Strömungen in der Zweiten Internationale und in der Arbeiterklasse als Ganzes. Revolutionäre Marxisten wie Lenin, Trotzki und Luxemburg verstanden die Widersprüche des Imperialismus weit besser und tiefer als Opportunisten wie Bernstein, die sich von den oberflächlichen Eindrücken des wirtschaftlichen Aufschwungs und gewerkschaftlicher Erfolge blenden ließen. Im systematischen Kampf gegen den Opportunismus bereiteten sie die Arbeiterklasse auf die kommenden Erschütterungen vor. Niemand begriff dies besser als Lenin, der den Opportunismus auf theoretischer, politischer und organisatorischer Ebene unnachgiebig bekämpfte und bereits 1903 mit den russischen Opportunisten, den Menschewiki, brach. Lenin entwickelte den Marxismus in einer ständigen Auseinandersetzung mit dem politischen und ideologischen Druck bürgerlicher und kleinbürgerlicher Tendenzen. Er betrachtete den Konflikt zwischen rivalisierenden Strömungen nicht als subjektiv motivierten Kampf um Einfluss über die Arbeiterklasse, sondern als objektiven Ausdruck realer Veränderungen in den Klassenbeziehungen - sowohl zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie, als auch zwischen verschiedenen Schichten innerhalb der Arbeiterklasse. Das bereitete die Bolschewiki auf den Krieg und die folgenden revolutionären Erschütterungen vor.
Die Bolschewiki traten nicht nur den Vaterlandsverteidigern entgegen, sondern auch den Pazifisten, die sich auf die Losung nach Frieden beschränkten. Lenin trat dafür ein, den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln, d.h. er verband den Kampf gegen den Krieg mit der Vorbereitung der sozialistischen Revolution. 1917 wurde diese Perspektive in Russland bestätigt. Die Februarrevolution brachte die Menschewiki und Sozialrevolutionäre an die Macht. Sie setzten den Krieg im Interesse der russischen Bourgeoisie und ihrer imperialistischen Verbündeten fort und gerieten in scharfen Konflikt mit den Friedensbestrebungen der Arbeiter, Bauern und Soldaten, die sich den Bolschewiki zuwandten. Diese organisierten im Oktober einen Aufstand, der die Provisorische Regierung stürzte und die Macht in die Hände der Sowjets legte. Die Sowjetregierung stellte die Kriegsteilnahme sofort ein und veröffentlichte die Geheimverträge über die imperialistischen Kriegsziele.
Der Sieg der Oktoberrevolution kennzeichnete einen historischen Wendepunkt. Erstmals ergriff in Russland die Arbeiterklasse unter marxistischer Führung die Macht und behauptete sie. Ungeachtet ihrer späteren Degeneration bewies die Oktoberrevolution, dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, die kapitalistische Ordnung zu stürzen und das Fundament für eine höhere, fortschrittlichere Gesellschaft zu legen. Sie wurde zum Ansporn für revolutionäre Erhebungen auf der ganzen Welt. Der barbarische Charakter des Kriegs, die Empörung über den Verrat der Sozialdemokratie und die Folgen des wirtschaftlichen Niedergangs radikalisierten breite Schichten von Arbeitern. Sie orientierten sich an den revolutionären Marxisten, die sich von Anfang an gegen den Krieg gestellt hatten. Im März 1919 fand in Moskau der Gründungskongress der Dritten oder Kommunistischen Internationale statt. Sie erklärte kategorisch, dass für zentristische und opportunistische Elemente kein Platz in ihren Reihen sei, und entwickelte das Programm, die Strategie und die Taktik der sozialistischen Weltrevolution als praktische Aufgabe der internationalen Arbeiterklasse.
Der Erste Weltkrieg und die Oktoberrevolution markierten den Beginn einer neuen historischen Epoche, der Epoche der Todeskrise des Kapitalismus und der sozialistischen Weltrevolution. Die folgenden drei Jahrzehnte waren durch eine ununterbrochene Folge erbitterter Klassenkämpfe und militärischer Auseinandersetzungen geprägt. Dies erforderte eine andere Art von Partei, als sie die Zweite Internationale aufgebaut hatte. Es war nicht mehr möglich, sich theoretisch zu einem Maximalprogramm, zum Internationalismus und zur Revolution zu bekennen, während die Tagespraxis in organisatorischer Routine verharrte und auf ein Minimalprogramm, auf Reformen im nationalen Rahmen beschränkt blieb. Die neuen Parteien mussten in der Lage sein, schnell auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren, ihre Taktik der revolutionären Strategie unterzuordnen, diszipliniert zu handeln und einen unversöhnlichen Kampf gegen den Opportunismus zu führen.
Trotzki fasste später den Unterschied zwischen den Parteien der Zweiten und der Dritten Internationale mit den Worten zusammen: "In einer Zeit des wachsenden Kapitalismus konnte selbst die beste Parteileitung nicht mehr tun, als die Ausformung der Arbeiterpartei beschleunigen. Umgekehrt konnten Fehler der Führung diesen Prozess nur verzögern. Die objektiven Voraussetzungen für eine proletarische Revolution reiften nur langsam heran, und die Arbeit der Partei behielt einen vorbereitenden Charakter. Jetzt dagegen legt jede neue scharfe Wendung der politischen Situation nach links die Entscheidung in die Hände der revolutionären Partei. Verpasst sie die kritische Situation, so schlägt diese in ihr Gegenteil um. Unter diesen Bedingungen bekommt die Rolle der Parteiführung eine ausschlaggebende Bedeutung. ... Die Rolle des subjektiven Faktors kann in einer Periode der langsamen organischen Entwicklung eine durchaus untergeordnete bleiben. ... Sobald aber die objektiven Voraussetzungen herangereift sind, wird der Schlüssel zu dem ganzen historischen Prozess in die Hände des subjektiven Faktors, d.h. der Partei gelegt. Der Opportunismus, der bewusst oder unbewusst im Geiste der Vergangenheit lebt, neigt immer dazu, die Rolle des subjektiven Faktors, d.h. die Bedeutung der Partei und der revolutionären Führung zu unterschätzen. ... Eine solche Einstellung, die überhaupt falsch ist, wirkt sich in dieser Epoche direkt vernichtend aus."
In Deutschland bildete sich auf Initiative Rosa Luxemburgs noch am Abend des 4. August 1914 die Gruppe Internationale. Sie bezog in Die Internationale und den illegal verbreiteten Spartakusbriefen (daher der Name Spartakusbund) entschieden Stellung gegen den Krieg und verfügte mit Karl Liebknecht, der die Kriegskredite ablehnte, über einen Abgeordneten im Reichstag. Der erste Leitartikel von Die Internationale aus der Feder Rosa Luxemburgs begann mit den Worten: "Am 4. August 1914 hat die deutsche Sozialdemokratie politisch abgedankt, und gleichzeitig ist die sozialistische Internationale zusammengebrochen. Alle Versuche, diese Tatsache zu leugnen, zu verschleiern oder zu beschönigen, haben, gleichviel aus welchen Motiven sie hervorgehen mögen, objektiv nur die Tendenz, jene fatalen Selbsttäuschungen der sozialistischen Parteien, jene inneren Gebrechen der Bewegung, die zum Zusammenbruch geführt hatten, zu verewigen, zum bewussten Normalzustand zu erheben, die sozialistische Internationale auf die Dauer zur Fiktion, zur Heuchelei zu machen." Es folgte eine scharfe Abrechnung mit der rechte Parteimehrheit und Karl Kautsky, dem Vertreter des "marxistischen Zentrums" oder "Theoretiker des Sumpfes", wie es Luxemburg ausdrückte.
Der von Kautsky verkörperte Zentrismus erwies sich als weit größeres Hindernis für die revolutionäre Entwicklung der Arbeiterklasse als die weitgehend diskreditierte Politik der rechten SPD-Führung. Er schwankte zwischen Opposition und Anpassung, passte sich in Worten der radikalen Stimmung der Arbeiter an, während er in der Praxis dem rechten Kurs der SPD-Führung zuneigte. Im April 1917 organisierten sich die Zentristen in der Unabhängigen SPD, nachdem zuvor mehrere Reichstagsabgeordnete aus der SPD ausgeschlossen worden waren, weil sie sich geweigert hatten, die Kriegskredite zu verlängern. Die USPD wurde von den Reichstagsabgeordneten Hugo Haase und Georg Ledebour geführt. In ihren Reihen fanden sich viele führende Köpfe der Vorkriegssozialdemokratie, wie der Revisionist Eduard Bernstein, der Ökonom und spätere Finanzminister Rudolf Hilferding und der Theoretiker Karl Kautsky. Als sich im November 1918 die Arbeiter- und Soldatenräte erhoben und den Kaiser zur Abdankung zwangen, wandte sich die USPD gegen die Errichtung einer Räterepublik und trat der Regierung des Mehrheitssozialdemokraten Friedrich Ebert bei. Während sich Ebert mit der Obersten Heeresleitung verbündete, die Räte entmachtete, Arbeiteraufstände niederschlug und die bürgerliche Ordnung rettete, diente ihm die USPD als linkes Feigenblatt.
Programm und Politik der USPD waren von Unentschlossenheit, Kompromissen und Halbheiten geprägt. Sie standen in krassem Gegensatz zur Stimmung der Arbeiter, die in Berlin nur zehn Tage nach dem Gründungsparteitag der USPD erstmals in einen Massenstreik gegen den Krieg traten. Die Gegnerschaft der USPD gegen den Krieg beschränkte sich auf passive Aufrufe zum Frieden. Revolutionäre Initiativen lehnte sie ab. Nach ihrem Eintritt in die Regierung Ebert charakterisierte Rosa Luxemburg die USPD mit den Worten: "Sie trottete stets im Hintertreffen der Ereignisse und der Entwicklung, nie schritt sie an ihrer Spitze. Sie hat es nie vermocht, zwischen sich und den Abhängigen einen grundsätzlichen Grenzrain zu ziehen.
Jede schillernde Zweideutigkeit, die zur Verwirrung der Massen führte: Verständigungsfrieden, Völkerbund, Abrüstung, Wilson-Kultus, alle die Phrasen der bürgerlichen Demagogie, die über die nackten, schroffen Tatsachen der revolutionären Alternative während des Krieges verdunkelnde Schleier breiteten, fanden ihre eifrige Unterstützung. Die ganze Haltung der Partei pendelte hilflos um den Kardinalwiderspruch, dass sie einerseits die bürgerlichen Regierungen als die berufenen Mächte fortgesetzt zum Friedensschluss geneigt zu machen suchte, andererseits der Massenaktion des Proletariats das Wort redete. Ein getreuer Spiegel der widerspruchsvollen Praxis ist die eklektische Theorie: ein Sammelsurium radikaler Formeln mit rettungsloser Preisgabe des sozialistischen Geistes. [...] Bis zum Ausbruch der Revolution war es eine Politik von Fall zu Fall, ohne geschlossene Weltanschauung, die Vergangenheit und Zukunft der deutschen Sozialdemokratie aus einer Lichtquelle beleuchtet, die für die großen Linien der Entwicklung einen Blick gehabt hätte."
Theoretischer Kopf der USPD war Karl Kautsky, der ihre zentristische Politik mit historischen Versatzstücken untermauerte und die russische Oktoberrevolution denunzierte. Er akzeptierte "vom Marxismus alles, ausgenommen die revolutionären Kampfmittel, ihre Propagierung und Vorbereitung, die Erziehung der Massen gerade in dieser Richtung", wie Lenin spöttisch bemerkte. Im Mittelpunkt von Kautskys Angriff auf den Marxismus stand die Zurückweisung der Diktatur des Proletariats. Zu einem Zeitpunkt, an dem der Krieg den demokratischen Staat überall als brutale Form der bürgerlichen Klassenherrschaft bloßstellte, sprach Kautsky der Arbeiterklasse das Recht ab, mit revolutionären Mitteln die Macht zu erobern und ihre eigene Herrschaft zu errichten. Nach dem Zusammenbruch des offiziellen Sozialpatriotismus war der internationale Kautskyanismus zum wichtigsten Faktor geworden, auf den sich die kapitalistische Gesellschaft stützte, wie Trotzki feststellte.
Die Niederlage des Zarenreiches gegen England und Frankreich im Krimkrieg 1856 hatten schonungslos offengelegt, dass eine grundlegende wirtschaftliche und soziale Erneuerung nötig war. Es folgten die Großen Reformen, die die Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861, die Justizreform im Jahre 1864 und die Einrichtung von Selbstverwaltungsorganen auf Gouvernementebene, den Semstwos, im Jahre 1864 umfasste. Dazu gehörte auch eine Strategie zum Aufbau einer eigenen Schwerindustrie, wie es sie in Großbritannien gab.
Die bisherige Beschränkung auf Textilindustrie und sonstige Leichtindustrie sollte überwunden und Russland in die Lage versetzt werden, selbst Lokomotiven, Dampfmaschinen und Kanonen herzustellen. Die daraufhin neu erbauten Fabriken, zumeist große Unternehmen, die dank ausländischem Kapital und staatlichen Subventionen errichtet wurden, zogen immer mehr Arbeiter aus den ländlichen Regionen in die neuen Industriezentren. Diese neue Verstädterung sollte durch die Beibehaltung der Passkontrolle durch die Dorfgemeinden aufgehalten werden, konnte aber nicht verhindern, dass die Zahl von Abwanderern in die Städte schnell anwuchs. Daraufhin wurde beides zum Problem, zum einen die große Anziehungskraft der höheren Löhne in den Fabriken (Städte) und im Gegensatz dazu die abstoßende Kraft einer zunehmenden Überbevölkerung auf dem Land. Dies machte alle Gegenmaßnahmen der zaristischen Autokratie zunichte, es entstanden Arbeitervororte, Massenelend und eine Soziale Frage in den wenigen, aber umso größeren Städten des Zarenreiches.
Auf die Entstehung eines Vierten Standes war die zaristische Regierung schlecht vorbereitet. Die neue Arbeiterschaft passte nicht in die im Zarenreich bestehende agrargesellschaftliche Ordnung. Sie blieb ein Fremdkörper, den trotz partieller Modernisierungsbereitschaft weder die Autokratie akzeptierte noch der Adel, der den kleinsten Anteil an der Bevölkerung des Zarenreiches darstellte und den Staat weiterhin trug.
Der wirtschaftliche, soziale und administrative Wandel ging zumindest in den Städten mit einer Art kulturellen Modernisierung einher. Russland schickte sich an, eine konkurrenzfähige Industrie aufzubauen, um den Anforderungen des Krieges zu entsprechen, die Gesetzeskonformität durch ein zeitgemäßes Justizsystem zu befördern und durch Dezentralisierung die Effizienz der regionalen Verwaltungen zu verbessern, und musste deshalb die Breitenqualifikation deutlich erhöhen. In der Tat leisteten die Regionalverwaltungen, die Semstwos, beim Aufbau eines Bildungswesens und in der öffentlichen Gesundheitsvorsorge Erstaunliches. Der Staat baute die Universitäten aus und zog eine Bildungselite aus Lehrern, Ärzten, Juristen und Ingenieuren heran, die in erheblichem Maße unter den Einfluss westeuropäischer politischer Ideen geriet. Diese galten zu dieser Zeit als fortschrittlich, an ihnen richteten viele ihre Lebensziele und Gewohnheiten aus. Es bildete sich eine Intelligenzija heraus, die für Reformen aufgeschlossen war und es ablehnte, sich in ihrem öffentlichen Handeln vom Staat einschränken zu lassen. Es wäre aus heutiger Sicht jedoch falsch, die Intelligenz und Opposition gleichzusetzen, erst recht hatten „intelligent“ und „revolutionär“ nicht die gleiche Bedeutung.
Zar Nikolaus II. ließ alle politischen Gegner durch Polizeigewalt und Verhaftungen unterdrücken. Politische Gefangene wurden in sibirische Arbeitslager deportiert. Im Jahr 1905, am Petersburger Blutsonntag, ließ er auf Demonstranten schießen, seine Geheimpolizei und das Militär wurden angewiesen, jeden Aufstand im Keim zu ersticken. Durch den Druck des sich anschließenden Generalstreiks in Petrograd musste der Zar im so genannten Oktobermanifest eine Duma als zweiter Kammer neben dem Reichsrat gewähren, die er aber in ihren Rechten stark beschränkte. In der Verfassung von 1906 ließ sich Nikolaus ausdrücklich den autokratischen Charakter seiner Herrschaft bestätigen. Ohne die Regierung kontrollieren und zur Verantwortung ziehen zu können, blieb die Duma weitgehend machtlos, der Zar ließ sie 1906, 1907 und 1912 auflösen. Den Rat seines früheren Finanzministers Sergei Witte, der ihm schnelle und umfassende Reformen empfahl, ignorierte er weitgehend.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs war wie in allen europäischen Staaten im Sommer 1914 von einem nationalen Hochgefühl begrüßt worden. Nach der Wende an der deutschen Ostfront mit der Schlacht von Gorlice-Tarnów 1915 erlitt Russland jedoch mehrere empfindliche Niederlagen. Im Zuge der deutschen Gegenoffensive des Jahres 1915 musste die Kaiserlich Russische Armee sich immer mehr nach Osten zurückziehen. Infolge dieses Großen Rückzugs gingen zunächst Polen, Litauen, Kurland und weite Teile des westrussischen Gebietes bis zu einer Linie von der Düna zur rumänischen Grenze verloren. Dieser regelrechte Zusammenbruch der zumeist schlecht ausgerüsteten Armee an der Westfront hatte eine schwere Krise in der obersten militärischen Führung zur Folge.
Obwohl ihm auf einer Sitzung des Ministerrates seine Minister einstimmig abrieten, setzte der Zar den russischen Oberbefehlshaber Nikolai Nikolajewitsch ab, übernahm am 23. August/ 5. September 1915 selbst den Oberbefehl und ernannte General Michail Wassiljewitsch Alexejew zum Generalstabschef. Am selben Tag traf er im Hauptquartier an der Kriegsfront in Mogilew ein. Die Regierung trat geschlossen zurück, nun lag der „Schlüssel des Schicksals“ des durch den Krieg und die Inflation ökonomisch stark eingeschränkten Landes bei der Armee, da der Zar jeden weiteren Rückzug und jede weitere Niederlage auch persönlich verantworten musste. Zunächst gelang es jedoch im September 1915, durch starke Gegenangriffe die Front zu stabilisieren.
Nikolaus II. widmete sich seiner neuen Aufgabe mit Hingabe und wurde in seiner Entscheidung durch den Erfolg der Brussilow-Offensive 1916 bestärkt. Andererseits desertierten allein 1916 eineinhalb Millionen russische Soldaten.
Im Herbst 1916 flammten die Streiks der Petrograder Arbeiter, die im Vorkriegsjahr einen Höhepunkt erreicht hatten, danach aber im Geiste des Burgfriedens nationaler Solidarität und als Folge der Mobilmachung abgeflaut waren, wieder auf. Fortan weiteten sie sich, angefacht durch dramatisch zunehmende Versorgungsprobleme sowie Brennstoffmangel und einen ungewöhnlich kalten Winter 1916/17 zu einem regelrechten Flächenbrand aus, den die Autokratie nicht mehr einzudämmen vermochte. Im November schrieb Großfürst Michail an seinen Bruder, den Zaren: „Ich bin überzeugt, dass wir auf einem Vulkan stehen und schon der kleinste Funke, der kleinste falsche Schritt eine Katastrophe für Dich, für uns alle und für Russland auslösen kann.“
Durch die Missstände zerbrach der vereinbarte Burgfrieden, der erst das Stillhalten der Opposition innerhalb des Krieges sichern sollte, recht schnell. Die wachsende Protestbereitschaft der Bevölkerung zeigte sich in der Duma, die im Februar 1916 erneut zusammengetreten war. Hier hatte sich ein Progressiver Block gebildet, der aus verschiedenen liberalen Parteien bis hin zu moderaten Monarchisten bestand. Er forderte eine Liberalisierung Russlands und machte sich Sorgen, dass in der Abwesenheit des Zaren der Wanderprediger Grigori Jefimowitsch Rasputin allzu großen Einfluss auf die mächtige Zarin Alexandra nehmen würde, der man eine sexuelle Affäre mit dem Mönch unterstellte. Als Rasputin kurz darauf ermordet wurde und die Attentäter unbehelligt blieben, wurde das als Indiz für die Wahrheit dieser Anschuldigung gedeutet. Die Autorität des Zaren, der nun als moralischer Schwächling dastand, sank weiter.
Der russische Staat machte während des Ersten Weltkrieges eine enorme Wirtschaftskrise durch. Die Erfordernisse der modernen Kriegsführung veranlassten das Zarenreich zum Ausbau der industriellen Kapazitäten. Zu deren Finanzierung wurde nach dem Scheitern von Kriegsanleihen schließlich vermehrt Geld gedruckt. Das löste im zweiten Kriegsjahr eine signifikante Inflation aus. Bis Ende 1916 verteuerten sich Arbeit und Güter um durchschnittlich 400 %. Dadurch wurde wiederum die Nahrungsmittelproduktion der Großgrundbesitzer nahezu lahmgelegt, da diese auf die Beschäftigung von Lohnarbeitern angewiesen waren.
1916 verschlechterte sich die Ernährungslage der Bevölkerung beträchtlich. Die Heeresverwaltung kaufte die Lebensmittel für die Armee in den westlichen Provinzen auf, wodurch es immer schwerer wurde, Ersatz für die Zivilbevölkerung zu beschaffen. Im Herbst 1916 begann das Schlangestehen der Bevölkerung vor den Bäckereien. Bei Streiks wurde immer lauter das Ende des Krieges und ab Oktober 1916 auch das Ende der Zarenherrschaft gefordert.
Die Kleinbauern produzierten zwar noch genügend Nahrungsmittel, allerdings wurde für sie der Verkauf ihrer Erträge unrentabel. Inflation und Konzentration auf die Fertigung für das Militär trieben Preise für industrielle Güter, die die Bauern benötigten, nach oben. Da der Strom von Fertiggütern von den Städten auf das Land versiegte, kam auch der Gegenstrom von landwirtschaftlichen Erzeugnissen in die Städte zum Erliegen. Des Weiteren fielen mehrere Millionen Haushalte weg, die sich bis zum Kriegsbeginn auf dem Land durch simple handwerkliche Fertigung von Gebrauchsgütern über Wasser gehalten hatten. Diese halbbäuerliche Schicht wurde teilweise durch die Verpflichtung in der Armee, zum größten Teil allerdings durch die höheren Löhne in den Fabriken der Städte geschwächt.
Die russische Volkswirtschaft war um das Jahr 1916 immer noch überwiegend landwirtschaftlich geprägt: 85 % der Bevölkerung lebte auf dem Lande, ohne deren Mithilfe es keine Revolution geben konnte. Aufgrund von Not und enttäuschten Erwartungen an die Regierung war es bereits öfter zu Erhebungen der Bauern gekommen, die meist mit dem Niederbrennen von Gutshöfen, der Plünderung von Vorratsspeichern und der eigenmächtigen Inbesitznahme von Land verbunden waren, besonders jener „abgeschnittener Landstücke“, die vor der schwierigen Entflechtung von Guts- und Bauernwirtschaften im Gefolge der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 von der Dorfgemeinde bewirtschaftet worden waren und von dieser beansprucht wurden. Zumeist brachen solche Aufstände ebenso schnell wieder zusammen, wie sie entstanden waren.
Nach Kriegsbeginn 1914 gab es kaum agrarischen Sozialprotest. Da die große Mehrheit der Rekruten aus Dörfern kam, lebte hier kaum noch jemand, der sich gegen die Obrigkeit hätte erheben können. Erst eine neu entstehende Verbindung zwischen den Bauern in den ländlichen Regionen und den Städtern verlieh einem neu ausbrechenden Sozialprotest eine revolutionäre Qualität. Nach Manfred Hildermeier war eine Ursache der Revolution, dass der parochiale Horizont der traditionell kleinräumigen Dorfgemeinschaft aufbrach und sich „für überregional-gesamtstaatliche Probleme öffnete“. Diese Öffnung sei zum einen durch die Wanderarbeit erfolgt, die Bauern saisonal oder für ganze Lebensabschnitte in die größeren Städte brachte, wo sie mit allgemeinen sozialen und politischen Fragen konfrontiert wurden und auf Angehörige der oppositionellen Intelligenz trafen. Zum anderen hätten immer mehr Bauern Militärdienst zu leisten gehabt, was sie ebenfalls außerhalb ihrer Heimatregionen brachte.
Die weitere Verschlechterung der Versorgungslage der Bevölkerung im harten Winter der Jahre 1916/1917, Zwangseintreibungen und ein neues, fehlgeschlagenes Ablieferungssystem verstärkten die Unzufriedenheit. 1917 kam es in den Industriezentren zu Hungerrevolten, Streiks und Demonstrationen. Deren Anlass war unter anderem der 12. Jahrestag des Petersburger Blutsonntages am 9. Januar. Die Verhaftungen von Regimekritikern konnten der revolutionären Stimmung nicht entgegenwirken, sondern führten nur zu einer stärkeren Radikalisierung.
Mittlerweile füllten sich die Petrograder Straßen mit zahlreichen hungernden und aufgebrachten Menschen, da die Lebensmittelversorgung ins Stocken geriet. Bereits nachts standen Menschen in langen Schlangen um Brot an. Es kam zu vereinzelten Plünderungen. Die Eröffnung der Duma am 14. Februar wurde von einer Großdemonstration begleitet, die diese zu energischen Maßnahmen auffordern sollte.
Am 18. Februar brach bei den Putilow-Werken, einem Petrograder Rüstungsbetrieb, ein Streik aus. Daraufhin verfügte die Direktion die Aussperrung von 30.000 Mann. Prompt kam es zu einer Protestdemonstration gegen die katastrophale Versorgungslage. Lawinenartig dehnten sich die Proteste auf andere Betriebe aus, der Generalstreik wurde proklamiert. Tausende demonstrierten mit roten Fahnen auf dem Newski-Prospekt.
Die Arbeiterkomitees hielten es für unwahrscheinlich, von der Armee die notwendige Unterstützung für eine großangelegte proletarische Revolution zu bekommen. Daher verfolgten sie die Idee einer friedlichen Volksbewegung. Es war kein gezielter Aufruf für Streiks geplant, um gewaltsame Zwischenfälle mit der gefürchteten Polizei zu vermeiden. Aber es zeigte sich bei den ersten Zusammenstößen, dass die Soldaten größtenteils bereit waren, zum Schutz der Zivilisten (unter denen sich auch viele Soldatenfrauen befanden) gegen die Polizei vorzugehen. Fabrikarbeiter aus dem Wyborger Rajon und weiteren Stadtteilen schlossen sich darauf in großer Zahl den Streiks an. Weitere Demonstrationen von Arbeiter- und Soldatenfrauen bedrohten die für den Krieg notwendigen Munitionsfabriken Petrograds und verbreiteten sich von Petrograd aus bald im ganzen Land. Die Arbeiter- und Soldatenfrauen forderten eine sofortige Beendigung des Krieges, die Herausgabe von Lebensmitteln und die sofortige Abdankung des Zaren.
