Prägende Leitbilder in der philosophischen Entwicklungsphase Michail Bakunins
Michail Bakunin quittierte mit 19 Jahren seinen Dienst bei der russischen Armee und wechselte an die Universität Moskau. Hier lernte er den Dichter Nikolay Stankjewitsch kennen, von dem er seinen ersten bedeutsamen intellektuellen Einfluss erfuhr. [1] Stanjewitsch war der erste russische Romantiker; sein Verdienst bestand darin, dass er das russische Denken mit der deutschen idealistischen Philosophie vertraut machte.
Fichte
Durch die Beschäftigung mit der deutschen idealistischen Philosophie wurde Bakunin auch mit den Werken Fichtes vertraut. Fichte gilt als einer der wichtigsten Vertreter des deutschen Idealismus. Seine als „Wissenschaftslehre” bezeichnete Philosophie soll als „pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes”, das „allgemeine und absolute Wissen” in seiner Entstehung aufzeigen, im Mittelpunkt steht dabei der Gedanke von der zentralen Bedeutung des Ichs, das schöpferisch sich selbst und der Vervollkommnung durch Pflichterfüllung fähig ist. [2] Besonders Fichtes „Anweisungen zum seligen Leben”, wo eine quasi objektlose Religion gepredigt wurde, nahm Bakunin mit großem Enthusiasmus auf. [3] Indem der Nächste nicht ein einziges Mal überhaupt benannt ist, sind alle Grenzen des spekulierenden Ich verschwunden, kann es als „Gesetz der höheren Sittlichkeit” gelten, „die Menschheit in der Wirklichkeit zu dem zu machen, was sie ihrer Bestimmung nach ist, zum getroffenen Abbilde, Abdrucke und zur Offenbarung des inneren göttlichen Wesens.” [4]
Diese Ansicht prägte Bakunin bei der Beschäftigung mit der Philosophie von Fichte.
Um ihn bekannt zu machen, übersetzte er im Jahre 1835 „Die Bestimmung des Gelehrten”. Für Bakunin war Gott nun entdeckt und beliebig erfüllbar als der „Sinn des Lebens, der Gegenstand echter Liebe, nicht der, den man durch Erniedrigung des eigenen Ich zu gewinnen habe, nicht der, der außerhalb der Welt richtet, sondern der, der in der Menschheit lebt, der sich in dem erhöhtem Menschen selbst erhöht, der durch Jesus lebendige Worte des Evangeliums sprach, der in den Dichtern redet.” [5]
Im Jahre 1838 übersetzte Bakunin Fichtes „Anweisungen zum seligen Leben”. Dieses Werk war ein Versuch, um ein idealistisches System von Ethik zu schaffen.
Es wurde Bakunins ständiger Begleiter dieser Zeit; Zitate und Umschreibungen aus dem Werk füllten die meisten Briefe Bakunins. [6] In dieser Zeit der größten Nähe zu Fichte identifizierte sich das Sendungsbewusstsein Bakunins mit dem künftigen Gottmenschen als dem Ziel und der Möglichkeit des Menschseins, dem neuen Christus. [7]
Das Pathos Fichtes schwingt im Stile Bakunins noch in den Alterschriften nach, den Einfluss seiner Freiheitsidee hat sich im Werke Bakunins nie mehr ganz verloren. [8]
Hegel
Bakunin erhielt Anfang 1837 von Stankjewitsch den Anstoß, sich mit der Hegelschen Philosophie auseinanderzusetzen. [9] Hegel entwickelte ein philosophisches System, in dem er die tradierte aristotelische Metaphysik, die modernen naturwissenschaftlichen Methoden, das moderne Naturrecht (Locke, Hobbes) und die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (Stewart, A. Smith, Ricardo) zum Ausgleich zu bringen versuchte. Im Mittelpunkt steht das Absolute und zwar als absolute Idee, als Natur und als Geist, dargestellt in „Wissenschaft der Logik” (1812-1816).
Die Aneignung Hegels vollzog sich gleich der Aufnahme einer neuen Offenbarung.
Bei Hegel entdeckte Bakunin den Begriff der „Wirklichkeit” und damit die Versöhnung mit dem Konkreten: „ noch habe er in sich Leeres, Scheinhaftes, doch ich ließ mich um meines Glückes willen von Hegel verschlingen.” [10] Bakunin versuchte, den Begriff der Wirklichkeit genauer zu interpretieren; er wollte weg von der „Scheinwirklichkeit im Felde des Verstandes”, was indessen „nicht durch Raisonnement, nur mit Offenbarung” möglich schien. Dies sollte zur „wahren Wirklichkeit der Vernunft erheben, von der endlichen Form freimachen.” [11]
Bakunin veröffentlichte im Jahre 1838 in der Zeitschrift „Moskauer Beobachter” seine übersetzung von Hegels Gymnasialreden, den ersten authentischen Hegeltext in russischer Sprache. Im Jahre 1839 verdichtete sich Bakunins Hegelbild allmählich. Vor allem vertieften sich die historischen Dimensionen nach der Lektüre historischer und theologischer Bücher aus der Hegelschule. [12]
Die Vertiefung in das Gedankengebäude Hegels erreichte schließlich einen Grad, dass Bakunin sich nach dem Weggang Stankjewitschs ins Ausland als besten Hegelkenner in Moskau und damit im Russland der damaligen Zeit präsentieren konnte.