Am 21. Februar berichtete die täglich erscheinende Börsen-Gazette, dass auf der Petrograder Seite Plünderungen von Bäckereien begannen und sich dann auf die ganze Stadt ausweiteten. Durch die Straßen ziehende Menschenmengen stünden vor Bäckereien und Backwarengeschäften und schrieen „Brot, Brot“. Die Streiks in den großen Rüstungs- bzw. Munitionsfabriken flammten wieder auf. Die Streiks nahmen am Folgetag weiter zu. Dessen ungeachtet reiste der Zar zum Stab der Truppen. Zuvor versicherte ihm Innenminister Alexander Dmitrijewitsch Protopopow, die Situation in der Hauptstadt wäre vollständig unter seiner Kontrolle. Am 23. Februar begann in Petrograd die eigentliche Revolution. Erneut wurde in den Putilow-Werken gestreikt, die Streikenden demonstrierten für eine bessere Versorgung, vor allem mit Brot. Die Nachricht der Arbeitsniederlegungen verbreitet sich rasch auch auf andere Stadtbezirke, sodass sich Werktätige fast aller Industrieunternehmen dem Streik anschlossen. Sie bildeten mit ihren Familien lange Demonstrationszüge und riefen: „Gebt uns Brot, wir verhungern, wir brauchen Brot.“ Mittags um zwei Uhr traten die Arbeiterinnen in der Fabrik Ayvas ebenfalls in den Ausstand. Gegen 15 Uhr kam der Zar in Mogilew an. Abends um sieben Uhr begab sich die Belegschaft (1500 Menschen) der Vulcan-Werke ans Werktor, weil dort ein Polizei-Offizier aufgetaucht war und mit einem Revolver in der Hand forderte, ihre Versammlung aufzulösen. Ein paar Arbeiter entwaffneten und verprügelten ihn. Die Menschenmenge strömte nun auf die Straße. Angeblich schloss sich mehr als die Hälfte des Petrograder Arbeiterstandes dem Aufstand an. Sehr schnell gab es in den Betrieben Wahlen zu Arbeiterräten, der Form der Selbstorganisation, die die Arbeiter schon 1905 herausgebildet hatten. Daraus entstehen in Folge Arbeiter- und Soldatenräte im ganzen Land, die den Petrograder Sowjet als ihre Regierung anerkannten.
Am 24. Februar kabelte der Zar aus dem Hauptquartier in Mogilew an den Stadtkommandanten General Sergei Semjonowitsch Chabalow den Befehl, die Unruhen in der Stadt „schon morgen zu liquidieren“. Am folgenden Nachmittag schossen Angehörige des Wolhynischen Garderegiments in der Hauptstadt auf die Aufrührer, sechzig Demonstranten starben. An anderen Orten dagegen gingen Soldaten gegen die Polizei vor. Kosaken, die der Petrograder Stadtkommandant zur Entwaffnung der Aufständischen geschickt hatte, verweigerten den Befehl und nahmen stattdessen die roten Nelken entgegen, die man ihnen überreichte. Dumapräsident Michail Wladimirowitsch Rodsjanko forderte den Zaren telegrafisch auf, „unverzüglich Maßnahmen zu treffen, denn morgen wird es zu spät sein.“ Die Stunde sei gekommen, in der über das Vaterland und die Dynastie entschieden werde. Das Telegramm blieb unbeantwortet; ob es den Zaren überhaupt erreichte, ist ungewiss.
Am 26. Februar erhielt Dumapräsident Rodsjanko telegrafisch ein Dekret des Zaren, mit dem er die Duma erneut auflöste. Doch der Ältestenrat und die Abgeordneten weigerten sich angesichts der Unruhen, dem Folge zu leisten.
Am 27. Februar konstituierte der Ältestenrat ein Provisorisches Komitee zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung unter der Leitung des Dumapräsidenten Rodsjanko und eröffnete das Parlament wieder, das nun die Regierungsgeschäfte übernahm. Ein neuer Oberkommandierende wurde ernannt und Duma-Bevollmächtigte in den Ministerien eingesetzt. Das provisorische Duma-Komitee bestand bis zu den nächsten Wahlen. Staatsrechtlich gesehen war dies eine Usurpation und zugleich der entscheidende revolutionäre Akt: So wie sich im August des Jahres 1789 der Dritte Stand in der französischen Hauptstadt Paris zur Nationalversammlung erklärt hatte, so reklamierte das russische Parlament mit dieser Bekanntmachung alle Befugnisse für sich, die eben noch von der zaristischen Regierung ausgeübt wurden. Deshalb wird dieser Montag, der 27. Februar, auch als Roter Montag bezeichnet, weil u. a. mit diesem Tage klar wird, dass neben der Beteiligung der Räte nun auch die Duma aktiv mitwirkt und damit aus der Straßenrevolte eine echte Revolution wird.
Am 27. Februar wechselte das Wolhynische Garderegiment in Petrograd auf die Seite der Revolution über. Das Preobrashenskij- und das Litowskij-Garderegiment folgten. Mehrere Kommandanten wurden erschossen, die Soldaten fraternisierten sich mit den Arbeitern, die mit der Erstürmung der Waffenarsenale ebenfalls Gewehre erhielten. Die Polizei wurde entwaffnet, in beschlagnahmten Fahrzeugen mit roten Fahnen fuhren die Revolutionäre unter lautem Jubel durch die Straßen. Ein Teil des Moskauer Regimentes leistete kurze Zeit Widerstand. Nachdem dieser gebrochen war, wurden zahlreiche Offiziere getötet, und auch das Moskauer Regiment schloss sich der Erhebung an. Gerichtsgebäude, Polizeikasernen und Gefängnisse wurden gestürmt und nach der Befreiung der Gefangenen in Brand gesteckt.
Am Nachmittag wurde auch das Gebäude der Duma von bewaffneten Soldaten und Arbeitern besetzt, und noch am Abend versammelte sich im Sitzungssaal der Duma der erste Arbeiter- und Soldatenrat. Die noch immer amtierende zaristische Regierung verhängte über Petrograd den Belagerungszustand. An einigen Orten werden Aufständische mit Maschinengewehren beschossen, andernorts verhafteten die Aufständischen ihrerseits zaristische Würdenträger im Namen des Arbeiter- und Soldatenrates. Die bisherigen Ereignisse überrollten auch die Arbeiterkomitees. Hier herrschte bislang die Meinung, dass von der Armee Hilfe nicht zu bekommen sei. Nun riefen auch sie zur Unterstützung der sich schnell ausbreitenden Bewegung auf.
Der Zar schrieb in sein Tagebuch: „Ging um 3 1/2 zu Bett, weil ich noch lange mit N. I. Iwanow gesprochen habe, den ich mit Truppen nach Petrograd schicke, um Ordnung zu schaffen“. Um fünf Uhr morgens verließ er das Hauptquartier in Mogilew, um zu seiner Familie nach Zarskoje Selo zu fahren, seiner Sommerresidenz. Dorthin beorderte er zu seinem Schutz auch Truppen von der Kriegsfront.
Am 28. Februar brach der Aufstand in Moskau aus und nahm einen ähnlichen Verlauf wie in Petrograd. Im Taurischen Palast in Petrograd bildeten sich zwei politische Zentren: Im rechten Flügel die Provisorische Regierung unter Fürst Georgi Jewgenjewitsch Lwow, im linken Flügel der Sowjet mit den Delegierten der Arbeiter und Soldaten.
Währenddessen bemächtigten sich die Revolutionäre in Petrograd aller Bahnhöfe, des Telefonamtes, der Peter-Pauls-Festung und der Admiralität. Zarskoje Selo wurde von Aufständischen besetzt und die Kaiserin fortan bewacht. Der Zug des Zaren musste nachts bei Wischera umkehren, weil Ljuban und Tosno bereits in den Händen der Aufständischen war. Er fuhr nach Pskow, dem Hauptquartier der Nordfront, die sich dem Zaren abgewandt hatte. Hier meldete deren Befehlshaber, General Nikolai Wladimirowitsch Russki, dem Zaren den Ausbruch der Revolution in Petrograd und riet ihm, abzudanken und sich der Gnade der Sieger zu ergeben. Die Aussicht auf eine Niederschlagung des Aufstands war in den Augen der Generäle in Pskow so gering, dass sie den Zaren dazu zwangen, einer neuen Regierung des gesellschaftlichen Vertrauens zuzustimmen. Dies genügte den neuen Machthabern in Petrograd aber lange nicht, sie forderten den Thronverzicht des Zaren, einige sogar seinen Tod.
Am 1. März wurde Nikolaus sowohl vom Duma-Präsidenten Rodsjanko als auch von Michail Wassiljewitsch Alexejew, dem Stabschef und damit de facto Befehlshaber aller Armeen telegraphisch aufgefordert abzudanken. Der Befehlshaber der Nordfront Russki berichtete ihm über ein langes Telefongespräch mit Dumapräsident Rodsjanko, wonach seine Abdankung unerlässlich sei. Russki gab den Inhalt des Gespräches an das Hauptquartier weiter, und von dort ging es an alle Befehlshaber der Armeen. Bis zum frühen Nachmittag sprachen sich ausnahmslos alle für die Abdankung des Zaren aus. Nikolaus unterzeichnete in der folgenden Nacht ein Manifest, in dem er ein dem Parlament verantwortliches Ministerkabinettes einberief, doch Rodsjanko, der davon telefonisch in Kenntnis gesetzt wurde, antwortete, dieses Zugeständnis komme viel zu spät, erforderlich sei vielmehr die Abdankung des Zaren.
Am 2. März vereinbarten Duma und Arbeiter- und Soldatenrat, dass der Zar abgesetzt sei und eine Provisorische Regierung gebildet werde. Um 15 Uhr gab der Fraktionsvorsitzende der liberalen Kadettenpartei Pawel Nikolajewitsch Miljukow im Taurischen Palast eine Liste der neuen Minister mit seinem Parteifreund Fürst Georgi Jewgenjewitsch Lwow an der Spitze bekannt. Die von den Soldaten verhafteten Minister des Zaren wurden in die Peter-Pauls-Festung überführt. Gegen 22 Uhr trafen Alexander Iwanowitsch Gutschkow vom Reichsrat und der Duma-Abgeordnete Wassili Witaljewitsch Schulgin aus Petrograd im Salonwagen des Zarenzuges ein. Gutschkow berichtete dem Zaren, es bestehe die Gefahr, dass Petrograd und die Front in die Hände von Anarchisten falle und die Gemäßigten hinweggefegt würden. Das Volksempfinden könne nur beruhigt werden, wenn Nikolaus zugunsten seines kleinen Sohnes zurücktreten und Großfürst Michail die Regentschaft übertrage. Der Zar erwiderte, er habe das tun wollen, doch aufgrund der Krankheit des Zarewitsch könne er sich nicht von ihm trennen. Eigenhändig änderte er das am Morgen ausgearbeitete Abdankungsmanifest zugunsten seines Bruders, des Großfürsten Michail, und übergab es um 23:40 Uhr an Gutschkow. Auf Bitten der Deputierten fügte er einen Zusatz über den Eid des neuen Zaren auf die Verfassung ein. Gleichzeitig unterzeichnete er Ukasse, in denen er Fürst Lwow zum Vorsitzenden des Ministerrates und Großfürst Nikolai Nikolajewitsch wieder zum Oberbefehlshaber ernannte.
Um nicht den Eindruck zu erwecken, Nikolaus habe unter dem Druck der angereisten Deputierten gestanden, wurden die Abdankungsurkunde und die Ukasse auf den 15. März, 15 Uhr und 14 Uhr vordatiert. Auf Drängen Lwows, Kerenskis und anderer Duma-Mitglieder unterzeichnete der neue Zar Michail bereits am 3. März seine Abdankungsurkunde mit dem Aufruf, sich der Provisorischen Regierung unterzuordnen. Damit endete die 300-jährige Herrschaft der Romanow-Dynastie.
Am 8. März wurde Nikolaus II. in Haft genommen und nach Internierung in Zarskoje Selo mit seiner Familie nach Sibirien verbannt. Nachdem sie im April 1918 nach Jekaterinburg verlegt worden waren, wurden sie dort am 16./17. Juli 1918 ermordet.
Das aus dem Rücktritt von Zar und Regierung entstandene Machtvakuum wurde von zwei Institutionen gefüllt: von der Duma und dem wieder gebildeten Petrograder Sowjet. Beide mussten sich sofort mit der Bildung einer Exekutive beschäftigen. Ein erster Kompromiss fiel im Überschwang des Sieges der Revolution vergleichsweise leicht. Die Menschewiki, die im Sowjet die Mehrheit hatten, nahmen als Marxisten an, der historischen Entwicklungsstufe der feudalistischen Monarchie müsse zunächst eine bürgerlich-kapitalistische Demokratie folgen. Daher müsse dem liberalen Bürgertum in der Duma das Feld gehören. Hinzu kommt wohl auch, dass die liberalen Politiker um den hoch geschätzten Fürst Lwow und den unbestrittenen Kopf der Kadetten Miljukow über parlamentarische Erfahrung, eine komplette Mannschaft aus den Reihen des Progressiven Blocks und ein Programm verfügen.
Die streikenden Soldaten und ihre radikalen Deputierten in den Räten mussten aber noch gewonnen werden. Sie setzten ihr wichtigstes unmittelbares Anliegen durch, als sie dem Exekutivrat des Sowjets den berühmten Befehl Nr. 1 des Petrograder Sowjets, der die Wahl von Regimentskomitees und die Unterstellung der Regimenter unter die Sowjets sowie die Einrichtung von Soldatenräten in jeder militärischen Einheit verfügte, abrangen. Eine Wahl aller Offiziere durch die Mannschaften war zwar vorgesehen, wurde aber nach Kritik der Offiziere wieder zurückgezogen. Die Verhandlungsführer der Sowjets forderten in den Gesprächen mit dem Dumakomitee am 11. März als Konsequenz aus diesem Dekret zwar auch die Wahl der Offiziere, ließen die Forderung aber mit Rücksicht auf die Kampfkraft der Armee im laufenden Krieg fallen. In Folge dieses Befehles wuchs die bereits erhebliche Unruhe unter den Soldaten weiter an.
Am Nachmittag des 2. März verkündete Miljukow im Taurischen Palais, dem Sitz der Duma, die Einigung und stellte das neue Kabinett der Provisorischen Regierung unter Fürst Lwow vor. Damit war der Übergang von einer Autokratie zur Herrschaft des – wenn auch nicht demokratisch gewählten, so doch von den aufständischen Arbeitern und Soldaten akzeptierten – Parlaments vollzogen.
Noch wichtiger als der Kompromiss zwischen den neuen Machtzentren vor Ort aber war die stillschweigende Billigung der Generäle. Diese hegten keine Sympathie für Liberalismus und Demokratie, sondern waren einzig an der Verteidigungsfähigkeit und die Fortsetzung des Krieges interessiert. Im Loyalitätskonflikt zwischen Monarchie und Nation entschied sich der Generalstab für die Nation. Die Schwäche der zaristischen Armee lag weniger in der Moral ihrer Soldaten und deren Ausrüstung als in ihrer inneren Zerrissenheit zwischen adligen Gutsbesitzern, die zumeist die Offiziere stellten, und den Massen der Landlosen oder Kleinbauern in den Mannschaften. Klassenkampfparolen zündeten deshalb nicht zuletzt in der Armee. Die Soldaten gaben somit, noch stärker als die Arbeiterschaft, im Laufe des Jahres 1917 den entscheidenden Rückhalt der Revolution.
Die neue Freiheit und Volkssouveränität regierten nur ein halbes Jahr, bis es vor den geplanten demokratischen Wahlen im Oktober zur Oktoberrevolution durch die Bolschewiki kam. Es gelang der provisorischen Regierung zwar vergleichsweise leicht, die Reste des aufgelösten Ancien régimes zu beseitigen und ihre neuen demokratischen Grundsätze in den ländlichen Gebieten zu festigen, sie vermochte jedoch weder die Versorgung der Menschen sicherzustellen, noch die Wirtschaftskrise und die Inflation zu beheben und Frieden zu schaffen. An diesen wichtigen Aufgaben scheiterte das Februarregime.
In den folgenden Monaten der Doppelherrschaft stand der provisorischen Regierung der Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat mit einem Exekutivkomitee an der Spitze gegenüber, das zunächst vor allem aus Menschewiki und Parteilosen gebildet wurde. Ziel des Sowjets war die Herstellung der Ordnung und der Versorgung sowie die endgültige Beseitigung der Zarenherrschaft. Eine konstituierende Versammlung auf Basis allgemeiner Wahlen sollte über die Regierungsform entscheiden.
Der neue Außenminister Miljukow wollte den schon drei Jahre andauernden Krieg fortsetzen, das Bündnis mit Frankreich und England aufrechterhalten und einen Sieg über die Mittelmächte erreichen. Demgegenüber sah sich der Petrograder Sowjet in der Pflicht, um seinen Rückhalt in der Bevölkerung zu festigen, die Soldaten zu gleichberechtigten Bürgern zu machen. Im April betrat mit Wladimir Iljitsch Lenin ein weiterer Akteur die Bühne des revolutionären Russland. Unter Mithilfe des Deutschen Kaiserreichs war der Führer der Bolschewiki aus dem Schweizer Exil zurückgekehrt und forderte in seinen viel beachteten Aprilthesen eine Landreform, eine Übertragung der staatlichen Macht an die Räte und eine sofortige Beendigung des Krieges. Eine Zusammenarbeit mit der provisorischen Regierung lehnte er ab. Versuche des Kriegsministers und späteren Vorsitzenden der Provisorischen Regierung, Alexander Fjodorowitsch Kerenski von der agrarsozialistischen Partei der Trudowiki, durch eine militärische Offensive eine bessere Verhandlungsposition für Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten zu erreichen, scheiterten.
Für den jungen Staat, der sich durch die Februarrevolution in einem ersten Schritt des Zaren als Regenten entledigt hatte, stand noch eine Reihe dramatischer Entwicklungen bevor. Der Weltkrieg war noch nicht zu Ende, der Machtkampf zwischen Menschewiki und Bolschewiki sollte sich in der Oktoberrevolution entladen. Von Sowjetrussland und seiner Roten Armee gingen zwischen den Jahren 1918 und 1921 eine Restitution des ehemaligen Zarenreiches und des damaligen Vielvölkerreiches aus. Von den ehemaligen Gebieten, die zum Zarenreich gehörten, wurden das vom Zarenreich besetzte Polen, die Baltischen Staaten und Bessarabien unabhängig. Der darauf folgende Russische Bürgerkrieg dauerte bis 1920, endete mit einem Sieg der Bolschewiki und führte zur Konstituierung der UdSSR im Jahre 1922.
Nach der Februarrevolution herrschte in Russland ein Nebeneinander von Parlament mit seiner provisorischen Regierung unter Kerenski und den Sowjets mit ihren Exekutivkomitees. Über die endgültige Verfassung sollte eine verfassungsgebende Versammlung entscheiden, die zunächst am 25. November gewählt werden sollte. Die provisorische Regierung unter Kerenski konnte sich nicht dazu durchringen, in Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Kaiserreich und den übrigen Mittelmächten einzutreten.
Der Führer der bolschewistischen Fraktion der SPR, Lenin, erreichte die russische Hauptstadt aus seinem Exil in der Schweiz über Deutschland, Schweden und Finnland. Der ursprünglich von Julius Martow initiierte Austausch russischer Exilanten gegen in Russland internierte Deutsche wurde durch die Provisorische Regierung verzögert, da insbesondere Außenminister Miljukow gegen eine Rückkehr der defätistischen Revolutionäre war. Lenin und 31 weitere Exilanten drängten jedoch auf eine schnellstmögliche Rückkehr. Durch Vermittlung des Schweizer Genossen Fritz Platten unterstützten ihn die deutschen Behörden bei dieser Reise. Die Fahrt ging in einem Eisenbahnwaggon bis zur deutschen Ostseeküste, um von dort per Schiff weiterzureisen. Durch das Eingreifen von Lenin und anderen Revolutionären in das politische Geschehen erhoffte sich die deutsche Oberste Heeresleitung eine weitere Destabilisierung Russlands, um daraus an der Ostfront militärischen Nutzen ziehen zu können. Über Parvus sollten die Revolutionäre dann weitere finanzielle Unterstützung erhalten.
Inwieweit diese den Bolschewiki oder anderen revolutionären Sozialisten zugutekam und ihre Aktivitäten beeinflusste, ist umstritten. Der russische Historiker und ehemalige Generaloberst Dmitri Wolkogonow etwa sieht es aufgrund der Auswertung von deutschen Dokumenten als belegt an, dass die Bolschewiki über Parvus große Geldmengen erhielten. Dessen Beweise hält Orlando Figes jedoch für „nicht überzeugend“ und hält es für abwegig, die Bolschewiki deswegen als „deutsche Agenten“ zu bezeichnen. Der britische Historiker Robert Service weist darauf hin, dass mehrere Millionen Mark von der deutschen Regierung an Sozialisten in Russland geflossen sind. Die massive Expansion der Parteipresse der Bolschewiki in den Tagen der Revolution sieht er als klares Indiz dafür an, dass diese von den Zahlungen profitierten.
Der Historiker Oleh Fedyshyn vermerkt gleichfalls die Zahlungen an russische Sozialisten und beschreibt die Bolschewiki als Hauptnutznießer dieser Geldtransfers. Er gibt Schätzungen anderer Historiker von 20 bis 50 Millionen Mark wieder. Der amerikanische Historiker Alexander Rabinowitsch weist dagegen anhand einschlägiger Quellen darauf hin, „dass die meisten bolschewistischen Führer, und die Parteibasis ohnehin, von diesen finanziellen Zuwendungen nichts wussten. Während Lenin von dem deutschen Geld gewusst zu haben scheint, gibt es keinen Beweis dafür, dass seine Politik oder die der Partei davon beeinflusst wurde. Am Ende hat diese Hilfe den Ausgang der Revolution auch nicht entscheidend beeinflusst“. Am 7. April veröffentlichte Lenin seine Aprilthesen, in denen er seine Ansichten zur weiteren Entwicklung der Revolution darlegte.
Politische Unentschlossenheit und das Weiterführen des Krieges auch durch Menschewiki und Sozialrevolutionäre (August/September 1917), die massive Gebietsverluste an das Deutsche Kaiserreich vermeiden wollten, führten zu einer Polarisierung in den Arbeiter- und Soldatenräten. Es kam erneut zu einem Linksrutsch in Teilen der Bevölkerung. Die Bolschewiki beherrschten nun die wichtigsten Sowjets in Petrograd, Moskau, und den anderen großen Arbeiterstädten. Darüber hinaus bewaffneten sich die Parteianhänger der Bolschewiki. Der Linksruck in Teilen des Volkes stärkte diejenigen Kräfte, die unter Lenin zielstrebig an die Macht drängten. Leo Trotzki wurde Vorsitzender des Petrograder Sowjets und Organisator der Machtübernahme. Im Oktober kehrte Lenin aus seinem finnischen Versteck nach Russland zurück. Er drängte die Partei zur Übernahme der alleinigen Regierungsmacht, da er die Zeit für günstig hielt, die schwache Position der Regierung auszunutzen.
In der Führung der Partei der Bolschewiki war umstritten, ob sie sich an den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung beteiligen oder stattdessen auf einen gewaltsamen Aufstand setzen sollte. Nach hitzigen Debatten setzten sich schließlich Lenin und Trotzki durch. Lenin, der am 27. September heimlich nach Petrograd zurückgekehrt war, versammelte 12 der 21 Mitglieder des ZK der bolschewistischen Partei um sich. Nach zehnstündiger Diskussion wurde mit 10 gegen 2 Stimmen eine Resolution für eine gewaltsame Machtübernahme um den 3. beschlossen. Diese Zeitspanne war zu kurz.
Am 3. tagte das Zentralkomitee mit Vertretern der Petrograder Parteiarbeit erneut. Die Resolution von 27. September fand nunmehr eine Mehrheit von 22 Stimmen, bei wiederum zwei Gegenstimmen. „Den Tag des Aufstandes“, so Stalin, „bestimmen die Umstände.“ Am nächsten Tag wurde der zum 7. geplante Kongress der Sowjets auf den 12. verschoben. Der „bewaffnete Aufstand“ sollte jedoch vor dem Kongress stattfinden, damit dieser die Revolution „legitimieren“ konnte. Auf Beschluss des Petrograder Sowjets stellte Trotzki eine militärische Organisation auf, welche die militärische Machtergreifung übernehmen sollte – das Militärisch-Revolutionäre-Komitee Petrograds. Die Truppen beschränkten sich auf wenige tausend Soldaten der Petrograder Garnison, der Kronstädter Marine, der dem MRKP beigetretenen Roten Garden sowie wenige Hundertschaften aus den Arbeiterkomitees stammender, militanter Bolschewiki.
Am 22. Oktober weigerte sich der Truppenkommandant des Petrograder Distrikts, seinen Stab der Kontrolle der Kommissare des MRKP zu unterstellen. Auf Veranlassung von Leo Trotzki und Jakow Swerdlow übernahm nun das Militärrevolutionäre Komitee des Petrograder Sowjets unter Führung Trotzkis die Befehlsgewalt über die Garnisonen der Hauptstadt.Ab dem Morgen des 11. tagten die entscheidenden Mitglieder des Zentralkomitees in Permanenz im Smolny, dem Sitz des bolschewistischen Stabes von 1917. Das Gebäude wurde befestigt.
In der Nacht zum 25. Oktober nahmen Truppenteile strategische Punkte (Waffenkammer) der Stadt ein. Der Aufstand begann. Das Signal für den Sturm auf das Winterpalais gab der Kreuzer Aurora mit einem Platzpatronenschuss aus der Bugkanone. Eine Nacht später kam es zur Einnahme des Winterpalastes, der als Regierungssitz gedient hatte. Alle Regierungsmitglieder, außer Ministerpräsident Kerenski, der vorher floh, wurden verhaftet. Sie wurden freigelassen, nachdem sie eine Erklärung unterschrieben hatten, dass sie sich aus der Politik zurückziehen würden. Es wurde kein Blut vergossen. Die Regierung Kerenski wurde durch ein sozialistisches Regime unter Lenin ersetzt. Die Machtübernahme der Bolschewiki erfolgte derart reibungslos und unauffällig, dass viele Bürger über die Geschehnisse erst durch die Zeitung erfuhren. (Das große Tor mit dem Eisengitter, das die roten Matrosen im Film von Eisenstein von 1927 stürmen, führte nicht zum Inneren des Palastes, sondern zu den Pferdeställen und Kutschen. Der Haupteingang des Winterpalastes ist am linken Ende der Fassade. Die Wachen haben ohne Widerstand die Waffen niedergelegt und wurden vom Militärdienst entlassen).
Lenin schrieb ein Jahr später: „Alle praktische Organisationstätigkeit für den Aufstand wurde unter der direkten Leitung des Vorsitzenden des Sowjets von Petrograd, des Genossen Trotzki, geführt. Man kann mit Sicherheit behaupten, dass die Partei den schnellen Übergang der Garnison auf die Seite der Sowjets und die kühne Durchführung der Arbeit des Revolutionären Militärkomitees hauptsächlich und vor allem dem Genossen Trotzki verdankt. Die Genossen Antonow und Podwoisky waren die Hauptgehilfen des Genossen Trotzki.“
Der Allrussische Sowjetkongress war von Kerenski um fünf Tage verschoben worden. Am Abend des 25. Oktober begann der 2. Allrussische Sowjetkongress mit Vertretern von mehr als 400 örtlichen Sowjets. Die Bolschewiki hatten den Zeitplan ihrer Revolution genau auf den Beginn des Kongresses abgestimmt, um die Machtübernahme im Nachhinein absegnen zu lassen.
Der größte Teil der Vertreter stammte aus den großen Industrieregionen und den politischen Zentren des Landes (Petrograd, Moskau, Kiew und Odessa). Es waren Vertreter von fast allen nationalen Regionen anwesend. Im Kongress hatten die Bolschewiki und die Sozialrevolutionäre die Mehrheit. Von den 649 Delegierten waren 390 Bolschewiki, 160 Sozialrevolutionäre und 72 Menschewiki. Es wurde über die Entmachtung aller Gutsherren und Kapitalisten abgestimmt, und es wurden Fragen zur zukünftigen Machtorganisation geklärt. Vor dem Hintergrund des bewaffneten Aufstandes verlangten die rechten Sozialrevolutionäre und die Menschewiki, den Kongress aufzuschieben. Ihr Antrag wurde jedoch abgelehnt und die meisten ihrer Abgeordneten verließen den Kongress unter Protest. Einige Sozialrevolutionäre und Menschewiki verharrten, am formalen Ablauf des Kongresses änderte sich dadurch nichts.
Der Kongress tagte bis in die frühen Morgenstunden des 26. Oktober, und nach dem Sturm auf den Winterpalast um zwei Uhr früh wurde die Machtübernahme um fünf Uhr morgens in einem Schreiben mit dem Titel An die Arbeiter, Soldaten und Bauern juristisch verankert. In diesem Schreiben finden sich auch die ersten Normen des sowjetischen Rechts.
Lenin proklamierte die Sozialistische Sowjetrepublik, die von einem Rat der Volkskommissare unter seiner Führung geleitet wurde. Die Regierung bestand nur aus Bolschewiki. Die wichtigsten Ressorts übernahmen Trotzki (zunächst Äußeres, dann ab 1918 Verteidigung), Georgi Tschitscherin (ab 1918 Außenpolitik) und Alexei Rykow (Inneres). Stalin war lediglich für Nationalitätenfragen zuständig. Die Machtübernahme gestaltete sich relativ einfach, die Erhaltung der Macht hingegen als ungleich schwerer.
Die generelle politische Führung von Staat und Gesellschaft hingegen blieb der KPR, also den Bolschewiki, vorbehalten und nicht wie angekündigt den Räten. Die Räteidee sah eine sozialistische Politik unter der Führung von Räten ohne die Festlegung auf eine bestimmte Parteilinie vor. Die Partei hielt jedoch an einer rigorosen Durchsetzung ihres Machtmonopols fest.
Am 26. Oktober 1917 wurde das Dekret über den Frieden erlassen. Sofortige Verhandlungen über einen „gerechten Frieden“ wurden von Russland angeboten. Die Regierungen der Mittelmächte bestanden auf einem Frieden zu ihren Bedingungen. Am 15. Dezember 1917 war ein Waffenstillstand zwischen dem Deutschen Reich und Russland geschlossen worden. Die russische Verhandlungsdelegation wurde erst von Adolf Joffe, dann von Trotzki geleitet. Im März 1918 wurde der Friedensvertrag abgeschlossen. Die Bolschewiki konnten dadurch ihre noch schwache Macht im Lande festigen und die Rote Armee unter Führung von Trotzki dann den von 1918 bis 1920 folgenden Russischen Bürgerkrieg gewinnen.
Am 11. November 1917 fanden die Wahlen zur Konstituante (verfassungsgebenden Versammlung) statt. Die Bolschewiki trugen eine schwere Niederlage davon, sie erhielten nur 25 % der Stimmen. Lenin löste die Konstituante am 5. Januar 1918 kurzerhand durch Waffengewalt auf, ohne dass es zu einem Massenaufstand kam. Am 2. November wurden die Vorrechte aller christlichen Bekenntnisse und am 11. Dezember der Religionsunterricht in den Schulen abgeschafft. Am 20. Januar folgte das Gesetz über die Trennung von Staat und Kirche. Nach einer kurzen und relativ ruhigen Konsolidierungsphase wurden alle Konfessionen und Religionsgemeinschaften massiv verfolgt. Die Sicherheitsbehörden verhafteten zahlreiche Pastoren, engagierte Laien und einfache Gläubige; ein großer Teil von ihnen kam unter anderem in Lagern ums Leben. Am 7. Dezember 1917 wurde die Tscheka gegründet, die in den folgenden zwei bis drei Jahren nach Schätzungen hunderttausende vermutete politische Feinde unter Einschluss widerspenstiger Teile der Bevölkerung tötete. Ihr Ziel war die Ausschaltung der politischen Opposition durch Gewalt und die landesweite Durchsetzung des Machtmonopols der Partei. Durch die Tscheka erlangte sie auch auf dem Lande die Herrschaft, obwohl sie dort selbst nach der Oktoberrevolution nur schwach vertreten war.
Die Oktoberrevolution sicherte den Bolschewiki um Lenin und Trotzki zunächst nur die Macht in Petrograd und bildet deshalb nur einen Schritt auf ihrem Weg zur Herrschaft in Russland. Immerhin war der wichtigste Gegner, die Regierung Kerenski, gestürzt.
Es folgte ein langer und grausamer Bürgerkrieg, verbunden mit dem Kriegskommunismus. Der Bürgerkrieg wurde infolge der Oktoberrevolution spätestens durch den Aufstand der Tschechoslowakischen Legion ausgelöst; westliche reguläre und freiwillige Truppen unterstützten die weißen Truppen hauptsächlich mit Material und logistischer Hilfe. Die Rote Armee kämpfte bis 1920 gegen die Weißen.
Die Novemberrevolution bestätigte das. Durch den Eintritt in die Regierung Ebert trug die USPD maßgeblich zu ihrer Niederlage bei. Die Novemberrevolution, aus der die Weimarer Republik hervorging, war, wie Trotzki schrieb, "keine demokratische Vollendung der bürgerlichen Revolution", sondern "eine von der Sozialdemokratie enthauptete proletarische Revolution: richtiger gesagt, es ist die bürgerliche Konterrevolution, die nach dem Siege über das Proletariat gezwungen ist, pseudodemokratische Formen zu bewahren."
Das hatte tragische Folgen. Alle gesellschaftlichen Kräfte, die 15 Jahre später Hitler an die Macht verhelfen sollten, überlebten die Revolution unbeschadet: Der preußische Großgrundbesitz, der den Bodensatz der politischen Reaktion bildete; die Industriebarone und die Finanzaristokratie, die für die expansiven deutschen Kriegsziele verantwortlich waren; die Heeresleitung, die sich zum Staat im Staat entwickelte; die Richter und Beamten, die die Demokratie ablehnten; nicht zu sprechen von der Soldateska, der die Weimarer Republik keine zivile Perspektive bieten konnte und die zum Fußvolk der Nazis wurde. Die Arbeiterklasse musste für die Politik des Zentrismus einen hohen Preis entrichten. Das ist die bittere historische Lehre aus dem Verhalten der USPD in der Novemberrevolution.
Obwohl der Spartakusbund die SPD und die USPD scharf kritisierte, brach er organisatorisch nicht mit ihnen. Er bestand zwar auf seiner vollen Aktionsfreiheit, blieb aber innerhalb der SPD und schloss sich 1917 der neu gegründeten USPD an. Erst einen Monat nach der Novemberrevolution trennte er sich schließlich von der USPD und gründete am 1. Januar 1919 die Kommunistische Partei Deutschlands. Nur zwei Wochen später wurden deren bekanntesten Führer, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, von den Mörderbanden des sozialdemokratischen Reichswehrministers Gustav Noske ermordet.
Rosa Luxemburg rechtfertigte das Verbleiben in der SPD und der USPD mit dem Argument: "Es genügt nicht, dass eine Handvoll Leute das beste Rezept in der Tasche hat und schon weiß, wie man die Massen führen soll. Die Massen müssen geistig den Traditionen der 50-jährigen Vergangenheit entrissen, von ihnen befreit werden. Und das können sie nur im großen Prozess ständiger innerer Selbstkritik der Bewegung im Ganzen."
Diese Haltung unterschätzte das Ausmaß der sozialen Kluft, die sich zwischen der SPD und der USPD auf der einen und der Arbeiterklasse auf der anderen Seite aufgetan hatte. Vor dem Krieg hätte der Austritt aus der SPD - einer legalen Massenpartei, die sich offiziell zum Marxismus bekannte und unter den Arbeitern große Autorität genoss - den revolutionären Flügel von den klassenbewussten Arbeitern isoliert. Doch nach der Zustimmung zu den Kriegskrediten stellte sich die Lage anders dar. Die SPD war vollständig ins Lager der herrschenden Klasse übergegangen. Das musste sie unweigerlich in Konflikt mit der Arbeiterklasse bringen. Diesen Konflikt galt es durch das Aufzeigen einer klaren politischen und organisatorischen Alternative vorzubereiten. Hatte in Russland 1917 das Vorhandensein einer Partei, die durch den jahrelangen Kampf gegen den Opportunismus gestählt war, den Sieg der Oktoberrevolution ermöglicht, so war in Deutschland das Fehlen einer solchen Partei 1918/19 die Ursache empfindlicher proletarischer Niederlagen.
Aufgrund ihrer späten Gründung und des Verlusts ihrer wichtigsten Führer gestalteten sich die ersten Jahre der KPD äußerst schwierig. Es fehlte ihr an politischer und theoretischer Geschlossenheit und einem erfahrenen Kader. Die Erbitterung über den Verrat der SPD verschaffte zeitweise ultralinken, antiparlamentarischen und anarchistischen Vorstellungen Einfluss und führte im April 1920 zu einer linken Abspaltung in Form der KAPD. Im Dezember desselben Jahres brach die Mehrheit der USPD mit den rechten Führern und schloss sich der KPD an. Das machte die KPD zur Massenpartei, brachte aber auch neue politische Probleme mit sich. Zwischen 1919 und 1921 beteiligte sich die KPD an mehreren verfrühten und schlecht vorbereiteten Aufstandsversuchen. Nur fünf Tage nach ihrer Gründung unterstützte sie den so genannten Spartakusaufstand in Berlin, der blutig unterdrückt wurde. 1921 riefen KPD und KAPD in der so genannten Märzaktion gemeinsam zum Generalstreik und zum Sturz der Reichsregierung auf, nachdem diese bewaffnete Polizeieinheiten gegen Arbeiter in Mitteldeutschland eingesetzt hatte. Die folgende Niederlage kostete rund 2.000 Arbeitern das Leben.
Der Dritte Kongress der Kommunistischen Internationale setzte sich 1921 intensiv mit dem linken Radikalismus in der KPD und anderen Sektionen auseinander. Lenin wandte sich in der Schrift Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus gegen den "kleinbürgerlichen Revolutionarismus", der politische Kompromisse unter allen Umständen ablehnt, die Legitimität der Teilnahme an Wahlen oder am Parlament leugnet und es für unverzeihlich hält, in den reaktionären Gewerkschaften zu arbeiten. Der Kongress, so Trotzki, "stellte die Parole auf: ‚Heran an die Massen’, d.h. an die Eroberung der Macht durch die vorhergehende Eroberung der Massen in ihrem täglichen Leben und Kampf."
Er entwickelte ein Programm von Übergangsforderungen, die die Tagesbedürfnisse der Arbeiter mit dem Ziel der proletarischen Machteroberung verbanden, und befürwortete die Taktik der Einheitsfront. Diese Taktik bemühte sich darum, in Tageskämpfen durch praktische, gemeinsame Maßnahmen eine schlagkräftige Einheit herzustellen zwischen den reformistischen, sozialdemokratischen Organisationen und Parteien, in denen noch die große Mehrheit der Arbeiter organisiert war, und den revolutionären kommunistischen Parteien. Die Einheitsfront entsprach einem grundlegendem Bedürfnis und instinktiven Streben der Massen nach Einheit aller Arbeiter im Kampf zur Durchsetzung wichtiger Forderungen, zur Verteidigung von Löhnen und politischen Rechten und zur Abwehr faschistischer Angriffe auf die Organisationen der Arbeiterklasse. Sie bedeutete aber keinen Verzicht auf Kritik am politischen Gegner innerhalb der Arbeiterorganisationen. Sie schuf im Gegenteil die Voraussetzungen, unter denen sich die Massen aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen von der Tatkraft der Kommunisten und der Nutzlosigkeit der Sozialdemokratie überzeugen konnten.
Der auf dem Dritten Kongress vollzogene Kurswechsel stärkte und festigte die KPD. Doch 1923 änderte sich die politische Lage dramatisch. Die Besetzung des Ruhrgebiets durch Frankreich löste eine politische und ökonomische Krise aus, die in eine außergewöhnliche revolutionäre Situation mündete. Der Zusammenbruch der deutschen Währung führte zur Verelendung und Radikalisierung breiter Arbeiter- und Mittelschichten. Die SPD verlor rasch an Einfluss, während die Unterstützung für die KPD wuchs. Auf der Rechten erhielten faschistische Gruppen Zulauf. Im August zwang ein von der KPD initiierter Generalstreik die rechte Regierung des Großindustriellen Wilhelm Cuno zum Rücktritt. Der DVU-Politiker Gustav Stresemann bildete eine neue Regierung mit Beteiligung der SPD. Sie übergab die Exekutivgewalt an General von Seeckt, den Oberbefehlshaber der Reichswehr, und beseitigte mithilfe eines Ermächtigungsgesetzes die sozialen Errungenschaften der Novemberrevolution einschließlich des Acht-Stunden-Tags. Das ganze Land polarisierte sich. In Sachsen und Thüringen näherten sich linke SPD-Regierungen der KPD an, während in Bayern faschistische Kräfte im Bündnis mit Militärs einen Staatstreich gegen die Reichsregierung vorbereiteten.
Die KPD brauchte lange, bis sie die revolutionäre Lage erkannte. Erst ab August unternahm sie in enger Zusammenarbeit mit der Komintern ernsthafte revolutionäre Vorbereitungen. Doch am 21. Oktober sagte die Parteiführung unter dem Vorsitzenden Heinrich Brandler einen vorbereiteten Aufstand in letzter Sekunde wieder ab, weil linke SPD-Delegierte auf einem Betriebsrätekongress in Chemnitz ihre Zustimmung verweigerten. Statt in einer Revolution endete der deutsche Oktober in einem politischen Fiasko. In Hamburg traf die Entscheidung der Parteiführung, den Kampf um die Macht wieder abzublasen, zu spät ein, der Aufstand brach trotzdem aus, blieb isoliert und wurde gewaltsam niedergeschlagen. In Sachsen und Thüringen setzte die Reichswehr die linken Regierungen ab. Die KPD selbst wurde verboten.
Trotzki widmete den Lehren aus dem deutschen Oktober große Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu Stalin und Sinowjew, die die Niederlage auf die angebliche Unreife der Situation zurückführten, bezeichnete er sie als "klassisches Beispiel einer verpassten revolutionären Situation", deren Ursachen "ausschließlich in der Taktik und nicht in den objektiven Umständen" lägen. Schon die russische Oktoberrevolution habe gezeigt, dass dem subjektiven Faktor, der Partei, in einer objektiv revolutionären Situation die ausschlaggebende Rolle zufalle. Dasselbe habe nun der deutsche Oktober auf negative Weise bewiesen.
"Mit Beginn der Ruhrbesetzung", bilanzierte Trotzki, "hätte die Kommunistische Partei unbedingt einen festen und entschlossenen Kurs in Richtung Machtergreifung einschlagen müssen. Nur eine mutige taktische Wende hätte das deutsche Proletariat im Kampf um die Macht vereinen können. Haben wir auf dem Dritten und teilweise auf dem Vierten Kongress den deutschen Genossen gesagt: ‚Ihr werdet die Massen nur gewinnen, wenn ihr eine führende Rolle in ihrem Kampf um Übergangsforderungen spielt’, so stellte sich die Frage Mitte 1923 anders: Nach allem, was das deutsche Proletariat in den letzten Jahren durchgemacht hatte, konnte es nur in die entscheidende Schlacht geführt werden, wenn es überzeugt war, dass die Kommunistische Partei diesmal aufs Ganze gehen würde (d.h. dass es nicht um diese oder jene Teilaufgabe, sondern um die Grundaufgabe geht), dass sie bereit sei, in die Schlacht zu ziehen, und fähig, den Sieg zu erringen. Aber die deutsche Kommunistische Partei vollzog diese Wende ohne das nötige Vertrauen und mit extremer Verspätung. Trotz der heftigen gegenseitigen Angriffe legten Rechte wie Linke bis zum September-Oktober eine ziemlich fatalistische Haltung gegenüber der Entwicklung der Revolution an den Tag. Während die gesamte objektive Situation von der Partei einen entscheidenden Schlag verlangte, unternahm die Partei nichts, um die Revolution zu organisieren, sondern wartete darauf."
In der Broschüre Die Lehren des Oktober unterstrich Trotzki, dass die Führung einer revolutionären Partei imstande sein müsse, abrupte Veränderungen der objektiven Lage rechtzeitig zu erkennen und die Partei neu zu orientieren. Nach den bisherigen Erfahrungen, schrieb er, könne "man es als ein fast allgültiges Gesetz ansehen, dass beim Übergang von der revolutionären Vorbereitungsarbeit zum unmittelbaren Kampf um die Machtergreifung eine Parteikrise ausbricht". Eine taktische Neuorientierung bedeute immer einen Bruch mit den bisherigen Methoden und Gepflogenheiten. "Kommt der Umsturz sehr plötzlich und hat die vorhergehende Periode viele konservative Elemente in den führenden Organen der Partei angesammelt, so wird sie sich im entscheidenden Moment als unfähig erweisen, ihre Führerrolle zu erfüllen, zu der sie sich im Laufe vieler Jahre und Jahrzehnte vorbereitet hat. ... Die revolutionäre Partei befindet sich unter dem Druck fremder politischer Kräfte; in jeder Periode ihres Bestehens entwickelt sie andere Mittel, diesen Kräften zu widerstehen und sich ihnen entgegenzusetzen. Bei einer taktischen Neuorientierung und den damit verbundenen inneren Reibungen schwindet die Kraft, sich den zerstörenden äußeren Kräften zu widersetzen. Es besteht daher die Gefahr, dass innere Umgestaltungen der Partei, die im Hinblick auf die Notwendigkeit der taktischen Neuorientierung entstehen, über das Ziel hinauswachsen und verschiedenen Klassentendenzen als Stützpunkt dienen. Einfacher ausgedrückt: eine Partei, die mit den historischen Aufgaben ihrer Klasse nicht Schritt hält, läuft Gefahr, zum indirekten Werkzeug anderer Klassen zu werden oder wird es auch tatsächlich."
Die Niederlage der deutschen Revolution hatte unmittelbare Rückwirkungen auf die Sowjetunion. Sie stärkte die reaktionären Kräfte, aus denen schließlich die stalinistische Diktatur erwuchs. Die wirtschaftliche Rückständigkeit und die internationale Isolation des ersten Arbeiterstaats führten zur Herausbildung einer Bürokratie in Staat und Partei, die in wachsendem Maße ihre eigenen Interessen geltend machte. Die Sowjetregierung hatte mangels geschulter Kräfte viele ehemalige zaristische Beamte in die Verwaltung geholt und 1921 im Rahmen der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) Zugeständnisse an kapitalistische Elemente gemacht, um die Wirtschaft zu beleben und die verheerenden Folgen von Krieg und Bürgerkrieg zu überwinden. Diese konservativen Elemente übten wachsenden Einfluss auf die Kommunistische Partei aus, die durch den Bürgerkrieg erschöpft war. Sie begegneten dem Programm der sozialistischen Weltrevolution mit Misstrauen und waren bemüht, ihre eigene gesellschaftliche Stellung zu konsolidieren.
Die deutsche Niederlage gab diesen konservativen Strömungen Auftrieb. Sie zerschlug die Hoffnung, die Sowjetwirtschaft werde in kurzer Zeit Unterstützung durch ein fortgeschrittenes Industrieland bekommen. Die Sowjetunion blieb isoliert und das Versagen der KPD schien all jene zu bestätigen, die das Schicksal der Sowjetunion nicht mit den internationalen Erfolgen der kommunistischen Bewegung verknüpfen wollten, sondern auf die eigenen nationalen Kräfte setzten. "Hätte Ende des Jahres 1923 die deutsche Revolution gesiegt", fasste Trotzki die Auswirkungen der deutschen Niederlage zusammen, "so wäre die Diktatur des Proletariats in Russland ohne innere Erschütterungen gereinigt und gefestigt worden. Aber die deutsche Revolution endete mit einer der schrecklichsten Kapitulationen der Geschichte der Arbeiterklasse. Die Niederlage der deutschen Revolution gab allen reaktionären Prozessen in der Sowjetrepublik mächtigen Auftrieb. So kam es in der Partei zum Kampf gegen die ‚permanente Revolution’ und den ‚Trotzkismus’, zur Bildung der Theorie vom Sozialismus in einem Lande, usw."
Nur wenige Wochen nach der deutschen Niederlage verkündeten Stalin und Bucharin die Theorie vom "Sozialismus in einem Land", die die materiellen Interessen der Bürokratie zum Ausdruck brachte und zum Dreh- und Angelpunkt ihres Angriffs auf den Marxismus wurde. Sie bedeutete die völlige Abkehr von der internationalen Perspektive, die die Oktoberrevolution angeleitet hatte, und wies die strategischen Schlussfolgerungen zurück, die Lenin, Trotzki und Luxemburg aus dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale gezogen hatten. Ihr Ursprung ging auf den rechten deutschen Sozialdemokraten Georg von Vollmar zurück, der schon 1878 einen "isolierten sozialistischen Staat" propagiert hatte.
Trotzki fasste den Gegensatz zwischen der internationalen Perspektive des Marxismus und der nationalen Perspektive Stalins mit den Worten zusammen: "Der Marxismus geht von der Weltwirtschaft aus nicht als einer Summe nationaler Teile, sondern als einer gewaltigen, selbständigen Realität, die durch die internationale Arbeitsteilung und den Weltmarkt geschaffen wurde und in der gegenwärtigen Epoche über die nationalen Märkte herrscht. Die Produktivkräfte der kapitalistischen Gesellschaft sind längst über die nationalen Grenzen hinausgewachsen. Der imperialistische Krieg war eine der Äußerungen dieser Tatsache. Die sozialistische Gesellschaft muss in produktionstechnischer Hinsicht im Vergleich zu der kapitalistischen Gesellschaft ein höheres Stadium darstellen. Sich das Ziel zu stecken, eine national isolierte sozialistische Gesellschaft aufzubauen, bedeutet, trotz aller vorübergehenden Erfolge, die Produktivkräfte, sogar im Vergleich zum Kapitalismus, zurückzerren zu wollen. Der Versuch, unabhängig von den geographischen, kulturellen und historischen Bedingungen der Entwicklung des Landes, das einen Teil der Weltgesamtheit darstellt, eine in sich selbst abgeschlossene Proportionalität aller Wirtschaftszweige in nationalem Rahmen zu verwirklichen, bedeutet, einer reaktionären Utopie nachzujagen."
Die Perspektive des "Sozialismus in einem Land" beeinflusste alle Aspekte der sowjetischen Innen- und Außenpolitik. In der Innenpolitik raubte sie der Führung den politischen Kompass. Die Stalinfraktion verfolgte einen empirischen Zickzackkurs, der die wirtschaftlichen Widersprüche und sozialen Gegensätze verschärfte und das Land mehrmals an den Rand des Bürgerkriegs trieb. Um ihre Stellung gegenüber der Arbeiterklasse zu stärken, förderte sie anfangs Großbauern und Spekulanten. Als diese erstarkten und ihre eigene Herrschaft bedrohten, vollzog sie einen panischen Linksschwenk, kollektivierte gewaltsam die Landwirtschaft und schlug ein Industrialisierungstempo ein, das die Kräfte der Arbeiter überforderte. Konsequent war sie nur in ihrem Vorgehen gegen die Linke Opposition, die sie nach jedem Schwenk heftiger verfolgte.
In der Außenpolitik opferte das stalinistische Regime die internationale revolutionäre Orientierung dem nationalen Interesse. Es verwandelte die Kommunistische Internationale in ein Werkzeug der sowjetischen Außenpolitik und benutzte deren Sektionen für seine Manöver mit bürgerlichen Regierungen. In Ländern, von deren Regierung die Sowjetunion Unterstützung erhoffte, schlugen die Kommunistischen Parteien einen Kurs der Klassenzusammenarbeit ein, der sie schließlich in Instrumente der Konterrevolution verwandelte. Die ersten Folgen dieser Politik waren die Niederlage des britischen Generalstreiks im Mai 1926 und der chinesischen Revolution im April 1927. In Großbritannien hatte sich die Kommunistische Partei unkritisch hinter den Gewerkschaftsdachverband TUC gestellt, zu dem Stalin freundschaftliche Beziehungen anstrebte. Als der TUC dem Generalstreik in den Rücken fiel - was sich leicht voraussehen ließ -, war die Arbeiterklasse völlig unvorbereitet. In China unterstützte die Kommunistische Partei die bürgerliche Kuomintang, die sich 1927 gegen die Kommunisten wandte und die Partei in einem Massaker weitgehend auslöschte.