Bakunin fasste seine philosophische Programmatik in dem Aufsatz „über die Philosophie” zusammen, in dem er ausführt, dass erst die Logik Hegels die allgemeinen Gesetze aus der Idee heraus kontinuierlich entwickelt habe und ihnen endlich objektiven Wert gegeben habe.
Im Sommer 1840 wechselte Bakunin zur Vertiefung seiner Hegelstudien an die Universität Berlin. Vorerst blieb Bakunin noch im Bereich der konservativen Hegelschule, bevor er im Herbst die Bekanntschaft mit dem revolutionären Linkshegelianer Arnold Ruge machte. Sie eröffnete dem Russen neue philosophische Horizonte, er wurde hineingeworfen in die Krisenproblematik des einst allmächtigen Hegelschen Systems und mit der völlig veränderten Situation und ihren gewandelten Fragestellungen konfrontiert.
Arnold Ruge veröffentlichte im Oktober 1842 in seinen Deutschen Jahrbüchern die erste größere Arbeit Bakunins unter dem Pseudonym Jules Élysard mit dem Titel „Die Reaktion in Deutschland. Fragment von einem Franzosen”. Die Schrift fing mit dem Leitmotiv seines Lebens an: „Freiheit, Realisierung der Freiheit — wer kann es leugnen, daß dies Wort obenan steht auf der Tagesordnung der Geschichte.” [13]
In der Schrift wandte er sich gegen jeden Versuch, die Gegensätze des Hegelschen Systems zu versöhnen, weil lediglich aus ihrem Zusammenprall die völlige Wahrheit hervorgehen konnte und er sagte den Ausbruch bevorstehender Revolutionen voraus: „Laßt uns also dem ewigen Geiste vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell alles Lebens ist. – Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust.” [14]
Bakunin analysierte die gesellschaftspolitische Konstellation seiner Zeit mit Hegelschen Begriffsschemata. In der These, dass die moderne Bildung, d.h was Inhalt und Form des Geistes jetzt ausmacht, einen Selbstauflösungsprozess unterliege, formulierte Bakunin das Selbstverständnis der Nachhegelianer klarer und unverzerrter als es bis dahin geschehen war. Das Ziel dieses Prozesses wäre, wie Bakunin meinte, „die Selbstauflösung in eine ursprüngliche und neue praktische Welt — in die wirkliche Gegenwart der Freiheit.” [15]
Bakunins Pamphlet „Die Reaktion in Deutschland” wurde zu einer Programmschrift der „Philosophie der Tat”, die den übergang von der Theorie zur Praxis und zur politisch-gesellschaftlichen Tat erzwingen wollte. [16]
Literatur
Beer, R. (Hrsg.): Philosophie der Tat, Köln 1968
Carr, E.H: Michael Bakunin, London 1975
Lausberg, M.: Bakunins Philosophie des kollektiven Anarchismus, Münster 2008
Medicus, F. (Hrsg.): J. G. Fichte. Werke, Bd. 5
Rholfs, E./Nettlau, M.: Bakunin, Gesammelte Werke, 2.Bände, Berlin 1921-1924
Scheibert, P.: Von Bakunin zu Lenin, Leiden 1956
Schneider.L./Bachem, P. (Hrsg.): Michael Bakunin. Philosophie der Tat, Köln 1968
Schulte, G.: Die Wissenschaftslehre des späten Fichte, Frankfurt/Main 1971
Wittkop, J.F.: Bakunin, Reinbek bei Hamburg 1994
Fußnoten
↑ Wittkop, J.F.: Bakunin, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 13
↑ Schulte, G.: Die Wissenschaftslehre des späten Fichte, Frankfurt/Main 1971, S. 52
↑ Scheibert, P.: Von Bakunin zu Lenin, Leiden 1956, S. 139
↑ Medicus, F. (Hrsg.): J. G. Fichte. Werke, Bd. 5, S. 79
↑ Rholfs, E./Nettlau, M.: Bakunin, Gesammelte Werke, Bd.1, 2.Bände, Berlin 1921-1924., S. 465