Der Kampf zwischen der Stalinfraktion und der Linken Opposition beherrschte ab 1923 das innere Leben der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Kommunistischen Internationale. Trotzki und seine Anhänger kämpften für eine Korrektur ihres politischen Kurses. Sie schlugen Maßnahmen gegen die Bürokratisierung und zur Wiederherstellung der innerparteilichen Demokratie vor. Sie setzten sich für eine Wirtschaftspolitik ein, die die Arbeiterklasse und die armen Bauern gegen die Profiteure der NEP und die besser gestellten Bauern stärkte. Sie zogen die Lehren aus der deutschen Niederlage und liefen Sturm gegen die falsche Politik der Komintern in Großbritannien und China. Im Kern drehte sich der Konflikt um zwei unversöhnliche Perspektiven, die der permanenten Revolution und die des Sozialismus in einem Land. Die Linke Opposition beharrte darauf, dass das Schicksal des Arbeiterstaates und seine Weiterentwicklung zum Sozialismus untrennbar mit der Entwicklung der sozialistischen Weltrevolution verbunden seien. Die Stalinisten wollten auf der Grundlage der russischen Ressourcen eine national isolierte sozialistische Gesellschaft aufbauen.
Die Analysen, Voraussagen und Warnungen der Linken Opposition wurden in der Praxis regelmäßig bestätigt. In ihren Reihen fanden sich viele führende Parteimitglieder, die in der Oktoberrevolution eine herausragende Rolle gespielt hatten. 1926 bildete sie gemeinsam mit den Anhängern Sinowjews und Kamenews für einige Zeit die Vereinigte Opposition. Nun stand ein großer Teil von Lenins Parteiführung (einschließlich seiner Frau Krupskaja) in Opposition zur Stalinfraktion. Doch die internationalen Niederlagen, die sie teilweise selbst verschuldet hatte, stärkten die Bürokratie. "Sie siegte über all diese Feinde - die Opposition, die Partei und Lenin - nicht mit Ideen und Argumenten, sondern durch ihr eigenes soziales Schwergewicht. Das bleierne Hinterteil der Bürokratie wog schwerer als der Kopf der Revolution", fasste Trotzki den Grund für den Sieg der Bürokratie zusammen. Die stalinistische Bürokratie ging mit Verleumdung, Geschichtsfälschung, Parteiausschluss, Verbannung, Verfolgung und schließlich mit Hinrichtungskommandos gegen ihre Gegner vor. Trotzki selbst wurde 1926 aus dem Politbüro und 1927 aus der Partei ausgeschlossen, 1928 nach Kasachstan verbannt, 1929 aus dem Land verwiesen und 1940 ermordet.
Die Linke Opposition fand Unterstützung in den Kommunistischen Parteien Europas und Chinas. 1928 brachte James P. Cannon Trotzkis Kritik des Programmentwurfs der Kommunistischen Internationale in die USA und legte damit den Grundstein für die amerikanische trotzkistische Bewegung. In einem langen politischen und ideologischen Klärungsprozess entstanden schließlich die Internationale Linke Opposition und später die Vierte Internationale. Trotzki widmete nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion einen großen Teil seiner Energie dieser Aufgabe.
In der KPD galt Trotzki nach 1923 als Rechter, weil er sich weigerte, den Parteivorsitzenden Heinrich Brandler zum alleinigen Sündenbock für die Oktoberniederlage zu stempeln. Ruth Fischer und Arkadi Maslow, zwei Vertreter des linken Flügels, die Brandler an der Parteispitze ablösten, waren Anhänger Sinowjews und unterdrückten die Dokumente der Linken Opposition. Erst als sich Sinowjew mit Stalin überwarf und mit der Linken Opposition verbündete, entbrannte auch in der KPD ein heftiger Fraktionskampf. Fischer und Maslow wurden auf Betreiben Moskaus abgelöst und aus der Partei ausgeschlossen. An ihre Stelle trat Ernst Thälmann, der sich zum treuen Erfüllungsgehilfen Stalins entwickelte. Am 1. September 1926 bezogen 700 prominente KPD-Mitglieder in einem Brief öffentlich Stellung für die russische Vereinigte Opposition. Sie wiesen die Theorie des "Sozialismus in einem Land" zurück und forderten eine offene Diskussion über die russische Frage in den Reihen der KPD. Im April 1928 gründeten sie den Leninbund.
Trotzkis Unterstützer bildeten im Leninbund die Minderheit. Die Mehrheit, einschließlich des Führers Hugo Urbahns, bestand aus Anhängern Sinowjews. Im Leninbund lebten viele der ultralinken Standpunkte weiter, die die Komintern unter Lenin und Trotzki bekämpft hatte. Er neigte zu kleinbürgerlicher Ungeduld und prinzipienlosen Manövern, stellte nebensächliches Gezänk über Grundsatzfragen und entschied internationale Fragen nach nationalen Kriterien. 1929/30 kam es zum Bruch zwischen dem Leninbund und der Linken Opposition. Als Trotzki den Leninbund offen kritisierte, schloss dieser seine Anhänger aus. Im Mittelpunkt der Differenzen standen der Klassencharakter der Sowjetunion und die internationale Orientierung der Opposition.
Der Leninbund vertrat die Auffassung, die Konterrevolution habe in der Sowjetunion bereits gesiegt. Trotzki lehnte diese defätistische Haltung ab, die den Kampf für einen Kurswechsel der KPdSU und der Kommunistischen Internationale von vornherein verloren gab. Er bezeichnete den Wortradikalismus der Urbahns-Gruppe, die Stalins Herrschaft mit der Rückkehr der Bourgeoisie an die Macht gleichsetzte, als "umgedrehten Reformismus". Schon die französische Bourgeoisie habe im Thermidor des Jahres 1794 den Plebejern die Macht nur durch einen Bürgerkrieg entreißen können, schrieb Trotzki, "wie kann man dann annehmen oder glauben, die Macht des russischen Proletariats könne auf friedlichem, ruhigem, unmerklichem, bürokratischem Wege an die Bourgeoisie übergehen?" Er wies darauf hin, dass die wichtigsten Errungenschaften der Oktoberrevolution unangetastet blieben: "Die Produktionsmittel, die einst den Kapitalisten gehörten, sind bis heute in den Händen des Sowjetstaats. Der Boden ist nationalisiert. Die Ausbeuter sind noch immer von den Sowjets und der Armee ausgeschlossen. Das Außenhandelsmonopol bleibt ein Bollwerk gegen die ökonomische Intervention des Kapitalismus." Daraus folgerte Trotzki: "Der Kampf geht weiter, die Klassen haben ihr letztes Wort noch nicht gesprochen." Der Leninbund war der Vorläufer einer ganzen Reihe politischer Tendenzen, deren Abwendung vom Marxismus mit der Weigerung begann, die Sowjetunion - trotz und gegen das stalinistische Regime - als Arbeiterstaat zu verteidigen.
Der zweite Streitpunkt mit der Urbahns-Gruppe betraf die Frage des Internationalismus. Sie beurteilte internationale Fragen nach nationalen Gesichtspunkten und tat sich im Kampf gegen Trotzki mit internationalen Gruppierungen zusammen, mit denen sie in keiner grundsätzlichen Frage übereinstimmte. Trotzki bemerkte, ihr "Internationalismus" sei nichts weiter als "die arithmetische Summe nationaler opportunistischer Taktiken". In einem Offenen Brief an die Mitglieder des Leninbunds betonte Trotzki, dass sich die Linke Opposition nur als internationale Organisation entwickeln könne: "Wer glaubt, die Internationale Linke werde irgendwann als Summe nationaler Gruppen Gestalt annehmen und der internationale Zusammenschluss könne daher auf unbestimmte Zeit verschoben werden, bis die nationalen Gruppen ‚erstarkt sind’, schreibt dem internationalen Faktor nur eine zweitrangige Bedeutung zu und beschreitet gerade deshalb den Weg des nationalen Opportunismus. Jedes Land besitzt unbestreitbar große Besonderheiten, aber in unserer Epoche können diese Besonderheiten nur von einem internationalistischen Standpunkt her richtig bewertet und ausgenutzt werden. Andererseits kann nur eine internationale Organisation Träger der internationalen Ideologie sein. Kann jemand ernsthaft glauben, isolierte nationale Oppositionsgruppen, die unter sich gespalten und auf ihre eigenen Ressourcen angewiesen sind, könnten von sich aus den richtigen Weg finden? Nein, das ist der sichere Weg zur nationalen Degeneration, zum Sektierertum und zum Ruin. Die Internationale Opposition steht vor enorm schwierigen Aufgaben. Nur wenn sie untrennbar miteinander verbunden sind, nur wenn sie auf alle gegenwärtigen Probleme gemeinsame Antworten ausarbeiten, nur wenn sie ihre internationale Plattform entwickeln, nur wenn sie gegenseitig jeden ihrer Schritte überprüfen, das heißt, nur wenn sie sich in einer einzigen internationalen Organisation zusammenschließen, werden die nationalen Gruppen der Opposition ihren historischen Aufgaben gewachsen sein."
Die Urbahns-Gruppe rechtfertigte die Ablehnung einer internationalen Disziplin mit ihrem Recht auf innerparteiliche Demokratie. Trotzki wandte sich gegen diesen Versuch, "unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Bürokratismus der Dritten Internationale die Tendenzen und Praktiken der Zweiten Internationale einzuschmuggeln". Er antwortete: "Wir stehen nicht für Demokratie im Allgemeinen, sondern für zentralistische Demokratie. Eben aus diesem Grund stellen wir die nationale Führung über die lokale und die internationale Führung über die nationale. Die revolutionäre Partei hat nichts mit einem Diskussionsclub gemein, zu dem jeder hinkommt wie zu einem Café. Die Partei ist eine Organisation zum Handeln. Die Einheit der Ideen der Partei wird durch demokratische Kanäle gesichert, aber der ideologische Rahmen der Partei muss strikt abgegrenzt werden." Das gelte umso mehr für eine Fraktion, die "durch die engst mögliche Auswahl und Konsolidierung ihrer Gesinnungsgenossen" die Kommunistische Partei und andere Organisationen beeinflussen wolle. "Es wäre fantastisch und absurd, von der Linken Opposition zu verlangen, dass sie zu einer Vereinigung aller möglichen nationaler Gruppen und Grüppchen wird, die unzufrieden, beleidigt und voller Protest sind und nicht wissen, was sie wollen."
Die aus dem Leninbund ausgestoßenen Trotzkisten formierten sich im Frühjahr 1930 zur deutschen Linken Opposition. Sie führten einen mutigen politischen Kampf, um den falschen Kurs der Kommunistischen Partei zu korrigieren und den kommunistischen Einfluss in der Arbeiterklasse zu stärken. In einer Grußbotschaft an die erste Reichskonferenz der Linken Opposition im September 1930 wandte sich Trotzki gegen die "grundfalsche Einschätzung", ein Anwachsen des Einflusses der KPD stärke die stalinistische Parteileitung. Das sei "die Grundlage jeder Art ultralinken und pseudolinken Sektierertums". Vielmehr werde "eine wirkliche Radikalisierung der Massen und ein Zustrom von Arbeitern unter das Banner des Kommunismus nicht die Festigung des bürokratischen Apparats, sondern seine Erschütterung, seine Schwächung bedeuten". "Was die Opposition zugrunde richten könnte", warnte Trotzki, sei "die Mentalität einer Winkelgassensekte, die von Schadenfreude und Defätismus lebt, ohne Hoffnung und Perspektiven."
Die deutsche Linke Opposition arbeitete unter enormem politischem Druck und großen materiellen Schwierigkeiten. Der schmerzhafte Zerfallsprozess der KPD hatte auch in ihren Reihen Spuren hinterlassen, die sich in heftigen subjektiven Spannungen äußerten und mit destruktiven, bürokratischen Methoden ausgetragen wurden. Trotzki bemühte sich in zahlreichen persönlichen Briefen, diese Konflikte zu überwinden. Im Februar 1931 nahm er schließlich in einem Brief an alle Sektionen der Internationalen Linken Opposition zur Krise der deutschen Linksopposition Stellung. Er führte die Probleme auf die Zerstörung zurück, die "das administrative Verhalten der Epigonen [d.h. der Stalinisten] auf dem Gebiet der Grundsätze, Ideen und Methoden des Marxismus" seit 1923 angerichtet habe. Die Linke Opposition müsse auf einem Boden aufgebaut werden, "der mit den Überbleibseln und Trümmern früherer Zusammenbrüche übersät" sei. In scharfem Ton geißelte Trotzki dann das in der deutschen Sektion vorherrschende Cliquenwesen. "Der Geist der Zirkelmentalität (du für mich und ich für dich) ist die verachtenswürdigste organisatorische Krankheit", schrieb er. "Mit Hilfe dieser Mentalität kann man eine Clique um sich sammeln, aber keine Gruppe von Gesinnungsgenossen." Er wandte sich gegen "das Herumspielen mit Grundsätzen, journalistische Oberflächlichkeit, moralische Laxheit und ‚Pseudounversöhnlichkeit‘ im Namen persönlicher Launen." Nach Trotzkis Auffassung konnte die Krise der deutschen Linksopposition nur mit "aktiver internationaler Hilfe" gelöst werden. Er forderte den sofortigen Stopp aller organisatorischen Vergeltungsmaßnahmen sowie die Einsetzung einer Kontrollkommission und die Vorbereitung einer Parteikonferenz in enger Zusammenarbeit mit dem Internationalen Sekretariat. Die Gruppe um Kurt Landau, die in der Berliner Reichsführung die Mehrheit hatte, war nicht bereit, ihre Cliqueninteressen dem Internationalen Sekretariat unterzuordnen. Sie lehnte Trotzkis Brief rundweg ab, schloss ihre Rivalen nach und nach aus und brach schließlich selbst mit der internationalen Organisation.
Die Spannungen in der deutschen Linksopposition wurden durch Agenten des stalinistischen Geheimdiensts GPU ausgenutzt und verschärft. Eine Schlüsselrolle spielten dabei die aus Litauen stammenden Brüder Ruvin und Abraham Sobolevicius, die unter den Parteinamen Roman Well und Adolf Senin eine führende Rolle in der Leipziger Gruppe spielten, die in scharfem Konflikt zur Berliner Gruppe um Kurt Landau stand. Beide arbeiteten damals für die GPU, wie Senin drei Jahrzehnte später vor einem New Yorker Untersuchungsrichter zu Protokoll gab, nachdem er unter dem Namen Jack Soble als sowjetischer Agent enttarnt worden war. Sie betätigten sich sowohl als Informanten wie als Agents provocateurs. So übermittelten sie Trotzki regelmäßig ihre Version der Konflikte in der deutschen Linksopposition und verschafften sich Zugang zu sensiblen Informationen aus seinem Umfeld und dem seines Sohnes Leon Sedov. Als sich die politische Krise in Deutschland Mitte 1932 zuspitzte, bekannten sie sich offen zum stalinistischen Lager und veröffentlichten - zehn Tage vor Hitlers Machtübernahme - eine gefälschte Ausgabe der Zeitung Permanente Revolution, die den Bruch der deutschen Linksopposition mit Trotzki verkündete und von der stalinistischen Presse begeistert aufgegriffen wurde.
Trotzki äußerte sich unter dem Titel "Ernste Lehren aus einer unernsten Sache" zum "Fall Well". Er vermutete eine direkte Verbindung zum stalinistischen Geheimdienst, maß dem Fall aber auch eine weitergehende politische Bedeutung zu. Senin und Well, schrieb er, "gehören zu jenem unter der schwankenden Intelligenz und Halbintelligenz ziemlich verbreiteten Typus, für den die Ideen und Prinzipien an zweiter Stelle stehen und an erster die Sorge um die persönliche ‚Unabhängigkeit‘, die auf einem bestimmten Stadium in die Sorge um die persönliche Karriere übergeht."
Während es dem Arbeiter schwer falle, sich aus einem Land ins andere zu bewegen, Fremdsprachen zu beherrschen und Artikel zu schreiben, setze sich "der leichtbewegliche Intellektuelle, der weder durch Erfahrungen noch durch Kenntnisse beschwert ist, dafür aber ‚alles‘ und ‚alle‘ kennt, überall anwesend und imstande ist, mit dem linken Fuß Artikel über alles zu schreiben, sich nicht selten der Arbeiterorganisation auf den Hals". Trotzki schloss daraus, die Linke Opposition müsse sich ernsthaft "der Vorbereitung und Schulung neuer Kader aus der proletarischen Jugend" widmen. "Hand in Hand mit dem politischen Kampf" müsse "eine systematische theoretisch-erzieherische Arbeit" über die revolutionäre Konzeption, die Geschichte und die Tradition der Linken Opposition geleistet werden. "Nur auf dieser Grundlage kann man einen wirklichen proletarischen Revolutionär erziehen. Zwei, drei vulgarisierte Losungen wie ‚Massenarbeit‘, demokratischer Zentralismus‘, ‚Einheitsfront‘ usw. - das genügt vielleicht für die Brandlerianer oder für die SAP, aber nicht für uns."
Trotz ihrer zahlenmäßigen Schwäche, der wütenden Verfolgung durch die stalinistische KPD-Führung, der zerstörerischen Arbeit stalinistischer Provokateure in ihren Reihen und Unterdrückungsmaßnahmen des bürgerlichen Staats fand die deutsche Linke Opposition beachtliches Gehör. Sie baute Ortsgruppen in mehreren Dutzend Städten auf und gewann Einfluss in Betrieben. Trotzkis Schriften fanden großen Absatz unter Mitgliedern der KDP, der SPD und der SAP. So erreichten die Broschüren Soll der Faschismus wirklich siegen? und Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen 1932 Auflagen von jeweils über 30.000 Stück.
Der Erste Weltkrieg löste keines der Probleme, die ihn verursacht hatten. Europa blieb in verfeindete Mächte gespalten. Der deutsche Imperialismus, der versucht hatte, Europa nach seinen Bedürfnissen neu zu organisieren, war durch den Versailler Vertrag geknebelt, England und Frankreich durch den Krieg ausgeblutet. Die aufsteigende amerikanische Großmacht setzte Europa auf Rationen. Der europäische Kapitalismus litt an ständigen Fieberattacken in Form von Inflation, Börseneinbrüchen, politischen Krisen und Klassenkämpfen. Ihre bösartigste Form fand seine Krankheit im Wachstum des Nationalsozialismus.
Der Nationalsozialismus war Ausdruck der reaktionärsten und brutalsten Tendenzen des deutschen Kapitalismus. Das ist der Schlüssel zu seinem Verständnis. Die soziale Zusammensetzung und Psychologie seiner Anhänger kann Hitlers Aufstieg aus einem Wiener Obdachlosenasyl und den Schützengräben des Weltkriegs zum größenwahnsinnigen Diktator nicht erklären. Er verdankte seine Macht der herrschenden Elite, die ihn an die Spitze des Staates setzte. Die Millionenbeträge, die Thyssen, Krupp, Flick und andere Großindustrielle an die NSDAP spendeten, Hitlers Ernennung zum Kanzler durch Hindenburg, die Symbolfigur des Heeres, und schließlich die Zustimmung aller bürgerlichen Parteien zum Ermächtigungsgesetz legen beredtes Zeugnis ab, dass sich die große Mehrheit der herrschenden Elite hinter Hitler stellte, als alle anderen Mechanismen zur Unterdrückung der Arbeiterklasse versagten.
Was die Nationalsozialisten von den anderen bürgerlichen Parteien unterschied, war ihre Fähigkeit, die Verzweiflung des ruinierten Kleinbürgertums und die Wut des Lumpenproletariats zum Rammbock gegen die organisierte Arbeiterbewegung zu machen und in den Dienst des deutschen Imperialismus zu stellen. "Um zu versuchen, einen neuen Ausweg zu finden, muss sich die Bourgeoisie vollends des Drucks der Arbeiterorganisationen entledigen, sie hinwegräumen, zertrümmern, zersplittern", warnte Trotzki 1932. "Hier setzt die historische Funktion des Faschismus ein. Er bringt jene Klassen auf die Beine, die sich unmittelbar über das Proletariat erheben und fürchten, in dessen Reihen gestürzt zu werden, organisiert und militarisiert sie unter Deckung des offiziellen Staates mit den Mitteln des Finanzkapitals und treibt sie zur Zertrümmerung der proletarischen Organisationen, der revolutionären wie der gemäßigten."
Der Nationalsozialismus konnte sich nicht damit begnügen, die Kommunistische Partei zu unterdrücken: "Der Faschismus ist nicht einfach ein System von Repressionen, Gewalttaten, Polizeiterror. Der Faschismus ist ein besonderes Staatssystem, begründet auf der Ausrottung aller Elemente proletarischer Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Aufgabe des Faschismus besteht nicht allein in der Zerschlagung der proletarischen Avantgarde, sondern auch darin, die ganze Klasse im Zustand erzwungener Zersplitterung zu halten. Dazu ist die physische Ausrottung der revolutionärsten Arbeiterschicht ungenügend. Es heißt, alle selbständigen und freiwilligen Organisationen zu zertrümmern, alle Stützpunkte des Proletariats zu zerstören und die Ergebnisse eines dreiviertel Jahrhunderts Arbeit der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften zu vernichten. Denn auf diese Arbeit stützt sich in letzter Instanz auch die Kommunistische Partei."
Die Mitglieder der nationalsozialistischen Bewegung stammten - zumindest bis zu ihrer Machtübernahme - fast ausschließlich aus den Mittelklassen. Sie rekrutierten sich aus den Handwerkern, Krämern, Angestellten und Bauern, denen Krieg, Inflation und Krise den Glauben an den demokratischen Parlamentarismus geraubt hatten und die sich nach Ordnung und einer eisernen Hand sehnten. An der Spitze der Bewegung standen Offiziere und Unteroffiziere des alten Heeres, die sich nicht mit der Niederlage im Weltkrieg abfinden wollten. Das Programm der nationalsozialistischen Bewegung war dagegen alles andere als kleinbürgerlich. Es übersetzte die Grundbedürfnisse des deutschen Imperialismus in die Sprache der Mythologie und der Rassentheorie. Der Traum vom "tausendjährigen Reich" und der Hunger nach "Lebensraum im Osten" verliehen dem Expansionsdrang des deutschen Kapitals Ausdruck, dessen dynamische Produktivkräfte durch das engmaschige Staatensystem Europas erwürgt wurden. Der Rassenwahn tröstete den deutschen Kleinbürger über seine reale Ohnmacht hinweg und bereitete ihn auf den Vernichtungskrieg vor.
Selbst der Antisemitismus der Nazis hatte einen rationalen Kern. Die systematische Vernichtung von mehr als sechs Millionen Juden, Sinti und Roma durch Hitlers Regime wird oft als historisch "einzigartig" bezeichnet. Soweit damit das Ausmaß der kriminellen Energie gemeint ist, die systematische, industriell durchorganisierte, unter Einsatz von Teilen des Staatsapparats geplante Massenvernichtung, trifft diese Charakterisierung ohne Zweifel zu. Soll damit aber gesagt werden, der Holocaust sei unerklärlich und keiner historisch-materialistischen Analyse zugänglich, ist sie falsch. Auch wenn die antisemitischen Vorurteile, deren sich Hitler bediente, teilweise auf das Mittelalter zurückgingen, war der Antisemitismus der Nazis ein modernes Phänomen. Er war untrennbar mit der Zerstörung der Arbeiterbewegung und dem Krieg gegen den Sozialismus verbunden.
Hitlers eigener Antisemitismus stand in engem Zusammenhang mit seinem Hass auf die sozialistische Bewegung. "Die Arbeiterbewegung stieß ihn nicht ab, weil sie von Juden geführt wurde, sondern die Juden stießen ihn ab, weil sie die Arbeiterbewegung führten", schreibt der Historiker Konrad Heiden. "Nicht Rothschild der Kapitalist, sondern Karl Marx der Sozialist schürten Adolf Hitlers Antisemitismus." Hitler hatte in Wien persönlich erfahren, dass viele Juden in der Führung der Arbeiterbewegung aktiv waren. Ebenfalls in Wien lernte er die Christlichsoziale Partei Karl Luegers kennen und bewundern, die den Antisemitismus gezielt einsetzte, um einen Keil zwischen die Arbeiterbewegung und das verunsicherte Kleinbürgertum zu treiben. Lueger gewann mit einer Mischung von Antisemitismus und antikapitalistischer Rhetorik eine große Anhängerschaft im kleinen und mittleren Bürgertum und war von 1897 bis 1910 Bürgermeister von Wien.
Völlig abwegig ist die Behauptung, der Holocaust sei das Endprodukt eines in der gesamten deutschen Bevölkerung weit verbreiteten, latenten Antisemitismus, wie sie vor allem der amerikanische Historiker Daniel Goldhagen in seinem Buch "Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust" vertritt. Die marxistische Arbeiterbewegung hatte den Antisemitismus energisch bekämpft. So konnte die antisemitische christlich-soziale Arbeiterpartei Adolf Stöckers im wilhelminischen Reich keinen Einfluss auf Arbeiter gewinnen, weil sie auf den erbitterten Widerstand der SPD stieß. "Opposition gegen den Antisemitismus war für die Arbeiterbewegung zur Ehrensache geworden", berichtet der Historiker Robert Wistrich. "Die energische Kampagne der deutschen Sozialdemokratie gegen Adolf Stöckers Bewegung in Berlin machte die Arbeiterklasse weitgehend immun gegen den Antisemitismus."
Die Zerschlagung von KPD und SPD war die Voraussetzung dafür, dem Antisemitismus freien Lauf zu lassen. Bevor der Begriff KZ zum Synonym für Judenverfolgung und Massenmord wurde, errichteten die Nazis das erste Konzentrationslager in Dachau für die Arbeiterführer. Aber auch danach gab es zahlreiche Fälle von selbstloser Hilfe und Solidarität, die lediglich aufgrund des allgegenwärtigen Terrors der Gestapo keine breitere, organisierte Form annahmen. Das Schicksal der Juden war untrennbar mit dem der sozialistischen Arbeiterbewegung verbunden.
Auch nachdem die Nazis die Staatsmacht fest in den Händen hielten, konnten sie ihre mörderischen Phantasien einer rücksichtslosen Ausrottung "des gesamten Juden-, Freimaurer-, Marxisten- und Kirchentums der Welt" noch nicht ungehemmt in die Tat umsetzen. Dazu war der Krieg nötig. Nun verschmolz der Judenmord mit dem Vernichtungskrieg im Osten, der von Anfang an darauf abzielte, die gesamte politische und intellektuelle Führungsschicht der Sowjetunion - den "jüdischen Bolschewismus" in Hitlers Worten - physisch auszurotten, um die deutsche Vorherrschaft für Jahrhunderte zu sichern. Die kaltblütige Ermordung von sechs Millionen Juden war der Höhepunkt eines Vernichtungsfeldzugs, dem in Polen, Osteuropa und der Sowjetunion Millionen Kommunisten, Partisanen, Intellektuelle und einfache Leute zum Opfer fielen. Der barbarische Charakter des Imperialismus, des höchsten Stadiums des Kapitalismus, fand in diesem Vernichtungsfeldzug seinen höchsten Ausdruck.
Die Unterstützung der herrschenden Klasse und die brachialen Methoden der Nazis allein hätten nicht gereicht, Hitler zum Durchbruch zu verhelfen. Entscheidend war das völlige Versagen der großen Arbeiterparteien. Noch 1932 waren SPD und KPD weit stärker als Hitlers NSDAP. Bei der letzten Wahl vor Hitlers Machtübernahme eroberten sie zusammen 221 von 584 Reichtagssitzen, die NSDAP nur 196. Dabei war die Reichtagswahl nur ein schwacher Widerschein des wirklichen Kräfteverhältnisses. Die Arbeiter, die hinter der SPD und der KPD standen, hatten ein ganz anderes politisches Gewicht als der gesellschaftliche Bodensatz, den Hitler aufwühlte. Hitlers Sieg war das Ergebnis des Versagens von SPD und KPD.
Die SPD hatte 1918 die proletarische Revolution erwürgt, um die bürgerliche Ordnung zu retten. Das Ergebnis war die Weimarer Republik, in der die alten Kräfte der Reaktion hinter einer demokratischen Fassade fortlebten. Als die Weltwirtschaftskrise 1929 das labile gesellschaftliche Gleichgewicht sprengte, "rettete" die SPD die Republik, indem sie die demokratische Fassade Stein um Stein demontierte. Erst stellte sie sich hinter die Regierung Brüning, die das Parlament ausschaltete und mit Notverordnungen regierte. Dann unterstützte sie die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten, der kurz danach Hitler zum Kanzler ernannte. Anstatt ihre Mitglieder gegen die faschistische Gefahr zu mobilisieren, vertröstete die SPD sie auf Polizei, Reichswehr und Reichspräsidenten. Selbst als Hindenburg und von Papen 1932 die sozialdemokratisch geführte preußische Regierung gewaltsam absetzten, rührte die SPD keinen Finger. Stattdessen reichte sie Verfassungsklage beim Reichsgericht ein. Trotzki fasste ihre Haltung mit den Worten zusammen: "Eine Massenpartei, die Millionen hinter sich herführt (zum Sozialismus!), behauptet, dass die Frage, welche Klasse im heutigen, bis ins Innerste erschütterten Deutschland an die Macht gelangen werde, nicht von der Kampfkraft des deutschen Proletariats abhängt, nicht von den faschistischen Sturmabteilungen, auch nicht von der Zusammensetzung der Reichswehr, sondern davon, ob der reine Geist der Weimarer Verfassung (mit der notwendigen Menge Kampfer und Naphtalin) sich im Präsidentenpalast niederlasse."
Die unterwürfige Haltung der SPD entwaffnete nicht nur die Arbeiterklasse, sie stärkte auch die Faschisten, wie Trotzki deutlich machte: "Auf Staatsapparat, Gerichte, Reichswehr, Polizei müssen die Appelle der Sozialdemokratie eine der beabsichtigten entgegengesetzte Wirkung ausüben. Der ‚loyalste’, ‚neutralste’, am wenigsten an die Nationalsozialisten gebundene Bürokrat wird folgendermaßen urteilen müssen: ‚Hinter der Sozialdemokratie stehen Millionen; in ihren Händen hält sie ungeheure Mittel: Presse, Parlament, Gemeindeverwaltungen; es geht um ihre eigene Haut; im Kampf gegen die Faschisten ist ihnen die Unterstützung der Kommunisten gewiss; und nichtsdestoweniger wenden sich die allmächtigen Herren an mich, den Beamten, sie vor dem Angriff einer Millionenpartei zu retten, deren Führer morgen meine Vorgesetzten werden können. Schlecht muss es um die Herren Sozialdemokraten bestellt sein, ganz hoffnungslos... Es ist Zeit für mich, den Beamten, an meine eigene Haut zu denken’. So wird schließlich der bis gestern noch schwankende, ‚loyale’, ‚neutrale’ Beamte sich für alle Fälle absichern, d.h. mit den Nationalsozialisten verbinden, um seinen morgigen Tag zu sichern. So arbeiten die überlebten Reformisten auch an der bürokratischen Front für die Faschisten."
Noch unterwürfiger als die SPD verhielten sich die Gewerkschaften. Im Bemühen, den Nationalsozialisten seine Verlässlichkeit und Unentbehrlichkeit zu beweisen, distanzierte sich der ADGB unter dem Vorsitz Theodor Leiparts schon dreieinhalb Monate vor Hitlers Machtübernahme von der SPD. Während die SA nach Hitlers Einzug in die Reichskanzlei gegen bekannte Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Kommunisten vorging, erklärte der ADGB seine Bereitschaft, die in jahrzehntelanger Arbeit aufgebauten Gewerkschaften in den Dienst des neuen Staates zu stellen: "Die Gewerkschaftsorganisationen sind Ausdruck einer unbestreitbaren gesellschaftlichen Notwendigkeit, ein unentbehrlicher Teil der bestehenden sozialen Ordnung. ... Als ein Ergebnis der natürlichen Ordnung der Dinge werden sie mehr und mehr in den Staat integriert. ... Gewerkschaftsorganisationen erheben keinen Anspruch darauf, die Staatsmacht direkt zu beeinflussen. Ihre einzige Aufgabe kann hier nur die sein, die Erfahrung und das Wissen, das sie auf diesem Gebiet erworben haben, der Regierung und dem Parlament zur Verfügung zu stellen." Am 1. Mai marschierte der ADGB unter dem Hakenkreuz. Die Nazis ließen sich davon nicht beeindrucken. Am 2. Mai stürmten sie die Gewerkschaftshäuser, verhafteten und ermordeten zahlreiche Gewerkschaftsführer und lösten den ADGB auf.
Die KPD war als Antwort auf den Verrat der Sozialdemokratie gegründet worden. Doch sie erwies sich als ebenso unfähig, die Arbeiterklasse gegen die Nazis zusammenzuschweißen und in den Kampf zu führen, wie die SPD. Eine zehnjährige Kampagne gegen den "Trotzkismus" hatte die Partei politisch zersetzt und die Führung in ein williges Werkzeug Stalins verwandelt. Sie wiederholte alle opportunistischen und ultralinken Fehler, um deren Überwindung sich Lenin und Trotzki zehn Jahre zuvor bemüht hatten, und verbarg ihre Lähmung und ihren Fatalismus hinter radikalem Geschrei. Trotzki versuchte bis 1933 unentwegt, den falschen Kurs der KPD zu berichtigen. Seine Schriften über Deutschland aus diesen Jahren, die zusammen zwei dicke Bände füllen, beweisen sein Genie als Marxist und politischer Führer. Verbannt auf eine abgelegene türkische Insel, angewiesen auf Zeitungen und Berichte politischer Freunde, zeigte Trotzki ein Verständnis der deutschen Ereignisse und ihrer inneren Mechanismen, das bis heute seinesgleichen sucht. Er sah die Ereignisse klar und präzise voraus und entwickelte eine überzeugende Alternative zum verheerenden Kurs der KPD. Diese antwortete ihm nicht mit Argumenten, sondern mit Verleumdungen, mit Gewalt und mit dem gesamten Gewicht des Moskauer Apparats.
Im Mittelpunkt der Politik der KPD stand die Sozialfaschismusthese. Aus dem Umstand, dass sowohl Faschismus wie bürgerliche Demokratie Formen der kapitalistischen Herrschaft sind, zog die Kommunistische Internationale den Schluss, dass es überhaupt keinen Gegensatz zwischen ihnen gebe, auch keinen relativen. Faschismus und Sozialdemokratie seien dasselbe - in den Worten Stalins: "keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder" -, die Sozialdemokraten demnach "Sozialfaschisten". Die KPD lehnte jede Zusammenarbeit mit der SPD gegen die rechte Gefahr ab und ging in einigen Fällen sogar so weit, gemeinsame Sache mit den Nazis zu machen - so, als sie 1931 einen von den Nazis initiierten Volksentscheid zum Sturz der SPD-geführten preußischen Regierung unterstützte. Von Zeit zu Zeit rief sie zwar zur "Einheitsfront von unten" auf. Doch das war kein Angebot zur Zusammenarbeit, sondern ein Ultimatum an die SPD-Mitglieder, mit ihrer Partei zu brechen.
Trotzki wandte sich entschieden gegen diese Form des Vulgärradikalismus. Er erinnerte daran, dass schon Marx und Engels heftig protestiert hatten, als Lassalle feudale Konterrevolution und liberale Bourgeoisie als "eine reaktionäre Masse" bezeichnet hatte. Denselben Fehler wiederholten nun Stalin und die KPD. "Der Sozialdemokratie die Verantwortung für Brünings Notverordnungssystem und die drohende faschistische Barbarei aufzuerlegen, ist vollkommen richtig. Die Sozialdemokratie mit dem Faschismus zu identifizieren, vollkommen unsinnig", schrieb er. "Die Sozialdemokratie, jetzt Hauptvertreterin des parlamentarisch-bürgerlichen Regimes, stützt sich auf die Arbeiter. Der Faschismus auf das Kleinbürgertum. Die Sozialdemokratie kann ohne Arbeitermassenorganisationen keinen Einfluss ausüben, der Faschismus seine Macht nicht anders befestigen als durch Zerschlagung der Arbeiterorganisationen. Hauptarena der Sozialdemokratie ist das Parlament. Das System des Faschismus fußt auf der Vernichtung des Parlamentarismus. Für die monopolistische Bourgeoisie stellen parlamentarisches und faschistisches System bloß verschiedene Werkzeuge ihrer Herrschaft dar. Sie nimmt in Abhängigkeit von den historischen Bedingungen zu diesem oder jenem Zuflucht. Jedoch für die Sozialdemokratie wie für den Faschismus ist die Wahl des einen oder des andern Werkzeugs von selbständiger Bedeutung, noch mehr, die Frage ihres politischen Lebens oder Todes."
Trotzki kämpfte unermüdlich für eine Politik der Einheitsfront. Sie hätte es der KPD ermöglicht, den Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und Faschismus zu nutzen, um die Arbeiterklasse zusammenzuschließen, das Vertrauen der sozialdemokratischen Arbeiter zu gewinnen und die sozialdemokratischen Führer bloßzustellen. In dem Ende 1931 verfassten Artikel "Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?" erklärte er: "Heute gerät die Sozialdemokratie als Ganzes, bei all ihren inneren Widersprüchen, in scharfen Konflikt mit den Faschisten. Unsere Aufgabe besteht darin, diesen Konflikt auszunützen, und nicht darin, die Widersacher gegen uns zu vereinigen." Man müsse "in der Tat die völlige Bereitschaft zeigen, mit den Sozialdemokraten einen Block gegen die Faschisten zu schließen", und "verstehen, die Arbeiter in der Wirklichkeit von den Führern loszulösen. Die Wirklichkeit aber ist jetzt - der Kampf gegen den Faschismus." Es gelte den sozialdemokratischen Arbeitern zu helfen, "in der Praxis - in der neuen, außergewöhnlichen Situation - zu überprüfen, was ihre Organisationen und Führer wert sind, wenn es um Leben und Tod der Arbeiterklasse geht".
Die Weigerung der KPD, sich auf eine solche Politik einzulassen, führte in die deutsche Katastrophe. Ihre Sozialfaschismus-Politik spaltete die Arbeiterklasse, demoralisierte die KPD-Mitglieder und trieb das Kleinbürgertum in die Arme Hitlers. Trotzki zog im Mai 1933 folgende Bilanz der Politik der KPD: "Keinerlei Politik der Kommunistischen Partei hätte die Sozialdemokratie in eine Partei der Revolution verwandeln können. Aber das war auch nicht beabsichtigt. Nötig war es, bis ans Ende den Gegensatz von Reformismus und Faschismus zur Schwächung des Faschismus auszunutzen und gleichzeitig vor den Arbeitern die Untauglichkeit der sozialdemokratischen Führung aufzudecken, um den Reformismus zu schwächen. Beide Aufgaben verschmolzen naturgemäß in eins. Die Politik der Kominternbürokratie aber führte zum umgekehrten Resultat: Die Kapitulation der Reformisten kam den Faschisten und nicht den Kommunisten zugute, die sozialdemokratischen Arbeiter hielten sich an ihre Führer, die kommunistischen Arbeiter verloren den Glauben an sich und ihre Führung."
Auch der Übergang der verzweifelten kleinbürgerlichen Massen ins Lager des Faschismus war nicht unvermeidlich. Viele hätten sich auf die Seite der Arbeiterklasse gestellt, wenn diese einen Ausweg aus der gesellschaftlichen Sackgasse gezeigt hätte. Die Voraussetzung dafür wäre eine mutige und entschlossene Politik der Kommunistischen Partei gewesen. Die Kleinbourgeoisie, schrieb Trotzki, "ist durchaus fähig, ihr Schicksal mit dem des Proletariats zu verknüpfen. Hierzu ist nur eines erforderlich: Das Kleinbürgertum muss die Überzeugung gewinnen, dass das Proletariat fähig ist, die Gesellschaft auf einen neuen Weg zu führen. Ihm diesen Glauben einzuflößen, vermag das Proletariat nur durch seine Kraft, durch die Sicherheit seiner Handlungen, durch geschickten Angriff auf die Feinde, durch die Erfolge seiner revolutionären Politik. Doch wehe, wenn die revolutionäre Partei sich als unfähig erweist! Der tägliche Kampf des Proletariats verschärft die Unbeständigkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Streiks und politische Unruhen verschlechtern die Wirtschaftslage des Landes. Das Kleinbürgertum wäre bereit, sich vorübergehend mit den wachsenden Entbehrungen abzufinden, wenn es durch die Erfahrung zur Überzeugung käme, dass das Proletariat imstande ist, es auf einen neuen Weg zu führen. Erweist sich aber die revolutionäre Partei trotz des ununterbrochen zunehmenden Klassenkampfs immer wieder von neuem als unfähig, die Arbeiterklasse um sich zu scharen, schwankt sie, ist sie verwirrt, widerspricht sie sich selbst, dann verliert das Kleinbürgertum die Geduld und beginnt in den revolutionären Arbeitern die Urheber seines eigenen Elends zu sehen."
1921 hatte Lenin den linken Radikalismus als "Kinderkrankheit im Kommunismus" bezeichnet. Zehn Jahre später war die ultralinke Politik der KPD keine Kinderkrankheit mehr. Sie wurzelte in der gesellschaftlichen Stellung der stalinistischen Bürokratie, die sich über die Arbeiterklasse erhoben und die Sektionen der Komintern ihrem Kommando unterstellt hatte. "Die herrschende und unkontrollierte Stellung der Sowjetbürokratie züchtet eine Psychologie hoch, die in vielem der Psychologie des proletarischen Revolutionärs direkt entgegengesetzt ist", schrieb Trotzki. "Die Bürokratie stellt ihre Berechnungen und Kombinationen in der inneren und der internationalen Politik höher als die Aufgaben der revolutionären Massenerziehung und praktiziert sie ohne jede Verbindung mit den Aufgaben der internationalen Revolution."
Die Bürokratie war gewohnt, Ultimaten zu stellen und zu kommandieren. Sie sah nichts voraus und reagierte auf die katastrophalen Folgen ihrer eigenen Politik mit einem erratischen Zickzackkurs, der sowohl ultralinke wie ultrarechte Formen annahm. Hatte die Komintern zwischen 1924 und 1928 einen rechten Kurs verfolgt (Großbritannien, China), so reagierte sie 1928 auf eine Krise in der Sowjetunion mit einem scharfen Linksschwenk, den sie auf alle Sektionen übertrug. Sie verkündete die so genannte "dritte Periode", die den Kampf um die Macht in allen Ländern auf die Tagesordnung stelle. Die Sozialfaschismusthese war ein Ergebnis dieses Schwenks.
Die deutsche Katastrophe veranlasste Trotzki, seine Haltung gegenüber der KPD zu verändern. Er trat nicht mehr für ihre Reform, sondern für den Aufbau einer neuen Partei ein. Vor 1933 hatte sich der Schlüssel zur Lage in Händen der KPD befunden. "Hätte man sich unter diesen Umständen gegen die KPD gestellt und sie von vornherein für tot erklärt, so hätte man damit die Unvermeidlichkeit des Sieges des Faschismus proklamiert", erklärte Trotzki. "Dazu konnten wir uns nicht verstehen. Man musste die Möglichkeiten der damaligen Situation gründlich ausschöpfen." Doch mit dem Sieg des Faschismus habe sich die Lage von Grund auf verändert. "Es handelt sich schon nicht mehr um eine Prognose oder um theoretische Kritik, sondern um ein bedeutendes historisches Ereignis, das sich immer tiefer dem Bewusstsein der Massen und damit der Kommunisten einprägen wird. Auf den unvermeidlichen Folgen dieses Ereignisses müssen wir die Gesamtperspektive und -strategie aufbauen, nicht auf irgendwelchen zweitrangigen Erwägungen."
Auf den Einwand, die KPD sei nach wie vor weitaus stärker als die Linke Opposition, antwortete Trotzki, die Herausbildung eines Kaders sei "nicht eine bloße organisatorische, sondern eine politische Aufgabe: Kader formieren sich auf Grund einer bestimmten Perspektive. Die Losung der Reform der Partei aufzuwärmen heißt: bewusst ein utopisches Ziel zu stecken und dadurch unsere eigenen Kader neuen und immer schärferen Enttäuschungen entgegenzustoßen. Bei einem solchen Kurs würde sich die Linke Opposition nur als ein Anhängsel der sich zersetzenden Partei erweisen und gemeinsam mit ihr von der Szene abtreten."
Trotzki übertrug diese Schlussfolgerung nicht sofort auf die Kommunistische Internationale und die KPdSU. Er wartete ab, ob sie auf die deutsche Katastrophe reagieren und Lehren daraus ziehen würden. Das war nicht der Fall. Die Moskauer Führung verteidigte die Politik der KPD und verbot jede Diskussion darüber. In keiner einzigen Kommunistischen Partei erhob sich Widerspruch. "Eine Organisation, die der Donner des Faschismus nicht geweckt hat und die demütig derartige Entgleisungen von Seiten der Bürokratie unterstützt, zeigt dadurch, dass sie tot ist und nichts sie wieder beleben wird", schloss Trotzki. "In unserer gesamten zukünftigen Arbeit müssen wir von dem historischen Zusammenbruch der offiziellen Kommunistischen Internationale ausgehen."
Auch die Verteidigung der Sowjetunion sei jetzt vom Aufbau einer neuen Internationale abhängig, betonte er: "Allein die Schaffung einer marxistischen Internationale, die völlig unabhängig von der stalinistischen Bürokratie und ihr politisch entgegengesetzt ist, kann die UdSSR vor dem Zusammenbruch retten, indem sie ihr weiteres Schicksal mit dem Schicksal der proletarischen Weltrevolution verbindet."
Zwei Jahre nach Hitlers Machtübernahme vollzog die Kommunistische Internationale einen scharfen Schwenk nach rechts. Ohne ihre Fehler in Deutschland jemals einzugestehen, ging sie von der Ablehnung der Einheitsfront zur Unterstützung der Volksfront über. Hatte sie bisher jede Zusammenarbeit mit reformistischen Arbeiterparteien abgelehnt, so befürwortete sie nun Bündnisse mit rein bürgerlichen Parteien im Namen des Kampfs gegen den Faschismus. Die stalinistische Bürokratie trennte damit das Schicksal der Sowjetunion vollständig vom internationalen Klassenkampf. Sie setzte jetzt auf die Unterstützung verbündeter bürgerlicher Regierungen und wies die jeweiligen Kommunistischen Parteien an, revolutionäre Kämpfe gegen ihre neuen Bündnispartner zu unterdrücken. Sie fürchtete, erfolgreiche Erhebungen der europäischen Arbeiterklasse könnten den sowjetischen Arbeitern neuen Mut geben und ihre eigene Herrschaft gefährden. 1943 löste sie die Kommunistische Internationale auf.
Mit dem Übergang zur Volksfront nahm die Politik der Kommunistischen Parteien einen offen konterrevolutionären Charakter an. Um die bürgerlichen Volksfrontpartner nicht abzuschrecken, unterdrückte sie alle revolutionären Bestrebungen der Arbeiterklasse. In Frankreich erstickte die Volksfront zwischen 1936 und 1938 eine mächtige revolutionäre Offensive und sicherte das politische Überleben der Bourgeoisie, die bald danach zu offenen Repressionsmaßnahmen und - unter dem Vichy-Regime - zur Kollaboration mit den Nazis überging. In Spanien erstickte die Volksfront jede selbständige politische Initiative der Arbeiter und Bauern. Während Francos Truppen die Republik bedrohten, jagte der stalinistische Geheimdienst GPU hinter den Fronten revolutionäre Arbeiter, nahm Tausende gefangen, folterte und ermordete sie. Zu seinen zahlreichen Opfern gehörten auch der Führer der zentristischen POUM, Andres Nin, Trotzkis Sekretär Erwin Wolf und der österreichische Sozialist Kurt Landau. Die konterrevolutionäre Politik Stalins verhalf Franco schließlich zum Sieg.
Stalins konterrevolutionärer Kurs gipfelte im Großen Terror der Jahre 1937 und 1938. In einem präventiven Bürgerkrieg ließ er alle liquidieren, die zum Kristallisierungspunkt für die Opposition der Arbeiterklasse hätten werden können. Praktisch die gesamte Führung der Oktoberrevolution, die Mitglieder der Linken Opposition, herausragende Intellektuelle und Künstler, fähige Ingenieure sowie die Führung der Roten Armee wurden in öffentlichen Schauprozessen oder in Geheimverfahren zum Tode verurteilt und durch Genickschuss hingerichtet. Es gibt keinen anderen vergleichbaren politischen Völkermord in der Geschichte. Fast eine Million Menschen verloren im Großen Terror das Leben. Stalins Regime hat mehr Kommunisten auf dem Gewissen, als das Hitlers und das Mussolinis zusammengenommen.
Die fünf Jahre, die zwischen Trotzkis Aufruf für eine neue Internationale und ihrer Gründung im September 1938 lagen, dienten einem intensiven Klärungsprozess. Im Mittelpunkt stand dabei die Auseinandersetzung mit dem Zentrismus, der eine Art Mittelweg zwischen Stalinismus und Trotzkismus, zwischen reformistischer und revolutionärer Politik anstrebte. Die Vorgänge in Deutschland hatten die Perspektive friedlicher Entwicklung und demokratischer Reformen diskreditiert und einen Gärungsprozess in den Reihen der reformistischen und stalinistischen Parteien ausgelöst, den Trotzki zu beeinflussen suchte. "Der Reformismus macht den zahllosen Schattierungen des Zentrismus Platz, die heute in den meisten Ländern das Feld der Arbeiterbewegung beherrschen", schrieb er. "Die neue Internationale wird sich hauptsächlich auf Kosten der heute vorherrschenden zentristischen Tendenzen und Organisationen entwickeln müssen. Zugleich kann sich die neue Internationale nicht anders herausbilden als im konsequenten Kampf gegen den Zentrismus. Ideologische Unversöhnlichkeit und geschmeidige Einheitsfrontpolitik sind unter diesen Bedingungen zwei Werkzeuge zur Erreichung ein und derselben Ziele."
Im Artikel "Zentrismus und die Vierte Internationale" arbeitete Trotzki die wichtigsten Merkmale des Zentrismus heraus: Er sei theoretisch formlos und eklektisch, fliehe möglichst theoretische Verpflichtungen und sei "(in Worten) geneigt, der ‚revolutionären Praxis’ den Vorzug zu geben vor der Theorie, ohne zu begreifen, dass allein die marxistische Theorie der Praxis revolutionäre Richtung zu geben vermag". Ideologisch führe der Zentrismus ein Schmarotzerleben. Er benutze die Argumente der Reformisten gegen den Marxismus und die Argumente der Marxisten gegen die Rechten, wobei er vor den praktischen Schlussfolgerungen ausweiche und der marxistischen Kritik die Spitze abbreche. Er stehe "dem revolutionären Prinzip: ‚Aussprechen was ist’, voll Widerwillen gegenüber" und neige dazu, "die grundsätzliche Kritik mit persönlichem Kombinieren und kleinlicher Diplomatie zwischen Organisationen zu vertauschen". Er bleibe in geistiger Abhängigkeit von den Gruppierungen der Rechten und verberge seine Halbheit "oft mit Hinweisen auf die Gefahr des ‚Sektierertums’, wobei er unter Sektierertum nicht abstrakt-propagandistische Passivität versteht, sondern die aktive Sorge um prinzipielle Sauberkeit und Klarheit der Einstellung, um politische Folgerichtigkeit und organisatorische Geformtheit". Er begreife nicht, "dass man in der heutigen Epoche die nationale revolutionäre Partei nur als Teil der internationalen Partei aufbauen kann", und sei in der Wahl seiner internationalen Verbündeten "noch weniger wählerisch als im eigenen Lande". Er schwöre auf die Einheitsfrontpolitik, "wobei er sie des revolutionären Inhalts beraubt und aus einer taktischen Methode zum obersten Grundsatz macht". Und er nehme "gern Zuflucht zu pathetischem Moralisieren, um seine ideologische Hohlheit zu verdecken", ohne zu verstehen, "dass die revolutionäre Moral nur auf dem Boden der revolutionären Doktrin und der revolutionären Politik entstehen kann".
In der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) fanden sich all diese Merkmale wieder. Die SAP war im Herbst 1931 als linke Abspaltung der SPD entstanden und hatte sich zu einem Sammelbecken für unterschiedliche Strömungen entwickelt, die in der SPD und KPD keinen Platz fanden - linke Sozialdemokraten, ehemalige Führer der USPD (darunter Georg Ledebour), Restbestände der KAPD, Überläufer aus dem Leninbund und der KPD-Opposition (Brandlerianer) und radikale Pazifisten. Für die Massen sei der "Zentrismus bloß Übergang von einer Etappe zur anderen", schrieb Trotzki, für einzelne Politiker sei er dagegen zur zweiten Natur geworden. Er charakterisierte die Spitze der SAP als "Gruppe verzweifelter sozialdemokratischer Beamter, Advokaten, Journalisten." Ein verzweifelter Sozialdemokrat sei aber noch kein Revolutionär.
Die SAP hatte kein eigenes politisches Programm. Sie stützte sich nicht auf ein gemeinsames Verständnis großer historischer Ereignisse, deren Lehren ihren Kadern in Fleisch und Blut übergegangen waren. Die Stelle des Programms nahm die Einheitsfrontpolitik ein, die sie aus einer Taktik in eine Strategie verwandelte. Statt für eine durchdachte revolutionäre Perspektive trat sie für Einheit um jeden Preis ein, was unweigerlich zur Anpassung an die Sozialdemokratie führte. Charakteristisch war ihr Vorwurf, die KPD spalte mit dem Aufbau der Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO) die Gewerkschaften. Trotzki, der die RGO-Politik ebenfalls ablehnte, antwortete: "Es handelt sich keineswegs darum, dass die KPD die Reihen des Proletariats ‚spaltet’ und die sozialdemokratischen Verbände ‚schwächt’. Das sind keine revolutionären Kriterien, denn unter der heutigen Leitung dienen die Verbände nicht den Arbeitern, sondern den Kapitalisten. Das Verbrechen der KPD liegt nicht darin, dass sie Leiparts Organisation [den ADGB] ‚schwächt’, sondern darin, dass sie sich selbst schwächt. Die Teilnahme der Kommunisten an den reaktionären Verbänden ist nicht durch ein abstraktes Einheitsprinzip diktiert, sondern von der Notwendigkeit des Kampfs um die Säuberung der Organisationen von den Agenten des Kapitals. Bei der SAP tritt dieses aktive, revolutionäre, offensive Element zurück vor dem nackten Prinzip der Einheit von Verbänden, die durch Agenten des Kapitals geführt werden."
Unter den Schlägen des Nationalsozialismus bewegte sich die SAP vorübergehend nach links. Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld, zwei linke Sozialdemokraten, wurden an der Parteispitze durch Jacob Walcher und Paul Frölich abgelöst, zwei Gründungsmitglieder der KPD, die aus der von Brandler geführten KPD-Opposition kamen. Im August 1933 rief die SAP gemeinsam mit der Internationalen Linken Opposition und zwei holländischen Parteien zum Aufbau der Vierten Internationale auf. Die Unterzeichner der "Erklärung der Vier" erklärten kategorisch, "dass die neue Internationale keinerlei Versöhnlertum gegenüber Reformismus und Zentrismus dulden kann. Die notwendige Einheit der Arbeiterbewegung kann nicht durch eine Verwischung der revolutionären und der reformistischen Auffassungen oder durch eine Anpassung an die stalinistische Politik erreicht werden, sondern nur, wenn die Politik der beiden bankrotten Internationalen überwunden wird. Soll die neue Internationale auf der Höhe ihrer Aufgaben stehen, darf sie in der Frage des Aufstands, der proletarischen Diktatur, der Sowjetform des Staates usw. keinerlei Abweichung von den revolutionären Grundsätzen zulassen."
Doch in der Praxis sabotierte die SAP den Aufbau der Vierten Internationale von Anfang an. Als die stalinistischen Parteien zur Volksfrontpolitik übergingen, rückte sie offen davon ab. Unter dem Titel "Trotzkismus oder revolutionäre Realpolitik" erklärte die SAP nun, die Gründung der Internationale liege noch nicht im Bereich des Möglichen. Die Vorhut könne die Entwicklungsetappen des proletarischen Bewusstseins nicht überspringen. "Es wäre unsinnig, zu glauben, die Massen würden spontan eines Tages - wenn nicht heute dann morgen - die Richtigkeit dieser Prinzipien erkennen und sich um sie scharen." Die zur Internationale notwendige Homogenität könne sich erst aus der gemeinsamen Erfahrung ergeben. Jedes "abstrakte Schwören auf angelernte Prinzipien oder eine Führergestalt" ergebe "nur ein lächerliches Zerrbild einer wirklichen Übereinstimmung". Die theoretische Basis der neuen Internationale bestehe nicht aus einigen schon jetzt fertig vorhandenen Formeln, sondern müsse sich erst im Verlauf ihrer Entstehung bilden. In Ländern mit entwickeltem Proletariat bilde "sich die Avantgarde nicht durch die Verkündung noch so ‚richtiger’, aber abstrakter Prinzipien, sondern durch die dauernde Teilnahme an den konkreten Tageskämpfen des Proletariats."
"Trotzkismus oder revolutionäre Realpolitik" war die Antwort der SAP auf einen Offenen Brief, den Trotzki im Sommer 1935 an alle revolutionären Gruppen und Organisationen gerichtet hatte. Trotzki hatte darin betont, dass der Aufbau neuer Parteien und der neuen Internationale der Schlüssel zur Lösung aller anderen Aufgaben sei. Das Tempo und der Zeitpunkt einer neuen revolutionären Entwicklung hingen zwar vom allgemeinen Verlauf des Klassenkampfs ab. "Aber Marxisten sind keine Fatalisten. Sie bürden dem ‚historischen Prozess’ nicht die Aufgaben auf, die der historische Prozess ihnen gestellt hat. Die Initiative einer bewussten Minderheit, ein wissenschaftliches Programm, mutige und unermüdliche Agitation im Namen klar formulierter Ziele, gnadenlose Kritik jeder Zweideutigkeit - dies sind einige der wichtigsten Faktoren für den Sieg des Proletariats. Ohne eine geschlossene und gestählte revolutionäre Partei ist eine sozialistische Revolution undenkbar."
Zu den SAP-Mitgliedern, die Trotzki am heftigsten angriffen, gehörte Willy Brandt, der spätere deutsche Bundeskanzler und SPD-Vorsitzende. Der damals 22-jährige leitete die Zentrale des SAP-Jugendverbandes in Oslo und vertrat diesen im Internationalen Büro revolutionärer Jugendorganisationen. Brandt sorgte für den Ausschluss der Trotzkisten aus dem Internationalen Jugendbüro und verfasste Artikel, die dem Trotzkismus "schlimmstes Sektierertum" vorwarfen. "Unserer Auffassung nach besteht der wesentliche Gegensatz - ein Gegensatz prinzipieller Natur - zwischen uns und den Trotzkisten in der Stellung zum Werdegang der proletarischen Partei und zum Verhältnis zwischen Partei und Klasse", schrieb Brandt. "Für die Trotzkisten steht die Aufgabe der Schaffung einer ideologisch exakt ausgerichteten ‚Avantgarde’ über die Arbeiterklasse. Vor uns steht die Pflicht, an der Schaffung wahrhaft kommunistischer proletarischer Massenorganisationen mitzuwirken, auf dem Boden der westeuropäischen Arbeiterbewegung, aus praktischem Leben und Tradition der arbeitenden Klasse unseres Landes heraus."
Der "Boden der Arbeiterbewegung", den Brandt meinte, war hochgradig stalinistisch und sozialdemokratisch verseucht. Brandt verteidigte die Volksfrontpolitik der Stalinisten und befürwortete eine Zusammenarbeit mit sozialdemokratischen Parteien. In Spanien, wo er 1937 als Kriegsberichterstatter hinreiste, kritisierte er die zentristische POUM von rechts. Ihre Fehler seien "zumeist ultralinker, sektiererischer Art", behauptete er. Sie sei bei der Unterstützung der Volksfront nicht weit genug gegangen. "Nicht ‚gegen die Volksfront’ durfte die Parole sein, sondern: ‚Über die Volksfront hinaus’."
Die Schule der SAP - und seine wütenden Attacken auf den Trotzkismus - bereiteten Brandt auf seine spätere Rolle vor. Als erster sozialdemokratischer Kanzler der Bundesrepublik gelang es ihm 1969, einen Großteil der rebellierenden Studenten in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren, während er linke Elemente mit dem Radikalenerlass strikt ausgrenzte.
Die verhängnisvollen Folgen des Zentrismus wurden schließlich am Verhalten der POUM im spanischen Bürgerkrieg deutlich. Die Partei von Andres Nin, die ebenso wie die SAP Mitglied des zentristischen Londoner Büros war, unterwarf sich in allen entscheidenden Fragen den Stalinisten und trat auf dem Höhepunkt der Revolution der Volksfrontregierung in Barcelona bei. Sie diente der Koalition aus Republikanern, Sozialisten, Stalinisten und Anarchisten, die die spanische Revolution zugrunde richteten, als linkes Feigenblatt und verbaute so den Arbeitern, die immer wieder gegen ihre alte Führung Sturm liefen, den Zugang zu einer revolutionären Perspektive. Den Verteidigern der POUM, die die spanische Niederlage auf die angebliche "Unreife" der Massen zurückführten, antwortete Trotzki: "Die historische Verfälschung besteht darin, die Verantwortung für die spanische Niederlage den arbeitenden Massen aufzuladen und nicht den Parteien, die die revolutionäre Bewegung der Massen gelähmt oder einfach zerbrochen haben. Die Anwälte der POUM leugnen einfach die Verantwortung der Führer, um sich damit vor ihrer eigenen Verantwortung drücken zu können. Diese Philosophie der Ohnmacht, die versucht, Niederlagen als notwendige Glieder in der Kette überirdischer Entwicklungen hinzunehmen, ist total unfähig, Fragen nach solch konkreten Faktoren wie Programmen, Parteien, Persönlichkeiten, die die Organisatoren der Niederlagen waren, überhaupt aufzuwerfen, und weigert sich, dies zu tun. Diese Philosophie des Fatalismus und der Schwäche ist dem Marxismus als der Theorie der revolutionären Aktion diametral entgegengesetzt."
Vor fünfundsiebzig Jahren, am 3. September 1938, wurde die Vierte Internationale auf einer Konferenz in der Nähe von Paris gegründet. Aufgrund der bedrohlichen Sicherheitslage musste die Konferenz innerhalb eines Tages abgehalten werden. In den zwölf Monaten vor der Konferenz war die trotzkistische Bewegung unaufhörlichen Angriffen ausgesetzt. Obwohl Leo Trotzki in Mexiko lebte, galt er dem stalinistischen Regime in der Sowjetunion als gefährlichster politischer Gegner. Stalin war entschlossen, die internationale Bewegung zu zerstören, die Trotzki aufgebaut hatte, seit er 1927 aus der Kommunistischen Partei der UdSSR ausgeschlossen und 1929 aus der Sowjetunion ausgewiesen worden war.
Im September 1937 wurde Erwin Wolf, ein politischer Sekretär Trotzkis, von Agenten des sowjetischen Geheimdiensts GPU in Spanien ermordet. Im selben Monat wurde Ignaz Reiss im schweizerischen Lausanne umgebracht. Reiss hatte sich von der GPU abgesetzt und seine Unterstützung für die neue Internationale erklärt, deren Gründung Trotzki vorbereitete. Im Februar 1938 ermordete die GPU in Paris Leo Sedow, Trotzkis ältesten Sohn und wichtigsten politischen Vertreter in Europa. Und im Juli 1938, nur sechs Wochen vor der Gründungskonferenz, wurde Rudolf Klement – der Vorsitzende des Internationalen Sekretariats der Bewegung – aus seiner Pariser Wohnung entführt und umgebracht.
Die Konferenz wählte Sedow, Wolf und Klement zu Ehrenpräsidenten, und der französische Trotzkist Pierre Naville informierte die Delegierten, dass „aufgrund des tragischen Todes von Klement kein formeller Bericht vorliegt. Klement war dabei, einen ausführlichen schriftlichen Bericht vorzubereiten, der ausgeteilt werden sollte. Doch ebenso wie seine übrigen Dokumente ist er verschwunden. Der Bericht, der nun gegeben wird, kann nur eine Zusammenfassung sein.“
Die fürchterlichen Umstände, unter denen die Konferenz stattfand, spiegelten die politische Lage wider, in der sich die internationale Arbeiterklasse befand. In Deutschland und Italien herrschten faschistische Regime. Europa taumelte am Rande des Krieges. Nur wenige Wochen später lieferten der britische und der französische Imperialismus die Tschechoslowakei auf Grundlage des berüchtigten Münchner Abkommens und mit stillschweigendem Einverständnis der kapitalistischen Regierung in Prag an Hitler aus. Die spanische Revolution, fehlgeleitet und verraten durch ihre stalinistischen und anarchistischen Führer, stand nach über zwei Jahren Bürgerkrieg kurz vor der Niederlage. In Frankreich hatte die von 1936 bis 1938 amtierende Volksfrontregierung alles in ihren Kräften Stehende getan, um die Arbeiterklasse politisch zu demoralisieren. In der Sowjetunion hatte der 1936 von Stalin entfachte Terror praktisch die gesamte Generation der Altbolschewiki ausgelöscht. Die Verrätereien der Stalinisten und Sozialdemokraten hatten die einzige Möglichkeit sabotiert, den Ausbruch eines zweiten imperialistischen Krieges zu verhindern: die sozialistische Revolution der Arbeiterklasse.
Die Hauptaufgabe der Delegierten auf der Gründungskonferenz bestand in der Annahme eines Dokumentes, das Leo Trotzki entworfen hatte. Es trug den Titel: „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale.“ Sein erster Satz, einer der bedeutendsten und tiefsinnigsten der politischen Literatur, lautet: „Die politische Weltlage als Ganzes ist vor allem durch eine historische Krise der proletarischen Führung gekennzeichnet.“
Trotzki erfasste mit diesen Worten nicht nur die Lage im Jahr 1938, sondern das politische Kernproblem der modernen Geschichte. Die objektiven Voraussetzungen für die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus – der internationale Entwicklungsstand der Produktivkräfte, das Vorhandensein einer revolutionären Klasse – waren gegeben. Doch die Revolution war nicht einfach das zwangsläufige Ergebnis objektiver wirtschaftlicher Voraussetzungen. Sie setzte voraus, dass die Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms und bewaffnet mit einem klar ausgearbeiteten strategischen Plan politisch bewusst in den historischen Prozess eingreift. Die revolutionäre Politik der Arbeiterklasse durfte nicht weniger bewusst sein als die konterrevolutionäre Politik der Kapitalistenklasse, deren Sturz sie anstrebte. Hierin lag die historische Bedeutung der revolutionären Partei.
Dass die Rolle der revolutionären Partei entscheidend ist, hatte sich im Oktober 1917 in positiver Weise bestätigt. Damals hatte die russische Arbeiterklasse unter Führung der bolschewistischen Partei Lenins und Trotzkis die Kapitalistenklasse gestürzt und den ersten Arbeiterstaat der Geschichte gegründet. Die Niederlagen der 1920er und 1930er Jahre bestätigten dasselbe auf negative Weise. Durch die falsche Politik und den bewussten Verrat der sozialdemokratischen und kommunistischen (stalinistischen) Massenparteien, denen die Arbeiterklasse vertraute, wurden mehrere revolutionäre Gelegenheiten verpasst.
Der politische Bankrott und die reaktionäre Rolle der sozialdemokratischen Parteien der Zweiten Internationale waren schon seit 1914 offensichtlich. Damals hatten sie ihr internationalistisches Programm verworfen und die Kriegspolitik der jeweiligen nationalen herrschenden Klasse unterstützt. Als Antwort auf den Verrat der Sozialdemokratie wurde im Anschluss an die Oktoberrevolution die Kommunistische (oder Dritte) Internationale gegründet.
Doch das Anwachsen der Staatsbürokratie innerhalb der Sowjetunion und die politische Degeneration der russischen Kommunistischen Partei hatten weit reichende Folgen für die Kommunistische Internationale. Im Jahr 1923 wurde unter Führung Trotzkis die Linke Opposition gegründet, um die Bürokratisierung der russischen Kommunistischen Partei zu bekämpfen. Doch die Bürokratie, die in Stalin einen engagierten Vertreter ihrer Interessen und Privilegien fand, schlug brutal gegen ihre marxistischen Gegner zurück. 1924 verkündeten Stalin und Bucharin das Programm des „Sozialismus in einem Land“. Damit verwarfen sie das Programm des sozialistischen Internationalismus – das Programm der Permanenten Revolution –, auf das Lenin und Trotzki im Oktober 1917 die Machteroberung der Bolschewiki gestützt hatten. Das Programm von Stalin und Bucharin stellte eine antimarxistische theoretische Rechtfertigung für die praktische Unterordnung der Interessen der internationalen Arbeiterklasse unter die nationalen Interessen der Sowjetbürokratie dar.
Diese grundlegende Revision der marxistischen Theorie hatte katastrophale Auswirkungen auf die Praxis der Dritten Internationale und der ihr angeschlossenen Parteien. Im Verlauf der 1920er Jahre wurden die Führer von Kommunistischen Parteien, die sich nicht dem Diktat Moskaus beugten, bürokratisch abgesetzt und durch gefügige, aber unfähige Handlanger ersetzt. Fehlorientiert durch die von Stalin vorgegebene Politik, der die Dritte Internationale immer offenkundiger als Werkzeug der sowjetischen Außenpolitik betrachtete und nicht als Partei der sozialistischen Weltrevolution, schlitterten die Kommunistischen Parteien von einem Fiasko ins nächste. Die Niederlage des britischen Generalstreiks im Jahr 1926 sowie die Niederwerfung der chinesischen Revolution im Folgejahr waren entscheidende Wegmarken der Degeneration der Dritten Internationale.
1928 nach Alma-Ata in Zentralasien verbannt, verfasste Trotzki am Vorabend des sechsten Komintern-Kongresses die Schrift Der Programmentwurf der Kommunistischen Internationale, Kritik der grundlegenden Thesen. Er erläutert darin detailliert die theoretischen und politischen Gründe der Niederlagen, die die kommunistischen Parteien in den vorausgegangenen fünf Jahren erlitten hatten. Im Mittelpunkt von Trotzkis Kritik stand Stalins und Bucharins Theorie vom „Sozialismus in einem Land“. Er schrieb: “In unserer Epoche, welche die Epoche des Imperialismus, d. h. der Weltwirtschaft und der Weltpolitik unter der Herrschaft des Finanzkapitals ist, vermag keine einzige Kommunistische Partei ihr Programm lediglich oder vorwiegend aus den Bedingungen und Entwicklungstendenzen ihres eigenen Landes abzuleiten. Dasselbe gilt in vollem Umfang auch für die Partei, die innerhalb der UdSSR die Staatsmacht ausübt. Am 4. August 1914 hatte den nationalen Programmen unwiderruflich die letzte Stunde geschlagen. Die revolutionäre Partei des Proletariats kann sich nur auf ein internationales Programm stützen, welches dem Charakter der gegenwärtigen Epoche, der Epoche des Höhepunkts und Zusammenbruchs des Kapitalismus entspricht.
Ein internationales kommunistisches Programm ist auf keinen Fall eine Summe nationaler Programme oder eine Zusammenstellung deren gemeinsamer Züge. Ein internationales Programm muss unmittelbar aus der Analyse der Bedingungen und Tendenzen der Weltwirtschaft und des politischen Weltsystems als Ganzem hervorgehen, mit all ihren Verbindungen und Widersprüchen, d. h. mit der gegenseitigen antagonistischen Abhängigkeit ihrer einzelnen Teile. In der gegenwärtigen Epoche muss und kann die nationale Orientierung des Proletariats in noch viel größerem Maße als in der vergangenen nur aus der internationalen Orientierung hervorgehen und nicht umgekehrt. Darin besteht der grundlegende und ursächliche Unterschied zwischen der Kommunistischen Internationale und allen Abarten des nationalen Sozialismus.“ (Leo Trotzki: Die Dritte Internationale nach Lenin, Essen 1993, S. 24-25)
Es muss hier daran erinnert werden, dass Trotzkis Betonung des Vorrangs einer internationalen Orientierung nicht einfach allgemeinen theoretischen Erwägungen entsprang, sondern sich aus seiner in den Jahren 1923-24 entwickelten Analyse der globalen Auswirkungen des Aufstiegs der Vereinigten Staaten zur bedeutendsten imperialistischen Macht ergab.
Trotzki wurde natürlich nicht zu den Treffen der Kommunistischen Internationale zugelassen. Seine Schriften waren bereits in allen Kommunistischen Parteien verboten. Dennoch gelangte durch eine Panne die englische Übersetzung von Trotzkis Kritik in den Besitz von James P. Cannon, der als Delegierter der Amerikanischen Kommunistischen Partei am Sechsten Kongress teilnahm. Überzeugt von Trotzkis Kritik, schmuggelte Cannon das Dokument mithilfe des kanadischen Delegierten Maurice Spector aus der Sowjetunion. Gestützt auf die Analyse, die Trotzki in der Kritik der grundlegenden Thesen entwickelt hatte, nahm Cannon – unterstützt von Max Shachtman, Martin Abern und weiteren führenden Mitgliedern der Kommunistischen Partei – den Kampf für Trotzkis Ideen außerhalb der Sowjetunion auf. Bald darauf aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, gründeten Cannon und Shachtman die Communist League of America, die eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Internationalen Linken Opposition spielte.
Als sich die Linke Opposition im Jahr 1923 formierte, trat sie dafür ein, die Kommunistische Partei auf der Grundlage des revolutionären Internationalismus zu reformieren und zu einer offenen Parteidiskussion gemäß den Prinzipien des demokratischen Zentralismus zurückzukehren. Mit dem Aufbau der Internationalen Linken Opposition, die schnell Anhänger auf der ganzen Welt gewann, zielte Trotzki ebenfalls auf eine Reform der Kommunistischen Internationale. Solange die Möglichkeit bestand, die katastrophale Politik Stalins durch die wachsende Opposition innerhalb der sowjetischen Kommunistischen Partei und der Dritten Internationalen umzukehren, rief Trotzki nicht zum Aufbau einer neuen Internationale auf.
Die Lage in Deutschland zwischen 1930 und 1933 spielte in Trotzkis Überlegungen eine gewichtige Rolle. Nach dem Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft unter den Auswirkungen des Wall-Street-Krachs von 1929 gewann Hitler Masseneinfluss. Ob Hitler an die Macht gelangen würde, hing von der Politik der beiden Massenorganisationen der deutschen Arbeiterklasse ab: von der Sozialdemokratie (SPD) und der Kommunistischen Partei (KPD). Diese beiden Parteien wurden von Millionen deutschen Arbeitern unterstützt und hatten die Macht, die Nazis zu besiegen.
Trotzki lebte seit 1929 im Exil auf der türkischen Insel Prinkipo. Von dort schrieb er zahlreiche Artikel, die die deutsche Lage analysierten und zum vereinten Handeln der beiden Arbeiterparteien aufriefen, um Hitlers Aufstieg an die Macht zu stoppen. Doch die SPD, die sich dem bürgerlichen Staat unterordnete und jede unabhängige politische Aktion der Arbeiterklasse ablehnte, duldete nicht einmal einen defensiven Kampf gegen die Nazis. Das Schicksal der deutschen Arbeiterklasse sollte stattdessen den kriminellen bürgerlichen Politikern des Weimarer Regimes anvertraut werden, die die Übergabe der Macht an Hitler planten.
Die KPD ihrerseits folgte blindlings der von Moskau diktierten Definition der Sozialdemokratie als „sozialfaschistisch“, sie setzte sie gleich mit den Nazis. Die Stalinisten lehnten Trotzkis Aufruf zu einer Einheitsfront von SPD und KPD gegen Hitler ab. Sie rechtfertigten ihre eigene Passivität mit der Behauptung, einem Sieg der Nazis werde bald eine sozialistische Revolution folgen und die Kommunistische Partei an die Macht bringen. „Nach Hitler kommen wir“, lautete die stalinistische Losung. Diese politische Prognose zählt zu den verhängnisvollsten Fehleinschätzungen der Geschichte.
Das tragische Ende kam am 30. Januar 1933. Hitler, dem der greise Reichspräsident Hindenburg die Kanzlerschaft übertrug, gelangte legal an die Macht, ohne dass ein Schuss fiel. Die SPD und die KPD, die Millionen Mitglieder zählten, unternahmen nichts gegen den Triumph der Nazis. Innerhalb weniger Tage entfesselten die Nazis, die jetzt den Staatsapparat kontrollierten, ihren Terror; und innerhalb weniger Monate waren die SPD, die KPD, die Gewerkschaften und alle weiteren Arbeitermassenorganisationen zerschlagen. Der zwölfjährige Alptraum, der Millionen Menschen einschließlich der großen Mehrheit des europäischen Judentums, das Leben kosten sollte, hatte begonnen.
Trotzki wartete nach Hitlers Machtantritt mehrere Monate, um zu sehen, ob die deutsche Katastrophe Proteste und Opposition in den Reihen der KPD oder der Dritten Internationale hervorrufen würde. Doch das Gegenteil trat ein. Die stalinistischen Organisationen in Deutschland und in der Internationale bestätigten die Korrektheit der von der sowjetischen Bürokratie diktierten politischen Linie.
Die Ereignisse in Deutschland überzeugten Trotzki, dass es keine Möglichkeit mehr zur Reform der Kommunistischen Internationale gab. Im Juli 1933 veröffentlichte er deshalb einen Aufruf zur Gründung der Vierten Internationale. Aus diesem grundlegenden Politikwechsel gegenüber der Dritten Internationale zog Trotzki eine weitere Schlussfolgerung. Wenn keine Möglichkeit mehr bestand, die Dritte Internationale zu reformieren, dann war die Aussicht auf eine Reform der Kommunistischen Partei der Sowjetunion auch nicht mehr gegeben. Um die Politik des stalinistischen Regimes zu verändern, musste es gestürzt werden. Da das Ziel aber darin bestand, die nach der Oktoberrevolution 1917 geschaffenen nationalisierten Eigentumsverhältnisse zu bewahren und nicht zu ersetzen, trat Trotzki für eine politische und nicht für eine soziale Revolution ein.
Die Ereignisse der Jahre 1933 bis 1938 bestätigten, dass Trotzkis neuer Kurs richtig war. In den fünf Jahren, die auf Hitlers Eroberung der Macht folgten, entwickelte sich das stalinistische Regime zur gefährlichsten konterrevolutionären Kraft innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung. Die durch die Politik der Kremlbürokratie verursachten Niederlagen waren nicht das Ergebnis von Fehlern, sondern einer bewussten Politik. Das stalinistische Regime fürchtete, eine erfolgreiche Revolution in einem beliebigen Land könnte die revolutionären Leidenschaften der sowjetischen Arbeiterklasse wieder aufleben lassen.
Nachdem Stalin immer mächtiger geworden war, verlor Trotzki 1925 sein Amt als Kriegskommissar und musste in den nächsten Jahren verschiedene untergeordnete Tätigkeiten im Staatsdienst ausüben. Es folgte die Kennzeichnung von „Trotzkismus“ als „Abweichlertum“ und „Verrat“. Alle Schriften und Werke des „jüdischen Verschwörers“ und „Lakaien des Faschismus“ galten als Ketzerei. Stalin ließ Trotzkis Namen und Fotos aus allen offiziellen Dokumenten und Texten tilgen. Außerdem leugnete er dessen Rolle beim Oktoberaufstand und im Bürgerkrieg.
1926 wurde Trotzki aus dem Politbüro und im November 1927 auch aus der KPdSU ausgeschlossen. Auf dem XV. Parteitag der KPdSU (B) im Dezember 1927 hatte die Opposition keinen stimmberechtigten Delegierten mehr. Trotzki wurde mit anderen Oppositionellen am 17. Januar 1928 nach Alma-Ata (im heutigen Kasachstan ) verbannt . Von dort wurde er in die Türkei ausgewiesen.
Der türkische Staat unter Atatürk gewährte Trotzki 1929 politisches Asyl. Er verbrachte die Jahre zwischen 1929 und 1933 auf der Insel Büyükada in der Türkei.[12 ] Trotzki war gezwungen zu schreiben, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Ausgaben dafür waren hoch, weil er immer Leibwächter zu seinem Schutz brauchte und weil seine weitere politische Arbeit finanziert werden sollte. Daher war ihm ein Angebot des New Yorker Verlages „Charles Scribner’s Sons “ recht, das Schreiben von Trotzkis Autobiographie zu finanzieren und sie zu veröffentlichen. Sie erschien 1929 und trug in der deutschen Version den Titel Mein Leben. Versuch einer Autobiographie. Der Erfolg ermunterte Trotzki, ein Angebot des New Yorker Verlags Simon & Schuster anzunehmen und eine Geschichte der Russischen Revolution zu verfassen, die 1932 erschien.[13 ] In der Zeit ab 1930 setzte sich Trotzki intensiv mit dem deutschen Nationalsozialismus auseinander, den er als vom Kleinbürgertum getragene, autonom von der Bourgeoisie entstandene Massenbewegung analysierte, deren objektive Funktion die Zerschlagung der gesamten Arbeiterbewegung sei. Als Gegenstrategie setzte sich Trotzki in Schriften wie Gegen den Nationalkommunismus, Soll der Faschismus wirklich siegen, Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen? und Was Nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats für eine Einheitsfront von SPD , KPD und Freien Gewerkschaften gegen die NSDAP ein.
1929 hatte Stalin begonnen, die „Neue Ökonomische Politik “ zu revidieren, mit großer Grausamkeit die Kollektivierung der Landwirtschaft durchzusetzen und mit Arbeitsarmeen die Schwerindustrie der Sowjetunion zu errichten. Auch dies wurde von Trotzki und seinen Anhängern, der Untergrundpartei der Linken Opposition , einer scharfen Kritik unterzogen. Trotzki hatte sich für eine umfassende Industrialisierung in einem langsameren Tempo und eine freiwillige Kollektivierung der Bauernschaft auf der Basis einer neu zu errichtenden Sowjetdemokratie ausgesprochen. Trotzki schrieb im Exil Pamphlete gegen Stalin, die unter anderem exklusiv in der New York Times veröffentlicht wurden.[14 ]
Am 20. Februar 1932 wurde Trotzki die sowjetische Staatsbürgerschaft aberkannt, womit gleichzeitig die Verfolgung durch den sowjetischen Geheimdienst GPU begann. Mit der kampflosen Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung, die Trotzki im Wesentlichen als Resultat des Versagens von KPD und Komintern ansah, nahm Trotzki von seiner 1929 bis 1933 vertretenen Strategie einer Reform der stalinistischen Parteien und der Komintern Abstand und nahm Kurs auf die Gründung einer neuen, „vierten“ kommunistischen Internationalen und führte in diesem Rahmen zunächst auch (zumeist letztendlich erfolglose) Verhandlungen mit den im Londoner Büro zusammengeschlossenen Gruppen wie der SAPD oder der niederländischen Organisation um Henk Sneevliet .
Die französische Regierung Daladiers gewährte ihm Asyl in Frankreich. Er hielt sich zunächst in Royan , später in Barbizon auf. Für Paris erhielt er keine Zugangserlaubnis. Bereits 1935 wurde ihm signalisiert, dass sein Aufenthalt in Frankreich nicht länger erwünscht sei. Er nahm ein Angebot Norwegens auf Asyl an. Er lebte dort als Gast Konrad Knudsens nahe Oslo . Mit seiner regen publizistischen Tätigkeit griff er den Stalinismus mit den Moskauer Prozessen an, in denen er als Haupt einer großen Verschwörung gegen Stalin und sein System in Abwesenheit angeklagt worden war. Infolge des von der Sowjetunion ausgeübten diplomatischen Drucks wurde Trotzki von den norwegischen Behörden unter Hausarrest gesetzt. Nach Verhandlungen mit der norwegischen Regierung konnte er nach Mexiko unter der Auflage strenger Geheimhaltung auf einem Frachtschiff ausreisen.
Gemeinsam mit Frida Kahlo hatte sich Diego Rivera beim mexikanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas del Río dafür eingesetzt, Trotzki politisches Asyl in Mexiko zu gewähren. Unter der Bedingung, dass jener sich nicht politisch betätigen würde, stimmte der Präsident dem Gesuch zu.[15 ] Im Januar 1937 wurden Trotzki und dessen Frau Natalja Sedowa in Kahlos blauem Haus in Coyoacán empfangen. Im Jahr 1938 beherbergte Rivera auch den surrealistischen Vordenker André Breton und dessen Frau Jacqueline . Die beiden Künstler unterzeichneten ein von Trotzki verfasstes Manifest für eine revolutionäre Kunst.
In seinem Exil agitierte er weiterhin gegen Stalin, deckte nach seinen Möglichkeiten die Verbrechen der GPU und der Gulags auf und veröffentlichte verschiedene kommunistische Schriften, zum Beispiel 1936 Die verratene Revolution , in der er die Sowjetunion als „bürokratisch degenerierten Arbeiterstaat“ bezeichnete und die sowjetische Arbeiterklasse zu einer politischen Revolution gegen die stalinistische Bürokratie und zur Wiederherstellung der Rätedemokratie aufrief. Die von der Zensur kontrollierte sowjetische Presse griff ihn dafür als „Wolf des Faschismus“ an.[16 ]
1938 gründete Trotzki die Vierte Internationale , um der inzwischen unter Stalins Dominanz stehenden Dritten Internationalen entgegenzuwirken. Für die neugegründete Organisation verfasste Trotzki im selben Jahr mit Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale (besser bekannt als „Das Übergangsprogramm“) und 1940 mit dem Manifest der IV. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution grundlegende programmatische Dokumente. Daneben widmete er sich in seinem letzten Lebensjahr der Auseinandersetzung mit der von James Burnham und Max Shachtman vertretenen These, dass sich die Sowjetunion zu einer stabilen neuen Form von Klassengesellschaft entwickelt habe.
Am 24. Mai 1940 überlebte Trotzki einen Angriff auf sein Haus in Coyoacán in der Avenida Río Churubusco 410. Trotzki wurde von mehreren, von Stalin gesandten und als mexikanische Polizisten getarnten Agenten attackiert, allerdings so dilettantisch, dass man vielfach an eine Inszenierung glaubte, die Trotzki international wieder in den Mittelpunkt rücken sollte. Aus Angst vor weiteren Anschlägen ließ er danach das Haus ausbauen und bewachen: Die Mauern wurden erhöht, Holztüren durch Eisentüren ersetzt, Fenster teilweise zugemauert. Sieben bis acht Wachleute schützten freiwillig und unbezahlt das kleine Anwesen in der verkehrsreichen inneren Ringstraße im Süden von Mexiko-Stadt rund um die Uhr.
Drei Monate später hatte ein von Stalin beauftragter Mordanschlag Erfolg: Der Sowjetagent Ramón Mercader hatte sich als Frank Jacson mit einer Sekretärin Trotzkis verlobt und so Zugang zu dessen Anwesen erhalten. Am 20. August besuchte er Trotzki und bat um Durchsicht eines von ihm verfassten politischen Artikels. Kurz nach 17 Uhr griff Mercader Trotzki in dessen Arbeitszimmer mit einem Eispickel an, wobei Trotzki schwer am Kopf verletzt wurde. Seine Leibwächter fanden ihn blutüberströmt, aber noch bei Bewusstsein. Einen Tag später starb Leo Trotzki an den Folgen dieses Anschlags.
In Mexiko trauerten viele um Trotzki. 300.000 Menschen begleiteten Trotzkis Leichenzug in Mexiko. Seine Leiche wurde eingeäschert und im Garten seines Hauses begraben. 22 Jahre später kam die Asche seiner in Paris gestorbenen Frau Natalja dazu. Diese Stelle markiert heute ein weißer, mit Hammer und Sichel gekennzeichneter Stein mit einer roten Fahne. Das Haus des Anschlags kann heute als Museo Casa de León Trotsky besichtigt werden. Am Aufbau des Museums war Trotzkis Enkel Esteban Volkov beteiligt.[17 ]
Arnold Zweig bemerkte in seinem Tagebuch, Trotzki sei der Mann, „der das kostbarste und bestorganisierte Gehirn unter seiner Schädeldecke trug, das jemals mit einem Hammer eingeschlagen wurde“.
Im Jahr 2005 wurde der verschollen geglaubte Eispickel gefunden.[18 ] Das Mordinstrument wurde nach Trotzkis Tod im Kriminologischen Museum in Mexiko-Stadt ausgestellt, dann aber wegen Diebstahlsgefahr durch eine Kopie ersetzt. Ein mexikanischer Geheimdienstler, auch ein Mitbegründer des Museums, habe den Originalpickel an sich genommen und aufbewahrt, schrieb die mexikanische Tageszeitung La Jornada. Seine Tochter berichtete, dass ihr Vater viermal vergeblich versucht habe, den Eispickel zurückzugeben. Doch niemand wollte das Original zurückhaben. Dann nahm diese Tochter den Eispickel an sich und präsentierte ihn in einer Radiosendung.
Nach seiner Ausbürgerung verfiel Trotzki in der Sowjetunion zunehmend der Damnatio memoriae : Seine Leistungen für die Partei und die prominente Rolle, die er beim Oktoberaufstand, beim Aufbau der Roten Armee oder bei der blutigen Niederschlagung des Kronstädter Aufstands gespielt hatte, wurden verschwiegen, geleugnet oder denunziert. Im Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B) , einer unter der Ägide Stalins 1938 erschienenen offiziellen Darstellung, wurde seine Rolle im Oktober 1917 auf die eines Widersachers Lenins und eines Großmauls reduziert, das den Termin des Aufstands verraten und dessen Erfolg dadurch gefährdet habe.[19 ]
Noch radikaler wurde die Erinnerung an Trotzki aus dem sowjetischen Bildgedächtnis getilgt. Fotos, auf denen er zusammen mit Lenin oder Stalin zu sehen war, wurden kupiert oder retuschiert. Berühmteste Beispiele sind die Bilder, die Grigori Petrowitsch Goldstein am 5. Mai 1920 von einer Rede Lenins vor dem Bolschoi-Theater in Moskau machte: In den dreißiger Jahren durften nur Bildausschnitte veröffentlicht werden, die Trotzki nicht enthielten, in den sechziger Jahren retuschierte man ihn gänzlich aus dem Bild.[20 ]
Noch 1940 wurde Trotzkis Mörder Ramón Mercader von Stalin der Leninorden verliehen, der Orden wurde seiner Mutter übergeben. Nach Verbüßung der 20-jährigen Freiheitsstrafe wurde Mercarder am 31. Mai 1960 der Titel eines Helden der Sowjetunion verliehen und er wurde nach Moskau eingeladen. Dort überreichte man ihm im Jahre 1961 den Stern eines Helden der Sowjetunion samt dazugehörigen Leninorden.
Die KPdSU hat den Revolutionsführer und Organisator der Roten Armee nie rehabilitiert, sowohl Nikita Chruschtschow als auch der Reformer Michail Gorbatschow versagten ihm jegliche posthume Würdigung.
Ursprünglich bezeichnete der Begriff des Stalinismus in den 1920er Jahren in der Sowjetunion die Auffassungen der von Josef Stalin geführten Mehrheit in der KPdSU (Bolschewiki ) im Kampf um die politische und theoretische Nachfolge Lenins – hauptsächlich in Auseinandersetzung mit dem Trotzkismus . Damals ironisierte Stalin die Begriffsbildung noch, ‚Stalinismus‘ sei eine besonders energische Verteidigung des Leninismus . Anzumerken ist auch, dass der Begriff Marxismus-Leninismus auf Stalin und seine ideologische Prägung zurückzuführen ist.
Um Stalins 55. Geburtstag 1934 herum erhob ein Prawda -Artikel von Karl Radek die Ideen und die Politik Stalins zu einer eigenständigen Leistung, und es setzte sich die Formel vom Marxismus-Leninismus-Stalinismus durch. Ausdruck dessen war unter anderem, dass ausgewählte Reden und Schriften Stalins zuerst zusammen mit einigen Werken Lenins in „Lenin-Stalin“ - Ausgewählte Werke in einem Bande veröffentlicht wurden. 1938 erschien sein vom Zentralkomitee der KPdSU herausgegebenes Schulungswerk Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), kurzer Lehrgang und darin seine Schrift Über Dialektischen und Historischen Materialismus , die eine Weiterentwicklung des Leninismus darstellen sollte. 1946 wurde sogar eine 16-bändige Gesamtausgabe der Werke Stalins vom Marx -Engels -Lenin-Institut beim Zentralkomitee der KPdSU (B) herausgegeben.[6 ]
Eckpfeiler der stalinistischen Theorie waren die Entwicklung des Sozialismus in einem Lande und die Verschärfung des Klassenkampfes bei der Entwicklung. Die Verschärfung des Klassenkampfes wurde zur Legitimation von Repressionen und stalinistischen Säuberungen . Seine Ideologie , die nicht im Geringsten infrage gestellt werden durfte, gilt heute als mechanische Rezeption des Gedankenguts von Marx, Engels und Lenin. Sie diente lediglich zur Rechtfertigung politischer Verfolgungen von sogenannten Renegaten , d. h. „Verrätern“ der reinen Lehre.
Nach der Stalin-Kritik auf dem XX. Parteitag der KPdSU und der danach in den sozialistischen Ländern und den kommunistischen Parteien einsetzenden Entstalinisierung wurde auch der theoretische Beitrag Stalins zum Marxismus-Leninismus neu eingeschätzt. Stalin wurde nicht mehr in einem Atemzuge mit Marx, Engels und Lenin genannt, auch das damals übliche propagandistische Viererporträt wurde auf Marx, Engels und Lenin reduziert. Die chinesische kommunistische Partei hingegen berief sich weiterhin auf Stalin, wobei Mao Zedong postulierte, 70 % des Gedankengutes und der Praxis Stalins – insbesondere im Zweiten Weltkrieg – seien „gut“ gewesen, 30 % aber schädlich. In Abgrenzung zur „revisionistischen “ UdSSR erschienen Plakate, auf denen als fünftes Porträt dasjenige Mao Zedongs verbreitet wurde.
Unter westlichen Intellektuellen fand der Stalinismus nach dem Tod Stalins nur sehr wenige Anhänger, während zu Stalins Lebzeiten sich große Teile der Linken nicht vom Stalinismus distanziert hatten. Nach der 68er -Studentenbewegung bildeten sich in Westeuropa sogenannte K-Gruppen – kurzlebige Splittergruppen, die sich teilweise auch auf Stalin beriefen.[7 ]
Leo Kofler (1907–1995, ein undogmatischer marxistischer Philosoph) wandte sich gegen den Stalinismus. 1951, kurz nachdem er die DDR verlassen hatte, erschien seine Broschüre über die „Verfälschung der marxistischen Lehre durch die stalinistische Bürokratie“. 1970 veröffentlichte er eine größere Untersuchung Stalinismus und Bürokratie. Er interpretierte den Stalinismus als „Kaderbürokratie“, die auf der Grundlage einer nachgeholten ursprünglichen Akkumulation herrschte. Er setzte sich mit Georg Lukács auseinander und dessen Verurteilung durch die Stalinanhänger.[8 ]
Aus marxistischer Sicht grenzte sich der Soziologe und Volkswirt Werner Hofmann vom Stalinismus ab; Sein Werk Stalinismus und Antikommunismus . Zur Soziologie der Verblendung erschien 1967.
Jean Elleinsteins Buch Histoire du phénomène stalinien erschien 1975; kurz darauf schloss die französische KP ihn aus. Das Buch erklärt den Stalinismus aus der russischen und sowjetischen Geschichte heraus.[9 ]
Georg Lukács , der linke ungarische Philosoph und Literaturwissenschaftler, nahm eine ambivalente Haltung gegenüber Stalin ein. Lukács schrieb 1968 (drei Jahre vor seinem Tod): „Aus dem unvollkommen verstandenen Leninismus ist Stalinismus geworden…“ Das Besondere und Neue in den Werken Stalins sei unter anderem die Priorität der Taktik vor der Strategie und erst recht vor den Gesamtentwicklungstendenzen der Menschheit gewesen[10 ] (S. 93). Lukács sah in Stalin den schlauen, berechnenden, überlegenen Taktiker. Dazu gehöre aber auch, dass er diesen Sieg (über Leo Trotzki und andere sogenannte Abweichler) als den der „richtigen Lehre Lenins“ über deren Entstellungen darzustellen wusste. Zum Wesen seiner Persönlichkeit gehörte demnach, dass er nach dem Sieg nicht mehr bloß als treuer Ausleger und Schüler Lenins öffentlich fungieren wollte, sondern allmählich – oft taktisch sehr geschickt – Situationen zustande brachte, in denen er bereits als der echte Nachfolger der allseitig überlegenen „Führerpersönlichkeit“ seines großen Vorgängers ins öffentliche Bewusstsein trat […] Dabei sei er nicht mehr als ein sehr kluger Mensch und ein äußerst raffinierter Taktiker gewesen.[10 ](S. 85)
Der marxistische Theoretiker Jürgen Kuczynski verwendete als Synonym des Stalinismus oft den Begriff Stalinzeit. Er verstand darunter die Gesamtheit der geistigen und realen Geschehnisse während der Stalinschen Herrschaft und zwar ausdrücklich sowohl die positiven wie auch die negativen Auswirkungen. Die Verurteilung Stalins und die anschließende Negierung Stalins lehnte er als „Fortsetzung des Stalinismus“ ab. Es sei nicht zu akzeptieren, Stalin nicht mehr zu erwähnen, nachdem er in Ungnade gefallen war. Kuczynski sah zwei große Leistungen Stalins: Er habe die Industrialisierung mit dem Aufbau einer Schwerindustrie im bäuerlichen Russland realisiert. Diese sei eine der Voraussetzungen des Sieges über das Deutsche Reich gewesen. Außerdem habe er das Vertrauen des sowjetischen Volkes besessen. Die Verehrung seiner Person und seine Reden hätten dem Volk und den Soldaten moralische und Kampfeskraft gegeben, postulierte Kuczynski. Kritisch bemerkte er, dass Stalin dieses Vertrauen missbraucht habe, indem er seine Diktatur brutal durchsetzte. Seine laut Kuczynski unzweifelhaft vorhandenen propagandistischen Fähigkeiten setzte Stalin ein, um Dogmen zu etablieren und echten „wissenschaftlichen“ Meinungsstreit abzutöten.
Persönlich war Kuczynski in Stalins „Säuberungen“ involviert, als er Hermann Duncker die Nachricht von der Verhaftung dessen Sohnes Wolfgang (1909–1942) nicht nur überbringen, sondern ihn auch noch, nach eigener Aussage, „überzeugen musste“, dass die „Sowjetjustiz auch hier keine Fehler mache“.[11 ] Seiner Darstellung zufolge hat er darunter gelitten, wider besseres Wissen die Fehlerlosigkeit der Politik Stalins zu unterstreichen. Diese apologetische Haltung haben zu Stalins Lebzeiten zahlreiche damalige Kommunisten und teilweise auch linke Intellektuelle eingenommen.
In der Sowjetunion und den mit ihr verbundenen Ostblock -Staaten unter Führung der jeweiligen Kommunistischen Parteien wurde die Kritik des Stalinismus nach dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 lange Zeit als Ablehnung des Personenkultes um Stalin verstanden. Nach der teilweisen Rehabilitierung Stalins unter Breshnew wurde nur der Personenkult kritisch propagiert, um vom totalistischen Charakter des Stalinismus abzulenken.
Erst in den 1970er Jahren und nach 1989 verurteilten die euro - und postkommunistischen Parteien den Stalinismus in seiner Ausprägung als System.
Heutzutage werden Stalin und der Stalinismus am entschiedensten von maoistischen Gruppierungen verteidigt. In seinem Buch 1994 erschienenen Buch Een andere kijk op Stalin / Un autre regard sur Staline[12 ] versuchte der belgische Historiker Ludo Martens (1946–2011), Anführer der maoistischen Partei der Arbeit (PvdA/PTB), verbreitete Argumente gegen den Stalinismus zu widerlegen. Allerdings konzentrierte sich Martens hierbei auf den aus seiner Sicht „konterrevolutionären “ und „revisionistischen “ Trotzkismus und schreibt nichts zu Lukács, Korsch und anderen prominenten Kritikern des Stalinismus.[13 ]
Eine der wichtigsten Anhängerinnen von Trotzki war die mexiskanische Malerin Frida Kahlo de Rivera. Sie zählt zu den bedeutendsten Vertreterinnen einer volkstümlichen Entfaltung des Surrealismus , wobei ihr Werk bisweilen Elemente der Neuen Sachlichkeit zeigt.
Fridas Vater, Carl Wilhelm Kahlo (1871–1941), entstammte einer bürgerlichen Familie aus Pforzheim . Frida Kahlo behauptete, die väterliche Familie sei ungarisch-jüdischer Abkunft gewesen. Neuere Biografien belegen jedoch, dass der Vater einer lutherisch-deutschen Familie mit Wurzeln in Pforzheim und Frankfurt entstammte.[1 ]
Wilhelm Kahlos Mutter starb bei der Geburt des zweiten Kindes und sein Vater heiratete erneut. Da Wilhelm sich mit seiner Stiefmutter nicht verstand, wanderte er am 12. Mai 1890 als 18-Jähriger nach Mexiko aus. Er ließ sich als Fotograf in Mexiko-Stadt nieder und heiratete die Mexikanerin María Cárdena. Nach vier Jahren ließ er sich einbürgern und hieß fortan Guillermo Kahlo (Guillermo ist spanisch für Wilhelm). Als María 1897 starb, heiratete er Matilde Calderón y Gonzalez aus Oaxaca .
Frida Kahlo wurde 1907 als drittes Kind von Matilde und Guillermo Kahlo geboren (damals noch als „Frieda“); sie änderte später ihr Geburtsjahr auf 1910, das Jahr der Mexikanischen Revolution .[2 ] Sie befand es für wichtig hervorzuheben, dass ihr Leben in ihren Augen mit dem neuen Mexiko begonnen habe. Die Revolution stürzte die Familie in große finanzielle Schwierigkeiten, so dass sie das Haus mit einer Hypothek belasten und einen Teil des französischen Mobiliars verkaufen musste.[3 ]
Fridas Mutter war Analphabetin , sie brachte Frida und ihren Schwestern früh das Nähen und Sticken bei sowie das Erledigen der Hausarbeit. Zudem bestand sie auf den täglichen Besuch der Kirche. Frida und ihre jüngere Schwester Cristina lehnten sich jedoch gegen das Weltbild der Mutter auf.[4 ] Als Frida sieben Jahre alt war, lief ihre ältere Schwester Matilde von zu Hause weg, um mit ihrem Freund zu leben. Auch als einige Jahre später der Kontakt zur Schwester wieder hergestellt war, verzieh ihr die Mutter nicht. Die Familie versöhnte sich erst 1927.[5 ] Fridas Vater, der neben seinem Beruf wenig Zeit mit seinen sechs Töchtern verbrachte (Frida wuchs mit drei Schwestern und zwei Halbschwestern auf), erkor Frida zu seinem Lieblingskind und führte sie bald an die Kunst des Fotografierens heran. Frida lernte von ihm das genaue Beobachten der Natur, das Aufnehmen und Entwickeln von Fotos sowie Techniken des Retouchierens.[6 ]
Als Sechsjährige erkrankte Frida an Kinderlähmung , durch das lange Krankenlager behielt sie ein dünneres und etwas kürzeres rechtes Bein zurück. Trotz des fortan notwendigen Tragens einer Ferseneinlage trieb sie als Kind viel Sport (Schwimmen, Radfahren).[7 ]
Ab 1922 besuchte Kahlo die Escuela Nacional Preparatoria , eine der besten mexikanischen Schulen.[8 ] Dort lernte sie unter anderem Xavier Villaurrutia und Jorge Cuesta kennen.[9 ]
Am 17. September 1925 wurde Frida Kahlo Opfer eines Busunglücks, bei dem sich eine Stahlstange durch ihr Becken bohrte, so dass sie ihren Alltag fortan immer wieder liegend und in einem Ganzkörpergips oder Stahlkorsett verbringen musste. Zum Zeitvertreib begann sie im Bett zu malen.
Im September 1926, mit 19 Jahren, malte sie ihr erstes Selbstporträt, das Selbstbildnis mit Samtkleid. Entgegen allen medizinischen Prognosen lernte Frida wieder gehen, gleichwohl litt sie ihr ganzes Leben unter den Folgen des schweren Unfalls. Das Malen wurde zum Ausdruck ihrer seelischen und körperlichen Qualen. Infolge des Unfalls konnte sie keine Kinder bekommen. Mehrere Fehlgeburten verarbeitete sie in Bildern wie Meine Geburt
Frida Kahlo heiratete am 21. August 1929 den 20 Jahre älteren mexikanischen Maler Diego Rivera , der aufgrund seiner riesigen politisch-revolutionären Wandbilder (Murales) bereits weltberühmt war. Rivera wurde 1929 aus der Partido Comunista Mexicano ausgeschlossen und auch Kahlo verließ die Partei. Frida beklagte die häufige Untreue ihres Gatten, die sie ebenfalls in ihren gefühlsbetonten Bildern verarbeitete. Am 6. November 1939 ließ sie sich von ihm scheiden und flüchtete sich in Alkohol, Affären und ihre Malerei. Doch trotz der Schwierigkeiten blieb Rivera immer ein wichtiger Mann in ihrem Leben. Am 8. Dezember 1940 heiratete sie ihn ein zweites Mal.
In den 1930er Jahren unterstützte sie zusammen mit Rivera den russischen Revolutionär und einst wichtigsten Mann neben Lenin, Leo Trotzki , 1937 schenkte sie ihm ein Haus in Coyoacán . 1938 lernten André Breton und seine Frau Jacqueline Lamba auf einer Vortragsreise in Mexiko das Künstlerehepaar kennen; mit Lamba verband sie eine enge Freundschaft.[10 ] Frida hatte noch mehrere Liebesaffären, außer mit Trotzki auch mit dem Fotografen Nickolas Muray , der costa-ricanischen Sängerin Chavela Vargas , Dolores del Río und dem Deutschen Heinz Berggruen , der später ein bedeutender Kunstsammler wurde. Gegen Ende ihres Lebens verehrte sie sogar Trotzkis Gegenspieler Josef Stalin
Gemeinsam mit ihrem Mann zählte sie 1943 zu den ersten Lehrkräften an der „La Esmeralda“ .
Erst 1953 wurden ihre Werke erstmals in einer Einzelausstellung in ihrer Heimat gezeigt, eine Anerkennung, die sie sich schon lange gewünscht hatte. Zu dieser Zeit bereits ans Bett gefesselt, ließ sie sich darin zur Vernissage tragen.[11 ] Wenig später wurde ihr rechter Unterschenkel (vom Knie abwärts) amputiert.[12 ]
Die emanzipierte Malerin und charismatische Rebellin starb am 13. Juli 1954 an einer Lungenembolie . Einige ihrer Freunde schlossen auch einen Selbstmord nicht aus, da die Malerin schon früher versucht haben soll, sich das Leben zu nehmen. Beweise dafür gibt es nicht, zumal Diego Rivera die Obduktion ihrer Leiche ablehnte.
Frida Kahlo ist die mit Abstand bekannteste Malerin Mexikos, wenn nicht sogar Lateinamerikas. Ihre Bilder wurden von der mexikanischen Regierung offiziell zum „nationalen Kulturgut“ erklärt. Ihr Ganzkörper-Selbstbildnis Raíces erzielte im Mai 2006 einen Versteigerungserlös von 5,6 Millionen US-Dollar und gilt damit als das bislang teuerste Bild eines lateinamerikanischen Künstlers.
Zu ihrem Mythos trug ihr bewegtes Leben bei: ihre Krankheit, ihre Leiden, ihre Ehe mit Diego Rivera, dessen Untreue und ihre Affären. Hinzu kommen ihr revolutionärer Eifer und ein leidenschaftlicher Nationalismus . Frida zeigte sich gern in traditioneller Tracht; die Frisur hochgesteckt nach Art der Frauen aus Oaxaca und angetan mit deren traditionellem Schmuck. Damit betonte sie ihre indigenen Wurzeln bewusst öffentlich. Dies war zu jener Zeit ungewöhnlich, zumal rassistische Kriterien für die Stellung in der stark geschichteten mexikanischen Gesellschaft maßgeblich waren.
Als Künstlerin bearbeitete Frida Kahlo in ihren Bildern ihr Leiden – insbesondere die chronische Krankheit - aber auch ihre Eheprobleme. Unter ihren 143 Bildern sind 55 Selbstbildnisse. Nach unzähligen Operationen an Wirbeln und der Amputation ihres rechten Fußes blieb von Fridas Lebensfreude in ihrer Kunst kaum etwas übrig. Frida wirkt in all ihren Bildern ernst, wobei die Ernsthaftigkeit aber meistens von hellen Farben kontrastiert wird. Ihr Damenschnurrbart und die zusammengewachsenen Augenbrauen werden in ihren Selbstporträts zu ihrem „Markenzeichen“. Oft werden sie von ihr viel stärker hervorgehoben, als sie in Wirklichkeit waren. Oft weisen kleine Symbole in ihren Bildern auf seelische und körperliche Wunden hin. Kahlos Werke zeigen surrealistische Einflüsse, doch lehnte sie selbst diese Zuschreibung ab.
Die Gründungsmitglieder der surrealistischen Bewegung entstammten der Generation vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Denken, Literatur, Kunst und Musik hatten sich vielerorts schon von Traditionen verabschiedet und es entwickelten sich neue Ausdrucksmittel. Die metaphysische Malerei des Italieners Giorgio de Chirico beeindruckte denkende, dichtende und malende Künstler, die sich später in den Reihen der Surrealisten wiederfanden. Für ihn sei wichtig, was er sehe, schrieb er; am wichtigsten sei aber das, was er mit geschlossenen Augen sehe. Vermutlich war es diese Verbindung zwischen Vorgestelltem und sinnlich Wahrgenommenem in seinen Bildern, die Surrealisten faszinierte.
Ein weiterer Einfluss auf die Entstehung der surrealistischen Bewegung ging vom Dada aus. Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges verstärkten diese Bewegung. Die Zeit vor dem Krieg war von den jugendlichen Surrealisten, die sich damals noch Supranaturalisten nannten, als unbeschwert und frei erlebt worden. In Paris waren internationale Gruppen entstanden, die sich miteinander im Gespräch befanden. Der Krieg unterbrach es. Die Erfahrungen dieses Krieges mit zigtausenden Toten und der Einbruch in soziale Beständigkeiten wirkten traumatisierend und forderten zur Stellungnahme heraus. Kriegsheimkehrer gründeten Zeitschriften wie SIC, Nord-Sud und Dada, die der dadaistischen Bewegung wieder eine Stimme gaben, die sich nicht dem Chor der Kriegsheldenverehrung anschließen wollte.
Wenige Jahre später kam es zum Bruch mit dem Dada. 1922 rief Bréton den Congrès de Paris ins Leben, um eine Richtung für die verschiedenen Formen der modernen Kunst vorzugeben. Der Kongress, mit parlamentarischer Satzung, sollte unter Polizeischutz stattfinden. Breton meinte,
„daß der Dadaismus keinem anderen Zweck gedient haben kann als dem, uns in dem vollkommenen Zustand der Verfügbarkeit zu halten, in dem wir gegenwärtig sind und aus dem heraus wir jetzt in aller Klarheit auf das zugehen werden, was uns ruft.“[5 ]
Für Tristan Tzara , den Führer des Dada stellte Bretons Vorgehen einen Affront dar, weshalb er die Einladung zum Kongress „in aller Freundlichkeit“ ablehnte. Breton wiederum ging nun Tzara öffentlich scharf an und bezeichnete ihn „als einen Schwindler, der nichts mit der Erfindung Dada zu tun habe.“ Der Vorfall artete zu einer Zerreißprobe der Mitglieder aus und bedeutete quasi das Ende der Dada-Bewegung.
In einer Julinacht im Jahr 1923 kam es schließlich im Pariser Théâtre Michel zu Handgreiflichkeiten, als Tristan Tzaras Schauspiel Le Cœur à Gaz aufgeführt werden sollte. Tzaras frühere Freunde Louis Aragon , Benjamin Péret und Breton stürmten die Bühne und griffen die Darsteller an.[6 ]
Das Ende des Ersten Weltkriegs kann als Zeitpunkt der Entstehung der Bewegung in Frankreich gelten, die ab 1924 unter dem Namen Surrealismus das sozialpolitische Denken und die Literatur beeinflusste. Als französische Bewegung in Politik , Kunst und Literatur ist sie auf die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen begrenzt. Andererseits gehört sie als geistige Bewegung zur europäischen Geistesgeschichte . Sie enthält Auffassungen, die auch schon in der Vergangenheit – z. B. in der Romantik – auftauchten. Es ging dabei stets um Alternativen zu traditionellen Auffassungen. Inzwischen sind surrealistische Auffassungen weltweit verbreitet.[7 ]
André Breton war eng mit der Entstehung der surrealistischen Bewegung in Frankreich verbunden. In der Anfangszeit zeigte sich der Surrealismus als philosophisch-literarische Bewegung. André Breton, Louis Aragon und Philippe Soupault gaben die Zeitschrift Littérature heraus. Hier wurden surrealistische Ideen veröffentlicht und diskutiert. Die Zahl der Beiträge nahm zwischen 1922 und 1924 stark zu. Breton zeigte sich zunehmend als Wortführer. Kreativität, so propagierte er, hänge davon ab, ob es gelänge, sich von den Lasten der Vergangenheit und realistischen Strukturen zu befreien. Die Fantasie solle die ausschließliche Inspiration sein. Die Kontrolle durch die Vernunft sei dabei überflüssig. Dieser Rahmen ermöglichte es Dadaisten und Surrealisten sich ihm anzuschließen. Im Zusammenhang mit politischen Entwicklungen – wie den revolutionären Veränderungen in Russland , der Gründung der KPF und dem Hervorkommen des Faschismus – entschied Breton Ende der 1920er Jahre, dass Surrealisten sich politisch engagieren sollten. Seinen Höhepunkt hatte diese Auseinandersetzung 1930 mit Bretons „Zweitem surrealistischen Manifest“, in welchem dieser auf eine klare Stellungnahme der Künstler gegen den sich ausbreitenden Faschismus in Europa hinwirken wollte.[8 ] Breton sagte sich von allen los, die seine revolutionäre Auffassung nicht teilten und behandelte sie als Gegner. Von nun an war die surrealistische Bewegung in die Gruppe der Revolutionäre und in die Gruppe derjenigen gespalten, die jahrelang dazu beigetragen hatten, surrealistische Ausdrucksmittel zu erfinden.[9 ]
Zu Bretons grundsätzlichen Gedanken, die auch seine Anhänger teilten, gehörte die Auffassung, dass es keine objektiv gegebene äußere Wirklichkeit gibt.[10 ] Folglich kann die Sprache die Welt nicht objektiv darstellen, wie traditionell angenommen wurde. Die Symbolik der herrschenden Sprache ermöglicht weder neue Erfahrungen noch neue Erkenntnisse . Surrealistische Schriftsteller sollten daher eine neue Sprache erfinden,
„… um auf ihr ein neues Denken, eine neue Weltbeziehung und letztlich sogar eine neue Welt begründen zu können.“
Ohne eine neue Sprache sind auch gesellschaftspolitische Veränderungen nicht möglich. Es wurde daher die Befreiung der „Wörter“ und eine Ästhetik der „kühnen Metapher“ gefordert.[11 ] Auch die Wahrnehmung muss sich ändern, wenn neues entdeckt oder erfunden werden soll. Sie muss vor allem vorurteilsfrei und spontan sein. In seinem Buch über den Surrealismus zitiert Gaétan Picon[12 ] aus Die verlorenen Schritte: Auftritt der Medien von Breton folgende Beschreibung eines veränderten Wahrnehmens:[5]
„Im Jahre 1919 hatte sich mein Augenmerk auf die mehr oder weniger unvollständigen Sätze gerichtet, die bei völliger Einsamkeit und herannahendem Schlaf dem Geist wahrnehmbar werden, ohne dass es möglich wäre, eine vorherige Bestimmung in ihnen zu entdecken.“
Max Ernst schrieb in seiner Veröffentlichung Jenseits der Malerei im Jahr 1936:
„An einem regnerischen Tag des Jahres 1919, in einer Stadt am Rhein, fiel mir auf, mit welcher Besessenheit mein irritiertes Auge an den Seiten eines Bilderkataloges haftete, in dem Gegenstände zur anthropologischen, mikroskopischen, psychologischen, mineralogischen und paläontologischen Veranschaulichung abgebildet waren. Dort standen Bildelemente nebeneinander, die einander so fremd waren, dass gerade die Sinnlosigkeit dieses Nebeneinanders eine plötzliche Verschärfung der visionären Kräfte in mir verursachte, und eine halluzinierende Folge widersprüchlicher […] Bilder wachgerufen wurde […].“
Breton veröffentlichte 1924 sein erstes Manifeste du Surréalisme in Paris und dominierte in der Folge die Bewegung. Für die Dauer der Bewegung blieb das Manifest maßgebend, im sogenannten „zweiten surrealistischen Manifest“ von 1929 wurden nur geringfügige Änderungen vorgenommen.[6 ] Die Zeitschrift Littérature wurde eingestellt, um La Révolution surréaliste , dem Forum der neuen Bewegung, Platz zu machen. Ein „Büro für surrealistische Forschungen“ in der rue de Grenelle 15 rundete die Institutionalisierung ab.[13 ]
Die Bilder der Surrealisten haben oft traumhafte und abstrakte Wirkung. Ein vielbehandeltes Bildthema der surrealistischen Malerei ist beispielsweise Die Versuchung des Heiligen Antonius , unterstützt durch den Bel-Ami-Wettbewerb von 1946, an dem viele bekannte Künstler der Zeit, wie Max Ernst, Salvador Dalí und viele andere teilnahmen. Ernst wurde der erste Preis zuerkannt.
Bevorzugte Arbeitsweisen waren: Das Bewusstsein durch Traum, Schlaf oder Rauschmittel abschalten und Unbewusstes in einem automatischen, nicht gesteuerten Schaffungsprozess zum Ausdruck kommen lassen sowie eine übergenaue Malweise, Verfremdung oder Kombination unmöglicher Dinge und Zustände, welche die Wirklichkeit übersteigen.
Das Verfahren, mit dem schreibend und zeichnend experimentiert wurde, war das Automatische Schreiben (Écriture automatique), das spontan und ohne Einschränkungen des Bewusstseins sein sollte. In gewollter Trance und in Traumprotokollen sollten Ängste und Begierden ohne Zensur des Bewusstseins deutlich werden und Figuren ohne Erinnerung an bereits vorhandene Bilder freisetzen.[14 ]
Politische Streitigkeiten hatten zur Auflösung der Gruppe der Surrealisten nach 1928/29 beigetragen. Trotz einer Wiederbelebung während der Jahre der Résistance (1940–1944) kann nach dem Zweiten Weltkrieg von einer surrealistischen Bewegung kaum noch die Rede sein. Unter dem französischen Einfluss fasste der Surrealismus besonders in Spanien und in den Vereinigten Staaten Fuß. Auch im deutschen Sprachraum wurden surrealistische literarische Texte von Autoren wie Alfred Kubin , Hermann Kasack u. a. geschrieben. Der Surrealismus hat auch in der Literatur seinen Einzug erhalten. Dort konnte mit Hilfe von literarischen Impulsen aus der deutschen Romantik und des französischen Symbolismus und unter der Einbeziehung der zeitgenössischen Wissenschaften, wie Psychiatrie und Psychoanalyse die Literatur als Medium der Weltveränderung und Selbsterkenntnis neu definiert werden. So hat der Surrealismus eine nachhaltige Wirkung auf verschiedenste Werke zeitgenössischer Kunst und Literatur, wie zum Beispiel auf die seit etwa 1950 entstandene konkrete und abstrakte Dichtung.
Texte und Ideen von René Magritte hatten später großen Einfluss auf die Konzeptkunst , z. B. Marcel Broodthaers . Die Situationisten beriefen sich in den 1960er Jahren bei ihrem Angriff auf die Wirklichkeit auch auf die Surrealisten.
Heute wird jeder Stil als surrealistisch bezeichnet, der Reales mit Traumhaftem oder Mystischem verbindet. So beansprucht auch das Irreale oder der sinnlose Zusammenhang den gleichen selbstverständlichen Realitätscharakter wie die alltägliche Wirklichkeit, die selbst oft surreal oder absurd scheint. Surrealistische Bild- und Traumwelten haben durch Werbung und Massenmedien als kommerzielle Produkte den Weg in den Alltag gefunden (z. B. zeitgenössisches Spielzeug ). Doch auch in der zeitgenössischen Malerei ist der Surrealismus (wieder) lebendig.[15 ]
Obwohl die Bezeichnung „Surrealismus“ historisch die Künstlergruppe um Breton meint, gibt es auch in der Nachfolge viele andere Gruppen und Einzelpersonen, die den Namen aufgenommen haben.
Bereits 1947 gründete Christian Dotremont die kurzlebige Revolutionary Surrealist Group
Mitglieder dieser verschiedenen Gruppierungen schlossen sich schließlich in den 1950er Jahren zu der Situationistischen Internationalen zusammen, die ein komplexes Verhältnis zum Surrealismus aufrechterhielt. Einige Situationisten wie Asger Jorn, Charles Radcliffe und Raoul Vaneigem waren offen erkennbar vom Surrealismus beeinflusst und reflektierten diesen, während andere wie Guy Debord sich davon distanzierten. Während surrealistische Techniken noch ein Bestandteil des Konzeptes waren, war der politische Anspruch im Situationismus oftmals vorrangig.
Ähnlich politisch motiviert war die 1966 gegründete Chicago Surrealist Group.[16 ] Auch in Europa entstanden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Künstlergruppierungen, wie die polnische Orange Alternative , die surrealistische Konzepte in politischen Aktionen umsetzten.
Aktuell beziehen sich zahlreiche Gruppen wie das International Massurrealism Movement, das OFFAL Project in New York oder die Surrealist London Action Group explizit auf surrealistische Ideen. Auch in der Malerei werden surrealistische Motive und Techniken weiterhin aufgegriffen, wie beispielsweise durch Wolfgang Lettl und Frank Kortan .
Diego Rivera will Frida nie künstlerisch beeinflusst haben, vielmehr soll er ihre Eigenart und Selbstständigkeit stets voll akzeptiert haben. Einem Kritiker schrieb er: „Ich empfehle sie Ihnen nicht, weil ich ihr Ehemann bin, sondern weil ich ein fanatischer Bewunderer ihres Werkes bin.“[13 ] Nach ihrem Tod bekannte er, sie sei das Wichtigste in seinem Leben gewesen. Frida Kahlo notierte in ihren Tagebüchern, sie hätte ohne Diegos Liebe das qualvolle Dasein nicht ertragen können.
Frida Kahlo bezieht sich in ihren Werken oft auf die präkolumbische mexikanische Kunst der Azteken und Maya, und reflektiert die europäische Kunstgeschichte. Ihre Arbeiten befassen sich zudem mit sozialen und politischen Problemen. Frida Kahlo war überzeugte Marxistin und brachte dieses in Werken wie etwa „El marxismo dará salud a los enfermos“ (1954) (span. : Der Marxismus wird den Kranken Heilung bringen) zum Ausdruck.
Im Werk Frida Kahlos tauchen in den 1940er Jahren vermehrt Selbstbildnisse mit Tieren auf. Die meisten dieser Tiere hielt sie sich auch im realen Leben. Sie besaß unter anderem einen Itzcuintli Hund, mehrere Vögel, ein Reh und zwei Affen. Letztere tauchten zu dieser Zeit mehr als sieben Mal in ihren Portraits auf. Dabei bildete sie jedoch nicht nur ihre Haustiere realistisch ab, sie wollte durch sie ihre seelischen Zustände verkörpern. Da die Malerin in diesem Abschnitt ihrer Karriere sehr darauf bedacht war, mit ihrer Kunst Geld zu verdienen, wählte sie beispielsweise Affen, statt schockierender Körperdarstellungen, die Auftraggeber abgeschreckt hätten.[14 ] Die Werke, die Kahlo in den 1940er Jahren schuf, ähneln sich stark. Sie malte meist Brustportraits. Die Selbstbildnisse mit Affen ähneln sich aber auch durch die leicht schräge Haltung ihres Kopfes und der abschirmenden Blätterwand. Sie unterscheiden sich nur durch kleine Details, wie verschiedene Symbole und die Farbgebung. Auch die Wirkung der Affen variiert. Manchmal unterstreichen die Tiere ihre Einsamkeit, ein anderes Mal stellt der Affe ihr zweites Ich dar. Es ist oft nicht deutlich, ob er ihr Freund oder Feind ist.[15 ]
Die weitaus größte Rezeption hat die Künstlerin in schriftlicher Form, vor allem in Biographien, Einführungen und Kommentaren zu unzähligen Bildbänden und Ausstellungskatalogen, gefunden. In den meisten Fällen werden Leben und Kunst in enger Verknüpfung präsentiert.
Sie musste allerdings sehr lange um Anerkennung kämpfen. Trotz einiger Erfolge, eine wirkliche Würdigung ihrer Arbeit bekam sie nicht zu Lebzeiten, sondern erst lange nach ihrem Tod:
Eine Schule im eigentlichen Sinne hat Frida Kahlo nicht begründet, obwohl sie eine Zeitlang Professorin an der Akademie „La Esmeralda“ war.
Es gibt zahlreiche von Kahlos Leben inspirierte Theaterstücke und Inszenierungen, darunter Attention peinture fraîche, das im Sommer 2006 auf dem Theaterfestival in Avignon aufgeführt wurde und zuvor schon erfolgreich in Paris war.
Darüber hinaus gibt es das Tanztheater Frida Kahlo von Johann Kresnik , das 1992 in Bremen uraufgeführt wurde.
2008 entstand das Stück FRIDA [KAHLO] – Farbiges Band um eine Bombe unter der Regie von Anja Gronau und künstlerischer Mitarbeit/Dramaturgie von Sabrina Glas. Darin wird ihr künstlerisches und politisches Schaffen in den Mittelpunkt gerückt.
Musiktheater: Liebeslied ans Leben – Frida Kahlo. Szene für Mezzosopran und Klavier von Rainer Rubbert (Musik) und Tanja Langer (Text) aus dem Liederzyklus Künstlerinnen, Uraufführung 2010 in Berlin.
2011 inszenierte Nora Hecker ihr Stück Frida. Gehst du? Nein! im Theaterhaus Berlin Mitte . Das Stück setzt sich aus Bildbeschreibungen und Tagebucheinträgen der Malerin zusammen.
Die mexikanische Komponistin Marcela Rodríguez fügt in ihrer Kammeroper Las cartas de Frida Ausschnitte aus dem Leben von Frida Kahlo zusammen. Dabei verarbeitet sie Texte der Künstlerin aus dem im Jahr 2002 veröffentlichten Nachlass. Die Oper wurde am 26. Oktober 2011 am Städtischen Theater Heidelberg [17 ] welturaufgeführt, mit der Sopranistin Sybille Witkowski in der Hauptrolle und Mitgliedern des Philharmonischen Orchesters der Stadt Heidelberg unter der musikalischen Leitung von Mirga Gražinytė-Tyla . Auch etliche Zusatzvorstellungen bestätigten den Erfolg des Bühnenwerks. Die Oper Las cartas de Frida wurde für kleines Orchester und einen Sopran komponiert. Die Sprache der Oper (Libretto ) ist mexikanisch als ein Dialekt des Spanischen .
Der finnische Komponist Kalevi Aho schuf die vieraktige, dreistündige Kammeroper mit dem Titel Frida y Diego. Das Libretto (in spanischer Sprache) von Maritza Nuñez basiert auf den Biografien von Frida Kahlo und Diego Rivera. Die Uraufführung fand im Oktober 2014 am Musiikkitalo (Musikzentrum Helsinki) statt.[18 ]
Kahlos farbenfrohes Elternhaus, das wegen seiner in Blautönen gehaltenen Außenwände Casa Azul (Blaues Haus) genannt wird, liegt in der Calle Londres 247 in Coyoacán . Zwischen 1929 und ihrem Tod 1954 lebte Frida Kahlo hier mit ihrem Mann Diego Rivera. Das Haus ist seit 1959 als Museum eingerichtet. Bei Umbauarbeiten wurden in einem Wandschrank 180 Kleidungsstücke aus der Region Oaxaca im Stil ihrer Selbstporträts gefunden, zudem Ohrringe, die von Picasso stammen sollen, sowie Schals, Schuhe und indigener Schmuck. Die meisten dieser Fundstücke wurden in einer weltweit beachteten Ausstellung anlässlich des einhundertsten Geburtstags der Künstlerin im Sommer 2007 gezeigt. Das Museum umfasst einen großen Teil von Kahlos Besitz und ihrer Gemälde.[11 ]
Ausstellungen von Frida Kahlos Werk sind selten und schwer zu organisieren. Zum einen umfasst das Gesamtwerk von Frida Kahlo, die nur 47 Jahre alt wurde, lediglich 144 Ölgemälde, zum anderen verfügte ihr Ehemann Diego Rivera, dass die Exponate, die sich im Museum Casa Azul in Coyacán befinden, Mexiko niemals verlassen dürfen. Nur die Sammlung Dolores Olmendo Patiño mit rund 25 Bildern und die Sammlung Gelmann mit 17 Bildern umfassen einen Bestand ihres Schaffens, der in der Vergangenheit auch außerhalb Mexikos ausgestellt war.
Der amerikanische Galerist Julien Levy zeigte ihre erste Einzelausstellung in seiner New Yorker Galerie; sie lief vom 1. bis 15. November 1938. André Breton verfasste einen Beitrag im Katalog der Ausstellung.[19 ]
Die erste Frida-Kahlo-Ausstellung in Deutschland fand 1982 statt und kam aus London, Whitechapel Gallery. Frida Kahlo and Tina Modotti, kuratiert von Laura Mulvey und Peter Wollen, war zunächst im Berliner Haus am Waldsee zu sehen, anschließend im Kunstverein Hamburg und im Kunstverein Hannover . 1993 gab es eine große Ausstellung in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt: Die Welt der Frida Kahlo – Das Blaue Haus, kuratiert von Erika Billeter; 2006 im Bucerius Kunst Forum in Hamburg , kuratiert von Ortrud Westheider.
Da die Werke Frida Kahlos weltweit verstreut sind, viele auch Mexiko nicht verlassen dürfen oder von Privatsammlern nicht oder nur sehr bedingt veröffentlicht werden, wichen einige Museen auf lizenzierte Repliken zurück, wie beispielsweise das Kunstmuseum Gehrke-Remund in Baden-Baden , für die Ausstellung Leid und Leidenschaft. Die Repliken wurden von ausgebildeten Kunstmalern in den Originalgrößen, mit Original-Material (Öl auf Leinwand, Öl auf Holz- bzw. Metallplatte) und im Originalstil gemalt. Neben den Kunstwerken und Fotos umfasste die Ausstellung (2009–2013) das kulturelle und historische Umfeld von Frida Kahlos Leben und ihrer Zeit in Mexiko: Tehuana Huipiles (Blusen) und Kleider, Schmuck, präkolumbianische Skulpturen, mexikanische Votivbilder und das gesamte Umfeld, in denen die Künstlerin gelebt und gearbeitet hat. Die Frida Kahlo Gemälde-Repliken sind zurzeit auf internationaler Tour. Das Kunstmuseum Gehrke-Remund zeigt in der Fotoausstellung Fridas Fotos über 150 Fotografien von Frida Kahlo.
Im Martin-Gropius-Bau in Berlin fand im Jahr 2010 eine Frida Kahlo – Retrospektive statt. Die von Helga Prignitz-Poda kuratierte Ausstellung lief vom 30. April bis zum 9. August 2010 und verzeichnete einen Besucherrekord von 235.000 Gästen. Anschließend war sie vom 1. September bis zum 5. Dezember 2010 im Bank Austria Kunstforum in Wien zu sehen; auch dort verzeichnete die Ausstellung einen Besucherrekord von über 300.000 Besuchern. In der Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall waren vom 28. April bis zum 16. September 2012 unter dem Titel MEXICANIDAD Bilder von Frida Kahlo und anderer mexikanischer Künstler zu sehen. 2013/2014 lief die Ausstellung Frida Kahlo/Diego Rivera-L'art en fusion im Musée de l’Orangerie in Paris.
Das Detroit Institute of Arts zeigte vom 15. März bis 12. Juli 2015 die Ausstellung Diego Rivera and Frida Kahlo in Detroit mit 23 Werken von Kahlo.
Die größte private Sammlung wird in einer Dauerausstellung im Museo Dolores Olmedo (Mexiko-Stadt) gezeigt.